Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Deutschland als europäische Macht und Bündnispartner | NATO | bpb.de

NATO Editorial Auf dem Weg zum Weltpolizisten? Präsident Obama und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen Im Westen nichts Neues? Partnerschaft, Kalter Krieg oder Kalter Frieden? Die Zukunft der NATO in Mittelosteuropa Russland und die NATO: Grenzen der Gemeinsamkeit Deutschland als europäische Macht und Bündnispartner

Deutschland als europäische Macht und Bündnispartner

Dieter Dettke

/ 15 Minuten zu lesen

Einleitung

Die Bundesrepublik Deutschland ist noch immer weit entfernt von einer zukunftsfähigen strategischen Kultur. Aber keine deutsche Regierung wird sich auf Dauer dem Zwang zur "Normalisierung" im Umgang mit militärischer Gewalt entziehen können, so verständlich die Abneigung gegen Kampf-einsätze der Bundeswehr im Ausland aufgrund der deutschen Geschichte auch sein mag. Die gegenwärtige Struktur der Bundeswehr ist ungeeignet, die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft zu bestehen.


In der Vergangenheit war ein potentielles militärisches Übergewicht Deutschlands in Europa das Kernproblem europäischer Sicherheit. Deutschland war "zu groß und zu dynamisch, um in einem traditionellen System des Machtgleichgewichts eingedämmt werden zu können". Heute wird die deutsche Bündnisfähigkeit nicht durch ein militärisches Übergewicht bedroht, sondern durch das Festhalten an einer unrealistischen Zivilmachtvorstellung. Die deutschen militärischen Leistungen im Bündnis und für Europa sind dem wirtschaftlichen Gewicht und der politischen Größenordnung des Landes nicht angemessen. Dies schwächt die militärischen Grundlagen der europäischen Handlungsfähigkeit auf dem Balkan und gefährdet die Stabilisierungsziele der NATO in Afghanistan. Eine Beschränkung oder gar die Ablehnung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr ist ein fragwürdiges Modell von Bündnispolitik und kann auch das Gegenteil von Stabilisierung und Zivilisierung erreichen: das Abgleiten in größere Kriege durch Verweigerung des Gebrauchs militärischer Macht zu einem frühen Zeitpunkt.

In Afghanistan zeichnet sich wie einst auf dem Balkan die Gefahr eines größeren militärischen Konflikts ab, weil dem zivilen Aufbau kein ausreichender militärischer Schutz zur Verfügung steht. Eine zentrale Erfahrung vergangener UN-Einsätze liegt darin, dass die Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Truppeneinsatzes geringer ist, je größer die Bereitschaft und Fähigkeit der UN-Truppen zum Gebrauch militärischer Gewalt sind.

Zwang zur Normalisierung

Die Katastrophe von Srebrenica wurde durch die fehlende Bereitschaft zur Anwendung militärischer Gewalt und nicht etwa durch ihren übereilten Einsatz verursacht. 8000 Männer und Jungen wurden Opfer eines Massakers, weil die UN-Friedenstruppe zu schwach war und ihr das Mandat zum Eingreifen fehlte. Das Massaker in Srebrenica und der Genozid in Ruanda veranlassten die Vereinten Nationen, die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Aufrechterhaltung menschlicher Sicherheit (responsibility to protect) zur Völkerrechtsnorm zu erheben. Ohne die Bereitschaft, Völkermord auch mit militärischer Gewalt zu verhindern, lässt sich diese Norm nicht durchsetzen. Peacekeeping kommt erst dann zum Zuge, wenn stabile sicherheitspolitische Verhältnisse hergestellt worden sind. Deutschland muss sich realistischer mit den militärischen Konsequenzen auseinandersetzen, die sich aus den "neuen Kriegen" ergeben.

Im Herbst 2008 hat der Deutsche Bundestag die Verlängerung des ISAF-Mandats (International Security Assistance Force) der NATO um 14 Monate beschlossen und weitere 1000 deutsche Soldaten für den Einsatz in Afghanistan zur Verfügung gestellt. Im Herbst 2009, unmittelbar nach der Bundestagswahl, wird sich erneut die Frage der Verlängerung stellen. Es ist hinreichend bekannt, dass die öffentliche Meinung in Deutschland dem Engagement der NATO in Afghanistan kritisch gegenübersteht. In der Debatte über den deutschen Afghanistan-Einsatz ging es bisher allzu vordergründig nur darum, in welchen zahlenmäßigen Dimensionen sich die Bundeswehr in Afghanistan engagieren soll. Not täte eine umfassende Strategiedebatte, in deren Mittelpunkt das Ziel von Afghan ownership stehen müsste, die politische, militärische und wirtschaftliche Hilfe zur Übernahme der Verantwortung durch afghanische Institutionen. Afghan ownership ist zugleich die beste Exit-Strategie für die NATO. Die afghanische Öffentlichkeit soll wissen, dass der Westen, anders als die Imperien von Alexander dem Großen bis zur Sowjetunion, das Land nicht kolonisieren, sondern Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollen, damit Afghanistan nicht erneut dem islamistischen Terrorismus erliegt.

Das Bundestagsmandat setzt eine personelle Obergrenze von 4500 Soldaten und sieht vor, dass mit dieser Truppenzahl der unter deutscher Führung stehende ISAF-Kommandobereich Nord mit Sitz in Mazar-e Sharif abzudecken ist. Gleichzeitig wird die Zahl der Soldaten, die im Rahmen von Operation Enduring Freedom (OEF) am Horn von Afrika und anderen Einsatzorten stationiert sind, von 1400 auf 800 gesenkt; das OEF-Mandat bleibt jedoch erhalten. Teil des ISAF-Mandats sind auch die in Mazar-e Sharif stationierten Aufklärungsflugzeuge vom Typ "Tornado". Im Juli 2008 hat die Bundeswehr die Führung der so genannten Quick Reaction Force (QRF) übernommen, die Bestandteil des Regionalkommandos Nord ist. An der QRF sind 200 Soldaten der Bundeswehr beteiligt. Zu ihrem Aufgabenbereich gehören Patrouillen, Sicherungseinsätze und Evakuierungsmaßnahmen; Kampfeinsätze sind nicht auszuschließen.

Im Kern hat das Afghanistan-Mandat eine eher zivile Aufgabenstellung. Wie es im offiziellen Sprachgebrauch der Bundeswehr heißt, geht es um "die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der Wahrung der Menschenrechte sowie der Herstellung und Wahrung der inneren Sicherheit". Ziel sei die "Schaffung funktionierender Regierungs- und Verwaltungsstrukturen auf der Basis demokratischer Prinzipien und unter Wahrung der afghanischen Traditionen und Kultur". Diese Ziele sind es wert, dass die Bundesrepublik einen maßgeblichen Beitrag zum ISAF-Einsatz leistet, denn es geht nicht um die forcierte Übertragung eines Modells westlicher Demokratie auf Afghanistan, sondern um die Verwirklichung der Eigenentwicklung der afghanischen Gesellschaft. Die zentrale Herausforderung besteht darin, al-Qaida und die Taliban militärisch so weit zu schwächen, dass sie die Stabilität und Sicherheit des Landes nicht mehr bedrohen können.

Ob mit den Taliban zu einem späteren Zeitpunkt verhandelt werden kann, ist eine andere Frage. Wenn man den inneren Frieden des Landes vollständig herstellen will, sind Verhandlungen mit dem Ziel einer Einbeziehung der Taliban in das politische Leben Afghanistans unvermeidbar. Aus guten Gründen waren die Taliban als Mitverantwortliche der Anschläge vom 11. September 2001 nicht an der UN-Konferenz über die Zukunft Afghanistans beteiligt, die Ende 2001 in Bonn auf dem Petersberg stattfand. Zunächst muss verhindert werden, dass die demokratischen Anfänge auf der Grundlage der neuen Verfassung, die durchaus verbesserungsfähig ist, gewaltsam zunichte gemacht werden. Dazu sind zumindest kurzfristig mehr Kampfverbände, vor allem Bodentruppen, unerlässlich, um nicht immer wieder auf Luftangriffe zurückgreifen zu müssen. Der Luftkrieg mit seinen beträchtlichen "Kollateralschäden" unter der zu schützenden Zivilbevölkerung unterminiert die Akzeptanz des NATO-Engagements in der afghanischen Bevölkerung und schwächt die angeschlagene Regierung Karzai, weil sie als unfähig erscheint, die Sicherheit des Landes zu garantieren.

Der militärischen Komponente muss aber auch eine politische - und noch wichtiger: eine langfristig angelegte Wirtschafts- und Entwicklungsdimension - hinzugefügt werden. Die Londoner Afghanistan-Vereinbarung vom 1. Februar 2006 ist auf fünf Jahre angelegt. Militärische Hilfszusagen sind in der Regel sehr viel kurzfristiger terminiert. Im Einklang mit dem Konzept vernetzter Sicherheit wäre eine Synchronisierung der politischen und wirtschaftlichen Hilfe des Westens mit der sicherheitspolitischen Abstützung durch die NATO dringend notwendig. Das Wiedererstarken der Taliban und von al-Qaida war nur mit Duldung und aktiver Unterstützung offizieller und privater Quellen in der pakistanisch-afghanischen Grenzregion möglich. Die Auseinandersetzung in Afghanistan ist längst zu einem regionalen Sicherheitsproblem geworden und muss durch einen diplomatischen Prozess ergänzt werden, der Afghanistan, Pakistan, Indien und auch den Iran einschließen sollte. Eine auf Dauer stabile Lösung der Konfliktsituation bedarf ferner der politischen Absicherung durch Russland und China.

Kampfeinsätze der Bundeswehr in Afghanistan wurden in Deutschland politisch tabuisiert, obwohl die Mitwirkung an der OEF sowie die Übernahme des Kommandos der Quick Reaction Force auch Kampfeinsätze einschließen. Im Prinzip hat es Deutschland anderen überlassen, Kampftruppen zur militärischen Sicherung im Süden Afghanistans einzusetzen. Mit dieser Verhaltensweise wurde die deutsche Bündnissolidarität in Frage gestellt. Die Folgen werden allmählich sichtbar: Zwar sind die bündnisinternen Rückwirkungen der deutschen Entscheidung, im Sommer 2006 den kanadischen Streitkräften gegen die Taliban nicht zu Hilfe zu kommen, in Kanada mit Schweigen übergangen worden. Man kann aber nicht darüber hinwegsehen, dass dort Zweifel an der Zuverlässigkeit Deutschlands als Bündnispartner eingetreten sind. Kanadische Truppen mussten schwere Verluste hinnehmen. Deutschland bestand in dieser Notsituation unter Berufung auf eine nationale Mandatierung, die dem Bundeswehrkommando vor Ort wenig Handlungsspielraum einräumte, auf einer strikten geographischen Trennung der vier Kommandobereiche. Die Folge war das Unterlassen einer Unterstützung, die Kanada als Bündnispartner zugestanden hätte. Der aus der parlamentarischen Untersuchung hervorgegangene Manley-Bericht plädiert zwar für eine Fortsetzung des kanadischen militärischen Engagements in Afghanistan, sagt aber auch unmissverständlich, "dass die kanadischen Opfer an Menschenleben nur zu rechtfertigen sind, wenn unsere Alliierten bereit sind, mit dem notwendigen Engagement und ausreichenden Ressourcen an unserer Seite zu stehen, um den Erfolg sicherzustellen".

Die Bundeswehr braucht mehr zum Kampfeinsatz fähige militärische Kräfte, um eigene sicherheitspolitischen Zielvorstellungen umzusetzen. Das "Weißbuch 2006" hebt als Ziel deutscher Sicherheitspolitik die Verpflichtung zum "effektiven Multilateralismus" hervor. Tatsächlich stehen der Bundeswehr auf der Grundlage ihrer gegenwärtigen Struktur insgesamt nur 35 000 Soldaten als Eingreifkräfte zur Verfügung. Die Einsatzrealität bestimmen die 70 000 Stabilisierungskräfte, die für militärische Operationen "niedriger und mittlerer Intensität im breiten Spektrum friedensstabilisierender Maßnahmen" vorgesehen sind, also für so genannte Kampfeinsätze weder geeignet noch entsprechend ausgerüstet sind. Trotzdem heißt es im "Weißbuch": "Auf diese Weise kann die Bundeswehr den internationalen Verpflichtungen Deutschlands angemessen Rechnung tragen und an komplexen Operationen hoher Intensität teilnehmen."

Angesichts der Realität asymmetrischer Kriegsführung, in der die Unterscheidung zwischen dem militärischen und dem zivilen Bereich immer stärker unterlaufen und letztlich aufgehoben wird - Terroristen unterscheiden nicht zwischen Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfern -, sind Kräfte mit der Fähigkeit zum vollen Einsatzspektrum entscheidend. Unter den Bedingungen asymmetrischer Kriegsführung kommt Truppenkontingenten mit der Fähigkeit zum Kampfeinsatz erhöhte Bedeutung zu, um Stabilisierung und Wiederaufbau Afghanistans zu ermöglichen. Wenn diese Aufgabe nicht von zum Kampfeinsatz fähigen Truppen übernommen werden soll, muss man Stabilisierungskräfte mit militärischen Mitteln ausrüsten, für deren Handhabung sie nicht ausgebildet und trainiert sind.

Die zentrale militärische Aufgabenstellung in Afghanistan liegt gegenwärtig im Bereich der Terror- (counterterrorism) und Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) und erfordert eine darauf zugeschnittene militärische Strategie sowie die angemessene militärische Ausrüstung. Auch wenn in Europa die offensive Kriegführung der Bush-Administration gegen den internationalen Terrorismus nicht geteilt wurde, bleibt richtig, worauf bereits in der europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 hingewiesen wurde, dass nämlich auch für Europa der Kampf gegen den internationalen Terrorismus jenseits der Grenzen Europas beginnen muss.

Für Deutschland wäre in Afghanistan nicht nur daran zu denken, zusätzlich zum gegenwärtigen militärischen Engagement mehr Truppen zu stellen. Wichtiger wären ein stärkerer deutscher Beitrag zur Ausbildung der afghanischen Armee und zur Polizeiausbildung - auch im Rahmen des ESVP-Mandats (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) der EU für Afghanistan - sowie die Intensivierung von Training, Ausbildung und Ausrüstung für den afghanischen Grenzschutz. Fast ein Jahrzehnt nach der Bonner Afghanistan-Konferenz gehört die afghanische Polizei noch immer zu den korruptesten Institutionen. Regierung und Verwaltung Afghanistans sind in hohem Maße dysfunktional und brauchen administrative Hilfestellungen. Eine entsprechende Umstrukturierung der deutschen Beiträge wäre eher mit dem überwiegend zivilen Charakter des deutschen Afghanistan-Mandats zu vereinbaren, aber auch eine solche Aufgabenstellung muss durch Kampfverbände militärisch abgesichert werden.

Risikoteilung und Bündnissolidarität

Zur Zeit des Ost-West-Konflikts legte Deutschland großen Wert darauf, dass das Sicherheitsrisiko im Bündnis von allen Mitgliedern im gleichen Umfang zu teilen sei. Die Bundeswehr gehörte damals ihrer Ausrüstung und Kampfkraft nach im Vergleich mit den Streitkräften der Verbündeten zu einer der besten Armeen. In NATO-Wettbewerben lag sie stets an vorderster Stelle. Sie verfügte über 495 000 einsatzfähige Soldaten. Im "Vertrag über die Abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" vom 12. September 1990 (Zwei-plus-Vier-Vertrag) sind die deutschen Streitkräfte auf eine Personalstärke von 370 000 reduziert worden; bis 2010 soll zudem der zivile Personalbestand von heute etwa 120 000 auf 75 000 gesenkt werden. Die Bundeswehr hätte dann einen Gesamtumfang von 327 500 Mann und eine militärische Personalstärke in Höhe von 252 500 Soldaten. Diese Größenordnung ist vergleichbar mit derjenigen der britischen und französischen Streitkräfte, die aber über eine ungleich größere Kampfkraft verfügen. Großbritannien und Frankreich sind in der Lage, jeweils etwa 55 000 zum Kampfeinsatz fähige Soldaten bereitzustellen.

Die Trennung der Mandate für ISAF und OEF war eine unglückliche Lösung. Zwei Mandate für ein und dieselbe Aufgabe und obendrein noch geographisch voneinander getrennt, widersprechen militärischer Logik und erschweren die Handlungsfähigkeit. Die Trennung der Mandate war das Ergebnis politischer Bedingungen für die Afghanistan-Mission von europäischer und namentlich von deutscher Seite. Die weit verbreitete öffentliche Ablehnung des OEF-Mandats - trotz deutscher Beteiligung - ist darauf zurückzuführen, dass es sich hier um Einsätze mit dem vollen Spektrum militärischer Gewaltanwendung handelt. Die Bundesrepublik hat von Anfang an ISAF-Regeln für den militärischen Einsatz vorgezogen, weil es sich dabei eben nicht um Kampfeinsätze handelte. Dass die Unterscheidung zwischen beiden Mandaten aufrechterhalten wird, hängt auch damit zusammen, dass bei einer Zusammenlegung die dann zu erwartenden ISAF-Regeln stärker hätten "militarisiert" werden müssen. Die militärischen Anforderungen an die ISAF wären viel größer geworden, als es die Einsatzbestimmungen der Taschenkarte der Bundeswehr für die Anwendung militärischer Gewalt vorsehen. Im Ergebnis hat Deutschland dazu beigetragen, dass innerhalb der NATO de facto eine Zwei-Klassen-Mitgliedschaft entstanden ist.

Eine solche Entwicklung liegt nicht im deutschen Interesse. Die Bundesrepublik wird auch in Zukunft auf Bündnissolidarität angewiesen sein. Das Festhalten an einer primär zivilen Natur des Afghanistan-Einsatzes ist im Hinblick auf das Endziel der NATO und des ISAF-Mandats verständlich, läuft aber in Afghanistan auf eine Gefährdung der Mandatsziele hinaus. Von Anfang an war bekannt, dass der Wiederaufbau nur gelingen kann, wenn Stabilisierungsmaßnahmen und der Schutz der Menschenrechte durch Streitkräfte gesichert werden, die auch zum Kampfeinsatz fähig sind. In der Rückschau ist deshalb der Light-footprint-Ansatz im ursprünglichen UN-Mandat für Afghanistan ein schwerer Fehler gewesen. Damals kam dieser Ansatz der Denkweise der Bush-Aministration entgegen, nach dem man von amerikanischen Streitkräften nicht erwarten könne, nation building zu betreiben. Der berühmte Ausspruch von Außenministerin Condoleezza Rice, die 82nd Airborne Division sei nicht dazu da, kleine Kinder zur Schule zu begleiten, ist in lebhafter Erinnerung.

Zivilmachtorientierung und Bündnisanforderungen

Nach der Amtsübernahme der Obama-Administration muss Europa mit erhöhtem Druck aus den USA für ein stärkeres Engagement in Afghanistan rechnen. Barack Obama hat in seiner Berliner Rede im Juli 2008 die Erwartungen einer Administration unter seiner Führung deutlich zum Ausdruck gebracht und für diesen Teil seiner Rede wenig Beifall erhalten, obwohl der Afghanistan-Einsatz dem Schutz demokratischer Anfänge in einer islamisch geprägten Gesellschaft dient. Dieser Konflikt wird dem westlichen Bündnis noch lange hohen Einsatz abverlangen. Die sicherheitspolitischen Ziele der Bundesrepublik verlangen, dass Deutschland - nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Erfahrung - legitime multilaterale Einsätze aktiv unterstützt. Sich auf die Position zurückzuziehen, dass für Deutschland nur der Einsatz von Peacekeepern und Stabilisierungskräften in Frage kommt, und damit anderen Staaten die Kampfeinsätze zuzuweisen, läuft auf einen neuen deutschen Exzeptionalismus zu Lasten seiner Bündnispartner hinaus.

Damit ist nicht der deutsche Sonderweg der Vergangenheit gemeint, den Heinrich August Winkler nachgezeichnet hat. Der neue deutsche Exzeptionalismus ist vielmehr eine Folge des Anspruchs, Zivilmacht zu sein. Das Selbstverständnis als Zivilmacht, der bewusste Verzicht auf einen deutschen Großmachtstatus, eröffnete in der Folge des Zweiten Weltkriegs einen Weg, den Risiken klassischer Machtpolitik in Europa zu entgehen. Europäische Integration, die Mitgliedschaft in der NATO und der bewusste Verzicht auf eine nationalstaatliche Außenpolitik bildeten eine neue Grundlage für europäische Sicherheit; der Ost-West-Konflikt setzte einen festen Rahmen für gemeinschaftliches Handeln. Die deutsche Außenpolitik wurde als Kultur der Zurückhaltung berechenbar; militärische Gewalt durfte nur der unmittelbaren Selbstverteidigung dienen. Die Frage, ob die Bundeswehr an der Seite der Verbündeten in internationale Krisen und Konflikte eingreifen müsse, stellte sich noch nicht. Lange Zeit hat man sich mit der rechtlichen Konstruktion geholfen, dass deutsche Soldaten nur zu Zwecken der direkten Verteidigung gegen einen Angriff auf die Bundesrepublik oder zur Verteidigung eines angegriffenen NATO-Partners eingesetzt werden können, also keinesfalls out of area.

Neue Kriege und Gewaltausbrüche sowie die Erwartungen an das wiedervereinte Deutschland schließen eine Fortführung dieser Kultur der Zurückhaltung aus. Deutschland kann sich nicht nur durch die Anwendung von militärischer Gewalt erneut schuldig machen; auch unterlassene Hilfeleistung ist politisch und moralisch verwerflich. Deutschland muss sich unter den Bedingungen der "neuen Kriege" vom Prinzip der Verantwortung leiten lassen. Das Zivilmachttheorem eignet sich nicht mehr als Leitlinie deutscher Sicherheitspolitik. Henry Kissinger hat das Dilemma einer allein am Frieden orientierten Sicherheitspolitik so formuliert: "Wenn das Streben nach Frieden das alleinige Ziel der Politik bleibt, wird die Furcht vor dem Krieg zu einer Waffe in der Hand der Rücksichtslosen." Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1994 entschieden, dass das Grundgesetz einer geographischen Ausweitung militärischer Einsätze der Bundeswehr nicht im Wege steht, wenn sie Teil einer Maßnahme der UNO, der NATO oder der EU sind und die Unterstützung einer Mehrheit des Deutschen Bundestags finden. Damit war die entscheidende rechtliche Hürde auf dem Weg zur Normalisierung genommen.

Die "neuen Kriege", die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf dem Balkan, in Afrika und Asien zu beobachten waren, weisen als Hauptmerkmal der Gewaltanwendung Aktionen auf, die sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richten. Den klassische Staatenkrieg gibt es praktisch nicht mehr; er hat einer neuen Welle von Brutalität Platz gemacht, die an den Dreißigjährigen Krieg erinnert. Der religiös motivierte internationale Terrorismus mit antiwestlicher politischer Zielsetzung, wie er am 11. September 2001 in New York und Washington zur Entfaltung kam, weist auf das strategische Kernproblem des Westens hin: Wie mit dem asymmetrischen Krieg umgehen, zu dem internationale Terrornetzwerke wie al-Qaida fähig sind? Der semantische Streit darüber, ob es sich beim Terrorismus tatsächlich um "Krieg" handelt, führt nicht weiter, denn es muss davon ausgegangen werden, dass es sich um eine gegen die Zivilbevölkerung und nicht primär gegen Streitkräfte gerichtete Form asymmetrischer Gewaltanwendung handelt, die allein mit polizeilichen Mitteln nicht wirksam verhindert werden kann. Die von Herfried Münkler empfohlene "strategische Gelassenheit", also die Konzentration auf die Verteidigung unter Verzicht auf die Offensive und unter Umständen sogar die Hinnahme von Terroranschlägen, um den Terror zu delegitimieren, weist in die richtige Richtung. Militärische Mittel reichen nicht aus, um Terrorismus und ethnische oder religiöse Konflikte zu verhindern, aber deshalb kann eine westliche, "post-heroische" Gesellschaft wie die der Bundesrepublik nicht auf bewaffnete Streitkräfte als Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus verzichten.

Die "neuen Kriege" mit ihrem asymmetrischen Charakter haben weder Anfang noch Ende, kennen keine Unterscheidung mehr zwischen Zivilisten und Militärs und enden nicht mit einer Entscheidungsschlacht. Diese wird durch Terrorakte und Massaker ersetzt. Terrorismus mit dessen Mitteln zu bekämpfen würde die Entzivilisierung westlicher Gesellschaften bedeuten. Die von Robert Cooper getroffene Unterscheidung zwischen der prämodernen, der modernen und der postmodernen Welt unterstreicht den nichtkriegerischen Charakter der Postmoderne. Er bezeichnet ihn als Entwicklungsfortschritt und bescheinigt damit unausgesprochen einer zum Krieg fähigen "modernen Welt" gesellschaftlichen und moralischen Rückschritt. Für Cooper sind die USA in der Moderne verhaftet, während Europa zur Postmoderne vorgestoßen sei. Diese Sichtweise bedarf im Hinblick auf die "neuen Kriege" der Korrektur: Krieg gehört eben nicht der Vergangenheit an. Die Nichtbereitschaft zum Krieg erhöht die eigene Verwundbarkeit und gefährdet damit die Werte, die eine postmoderne Gesellschaft auszeichnen.

Multilaterale Handlungsfähigkeit

Multilateralismus darf nicht zu einer Formel für die Verlagerung der Verteidigungsfähigkeit auf die internationale Ebene führen, ohne dass ausreichende militärische Kräfte zur Verfügung stehen. Eine wünschenswerte Europäisierung ist keine Option für die deutsche Sicherheitspolitik, wenn nationale militärische Beiträge, die den Multilateralismus wirksam machen, ausbleiben. Europäisierung wird dann ein unerreichbares Ziel. So richtig es ist, dass nationale Sicherheit nicht mehr die Antwort für die Bewältigung künftiger Bedrohungen sein kann: Entscheidend sind militärisches Potential und politische Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene und in der NATO. Europas Handlungsfähigkeit wird immer nur so weit reichen, wie es der Konsens europäischer Nationalstaaten zulässt. Das Aufgehen von 27 oder mehr Nationalstaaten in eine europäische Macht auf demokratischer Grundlage ist keine realistische Perspektive. Das ergibt sich nicht nur aus der Ablehnung des Verfassungsentwurfs durch französische und niederländische Wählerinnen und Wähler im Jahre 2005 und aus der irischen Volksabstimmung über die europäische "Ersatzverfassung", sondern auch aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht. Nach den Kriterien des BVG-Urteils kann Deutschland Souveränität nur an ein demokratisch legitimiertes Europa übertragen, bevor Deutschland in Europa aufgehen könnte.

Ein solches Europa wird in überschaubarer Zukunft nicht zustande kommen, selbst wenn die irischen Wähler dem Reformvertrag zustimmen würden. Die kollektive Stärke Europas nach außen kann nur das Resultat eines jeweils neu zu bildenden Konsenses sein. Das bedeutet nicht, dass Europa zur Handlungsunfähigkeit verurteilt ist. Im Wege des pooling von Souveränität und Ressourcen sind Europa theoretisch keine Grenzen gesetzt. Deutschland muss sich im Interesse Europas und des Atlantischen Bündnisses als "normale" europäische Macht verstehen und die eigene militärische Handlungsfähigkeit erhöhen, um die EU und die NATO zu stärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Robert Cooper, The Breaking of Nations. Order and Chaos in the Twenty-First Century, New York 2003, S. 10.

  2. Vgl. Simon Chesterman, You the People: The United Nations Transitional Administration and State Building, Oxford 2004, S. 125, zit. in: Larry Diamond, Lessons from Iraq, in: Journal of Democracy, 16 (2005) 1, S. 9 - 23, hier: S. 14f.

  3. Siehe dazu den Bericht des UN-Generalsekretärs, In larger freedom: towards development, security and human rights for all, www.un-ngls.org/pdf/UN-re port-largerfreedom.pdf (13.2. 2009).

  4. Vgl. dazu Herfried Münkler, Die Neuen Kriege, Reinbek 2004.

  5. Presse und Informationszentrum Einsatzführungskommando der Bundeswehr, www.einsatz. bundeswehr.de/C1256F200023713E/CurrentBaseLink /W2763FP2146INFODE/$File/02_ISAF_Afghanistan. pdf (13.2. 2009).

  6. Independent Panel on Canada's Future Role in Afghanistan, Januar 2008, www.collectionscanada.gc.ca/obj/013003/f2/013003 - 1000-e.pdf (13.2. 2009).

  7. Vgl. Ian Hope, Unity of Command in Afghanistan: A Forsaken Principle of War. Strategic Studies Institute, US Army War College, Carlisle, PA, November 2008.

  8. Vgl. Heinrich August Winkler, Der Lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000.

  9. Henry Kissinger, White House Years, Boston 1979, S. 70.

  10. Vgl. H. Münkler (Anm. 4), S. 29.

  11. Ders., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 20062, S. 343.

  12. Vgl. R. Cooper (Anm. 1), 2. Kap., S. 16 - 54.

Dr. phil., geb. 1941; Adjunct Professor an der Georgetown University, Senior Non-Resident Fellow des American Institute for Contemporary German Studies, 6309 Broad Branch Road, Chevy Chase, Maryland/USA.
E-Mail: E-Mail Link: dieterdettke@comcast.net