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Ein Land, zwei Systeme | Hongkong | bpb.de

Hongkong Editorial Die unvollendete Revolution "Generation HK". Protest und Identität in Hongkong Die Schattenseite der Protestbewegung. Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren Ein Land, zwei Systeme. Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts Widerspenstig, aber unverzichtbar. Wirtschaftsstandort Hongkong Zur Geschichte Hongkongs Nationalkino ohne Nation: Der Hongkong-Film - Essay Karte

Ein Land, zwei Systeme Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts

Nele Noesselt

/ 17 Minuten zu lesen

Die Formel "Ein Land, zwei Systeme" ermöglicht die Koexistenz von sozialistischen und kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen unter dem Dach der VR China. Insbesondere in Hongkong zeigt sich, wie schwierig die Umsetzung des Integrationsmodells ist.

"Ein Land, zwei Systeme" – diese Formel griff der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping in seiner Neujahrsrede 2020 mit Blick auf die Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao explizit auf. Er betonte, dass sich diese Lösungsformel im Falle Macaos erfolgreich bewährt habe und unterstrich das Interesse Pekings an stabilen Strukturen in Hongkong – wo zum Jahreswechsel 2019/20 erneut Proteste entflammt waren, bei denen eine stärkere Demokratisierung und Abgrenzung Hongkongs gegenüber Peking gefordert wurde.

Die Formel "Ein Land, zwei Systeme" legitimiert und garantiert die Parallelexistenz von sozialistischen und kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen unter dem Dach der Volksrepublik (VR) China. Die Formel wird auf die Reden und Schriften Deng Xiaopings der 1980er Jahre zurückgeführt, der, wiewohl er auch formal kein Führungsamt bekleidete, als führender Architekt und Ideengeber der post-maoistischen Wirtschaftsreformen gilt.

Nach dem Tod Maos 1976 war die VR China in eine Phase der erneuten Staatsbildung und administrativen Restrukturierung eingetreten. Diskutiert wurde dabei unter anderem auch die Frage, wie die damals noch unter britischer beziehungsweise portugiesischer Verwaltung stehenden Gebiete Hongkong und Macao in Zukunft in die sozialistischen Strukturen der VR China integriert werden könnten. Die Pachtverträge, die dem chinesischen Kaiserreich im Zuge der Opiumkriege aufgezwungen worden waren, sahen eine Laufzeit von 99 Jahren vor. Während sich chinesische Beobachter darüber Gedanken machten, wie sich die nach europäischem Vorbild in den beiden Sondergebieten etablierten kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen mit den sozialistischen Planvorgaben der VR China verbinden lassen könnten, dominierte auf europäischer Seite die Sorge über die Zukunft der liberalen Gesellschaftsordnung in Hongkong beziehungsweise Macao. Die Zauberformel "Ein Land, zwei Systeme" ermöglichte einen Übergangskompromiss, bei dem sich die chinesische Seite verpflichtete, den Fortbestand der liberalen, kapitalistischen Systemstrukturen für eine Dauer von 50 Jahren ab dem Zeitpunkt der Rückübertragung zu garantieren.

Am 19. Dezember 1984 unterzeichneten die VR China, vertreten durch den damaligen Premierminister Zhao Ziyang, und Großbritannien, vertreten durch Margaret Thatcher, eine gemeinsame Erklärung zur Rückgabe Hongkongs und der angegliederten New Territories an die VR China zum 1. Juli 1997 nach der Formel "Ein Land, zwei Systeme". Diese Regelung wurde auch im Hong Kong Basic Law (Hongkonger Grundgesetz) verankert.

Mit der Erarbeitung des Basic Law betraute der Nationale Volkskongress der VR China 1985 einen Parlamentarischen Rat. 23 der insgesamt 59 Mitglieder vertraten die Interessen Hongkongs. Nach mehreren Konsultationsrunden in Hongkong trat das Basic Law mit der Rückübertragung an die VR China zum 1. Juli 1997 in Kraft. Das Basic Law schreibt Hongkong den Status einer Sonderverwaltungszone zu. Die Errichtung der Sonderstrukturen ist mit der Verfassung der VR China von 1982 kompatibel. Artikel 5 des Basic Law garantiert den Fortbestand der kapitalistischen Systemstrukturen Hongkongs und seiner liberalen Gesellschaftsordnung für die kommenden 50 Jahre. Artikel 45 sieht vor, dass an der Spitze der Hongkonger Verwaltung ein Regierungschef steht, der lokal gewählt beziehungsweise über Konsultationsprozesse ausgewählt und von der Zentralregierung in Peking formal ernannt wird. Auf lange Sicht sieht das Basic Law allgemeine Wahlen vor – wobei die Formulierung hierzu vage bleibt und Spielraum für Interpretationen lässt. 2047 würde der Sonderstatus Hongkongs den Vereinbarungen nach enden. Wie die Strukturen danach gestaltet werden könnten, ist offen.

Hongkongs liberales Gesellschaftssystem steht für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Sonderverwaltungszone verwendet in der Schriftsprache die chinesischen Langzeichen, lokal wird Kantonesisch gesprochen, nicht Mandarin. Offizielle Amts- und Verwaltungssprachen sind Englisch und Chinesisch. Hongkong besitzt mit dem Hongkong-Dollar seine eigene Währung. Die technischen Standards und Normen der Sonderverwaltungszone sind weiterhin an das britische System angelehnt, wie der Linksverkehr exemplarisch illustriert. Hongkongs Einwohner sind chinesische Staatsbürger, besitzen jedoch den Pass der Sonderverwaltungszone Hongkong, der ihnen oftmals visafreie Reisen ermöglicht. Hongkong steht somit für einen hohen Grad an Autonomie – lediglich die Außen- und Verteidigungspolitik liegt ausschließlich in den Händen der chinesischen Zentralregierung in Peking.

Kritiker in Hongkong beanstanden seit der Rückübertragung Hongkongs an die VR China im Juli 1997, dass es zu einer schleichenden Erosion der formal garantierten liberalen Gesellschaftsordnung gekommen sei. Zugleich hat die Debatte über die langfristige graduelle Adaption des Wahlverfahrens und die Option der Direktwahl des Regierungschefs und der Mitglieder des Hongkonger Legislativrates über die Jahre an Dynamik gewonnen.

Nominierungs- und Wahlkomitees

Die Geschichte des Hongkonger Legislativrates spiegelt exemplarisch die Dynamiken im Vorfeld des Rückgabeprozesses: In den 1990er Jahren wurden unter Chris Patten, dem damaligen britischen Generalgouverneur Hongkongs, verstärkt partizipatorische Elemente eingeführt. 1991 waren lediglich 18 der damals 60 Sitze des Legislativrates durch Direktwahl besetzt worden; 1995 wurde dieser Anteil auf 30 der zu vergebenden Sitze erhöht. Allerdings wurde dieser Legislativrat nach der Rückübertragung 1997 aufgelöst und bis 1998 durch einen provisorischen Rat ersetzt, dessen Mitglieder von Peking eingesetzt wurden. Für die folgenden Wahlen wurde ein Wahlkomitee eingerichtet; ein allgemeines Wahlrecht wurde nicht eingeführt. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in Peking, der die Macht hat, das Basic Law zu erweitern (und zu interpretieren), legte 2007 fest, dass es für die anstehenden Wahlen 2012 keine Direktwahl des Regierungschefs geben werde. Allerdings wurde die Möglichkeit der Direktwahl für das Jahr 2017 in Aussicht gestellt. Der Ständige Ausschuss hielt fest, dass im Vorfeld der Wahlen ein Bericht über die aktuelle Lage in Hongkong vonseiten des Regierungschefs vorzulegen sei, auf dessen Grundlage dann über die konkreten Wahlformalia debattiert werden sollte. Zudem sollte für die Wahlen ein Nominierungskomitee eingesetzt werden, das eine Liste mit Kandidaten erarbeiten würde.

2014 erfolgte eine erneute Überprüfung und Stellungnahme des Ständigen Ausschusses, der sich auf den durch Leung Chun-ying, damals Regierungschef, vorgelegten Lagebericht stützte. Mit Blick auf die Möglichkeit einer Direktwahl des Regierungschefs im Wahljahr 2017 wiederholte der Ständige Ausschuss das Prinzip der kurzfristigen Überprüfung der Lage im Vorfeld der Wahlen. Zudem betonte er in seiner Stellungnahme, dass bei den Wahlen in Hongkong die Grundprinzipien des Basic Law sowie die Beschlüsse des Ständigen Ausschusses zu wahren seien. Darüber hinaus müsse der Regierungschef eine Person sein, die das Land und Hongkong liebe ("has to be a person who loves the country and loves Hong Kong"). Außerdem wurde fixiert, dass ein Nominierungskomitee zwei bis drei mögliche Kandidaten für das Amt des Regierungschefs aufstellen solle, wobei für die Nominierung eines Kandidaten jeweils die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Nominierungskomitees erforderlich sei.

Auf der einen Seite ist durch die Beschlüsse des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses eine Erhöhung der Zahl der direkt wählbaren Mitglieder des Hongkonger Legislativrates und eine Vergrößerung des Wahlkomitees von anfänglich 400 auf 1200 Mitglieder erfolgt, was eine Tendenz zum Ausbau partizipatorischer Elemente nahelegt. Auf der anderen Seite bildet der 2014 formulierte Loyalitätsimperativ des Regierungschefs durchaus die Bedenken Pekings ab, durch eine rasch voranschreitende Ausweitung der (direkten) Demokratie die fragile Balance zwischen den "zwei Systemen" zu gefährden.

Als sich bereits 2014 Proteste in Hongkong regten ("Regenschirm-Bewegung"), entzündeten sich diese insbesondere an der geplanten Einsetzung eines Nominierungskomitees. Doch auch Hongkonger Rechtswissenschaftler argumentieren, dass eine freie Nominierung von Kandidaten im Basic Law nicht (direkt) vorgesehen sei. Die pekingkritische Opposition in Hongkong teilt diese Meinung nicht; auch unter internationalen Rechtswissenschaftlern besteht bislang kein Konsens, inwiefern die Einrichtung eines Wahl- und eines Nominierungskomitees mit den Grundideen des Basic Law zu vereinbaren sei.

Zukunftsangst und Proteste

Generell zeugen die immer wieder auflodernden anti-"chinesischen" Protestbewegungen in Hongkong von einer Identitätskrise der lokalen Bevölkerung sowie von zunehmenden sozioökonomischen Spannungen. Letztere werden unter anderem durch den perzipierten globalen ökonomischen und monetären Aufstieg der VR China zu einer der neuen Supermächte weiter angeheizt.

Einst hatte Hongkong als Tor nach Europa, als Finanz- und Handelsknotenpunkt zwischen der sozialistischen VR China und dem kapitalistischen Westen fungiert. Infolge der 1978 getroffenen Beschlüsse des 3. Plenums des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas über Reform und Öffnung hat sich das festlandchinesische Wirtschaftssystem jedoch neu strukturiert. Während die Idee zunächst darin bestanden hatte, die Experimente mit Kapitalismus und marktwirtschaftlichen Prinzipien auf lokale Sonderwirtschaftszonen zu begrenzen, setzte sich letztendlich eine chinesische Variante des (Staats-)Kapitalismus durch.

Unter der gegenwärtig amtierenden fünften Führungsgeneration sind neben Sonderwirtschaftszonen insbesondere neue Pilotzonen errichtet worden, in denen der Handel direkt in der chinesischen Währung Renminbi abgewickelt werden kann. Damit könnte Hongkong sein Alleinstellungsmerkmal als Finanz- und Handelsbrückenkopf zwischen der VR China und den globalen Märkten einbüßen. Zudem haben festlandchinesische Investoren und Unternehmer wichtige Sektoren der Hongkonger Wirtschaft übernommen. Die Proteste in Hongkong sind nicht zuletzt Reaktionen auf diesen wahrgenommenen Wandel. So hatten die Unmutsäußerung der Hongkonger Bevölkerung der vergangenen Jahre oft nicht primär politische, sondern lokale sozioökonomische (Fehl-)Entwicklungen zum Gegenstand – wie insbesondere die stark ansteigenden Wohnungspreise und Lebenshaltungskosten.

Schon die Proteste von 2014 hatten verdeutlicht, dass sozioökonomische Sorgen gerade mit Blick auf die jüngeren und gebildeteren Bevölkerungsschichten eine starke Mobilisierungswirkung entfalten können. Diese diffuse Verunsicherung ist möglicherweise durch den Vorstoß Pekings verstärkt worden, Metropolregionen zu etablieren und diese über die Wirtschaftskorridore der Neuen Seidenstraße global zu vernetzen. Der 13. Fünfjahresplan der VR China, der von 2016 bis 2020 gilt, identifizierte das Perlflussdelta, an dem Hongkong, Shenzhen und weitere bedeutende Städte liegen, als eines der zentralen Metropolcluster. Kurz darauf wurde diese Idee als Projekt der Integration der Wirtschaftsräume Hongkongs, Macaos und der angrenzenden festlandchinesischen Städte und Regionen ausdifferenziert. Die Integration dieses Deltas umfasst auch den Bau von Brücken und Tunnelsystemen; Transportzeiten sollen durch Hochgeschwindigkeitszüge minimiert werden. Die Möglichkeit, dass an Bord dieser Züge und in den entsprechenden Bahnhöfen das Hongkonger Recht außer Kraft gesetzt sein könnte, führte zu heftigen Protesten – und brachte damit erneut die Angst vor einer finalen Integration Hongkongs nach Pekinger Konditionen zum Ausdruck.

Regenschirm-Bewegung

Die unter dem Namen "Regenschirm-Bewegung" – mitunter auch als "Regenschirm-Revolution" – zusammengefassten Protestbewegungen in Hongkong entzündeten sich 2014 an dem Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses vom 31. August 2014, der die Vorgaben zum Nominierungs- und Wahlverfahren des nächsten Hongkonger Regierungschefs fixierte. Pro-demokratische Gruppierungen hatten darauf gehofft, dass mit Blick auf 2017 die Weichen für eine Direktwahl des Regierungschefs gestellt werden würden. Die Vorgabe, dass in Zukunft ein Nominierungskomitee mögliche Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorab benennen sollte, wurde von den Verfechtern einer weitergehenden Demokratisierung Hongkongs als inakzeptabel abgelehnt. Zudem setzte Peking schließlich auch für 2017 fest, dass die Wahl des Regierungschefs nicht durch die Hongkonger selbst, sondern weiterhin durch ein Wahlgremium erfolgen würde, das 1200 Vertreter der berufsständischen, gesellschaftlichen und religiösen Gruppen Hongkongs, die Mitglieder des Legislativrates sowie der Hongkonger Abgeordnetengruppe des Nationalen Volkskongresses umfasst. Die Mehrheit der Mitglieder des Wahlkomitees wurde und wird dem pekingnahen Lager zugerechnet, sodass eine Nominierung oder gar ein Wahlsieg eines pekingkritischen Kandidaten im Vorfeld als aussichtslos eingestuft wurde.

Die Protagonisten der Gruppe "Occupy Central with Love and Peace" besetzten ab 2014, lange im Vorfeld der Wahlen, als Ausdruck ihres Widerspruchs den Finanz- und Bankendistrikt und forderten neben der Rücknahme des Beschlusses Schritte in Richtung einer umfassenden Demokratisierung Hongkongs. Parallel hierzu stattfindende studentische Protestbewegungen – die von Alex Chow geführte Hong Kong Federation of Students und die mit Joshua Wong verbundene Scholarism-Bewegung, aus der 2016 die neue Partei Demosisto hervorging – forderten neben allgemeinen, freien Wahlen ohne Einflussnahme durch Peking auch den Rücktritt des damaligen Regierungschefs Leung Chun-ying. Aus den Reihen der Opposition wurde diesem nachgesagt, enge Kontakte zur Kommunistischen Partei Chinas zu unterhalten und die Identität wie auch den Sonderstatus Hongkongs verraten zu haben: Seine Antrittsrede hatte Leung 2012 nicht auf Kantonesisch, sondern in Mandarin gehalten, was die ohnehin angespannte Lage in Hongkong weiter angeheizt hatte.

Im Juni 2014, im Vorfeld der Proteste, hatte das Informationsbüro des Staatsrats der VR China ein Weißbuch zu Hongkong veröffentlicht, in dem die Selbstverpflichtung Pekings zur Einhaltung des "Ein Land, zwei Systeme"-Prinzips unterstrichen wurde. Während Kommentare der festlandchinesischen Medien betonten, es gelte Chaos in Hongkong zu vermeiden und am Status quo festzuhalten, reagierten die pro-demokratischen Hongkonger Medien alarmiert und vermuteten, Peking versuche den Zugriff und die Kontrolle über Hongkong auszuweiten. Die Occupy-Central-Bewegung mutmaßte, dass es sich um einen Versuch handeln könne, die in Hongkong stattfindenden informellen Referenden zu den Wahlmodi der 2017 anstehenden Wahlen des Regierungschefs zu unterbinden und die Hongkonger Demokratiebewegung gezielt einzuschüchtern.

Die Regenschirm- und Folgeproteste, die sich im Zuge der Verurteilung der Initiatoren und Protagonisten der Bewegung entluden, mündeten 2019/20 in einem Fünf-Punkte-Katalog der Demonstranten. Neben der ursprünglichen Forderung nach allgemeinen und freien Wahlen ohne Eingriffsmöglichkeiten durch Peking fordern die Aktivisten unter anderem eine generelle Amnestie der inhaftierten Demonstranten sowie eine Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, das eine Überstellung und Verurteilung Hongkonger Staatsbürger durch die Gerichte der VR China ermöglichen könnte. Der Entwurf zum Auslieferungsgesetz wurde am 23. Oktober 2019 zurückgezogen – die anderen Forderungen bestehen weiter.

Das Auslieferungsgesetz stand zur Debatte, da es im konkreten Fall eines in Taiwan des Mordes beschuldigten Hongkongers, der sich in Hongkong aufhält, nach gegenwärtiger Gesetzeslage nicht möglich ist, diesen an die zuständigen Gerichte nach Taiwan zu überstellen. Die pro-demokratische Hongkonger Opposition äußerte die Befürchtung – gerade mit Blick auf die Prozesse gegen die Aktivisten der Regenschirm-Bewegung –, dass ein entsprechendes erweitertes Auslieferungsgesetz auch die Überstellung Hongkonger Aktivisten an die festlandchinesischen Gerichte ermöglichen würde.

Hitzige Debatten gab es auch um Artikel 23 des Hongkonger Basic Law. Der Artikel sieht vor, dass Hongkong Gesetze erarbeiten soll, die jede Form von Hochverrat, Abspaltung, Volksverhetzung sowie den Versuch des Umsturzes der Pekinger Zentralregierung unterbinden. Auf den 2002 unternommenen Versuch der Hongkonger Verwaltung, ein entsprechendes "Anti-Subversionsgesetz" zu erlassen, folgten massive Proteste. Das Vorhaben wurde daraufhin fallengelassen.

Unter der amtierenden Regierungschefin Carrie Lam wurden im Dezember 2017 die verfahrenstechnischen Grundlagen des Legislativrates jedoch geändert – womit aus Sicht der Opposition der Weg für eine Implementierung der Vorgaben von Artikel 23 geebnet worden sein könnte. Das erforderliche Quorum für Abstimmungen – nach Artikel 75 des Basic Law die Hälfte der Abgeordneten des Legislativrates, der derzeit 70 Personen zählt – wurde von 35 auf 20 reduziert. Zeitgleich wurde die Zahl der für ein Untersuchungsverfahren erforderlichen Unterschriften von 20 auf 35 erhöht, womit, wie die Opposition betont, die Mehrheit der pekingnahen Vertreter zusätzlich gestärkt und die Möglichkeit einer Verzögerungstaktik – insbesondere durch die pro-demokratischen Mitglieder des Legislativrates – relativiert wird.Carrie Lam wies jede Verbindung zwischen den prozeduralen Änderungen und Artikel 23 entschieden zurück.

Wie das Rückrudern Carrie Lams im Falle des umstrittenen Auslieferungsgesetzes verdeutlicht, ist auch das pekingnahe Lager bemüht, die Ängste und Verunsicherungen der Hongkonger Bevölkerung zu bedenken. Doch auch nach der Rücknahme des Gesetzes wurden die Straßenproteste fortgesetzt – insbesondere an Tagen mit hoher Symbolkraft wie dem 70. Jahrestag der VR China Anfang Oktober 2019 oder Silvester 2019/20.

Auswirkungen auf Taiwan

Trotz der zunehmenden Eskalation in Hongkong und des mitunter partiellen Abdriftens der ursprünglich weitgehend friedlichen Demonstrationen zu Straßenschlachten ist es seitens Pekings zu keinem aktiven Eingreifen – wie beispielsweise durch die Entsendung von zusätzlichen Sicherheitskräften oder Militäreinheiten – gekommen. Die politische Führung in Peking ist penibel darum bemüht, sich nicht zu einem Abweichen von der "Ein Land, zwei Systeme"-Formel zwingen zu lassen. So wird immer wieder betont, dass die Einheit und Stabilität Chinas an erster Stelle stehe und jede Art von "Chaos" vermieden werden solle.

Hongkong war und ist nicht der einzige Schauplatz gegen Peking gerichteter Proteste. Im März und April 2014, somit noch vor der Regenschirm-Bewegung, war es in Taiwan zu Demonstrationen gegen das Economic Cooperation Framework Agreement zwischen Festlandchina und Taiwan gekommen, insbesondere gegen die geplante Öffnung des taiwanesischen Dienstleistungssektors. Diese als "Sonnenblumenbewegung" bezeichneten Proteste erreichten ihren Höhepunkt mit der Besetzung des Parlaments in Taipeh. Der darauffolgende Wahlerfolg der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) – die dem "grünen" Lager zugerechnet wird, dem eine generelle Autonomietendenz und Abgrenzung gegenüber Peking zugeschrieben wird – verdeutlicht die Vorbehalte und Ängste der Bevölkerung Taiwans. Unter Taiwans 2016 gewählter DFP-Präsidentin Tsai Ing-wen erfolgte in Abgrenzung von der Politik des "blauen" Lagers eine Festigung der Beziehungen zu den USA und zugleich eine verstärkte symbolische Distanzierung von Peking. In ihrer Rede vom "Doppelzehnten" 2019 – dem 10. Oktober, der als Nationalfeiertag der Republik China gilt – behauptete Tsai, dass Peking auch Taiwan die Formel "Ein Land, zwei Systeme" aufzustülpen gedenke. Die Mehrheit der 23 Millionen Einwohner Taiwans, so Tsai, lehne dies ab und sehe darin eine akute Gefahr für die Demokratie und Freiheit Taiwans. Außerdem illustriere Hongkong das Scheitern der "Ein Land, zwei Systeme"-Lösung. Die Hongkonger "South China Morning Post" griff dies unmittelbar auf und kontrastierte Tsais Rede mit Xi Jinpings Ansprache zum Nationalfeiertag der VR China am 1. Oktober, in der dieser die Einheit Chinas als oberste Priorität unterstrichen und das Festhalten an der Formel "Ein Land, zwei Systeme" herausgestellt hatte.

Zu den immer wieder erneut aufflammenden Protesten in Hongkong hatte sich Xi Jinping von dem BRICS-Gipfeltreffen in Brasilien im November 2019 aus zu Wort gemeldet und die Unterstützung Pekings für Carrie Lam als Regierungschefin Hongkongs zum Ausdruck gebracht. Zudem hatte er explizit betont, dass nicht durch Pekings Positionen, sondern allein durch die gewaltsamen Proteste in Hongkong das "Ein Land, zwei Systeme"-Prinzip verletzt worden sei. Als symbolisches Gegenbild zu dem von Tsai Ing-wen postulierten "Scheitern" dieser Formel betonte Xi anlässlich des 20. Jahrestages der Sonderverwaltungszone Macao im Dezember 2019 den Erfolg des "Ein Land, zwei Systeme"-Integrationsmodells.

Anfang Januar 2020 unterstrich Xi in seinem Gruß an die Chinesen in Taiwan die Bedeutung des Konsenses von 1992 und der Idee der nationalen Einheit (und, langfristig gesehen, der nationalen Wiedervereinigung). Er sagte auch, dass Peking sich vorbehalte, im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans oder der Einmischung externer Akteure auf nicht-friedliche Mittel zurückzugreifen. Der Volkskongress der VR China verabschiedete 2005 ein Anti-Abspaltungsgesetz als Reaktion auf die Initiative des damaligen Präsidenten Taiwans, Chen Shuibian, eine formale Unabhängigkeit Taiwans zu erzielen.

Die Beziehungen mit Peking dienen insbesondere in Wahlkampfzeiten als Instrument der Mehrheitsgenerierung und Wählermobilisierung. Sowohl die Oppositionsparteien in Taiwan als auch einzelne Vertreter der Studentengruppierungen in Hongkong werfen Tsai allerdings vor, die Protestbewegung in Hongkong für wahlkampfstrategische Zwecke zu missbrauchen und die Demonstranten nicht wirklich zu unterstützen.

Bei den Präsidentschaftswahlen am 11.1.2020 erzielte Tsai Ing-wen 57,1 Prozent der Stimmen. Der Kandidat der Opposition, Han Kuo-yu von der Nationalen Volkspartei (KMT), kam auf 38,6 Prozent. Berücksichtigt man, dass die DFP bei den zurückliegenden Kommunalwahlen starke Stimmenverluste zu verzeichnen gehabt hatte, scheint Tsais Wahlkampfkampagne, bei der sie die Lage in Hongkong als düsteres Zukunftsszenario eines von Peking fremdbestimmten Taipehs an die Wand malte, aufgegangen zu sein. Während die Proteste in Hongkong weltweit Unterstützer finden, dominiert mit Blick auf Taiwan die Beschwörung auf die Aufrechterhaltung des Status quo. Tsais Ablehnung des Konsenses von 1992 – mit dem sich beide Seiten der Taiwanstraße darauf verständigten, dass es nur ein China gebe, jedoch unterschiedliche Auslegungen, wie dieses gestaltet sein sollte – wird als ein Abrücken von den bisherigen Strukturen gedeutet. Internationale Gratulationen zum Wahlsieg der DFP waren dementsprechend eher die Ausnahme. Die staatliche Nachrichtenagentur der VR China, Xinhua, warf im Nachgang der Wahlen Tsai Ing-wen und ihrer Partei Wahlbetrug und "schmutzige" Wahlkampftaktiken wie "Einschüchterung und Unterdrückung" vor und sah die politische Zuspitzung der Lage als Machenschaft "externer" Agitatoren.

Die (internationalen) Spekulationen über eine unilaterale Aufkündigung des "Ein Land, zwei Systeme"-Prinzips durch Peking verdeutlichen die Ungewissheit, die mit dem Machtzuwachs der VR China einhergeht. Einige Beobachter gehen davon aus, dass ein ökonomischer Machtzugewinn zwangsläufig auch politische Forderungen und revisionistische (Territorial-)Ansprüche nach sich ziehe. Peking tritt diesen Erwartungen aktiv entgegen und betont seine Selbstverpflichtung zu Harmonie und Kontinuität – und versucht, einer Eskalation entgegenzuwirken, ohne dabei seinen grundlegenden Standpunkt des Ein-China-Prinzips zu relativieren.

ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen. E-Mail Link: nele.noesselt@uni-due.de