Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Verkürzung mentaler Bremswege als Aufgabe der Geisteswissenschaften | Geisteswissenschaften | bpb.de

Geisteswissenschaften Editorial Die Verkürzung mentaler Bremswege als Aufgabe der Geisteswissenschaften Die Einheit des Wissens Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften Über die angebliche Krise der Geisteswissenschaften Freiraum für Geisteswissenschaften "Berliner Klassik" - ein Projekt der Akademien der Wissenschaften

Die Verkürzung mentaler Bremswege als Aufgabe der Geisteswissenschaften

Harald Welzer

/ 9 Minuten zu lesen

Themen und Formate der Geistes- und Kulturwissenschaften erreichen jüngere Adressaten nicht mehr. Vor diesem Hintergrund werden Zukunftsthemen wie etwa der Klimawandel benannt. Die Einzelfächer sollten mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Einleitung

Um mit der guten Nachricht zu beginnen: Auf den einschlägigen Podiumsdiskussionen, Vortragsveranstaltungen und Symposien, die aus Anlass des "Jahres der Geisteswissenschaften" stattgefunden haben, ist weniger über die Krise und bedauernswerte Randlage der Geistes- und Kulturwissenschaften gejammert worden, als zu befürchten war.

Stattdessen wurde über die Rolle gesprochen, die die Geistes- und Kulturwissenschaften im Zeitalter der Globalisierung finden müssen, und es wurde darüber gestritten, ob sie eine solche Rolle nun besser spielen können, wenn sie sich und ihre Ergebnisse verwertbarer und nützlicher machen, oder ob sie nur dann Relevanz haben können, wenn sie sich allen Verwertungszwängen entziehen und auf ihrer Nutzlosigkeit beharren.

Und es ging auch um die Empirie des Betriebs: um die creative industries und die Tätigkeit von Geisteswissenschaftlern außerhalb der Universitäten, über Orientierung und Verantwortung. Insofern waren die Debatten bunter und vielseitiger, als man erwarten durfte, und auch von Seiten der fördernden Institutionen bekamen die Geistes- und Kulturwissenschaften angenehmen Rückenwind. Mit dem Förderprogramm des Wissenschaftsministeriums ist für "Internationale Geisteswissenschaftliche Kollegs" so viel Geld ausgelobt worden, dass sich erfolgreiche Antragsteller fragen können, wie sie den ganzen Segen wohl sinnvoll ausgeben sollen, und das Förderprogramm Pro Geisteswissenschaften, das gemeinsam von der Volkswagenstiftung, der Thyssen-Stiftung, der ZEIT-Stiftung und dem Stifterverband getragen wird, erlaubt ausgewählten Denkerinnen und Denkern endlich wieder eine Zeit des einsamen Forschens und des Verfassens dicker Bücher.

Und nun die schlechten Nachrichten: Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgeschriebener Expertisenwettbewerb zur Situation von Geisteswissenschaftlern eröffnete auch die Möglichkeit, Förderanträge zum Thema "Zukunft der Geisteswissenschaften" zu stellen. Dieses Thema fanden gerade mal zwei junge Antragsteller interessant, und überhaupt litten die Veranstaltungen im Jahr der Geisteswissenschaften unter einer gerontokratischen Schieflage, die vielleicht nicht nur auf die veränderte Altersdemographie in Deutschland zurückzuführen ist, sondern auch darauf, dass weder die Formate noch die Themen, die Geistes- und Kulturwissenschaftler für öffentlichkeitswirksam halten, besonders zeitgenössisch sind. Es gehört ja zu den ungelösten Rätseln der Menschheit, wieso Podiumsdiskussionen, bei denen naturgemäß alle Teilnehmer aneinander vorbei reden, und dies in der Regel viel zu lange, immer noch das einzige Präsentationsformat darstellen, das Wissenschaftlern einfällt, die sich mit Medien, Sprache, Kultur, Geschichte und Öffentlichkeit beschäftigen. Die rühmliche Ausnahme bildete hier die Auftaktveranstaltung der Stadt Bremen zum "Jahr der Geisteswissenschaften", die mit slam poetry, Wortakrobatik, Musik und einer phantastischen künstlerischen Inszenierung die Antithese zur Verzichtsästhetik der meisten anderen Veranstaltungen lieferte - und tatsächlich ein Publikum anziehen konnte, unter dem sich sogar Studierende befanden. Gerade an diesem abweichenden Fall zeigt sich, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften heute offenbar vor allem jener Klientel wenig zu bieten haben, um das es ihnen am meisten gehen müsste: ihrem eigenen Nachwuchs.

So ist der Befund einigermaßen paradox: Die Geistes- und Kulturwissenschaften genießen kräftigen gesellschaftlichen und institutionellen Rückenwind, erhöhte Aufmerksamkeit und verbesserte Förderung, scheinen aber nur noch für ein Publikum 50plus interessant oder gar aufregend zu sein; Jüngere werden nur ausnahmsweise oder gar nicht mehr erreicht. Das könnte daran liegen, dass hier immer noch das Selbstbild des gelehrten Abwägungsspezialisten gepflegt wird, das nicht mehr in eine Zeit rapide beschleunigter Veränderungsprozesse passt. Einfacher gesagt: Vielleicht wird für den Geschmack der jüngeren Gesellschaftsmitglieder in den Fächern zu wenig selbst gedacht, und das zu langsam.

So weigern sich die Vertreter von Fächern, die durchaus das Zeug dazu hätten, mit einer irritierenden Beharrlichkeit, ihren Blick auf soziale und politische Wandlungsprozesse zu richten, sich mit der Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaates zu befassen, die kulturellen Ursachen wachsender Armut zu erforschen oder sich endlich Gedanken über den Klimawandel zu machen, der ja hinsichtlich seiner kulturellen Folgen keineswegs ein Problem darstellt, für das allein die Meteorologen zuständig wären. Statt sich mit anderen Disziplinen zusammenzutun, um gemeinsam über Strategien globaler Steuerung oder die Grundlagen systemischen Konfliktmanagements nachzudenken, haben sich die Geistes- und Kulturwissenschaftler in den vergangenen Jahren verstärkt in die Lösung von Detailproblemen vergraben, in mikrologische Begriffsanalysen und abseitige Editionsprojekte. Fleiß ist an die Stelle von Originalität getreten, philologische Kleinkrämerei hat intellektuelle Courage ersetzt, während man so eifersüchtig über sein geistiges Kleingeld wacht wie Onkel Dagobert über seine Taler.

In den Nischen ihrer Spezialisierung haben viele Geistes- und Kulturwissenschaftler verlernt, die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu unterscheiden, wofür sie konsequenterweise mit Desinteresse abgestraft werden. Dabei ist es ja nicht so, dass der Selbstaufklärungsbedarf in globalisierten Zeiten geringer geworden wäre. Das Jahr der Geisteswissenschaften fällt zufällig mit dem Jahr zusammen, in dem schlagend deutlich geworden ist, dass die global community mit einem Problem konfrontiert ist, das die bekannten menschlichen Lebensformen grundsätzlich gefährden kann. Die Klimaerwärmung und ihre Folgen beschäftigen so unterschiedliche Gruppen wie Naturwissenschaftler, Sicherheitspolitiker, Deichbauingenieure, Zaunfabrikanten, Sicherheits- und Gewaltunternehmer und nicht zuletzt die Versicherungs- und Tourismuswirtschaft. Eine Gruppe scheint dieses Problem hingegen völlig kalt zu lassen - die Geistes- und Kulturwissenschaftler. Das nun spricht Bände darüber, was dadurch angerichtet worden ist, dass man die vergangenen zwei Jahrzehnte so wunderbar die Welt der Diskurse erkundet und darüber vergessen hat, dass es ohne Welt auch keine Diskurse gibt. Und es gibt Auskunft darüber, dass die spezialistische Esoterisierung der geisteswissenschaftlichen Fächer auch zu einem Mangel an Unterscheidungsvermögen geführt hat, welche Entwicklungen der Beachtung wert sind und welche nicht.

Der Klimawandel, um bei diesem Beispiel zu bleiben, wird zu einer Häufung sozialer Katastrophen führen, die temporäre oder dauerhafte Zustände oder Formationen von Gesellschaften hervorbringen werden, über die man nichts weiß, weil man sich bislang zu wenig dafür interessiert hat. Geistes- und Kulturwissenschaften sind normalitätsfixiert und katastrophenblind. Gerade an den sozialen Veränderungen, die sich gegenwärtig zeigen, vom Klimakrieg in Darfur bis zum Verlust der Überlebensräume von Inselstaaten, zeigt sich die verblüffende Körper- und Raumlosigkeit geistes- und kulturwissenschaftlicher Theorien in aller Deutlichkeit, und es ist höchste Zeit, dass diese Wissenschaften so modernisiert werden, dass sie aus der Welt der Diskurse und Systeme zurück zu den Strategien finden, mit denen soziale Wesen versuchen, ihr Dasein zu bewältigen. Damit wird ein beträchtlicher Teil der Menschheit in Zukunft immer mehr Schwierigkeiten haben: Denn zunehmende Wüstenbildungen, Bodenversalzungen und -erosionen schränken die Überlebenschancen in manchen Gebieten genauso ein wie die Übersäuerung der Ozeane, die Überfischung, die Vergiftung der Flüsse und das Verlanden von Seen.

All das sind schon von daher keine Naturkatastrophen, als die zugrunde liegenden Prozesse anthropogen sind, von Menschen gemacht. Und ihre Folgen sind in jedem Fall sozial. Sie bestehen in Konflikten zwischen jenen, die dieselben zu knappen Ressourcen nachfragen, die unbewohnbar gewordene Regionen verlassen müssen und dort zu siedeln versuchen, wo andere schon sind. Aus der Völkermordforschung wissen wir, wie schnell die Lösung sozialer Fragen in radikale Definitionen und tödliche Handlungen übergehen kann, und so etwas abzuwenden, wird eine Probe darauf sein, ob Gesellschaften aus der Geschichte lernen können oder nicht.

Es ist vor dem Hintergrund solcher mit Händen zu greifender kultureller Folgen von Klima- und Umweltveränderungen frappierend, dass nahezu alle wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Phänomenen und Folgen des Klimawandels naturwissenschaftliche Studien, Modellrechnungen und Prognosen sind - während von Seiten der Geistes- und Kulturwissenschaften einmütiges Schweigen herrscht, gerade so, als fielen Phänomene wie Gesellschaftszusammenbrüche, Ressourcenkonflikte, Massenmigrationen, Landschaftszerstörungen, Angst, Kriegs- und Gewaltökonomien usw. nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Oder gerade so, als hätten nicht Autoren von Joseph Conrad bis W. G. Sebald sich nicht beständig mit der deprimierenden Synchronizität befasst, in der Natur und Kultur zerstört werden.

Dies alles zu ignorieren zeigt nicht nur einen Mangel an Unterscheidungsvermögen, sondern auch an Verantwortungsbewusstsein.

Worin bestünde in dieser Situation wissenschaftliche Verantwortung? Zum Beispiel darin, dass man Gesellschaften, die derart beschleunigte Wandlungen erleben wie unsere sozial privilegierten und immer noch recht luxuriösen westlichen Länder, darauf aufmerksam macht, dass die Globalisierung zu einer Renaissance von - nun aber transnationalen - Klassenstrukturen führt, die sich mit national verfassten Sozialstaats-, also Teilhabekonzepten nicht kompensieren lassen; oder: dass eine globalisierte Welt, deren Ressourcenprobleme zu verstärkten inner- und zwischenstaatlichen Konflikten führen werden, nicht nur einer besseren Gewalt- und Konfliktforschung bedarf, als es gegenwärtig der Fall ist, sondern dass daran gearbeitet werden sollte, Menschen zu Orientierungs- und Verhaltensveränderungen zu motivieren; oder: dass eine Politik, deren Zukunftshorizont bis zur nächsten Landtagswahl reicht, die aber nachhaltige Entscheidungen mit transgenerationeller Wirksamkeit trifft, unter stärkeren Legitimationsdruck gesetzt werden muss - wozu die längst überfällige Neuformulierung der Frage gehört, in welcher Gesellschaft man eigentlich leben will und welche Normen und welche Praxis eine solche Gesellschaft auszeichnen sollen. Zur Beantwortung solcher Fragen reicht der Hinweis auf die allfälligen Sachzwänge nicht aus, hier sind die Geistes- und Kulturwissenschaften in der Verantwortung, denn sie müssen sich Antworten auf die Frage zumuten, wohin die Reise gehen soll und wohin auf keinen Fall.

Dies wäre dann allerdings auch die Stelle, an der man vor allem den jüngeren Vertreterinnen und Vertretern der Kulturwissenschaften mehr Unmut verordnen möchte: Schließlich hat die Gesellschaft für die Entwicklung ihrer Kompetenz, mit allem Nachdruck auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, bezahlt; und leider nehmen sie diese Aufgabe zu wenig wahr, paradoxerweise vielleicht gerade deswegen, weil sie immer noch zu stark dem tradierten Rollenbild der kritischen verwertungsfernen Aufklärer verhaftet sind.

Überhaupt wird man den Geistes- und Kulturwissenschaften zumuten müssen, ihren Gegenstand breiter zu definieren als bislang: Denn die Neurowissenschaft hat uns darüber belehrt, dass die menschliche Gehirnentwicklung erfahrungsabhängig, also kulturell spezifisch verläuft, weshalb sich im humanen Bereich die Seinsbereiche der Natur und der Kultur überhaupt nicht trennen lassen. Vor diesem Hintergrund müssen sich die Kulturwissenschaften vermehrt der Mühe unterziehen, sich jene Befunde der Naturwissenschaften zunutze zu machen, die ihnen helfen, Gesellschaften angemessener zu beschreiben: also zu verstehen, wieso Menschen besser als Teil von Netzwerken zu begreifen sind denn als Individuen, dass Bodenerosion alsbald soziale Erosion nach sich zieht, was Emotionen sind und wie sie unter kulturellen Einflüssen modernisiert werden, oder was die biosozialen Bedingungen für das weitere Überleben des homo sapiens sapiens sind. Dessen machtvollste Überlebenstechnik besteht einstweilen darin, dass sein Bewusstsein und sein Gedächtnis ihm jenen unendlichen Raum zwischen Anforderung und Bewältigung eröffnet haben, den wir Kultur nennen.

Auf das Offenhalten dieses Raumes kommt es an, und die Geistes- und Kulturwissenschaften werden ohne eine Öffnung ihres Gegenstandsbereiches nicht in der Lage sein, jene verantwortliche Rolle einzunehmen, die ihnen angesichts radikal neuer gesellschaftlicher Probleme zukommt: Sie produzieren von jeher keine Geräte, Gebäude, Fahrzeuge und Kraftwerke, sondern Kommentare, Analysen, Ideen und Geschichten. Solche Geschichten konnten, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat, von ungeheurer destruktiver Kraft sein, aber manchmal sind sie auch - was etwa die Geschichte der Menschenrechte angeht - von erheblicher zivilisatorischer Wirkung. Die Frage nach der Verantwortung der Geistes- und Kulturwissenschaften stellt sich neu und dringend gerade unter den Bedingungen eines weltumspannenden ökologischen Wandels und einer globalisierten Klassengesellschaft, in der weder eine Umwelt- noch eine Sozial- noch eine Sicherheitspolitik zukunftsfähig sein kann, die nationalstaatlich gedacht wird. Insofern wird das neue Rollenverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften sich auch zumuten müssen, wieder politischer zu sein.

Allerdings kann sich politisches Denken in Zeiten globaler Gefährdung nicht an ausbuchstabierten Zukunftsmodellen orientieren; nicht nur, weil die Phantasie dazu fehlt, sondern weil sich die gesellschaftlichen Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts als totalitäre Desaster entpuppt haben. Gerade deshalb aber ist eine Renaissance des politischen Denkens notwendig, und die muss sich in einer Kritik jeder Einschränkung der Überlebensbedingungen anderer erproben. Dazu wird allerdings erheblich mehr prospektives und antizipatorisches Denken nötig sein, als man in den vergangenen Jahrzehnten aufzubringen gelernt hat. Angesichts von Gefährdungen, deren umfassende Folgen erst in der Zukunft liegen, steuern Gesellschaften aufgrund ihrer diesbezüglichen Erfahrungslosigkeit auf neue Problemlagen zu wie ein Tanker auf den Eisberg, dem er nicht mehr ausweichen kann, obwohl dieser längst schon in Sichtweite ist. Womit sollten diese zu langen mentalen Bremswege verkürzt werden können, wenn nicht mit Hilfe geistes- und kulturwissenschaftlicher Kompetenz?

Dr. phil., geb. 1958; Professor und Leiter des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, Goethestraße 31, 45128 Essen.
E-Mail: E-Mail Link: Harald.Welzer@kwi-nrw.de