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Konstruktion von Geschichte in Museen

Aleida Assmann

/ 17 Minuten zu lesen

Historische Ausstellungen sind nicht nur ein Spiegel wachsenden gesellschaftlichen Geschichtsinteresses, sondern auch ein wirksames Mittel der Modellierung dieses Interesses in einem sich ändernden geschichtspolitischen Rahmen.

Einleitung

Das Jahr 1977 ist, was uns nach dreißig Jahren soeben wieder durch die Medien ins Bewusstsein (zurück)gebracht wird, als das Jahr der RAF in die Geschichte eingegangen. Der Terrorismus erlebte seinen Höhepunkt mit den Ermordungen von Siegfried Buback (April '77) sowie Jürgen Ponto und Hanns-Martin Schleyer (Oktober '77). Nicht im Herbst sondern im Frühjahr jenen Jahres wurde nur ein paar Kilometer von Stammheim entfernt im Alten Schloss in Stuttgart die Ausstellung über die Staufer eröffnet, in deren Kuratorium als hochrangiger Vertreter der Wirtschaft auch der Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer gesessen hatte. Diese Ausstellung hatte einen so durchschlagenden Erfolg, dass 1977 auch als "Stauferjahr" in die Geschichte eingegangen ist. Diese Ausstellung wird heute gemeinhin als ein Durchbruch in der Geschichte des deutschen Geschichtsinteresses gewertet.


Es war aber nicht nur die nie wieder erreichte Zahl von über 671 000 Besuchern, die die Bedeutung dieser Ausstellung ausmachte, sondern der nachhaltige Impuls, der von ihr ausging und die deutsche Museumslandschaft langfristig veränderte. Der große Erfolg der Stuttgarter Staufer-Ausstellung stieß Nachahmungen an; andere Landeshauptstädte kopierten das attraktive Modell und stockten dafür ihren Kulturetat auf: in München waren 1980 die Wittelsbacher zu sehen, 1981 folgte in Berlin eine große Preußen-Ausstellung. Doch das war erst der Anfang der Langzeitfolgen. Vom Erfolg der Preußen-Ausstellung inspiriert, regte Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung 1982 in Bonn den Bau eines Museums zur Geschichte der Bundesrepublik und der geteilten Nation an; fünf Jahre später schenkte die Bundesregierung der Stadt Berlin zum 750. Geburtstag ein Historisches Museum, das die Geschichte der Deutschen in Europa dokumentieren sollte. Mit diesen beiden historischen Museen, dem Haus der Geschichte (HdG) in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin, stellte der studierte Historiker Kohl noch vor der Wiedervereinigung langfristige geschichtspolitische Weichen, indem er das Thema Geschichte von der Kulturpolitik der Länderebene auf die Bundesebene hob.

Die Wiederkehr der Geschichte im Museum

Die Staufer-Ausstellung markiert eine Wende des deutschen Geschichtsinteresses, die weit über sie hinausging. Diese Wende lässt sich besonders eindrücklich an der Eröffnung neuer Museen ablesen. In Baden-Württemberg, dem Bundesland mit der stärksten Museumsdichte (920) verdoppelte sich die Zahl der Museen seit 1975. Die Ausstellung war konzipiert von der Landesregierung in Stuttgart, um das 25-jährige Bestehen der Vereinigung von Baden und Württemberg zu feiern. Federführend war dabei Ministerpräsident Hans Filbinger, dessen eigenes historisches "coming out" als Marinerichter in der NS-Zeit sich ein Jahr später ereignete. Ein kurzes Kapitel der Landesgeschichte wurde dabei verknüpft mit einer sehr langen Geschichte, die 800 Jahre zurücklag. Der Rückgriff auf das Mittelalter eignete sich ausgezeichnet, um im Sinne Nietzsches monumentalische Geschichtsaneignung zu betreiben: die Staufer wurden als Ahnengalerie aufgebaut, die Strahlkraft des herrschaftlich dynastischen Themas eignete sich für eine repräsentative politische Selbstinszenierung. Es war ein erklärtes Ziel der Ausstellung, "geschichtliches Bewusstsein zu schärfen, das uns hilft, unsere historische Identität wieder zu gewinnen und zu vertiefen". Hans Filbinger, so stellte Günther Oettinger genau dreißig Jahre später in seiner Trauerrede für den verstorbenen Landesvater fest: "wollte ein fortschrittliches, ein modernes und ein bewahrendes Baden-Württemberg. Und er wünschte sich, dass sein Land tief in der Geschichte verwurzelt bleibt: Ein Baden-Württemberg, das sich - ich erinnere an die große Staufer-Ausstellung 1977 - um eine eigene Identität erfolgreich bemüht."

Mit dem Hinweis auf die politische Nutzung des historischen Themas ist aber die Breitenwirkung der Ausstellung noch keineswegs erklärt. Die überwältigend positive öffentliche Resonanz hatte etwas mit einem Nachholbedarf zu tun. Imperiale Themen und markante Herrscherpersönlichkeiten standen in den 1970er Jahren nicht gerade auf der öffentlichen Agenda. An den Universitäten herrschte die unanschauliche Sozial- und Strukturgeschichte zusammen mit unterschiedlichen Varianten der Mikrogeschichte: neben der Frauengeschichte standen die "oral history" und die Alltagsgeschichte hoch im Kurs. Außerdem herrschten Foucault und das marxistische Paradigma. Nichts davon ließ sich in einer glanzvollen Erzählung darstellen oder bot der kollektiven Imagination Stoff für die Produktion innerer und äußerer Bilder. In Frontstellung zum universitären Paradigma präsentierte diese Ausstellung Geschichte so, wie die Masse der Besucher sie sich wünschte: monumental, imperial, glanzvoll, plakativ und vor allem: möglichst weit entfernt von ihrer Gegenwart. Die Befriedigung dieses Geschichtsbedürfnisses der Besucher wurde mit geradezu physischer Genugtuung erlebt. Jemand schrieb ins Besucherbuch: "es war, wie wenn man nach langem Hunger endlich satt wird."

Wir können den Erfolg der Staufer-Ausstellung und der nachfolgenden großen historischen Ausstellungen folglich nicht verstehen, ohne auf eine bestimmte Form von Geschichtsapathie einzugehen, die in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. "Wir sind in Gefahr, ein geschichtsloses Land zu werden", hatte Bundespräsident Walter Scheel anlässlich der Eröffnung des Historikertags im Jahre 1976 gewarnt. Die wissenschaftlichen Paradigmen von Sozial- und Strukturgeschichte waren nicht zuletzt eine Verweigerung von Nationalgeschichte. Im Gegensatz zur DDR, die Tausende von Historiken beschäftigte und in Ost-Berlin über ein nationales Geschichtsmuseum im Zeughaus unter den Linden verfügte, hatte die föderale Bundesrepublik auf diesem Gebiet wenig zu bieten.

Es ist signifikant, dass in Westdeutschland die erfolgreichsten historischen Ausstellungen mittelalterlichen Themen gewidmet waren. Während das Zweite und das Dritte Reich in der musealen Thematisierung ausgespart blieben, erfreute sich das erste Reich umso größerer Beliebtheit. In den Festreden zur Einleitung der Ausstellung wurden wiederholt der Mensch als geschichtliches Wesen und die dringende Notwendigkeit von Geschichtsbewusstsein beschworen. Dieses konzentrierte sich jedoch auf Nietzsches Variante des monumentalischen Gebrauchs von Geschichte. Die Aneignung von destruktiven und negativen Aspekten der Nationalgeschichte stand nicht zur Debatte. In einem Buch über große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland von 1960 bis 2000 zog Martin Große Burlage die Bilanz, dass dem Mittelalter vor anderen Epochen und dynastisch herrschaftlichen vor sozialgeschichtlichen Themen der Vorzug gegeben wurde. Er schrieb: "Die Berücksichtigung problemorientierter und zeitgeschichtlich aufarbeitender Themen jedenfalls blieb im Zeitraum von 1960 - 2000 die Ausnahme"; und er fügte hinzu, dass "die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte vorwiegend regionalen Archivausstellungen und Wanderausstellungen sowie Dauerausstellungen in speziellen Gedenkstätten und Dokumentationszentren vorbehalten" blieb.

Die große historische Wanderausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht", die nach einer ersten Runde aufgrund einiger falscher Bildunterschriften zurückgezogen wurde und in neuer Konzeption wieder auf Tour ging, ist aufgrund ihrer Thematisierung eines Tabuthemas sicherlich die nicht nur von ihren Besucherzahlen, sondern auch von ihrer Wirkung her sichtbarste und einschneidendste historische Ausstellung der 1990er Jahre gewesen, die in direkter Weise sowohl die individuelle wie die nationale Ebene der Erinnerung ansprach.

Von der regionalen zur europäischen Geschichte

Machen wir von den 1970er Jahren einen Sprung in die Gegenwart. Im Jahre 2006 wurde - 200 Jahre nach dem Ende des ersten Reiches - dessen über achthundertjährige Geschichte in zwei großen historischen Ausstellungen kommemoriert. Die Ausstellung "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 - 1806" wurde in Magdeburg und Berlin gezeigt. In Magdeburg, wo der mittelalterliche Abschnitt der dreiteiligen Ausstellung zu sehen war - das Maskottchen der Ausstellung, den Magdeburger Reiter, konnte man in einer Playmobil-Version erwerben -, wurden zum Teil dieselben Exponate gezeigt wie zuvor in der Staufer-Ausstellung, nun allerdings nicht mehr im Rahmen eines schwäbischen, sondern eines europäischen Geschichtsnarrativs. Die Ausstellung wurde im Auftrag des Europarats ausgerichtet und sie bezog sich nunmehr auf die transnationale Ebene, und das mit gutem Recht, denn der Ursprung der deutschen Nationalgeschichte beginnt ja erst mit der Auflösung des ersten Reiches. Die deutsche Nation begann sich in dem Moment geistig zu formieren, da der immer abstraktere Dachverband des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" zerfiel und der Außendruck in Gestalt der napoleonischen Eroberungen zunahm. Dieses Ende des Reiches war besiegelt, als der habsburgische Kaiser Franz II. am 6. August 1806 abdankte und die Reichskrone niederlegte. Während das Reich selbst innerlich erodierte und schließlich an den auseinanderstrebenden Mächten Österreich und Preußen zerbrach, überlebte es als nationaler Herrschaftsmythos. Diesem Mythos zufolge hat Deutschland im Jahr 800 mit der Kaiserkrönung das Erbe des alten Römischen Reiches angetreten. Hitler, der im Banne dieser geschichtsphilosophischen Symbolik stand, beschwor die Wiederauferstehung eines großdeutschen Reiches und leitete daraus den hegemonialen Sendungsauftrag der Deutschen als europäische Ordnungsmacht ab. Seine expansiven Bestrebungen verankerte er in dieser Reichsidee, mit der er den Nationalstaat mythisch überhöhte. Mit dieser Sendungsideologie sollte nach dem Ersten Weltkrieg das zerstörte Selbstbild der Nation wie ein Phoenix aus der Asche von Versailles aufsteigen. In einem symbolpolitisch wirkmächtigen Akt hat Hitler nach dem "Anschluss" Österreichs die Reichsinsignien Krone, Schwert und Szepter aus der Wiener Hofburg nach Nürnberg bringen lassen, um sein neues Großdeutschland zu legitimieren. Während das Reich 1806 unterging, ist (worauf die Ausstellung nur ganz am Rande hinwies) der Reichsmythos erst 1945 untergegangen. Im Nachkriegsdeutschland war dieser Begriff tabu. Die Ausstellung von 2006 verschrieb sich einer neuen Historisierung des Themas durch Übernahme einer konsequent europäischen Perspektive.

Dass der alte Reichsmythos aber unterschwellig noch rumort, bezeugt ein Leserbrief, der in der FAZ vom 18. September 2006 abgedruckt wurde. Der Schreiber wollte wissen, warum "in den umfangreichen Ausstellungen in Magdeburg und Berlin die wichtigsten Stücke der deutschen Reichsgeschichte, nämlich die eigentlichen deutschen Reichskleinodien: die Kaiserkrone Konrads II., das Zepter, der Reichsapfel, das Mauritiusschwert" fehlen? Er rekonstruiert die "translatio" der Insignien - 1796 von Nürnberg nach Wien, wo sie vor Napoleon geschützt werden sollten, sodann 1938 von Wien nach Nürnberg durch Hitler, und 1945 durch Verfügung von Dwight D. Eisenhower von Nürnberg zurück nach Wien - und fügt hinzu: "Meines Erachtens hat das Haus Habsburg auch geschichtlich-moralisch nicht verdient, die deutschen Reichskleinodien quasi als letzter Besitzer einer Wandertrophäe' zu behalten. Denn der Kronschatz eines Volkes mag vorübergehender Besitz' eines Herrscherhauses sein, er bleibt jedoch Eigentum' der Nation. Die Nation heißt aber, zumal heute, Deutschland, nicht Österreich. (...) Das Reich Karls V., in dem die Sonne nicht unterging', ist zusammengeschrumpft zu einer Alpenrepublik. (...) Es wäre wichtig für Deutschland, dass es gerade die Reichskleinodien, Symbole einer uralten, traditionsreichen und ehrenvollen Vergangenheit, im eigenen Lande aufbewahren dürfte."

Für diesen Besucher der Ausstellung sind die Objekte, die nicht gezeigt wurden, die wichtigsten. Man kann dem Briefschreiber in seinem Wunsch, die Reichskleinodien auf der historischen Ausstellung zu sehen, nur zustimmen. Diese Leerstelle hätte zumindest einer Erklärung bedurft. Sein Wunsch geht aber weit darüber hinaus: er fordert auch deren Rückgabe von Österreich nach Deutschland im Rahmen eines symbolpolitischen Transfers. Dass die Objekte für die Ausstellung nicht verfügbar waren, zeigt, dass wir es hier offensichtlich mit Reliquien von transhistorischem Wert zu tun haben. Mit dem Nichtausstellen der Reichskleinodien hat die neue Ausstellung eine Leerstelle geschaffen, in die der alte Reichsmythos noch einmal hineinprojiziert werden konnte: "Die Nation heißt aber, zumal heute, Deutschland, nicht Österreich." Der Leserbriefschreiber hat die Ausstellung ganz offensichtlich nicht in einem europäischen, sondern in einem nationalen Rahmen wahrgenommen; er hatte sich erhofft, dass sie das Band der Deutschen zu "ihrem Reich" wieder anknüpfen würde.

Nationale Geschichte im europäischen Rahmen

Das Thema der Nation stand gleichzeitig auf der Agenda einer anderen Ausstellung, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Reichs-Ausstellung gezeigt wurde. Wer im September 2006 aus der Berliner Reichs-Ausstellung im Zeughaus unter den Linden heraustrat, brauchte nur die Straße zu überqueren, um sich gegenüber die Ausstellung "Erzwungene Wege" im Kronprinzenpalais anzusehen, die von der Stiftung für ein "Zentrum gegen Vertreibung" organisiert worden war. Auf beiden Straßenseiten standen sich in Berlin zwei historische Ausstellungen gegenüber, die gegensätzlicher nicht hätten sein könnten. In der einen verdichtete sich zeitlich ferne Geschichte in einer Ansammlung von Herrscher-Porträts und deren höfischer Prachtentfaltung, in der anderen war der Fokus auf anonyme Bevölkerungsmassen gerichtet, deren gegenwartsnahe Lebensgeschichten die traumatischen Folgen der totalitären und gewaltsamen Politik des 20. Jahrhunderts dokumentierten. Auf der einen Straßenseite ging es um Herrscher, die Geschichte gemacht hatten, die wiederum lange Zeit Teil historischen Bildungswissens gewesen waren, auf der anderen ging es um die Opfer von Geschichte und ihre durchaus noch fühlbaren, in erster und zweiter Generation verkörperten Leiden.

Die Ausstellung "Erzwungene Wege" war nicht die erste Ausstellung über Vertreibung in Berlin. Vor der Reichs-Ausstellung hatten die Räume des Deutschen Historischen Museums bereits eine andere Ausstellung mit dem Titel "Flucht, Vertreibung, Integration" aus dem Haus der Geschichte in Bonn beherbergt, die anschließend in Leipzig gezeigt wurde. Die Bonner Ausstellung gehörte sowohl laut Pressespiegel wie nach Statistik der Besucherzahlen zu den erfolgreichsten Projekten des Hauses der Geschichte. Dafür waren nicht zuletzt der noch fühlbare Leidensdruck der Thematik und die damit verbundene geschichtspolitische Aktualität verantwortlich. Worum ging es in dieser Ausstellung? Sie knüpfte an die Darstellung von Geschichte aus der Opfer-Perspektive an, unterschied sich jedoch von vorangegangenen Ausstellungen darin, dass hier die Deutschen im Mittelpunkt standen. Während sich in den beiden Ausstellungen über "Verbrechen der Wehrmacht" Opfer und Täter in trennscharfer und ausschließlicher Eindeutigkeit gegenüberstanden, haben sich in der Vertreibungsausstellung die Täter und Opfergruppen vervielfältigt. Gezeigt wurden hier historische Ereignisse, die vor, neben und nach dem Holocaust stattgefunden und sich zum Teil auch mit ihm überschnitten hatten. Anhand der Stichworte Flucht, Vertreibung und Umsiedlung tut sich eine polymorphe europäische Gewaltgeschichte auf, in deren Verlauf 60 bis 80 Millionen Menschen ihre Heimat und ihre Habe sowie zum Teil ihre Familienangehörigen und ihr Leben verloren. Vertreibungen, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall von Vielvölkerstaaten ein politisches Instrument zur Schaffung neuer (ethnisch homogener) Nationalstaaten waren, sind inzwischen zur Signatur des 20. Jahrhunderts erklärt worden.

Anders als beim Holocaust, wo die Rollen von Tätern und Opfern grundsätzlich festgelegt sind, finden sich die Deutschen beim Thema Vertreibung sowohl auf der Seite der Täter wie der Opfer wieder. Die Ausstellung ist Symptom einer Verlagerung der Perspektive und Erweiterung der Geschichtsdeutung, indem sie Ereignisse und Erfahrungen thematisiert, die während der letzten beiden Jahrzehnte vom offiziellen Geschichtsdiskurs bzw. öffentlichen Geschichtsdebatten nicht berücksichtigt oder marginalisiert wurden. Diese Wende der Perspektive war seit Ende der 1990er Jahre schrittweise vorbereitet worden; mit der Bonner Ausstellung über "Flucht, Vertreibung, Integration" erhielt sie nur ihren bislang wichtigsten Akzent.

Gehen wir nun noch einmal über die Straße vom Zeughaus zum Kronprinzenpalais und werfen einen Blick auf die zweite Vertreibungsausstellung "Erzwungene Wege" (10. August bis 29. Oktober 2006). Die Ausstellung wurde ausgerichtet vom "Zentrum gegen Vertreibung", einer Initiative des Bundes der Vertriebenen, dem Erika Steinbach (MdB, CDU) vorsteht. Ziel dieses Zentrums ist es, "Ort der Mahnung zu sein, Vertreibung weltweit zu ächten". "Es trifft sich gut", sagte Joachim Gauck bei der Eröffnung der Ausstellung, "dass das interessierte Publikum hier in der Mitte Berlins zwei Ausstellungen zum Thema Vertreibung sehen kann." Tatsächlich überschnitt sich sogar die Bonner Ausstellung mit der des Zentrums, so dass im August 2006 unter den Linden vis à vis 17 Tage lang zwei Ausstellungen zum Thema Flucht und Vertreibung zu sehen waren. Wie kam es zu dieser merkwürdigen Doppelung vor Ort? Worin bestehen die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Ausstellungen?

Beide Projekte hatten mehr im Sinn als nur eine Ausstellung unter anderen zu sein. Beide zielten auf eine Dauerpräsentation des Themas in Berlin ab. Das machte auch der Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) bei der Eröffnung der Bonner Ausstellung in Berlin deutlich, als er in Aussicht stellte, diese zum "Herzstück einer künftigen Dauerausstellung" in der Hauptstadt und damit zu dem geschichtspolitisch "sichtbaren Zeichen" zu machen, von dem seit Monaten unter Politikern und in Mediendebatten die Rede war. Es wird angestrebt, der Berliner Gedenkstättenlandschaft neben der "Topographie des Terrors", dem Holocaust-Mahnmal, der Wannseevilla, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Neuen Wache einen weiteren Ort hinzuzufügen, an dem signalisiert wird, dass ein Teil des beispiellosen Leids, das die Verbrechen der Deutschen über Europa gebracht haben, die Deutschen selbst getroffen hat. Dieses sichtbare Zeichen, so Neumann weiter, könne Deutschland freilich nicht allein setzen, sondern nur im Verbund mit dem "Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität", das mit Vertretern aus Polen, Ungarn und der Slowakei vereinbart worden ist. Ein "sichtbares Zeichen" möchte auch Erika Steinbach in Gestalt ihres "Zentrums gegen Vertreibung" in Berlin setzen. Der Träger dieser Initiative ist aus den Vertriebenenverbänden hervorgegangen, die in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte eine rechtslastige geschichtspolitische Lobby bildeten und von denen befürchtet wird, dass ihre separatistischen Aktivitäten einen mit dem neuen Europa unvereinbaren Hort für anhaltende nationale Ressentiments und revisionistische Forderungen darstellen. Einen deutlichen Niederschlag fanden diese Ressentiments im Besucherbuch der Ausstellung "Erzwungene Wege". Hier machte eine große Zahl von Besuchern ihrem Groll darüber Luft, dass sie ihr Ostpreußen, Schlesien usw. nie zurückbekommen hätten und die Einbehaltung von Land und Besitz ein schreiendes Unrecht darstelle.

Obwohl beide Ausstellungen den Anteil deutscher Schuld am Vertreibungsgeschehen klar dokumentieren, waren sie in ihrem Arrangement doch sehr unterschiedlich. Die Bonner Ausstellung ging von 60 bis 80 Millionen Vertriebenen aus und arbeitete den längeren historischen Zusammenhang von der Vorgeschichte bis zur West-Integration der Flüchtlinge heraus; die Ausstellung des Zentrums geht von 80 bis 100 Millionen Vertriebenen aus. Sie wählte ebenfalls eine europäische Perspektive, präsentierte allerdings unkommentiert und auf rein parataktische Weise sehr unterschiedliche Ereignisse deutscher Geschichte wie brutale Formen von "Kolonisierung" in Polen, die Vernichtung ethnischer Gruppen und der Juden, die Umsiedlung von Volksdeutschen und "wilde Vertreibungen" nach 1945. Die Irritation an der Sonderinitiative von Frau Steinbach konzentriert sich auf die Sorge, dass es ihr unterhalb der vergleichenden europäischen Sicht um eine nationale Perspektive geht, welche die Koordinaten der deutschen Geschichtspolitik verschiebt.

Die aktuelle Frage lautet im Klartext: Soll der Zivilisationsbruch des Holocaust durch die Vertreibungen als Signatur des 20. Jahrhunderts verdrängt werden? Wie werden diese Ereignisse im historischen Gedächtnis zueinander in Beziehung gesetzt? Die Spannung, die hinter den rivalisierenden Ausstellungsprojekten steht, hängt mit dieser Auseinandersetzung um Gewichtsverlagerung oder Neuorganisation des Geschichtsbewusstseins zusammen. Geht es um eine Ergänzung oder um eine Revision des Geschichtsbildes? Auf diese Frage hat Joachim Gauck in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung des Zentrums mit klaren Worten geantwortet: "Nachdem zur deutschen Identität das Bewusstsein eigener Jahrhundertschuld gehört, ist die Nation heute nicht mehr in Gefahr, nationalistisch zu werden, wenn sie ihrer eigenen Opfer gedenkt."

Die Magie der Dinge

Museen bringen eine Lebenswirklichkeit, die seit längerem oder erst kürzlich vergangen ist, für die Dauer einer Ausstellung noch einmal zur Anschauung und sinnlichen Präsenz. In den Museen werden deshalb möglichst keine Rekonstruktionen oder Kopien, sondern Originale gezeigt, die historische Substanz verkörpern und als Erinnerungsträger eine besondere Aura entfalten. Handgreiflich sinnliche Objekte mit Spuren ihres Alters sind Bürgen einer anderen Zeit und eines anderen Raums. Roland Barthes hat sie einmal ironisch "unseren säkularen Reliquien-Schrein" genannt. Diese Reliquien haben "alle Spuren einer geheiligten Bedeutung abgestreift, außer der einen, dass sie unablösbar sind von etwas, das einst existiert hat und nicht mehr existiert, und sich nun als ein gegenwärtiges Zeichen einer toten Sache darstellt. Darum ist die Profanierung dieser Reliquien gleichbedeutend mit der Zerstörung von Realität." Nach dem Überblick über die Themen historischer Ausstellungen soll hier abschließend noch kurz auf den Status der Exponate eingegangen werden.

Die Erinnerung bedarf, wie Hannah Arendt einmal geschrieben hat, "der Handgreiflichkeit des Dinghaften". Ohne "Verdinglichung, die aus der Erinnerung selbst entspringt", würde sie spurlos verschwinden. Dieser Begriff der "Verdinglichung" stammt nicht aus dem Arsenal der Ideologiekritik. Er meint nicht eine falsche Fixierung auf Gegenständliches, sondern verweist auf eine lebenswichtige Grundlage des Erinnerns selbst, das sich in Gegenstände investiert und auslagert. Museen mit ihren Sammlungen und Auslagen basieren auf dieser Einsicht, dass Dinge zu Erinnerungsspeichern werden können und daraus eine unverwechselbare Aura und Kraft beziehen. Der Museologe Gottfried Korff misst der "Erinnerungsveranlassungsleistung" von Dingen einen hohen Rang zu (das englische Wort dafür ist etwas kürzer und heißt "trigger").

Krzysztof Pomian verdanken wir eine semiotische Museumstheorie, die vom Museum als einem symbolischen Raum ausgeht, in dem alle Objekte automatisch zu Zeichenträgern (Semiophoren) für eine anderweitig entzogene Vergangenheit werden. Am Beispiel der Vertreibungs-Ausstellungen können wir verschiedene Formen solchen Verweisens auf Vergangenheit unterscheiden. Zum einen handelt es sich um authentische Zeugnisse mit historischem Zeugniswert, die die Wirklichkeit, auf die sie verweisen, zugleich verkörpern. Dazu gehören etwa die Landkarten, Dekrete oder Reisepässe von Flüchtlingen, die uns als Instrumente der Macht und Verwaltungsbürokratie entgegentreten. Weitere authentische Zeugnisse mit historischem Zeugniswert sind die selbst nicht zeichenhaften historischen Relikte, die erst als Teil einer zu erzählenden Geschichte ihr stummes Zeugnis preisgeben, wie z.B. ein schäbiger Karren oder Teile einer Flüchtlingsbaracke als pars pro toto einer verschollenen Lebens- und Leidenswelt. Weitere historisch bedeutsame Dinge sind persönliche Memorabilia, in denen sich individuelle Lebenswege und Leidensgeschichten konkretisieren wie das aus Mullbinden genähte Kommunionskleid eines Mädchens in einem Flüchtlingslager oder der Schlüsselbund als Memento verlorener Hoffnungen. Dieser konkrete persönliche Erinnerungswert, der solchen Dingen anhaftet, kann von den Museumsbesuchern nachträglich nicht mehr erschlossen werden. Als Ersatz dafür entfalten die Dinge jedoch etwas, das die Museumstheoretiker eine "sinnliche Anmutungsqualität" nennen; sie wirken als Stimuli für die Imagination und können suggestive Brücken zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Gegenwart und Vergangenheit schlagen.

Die Exponate der "Erzwungenen Wege" gewannen ihre Bedeutung jedoch nicht nur im semiotischen Rahmen des Ausstellungsdesigns, sondern auch in einem weiteren politischen Kontext außerhalb des Museums. Diese politische Bedeutung überlagerte z. T. die historische Bedeutung der Objekte und machte sie zu symbolischen Trophäen in einem Konflikt, der sich offen manifestierte, als Leihgaben unter politischem Druck von ihren Spendern vorzeitig zurückverlangt wurden. Dazu gehörte z.B. die Fahne, die eine Gruppe von ehemals nach Sibirien deportierten Polen der Zentrums-Ausstellung zur Verfügung gestellt hatte. Auch die symbolträchtige Schiffs-Glocke der "Gustloff" wurde zurückgefordert. Dazu schrieb die FAZ am 18. August 2006: "Nachdem schon am Samstag das Warschauer Museum für Stadtgeschichte zwei Ausstellungsstücke wieder abgeholt hat, wandte sich jetzt auch die polnische Seerettung an die Veranstalter mit der Forderung, die Glocke des im Krieg versenkten Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff' vorzeitig zurückzugeben. (...) Der zuständige Mitarbeiter der Seerettung sagte, im Vertrag sei zwar eine ZGV Trägergesellschaft' erwähnt gewesen, aber als Pole habe er die Verbindung dieser drei Buchstaben' [=Zentrum gegen Vertreibung] zu Frau Steinbach nicht herstellen können" (die derzeit aufgrund einer innereuropäischen Beziehungskrise in politischen Kreisen Polens als persona non grata gilt). Diese Ausstellungsobjekte sind offensichtlich nicht nur Überreste mit einem historischen Zeugnis- oder Anmutungswert, sondern besitzen obendrein politische Sprengkraft in einem europäischen Grenzkonflikt.

Der Rahmen, der die Gegenstände der Ausstellung symbolisch auflädt, beschränkt sich also nicht nur auf den klar abgesteckten Raum des Museums, sondern kann weit drüber hinausreichen in die Sphäre politischen Handelns. In diesem Punkt haben die Herrschaftsinsignien, die ein Besucher der Reichs-Ausstellung unter den Exponaten vermisste, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schiffsglocke der "Wilhelm Gustloff"; beide transzendieren den semiotischen Rahmen der Ausstellung und erweisen sich als Teile einer übergreifenden Symbolpolitik. Am Beispiel der vorgestellten historischen Ausstellungen wird deutlich, wie sich der Rahmen für diese Symbolpolitik seit den 1970er Jahren verschoben hat von einer regionalen auf eine europäische Ebene. Die nationale Ebene wird dabei nicht übersprungen; sie ist heute aber nur noch in einem transnationalenRahmen adressierbar und erscheint dabei in vorwiegend zwei Narrativen: alsTäter- und als Opfergeschichte. Der europäische Rahmen, der ein neues Bewusstsein gemeinsamer Geschichte stützt, beschwört dabei auch neue Konflikte herauf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag beruht auf: Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007.

  2. Vgl. Gottfried Korff/Martin Roth (Hrsg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt/M. 1990, S. 11f.

  3. Zitiert nach Arno Borst, Barbarossas Erwachen. Zur Geschichte der deutschen Identität, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität, München 1979, S. 17 - 60, hier: S.19.

  4. Günther Oettinger, Trauerrede am April 2007 in Freiburg, in: www.spiegel.de (12. 4. 2007).

  5. Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960 - 2000, Münster 2005, S. 76.

  6. Zitiert nach ebd., S. 35.

  7. Ebd., S. 303.

  8. Vgl. Hannes Heer, Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004; Rosemarie Beier-de Haan, Erinnerte Geschichte - Inszenierte Geschichte, Frankfurt/M. 2005, S. 151ff.

  9. In Magdeburg war der Mittelalterteil von Otto dem Großen bis zu Maximilian I., von 962 bis ca. 1500 zu sehen; in Berlin wurde der neuzeitliche Teil der Reichsgeschichte von 1495 bis 1806 gezeigt (18. Mai bis 27. August 2006).

  10. Vgl. Interview mit Heinrich August Winkler, Erste Macht Europas, in: Der Spiegel, Nr. 32 vom 7. 8. 2006, S. 56f.

  11. Leserbrief von Wolfgang Claus, Kelkheim, "Wo bleibt die deutsche Kaiserkrone?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18. 9. 2006.

  12. In der Zentrums-Ausstellung konnten 160 Einzelschicksale medial abgerufen werden.

  13. Die Ausstellung umfasste rund fünfzehnhundert Exponate und zog 140 000 Besucher an. Homepage Deutsches Historisches Museum, www.dhm.de/aus stellungen/flucht-vertreibung/index.html (22. 6. 2007).

  14. Katalog Erzwungene Wege 2006, S. 19.

  15. Vgl. Heinrich Wefing, Ihr sollt Zeugnis ablegen, in: FAZ vom 19. 5. 2006.

  16. Erzwungene Wege (Anm. 13), S. 21.

  17. Roland Barthes, Historical Discourse, in: Michael Lane, Structuralism. A Reader, London 1970, S. 154 - 155, hier: S.154f. (übers. A. A.).

  18. Hannah Arendt, Vita activa oder: vom tätigen Leben, München 1981, S. 87.

  19. Vgl. Gottfried Korff, Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum, in: Ulrich Borsdorf/Theo Grütter (Hrsg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt/M. 1999, S. 319 - 335, hier: S.330.

  20. Vgl. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988.

Dr. phil., geb. 1947; Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, FB Literaturwissenschaft/Anglistik, Fach D 161, 78457 Konstanz.
E-Mail: E-Mail Link: Aleida.Assmann@Uni-Konstanz.de