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Keine Orchidee | China(kompetenz) | bpb.de

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Keine Orchidee Über Chinakompetenz und Sinologie

Marina Rudyak

/ 15 Minuten zu lesen

Die Sinologie steht für das bewusste Bemühen, das Studium Chinas stets auf den Gebrauch des geschriebenen und gesprochenen Chinesisch zu beziehen und es ernst zu nehmen als eine Sprache, in der Menschen die Welt ständig neu begreifen. In nicht sinologischen Chinadiskursen wurde die Relevanz der chinesischen Sprache für die Auseinandersetzung mit China lange infrage gestellt. Während sich chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler regelmäßig auf europäische oder amerikanische Literatur beziehen, finden sie sich selbst eher selten in euro-amerikanischen Publikationen wieder. Im sinologischen Diskurs werden die möglichen Gründe für die Asymmetrie im Informationsfluss zum einen mit Edward Saids Theorie des Orientalismus und mit dem Diskurs des "Andersseins" erklärt, andererseits mit der lange gehegten neo-orientalistischen Erwartung, dass China seine "Andersartigkeit" (des despotischen und rückständigen Anderen) überwindet und dem Westen – der für sich positionelle Überlegenheit in Anspruch nimmt – "gleich" wird.

Nur wurde China zur Desillusionierung vieler im Westen eben nicht "gleich". Man könnte es auch wie die "New York Times" 2018 beschreiben: China ist "mit dem Scheitern gescheitert" (failed to fail). Im Gegenteil, nach seinem Machtantritt Ende 2012 beendete Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping die seit Deng Xiaoping geltende Strategie des taoguang yanghui (Die Begriffe im chinesischen Original finden Sie in der PDF-Version) – "verbirg deine Macht und spiele auf Zeit" und leitete mit der Maxime fenfa youwei (vgl. PDF-Version) – "nach Erfolgen streben" – eine neue Ära der aktiven und selbstbewussten "Großmachtdiplomatie" ein. Auch wirtschaftlich will China zu den stärksten Mächten der Welt zählen. Das 2015 ins Leben gerufene milliardenstarke Investitionsprogramm "Made in China 2025" soll den Wandel von der verlängerten Werkbank internationaler Konzerne zu einer Technologieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen sichern. Im März 2019 erklärte die EU-Kommission in ihrem "Strategic Outlook", dass es China nicht länger als ein Entwicklungsland, sondern als einen globalen Akteur und führende Technologiemacht betrachtet. China sei nunmehr gleichermaßen ein Kooperationspartner bei gemeinsamen (globalen) Zielen, ein Wettbewerber im Kampf um technologische Führerschaft und mit seinem politischen System ein systemischer Rivale.

Bedarf an Chinakompetenz

Die früher lang gehegte Chinaignoranz kann sich Europa nicht mehr leisten. Darüber, wie man mit einem global agierenden China umgehen soll, das einerseits mit seinem techno-autoritären Regierungsmodell freiheitlich-demokratische Normen infrage stellt, andererseits Deutschlands größter Handelspartner und (notwendiger) Kooperationspartner bei der Lösung drängender globaler Herausforderungen wie die Bekämpfung der absoluten Armut oder die Anpassung an den Klimawandel ist, herrscht jedoch an vielen Stellen Unsicherheit. In den meisten Organisationen mangelt es an Chinakompetenz, und selbst denjenigen, die in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar mit China befasst sind, fehlt es oft an Chinesisch-Sprachkenntnissen. Demgegenüber steht, dass Chinakompetenz inzwischen auch an Stellen gefordert ist, die traditionell nie mit China zu tun hatten. Da China nun vermehrt in Deutschland investiert, müssen sich Kommunen mit der neuen chinesischen Präsenz, Unternehmen mit neuen Unternehmenskulturen auseinandersetzen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bundes- und EU-Behörden, die deutsche und europäische Entwicklungspolitik koordinieren, müssen chinesisches Engagement in Afrika bewerten und Reaktionsstrategien entwickeln. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen sich mit den Umwelt- und Sozialimplikationen der globalen Entwicklungsfinanzierung im Rahmen der "Neuen Seidenstraße" befassen und nach Wegen suchen, chinesische NGOs, die die Folgen des chinesischen Wirtschaftswachstums kritisch begleitet haben, in gemeinsame Agenden einzubinden.

In der deutschen Wissenschaft gibt es ein großes Interesse an Zusammenarbeit mit China, da es zu einem immer stärkeren Wissenschafts- und Innovationsstandort wird. Inzwischen investiert das Land 2,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Forschung – fast genauso viel wie der OECD-Durchschnitt, auch in Feldern, die für Deutschland hochrelevant sind. Gleichzeitig haben sich die Rahmenbedingungen für Wissenschaftskooperation aufgrund des zunehmenden Einflusses der chinesischen Regierung auf die Forschung erschwert. Laut einem Bericht der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) gestalten sich sowohl die Auswahl von geeigneten Partnerinstitutionen als auch das Verhandeln von Kooperationsverträgen als schwierig, was unter anderem an mangelnden Sprach- und Rechtskenntnissen und kulturellen Unterschieden liegt. Zudem gibt es Sorgen um Know-how-Abfluss und die mögliche Nutzung ziviler Forschung für militärische Zwecke (dual use). Diese Sorgen sind nicht unberechtigt, hat die chinesische Regierung doch explizit zum Ziel erklärt, Vorsprung in wichtigen Technologien zu erlangen – und dafür internationale Kooperationen zu nutzen. Die EFI forderte daher in ihrem Jahresgutachten im Februar 2020 die Einrichtung einer zentralen Chinakompetenzstelle, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei deutsch-chinesischen Forschungsprojekten beraten und informieren soll.

Vorhandene Chinakompetenz wird zu wenig genutzt

Die EFI stellte in ihrem Gutachten fest, dass "ein produktiver wissenschaftlicher Austausch mit China Menschen [braucht], die mit der chinesischen Sprache und Kultur gut vertraut sind, aber auch die Märkte, institutionellen Rahmenbedingungen und politischen Strukturen dort gut kennen". Gleichzeitig kritisierte Holger Bonin, einer ihrer Mitglieder und Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit, dass "eine solche umfassende China-Kompetenz (…) in Deutschland bisher kaum anzutreffen" sei. Ähnlich äußerte sich auch Katharina Hölzle, Professorin am Hasso-Plattner-Institut an der Universität Potsdam und stellvertretende Vorsitzende der EFI: Im Gegensatz zur USA mit ihren "Contemporary China Studies" verfügten wir nicht über ganze Fachbereiche, die sich mit Sprache, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft befassten: "Wenn wir weiter erfolgreich mit China kooperieren wollen, brauchen wir das."

Aus der Perspektive der Sinologie muss man beiden zumindest teilweise widersprechen. Ein umfassender Chinazugang, wie ihn Hölzle fordert, wird an den deutschen Sinologien und Ostasien-Instituten unter anderem in Berlin, Bochum, Duisburg, Heidelberg, Köln, Trier oder Würzburg gelehrt. Fast scheint es, dass man nicht nur über China wenig weiß, sondern auch über die Sinologie, der bisweilen das Image des "Orchideenfachs" anhängt, das sie schon lange nicht mehr ist. Dennoch ist die Forderungen nach mehr Chinakompetenz berechtigt: In Deutschland gibt es (Stand 2018) nur 18 Institute und Fachbereiche für Sinologie, die zudem personell im Allgemeinen viel schwächer ausgestattet sind als Einrichtungen, an denen Kolleginnen und Kollegen die USA erforschen. Dennoch stellt sich die Frage, weshalb die vorhandene Chinakompetenz offenbar nicht wahrgenommen wird. Die Gründe liegen höchstwahrscheinlich in der bereits seit Langem problematisierten Versäulung des deutschen Wissenschaftssystems. Zwischen den Sinologien und den Natur- und Ingenieurswissenschaften beispielsweise gibt es kaum Zusammenarbeit und Vernetzung – nicht einmal innerhalb einer Universität, wie am folgenden Beispiel der Universität Duisburg-Essen (UDE) deutlich wird.

Die UDE erfuhr 2018 aus einer Studie des Australian Strategic Policy Institute (ASPI), einem Thinktank für Sicherheitspolitik, dass der chinesische Ingenieurwissenschaftler Hu Changhua (vgl. PDF-Version), den sie 2008 für vier Monate als Gastwissenschaftler beherbergt hatte, ein Generalmajor der Volksbefreiungsarmee (VBA) war. Laut ASPI bemüht sich das chinesische Militär verstärkt um Forschungskooperationen mit Universitäten außerhalb Chinas, und Deutschland gehört zu den Ländern mit den meisten Kooperationsvorhaben. Dabei sei es unklar, inwieweit die Universitäten sich bewusst sind, mit dem chinesischen Militär zu kooperieren, da die Armeezugehörigkeit nicht immer explizit angegeben wird. So auch im Falle Hus, der als seine Heimatinstitution das "Xi’an Research Institute of High Technology" listete. Der (nicht angegebene) chinesische Name der Institution war Huojian jun gongcheng daxue (vgl. PDF-Version). Das ist die Universität für Raketentechnik der VBA, wo er als Professor ein Raketenlabor leitete. Hus Militärzugehörigkeit hätte sich für einen Sinologen oder eine Sinologin leicht erschlossen: Seine bis 2008 gelisteten wissenschaftlichen Publikationen in der chinesischen Forschungsdatenbank China National Knowledge Infrastructure (CNKI, vgl. PDF-Version) nennen die Universität für Raketentechnik als seine Forschungsinstitution. Die UDE wiederum verfügt über ein Institut für Ostasienstudien (IN-EAST) mit einer Professur für die Politik Chinas. Die notwendige Chinakompetenz wäre folglich da gewesen.

Asymmetrie des Wissens

Während China Europa und die westliche Welt seit gut 150 Jahren wie durch ein Fernrohr mit intensivem Blick studiert, erscheint für den Westen China bis heute weit entfernt (so, als ob man das Fernrohr falsch herum halten würde), beschreibt Barbara Mittler, Sinologin und Direktorin des Centrums für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (CATS) an der Universität Heidelberg, die Asymmetrien im Wissens- und Informationsfluss. Dabei spielt der verbreitete Zweifel daran, ob man überhaupt Chinesisch können muss, um "erfolgreich" zu China zu arbeiten, eine große Rolle. Der schwedische Sinologe Michael Schoenhals kritisierte bereits in seinem 1992 erschienenen Buch "Doing Things with Words in Chinese Politics": "Während westliche Universitäten, Medien und Regierungen niemals jemanden mit einer Lesekompetenz in Englisch von zehn Seiten pro Stunde als qualifiziert sich über britische Politik zu äußern anerkennen würden, wird der gleiche Standard nicht an China und chinesische Politik angelegt. Hier können sogar diejenigen, die funktionale Analphabeten in Chinesisch sind, zu Autoritäten werden. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass westliche Wissenschaftler, die über das gegenwärtige China schreiben, nur selten (…) Chinesisch auf einem Niveau lesen oder sprechen, dass auch nur im Entferntesten als fließend erachtet werden kann." Das ist auch heute noch so: Die Mehrheit greift auf Übersetzungen oder Sekundärquellen zurück.

Das Problem mit dieser Art von Second-Hand-Wissen ist, dass von den frei zugänglichen Dokumenten und Forschungspublikationen auf den Webseiten chinesischer Behörden, Medien, Unternehmen oder über chinesische Forschungsdatenbanken nur der kleinste Teil ins Englische übersetzt ist. Das lässt die "Blackbox" China viel "schwarzer" erscheinen, als sie tatsächlich ist. So berichtete beispielsweise die "Wirtschaftswoche" am 17. Januar 2021 zum Verschwinden des Alibaba-CEO Jack Ma, dass dieses in China überhaupt kein Thema sei, da die Medien im Land darüber nicht berichten. Das stimmte nicht: Eine Suche nach "Wo ist Jack Ma?" (vgl. PDF-Version) in der chinesischen Suchmaschine Baidu lieferte 120.000 Treffer. Sicher, in China wird zensiert – aber sehr vieles ist einfach nur Chinesisch. Die chinesische Regierung ihrerseits ist sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die Sprache wie eine Barriere wirkt. Sie macht davon strategisch Gebrauch, indem sie offizielle Dokumente nur in Chinesisch veröffentlicht oder in offiziellen englischen Übersetzungen Teile weglässt oder verändert.

Sinologische Chinakompetenz

Sinologie verbindet inhaltliche Chinakompetenz – das heißt Verständnis für die chinesische Geschichte, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – mit einer hohen Sprachkompetenz, die Studierende durch längere Aufenthalte im Land aufbauen. Chinesische Vorgehensweisen und wirtschaftliche und politische Prozesse, Veränderungen und Rahmenbedingungen einschätzen zu können, setzt aber nicht nur Übersetzungskompetenz voraus: Man muss die höchst formalisierte Sprache der politischen Kommunikation, die im chinesischen als tifa (vgl. PDF-Version) bezeichnet wird, "dekodieren" können. Gemeinhin übersetzt als "Formulierung", bezeichnet tifa im Vokabular der Kommunistischen Partei Chinas die (eine) korrekte Methode fa (vgl. PDF-Version), einen Sachverhalt zu diskutieren ti (vgl. PDF-Version). Diese Praxis der linguistischen "Verarmung" reguliert durch das Vorschreiben oder Verbieten von Formulierungen, was gesagt oder geschrieben wird – und damit im weiteren Sinne auch, was getan wird. Für Außenstehende mögen tifa wie kleinliche Wortspiele oder leere Propagandahülsen erscheinen. Selbst Menschen, die in Festlandchina aufgewachsen sind oder leben, habe oft nur eine vage Vorstellung davon, was Ausdrücke wie "der China-Traum von der großen Renaissance des chinesischen Volkes" (vgl. PDF-Version) bedeuten. Tifa sind aber nie zufällig oder ohne Bedeutung; sie reflektieren die Ergebnisse der Machtkämpfe innerhalb der Partei, und selbst die subtilsten Änderungen im Vokabular können Veränderungen in der herrschenden Politik kommunizieren, erklärt der langjährige chinesische Journalist und Medienwissenschaftler Qian Gang (vgl. PDF-Version).

Dabei lernen Studierende der Sinologie früh, dass sich die Relevanz der tifa mitnichten auf Politik allein beschränkt: Auch wer sich ausschließlich für die chinesische Wirtschaft interessiert, wäre gut beraten, sich mit der Politik zu befassen, denn sie durchdringt im gegenwärtigen China nahezu alles. Das wird nicht zuletzt sichtbar in der Formulierung "Partei, Regierung, Armee, Gesellschaft und Bildung – Ost und West, Süd und Nord, die Partei führt sie alle an" (, , ), die 2017 in die Verfassung der Kommunistischen Partei aufgenommen wurde. Da die Formalisierung der Sprache einer ständigen Wandlung unterliegt, erfordert die Kompetenz des Dekodierens eine permanente Auseinandersetzung mit offiziellen und semi-offiziellen Texten. Wer die Welt der chinesischen Politik verstehen will, muss nicht nur betrachten, was gesagt wird, sondern auch wie, wo und von wem – und muss ebenso in der Lage sein, dies in einen weiteren Kontext einordnen zu können. Dabei sind für Sinologinnen und Sinologen vor allem zwei Medien relevant: die "Volkszeitung" (Renmin Ribao, ), das Organ der Kommunistischen Partei, und "Qiushi" (; übersetzt "die Wahrheit suchen"), das Magazin der Zentralen Parteihochschule. Im Unterschied zu journalistischen Medien im Westen sind sie nicht nur Informationsmittler, sondern Teil der Politikformulierung. Während die "New York Times" Politik aufbereitet und über ihre Relevanz für ein breites Publikum berichtet, werden sich diejenigen, die politische Maßnahmen aus Expertensicht verstehen wollen, direkt den entsprechenden Dokumenten zuwenden. In China dagegen werden zentrale politische Dokumente und Reden der Öffentlichkeit oft zunächst vorenthalten; Fünfjahrespläne etwa werden meist erst Monate nach ihrer Verabschiedung in vollem Umfang veröffentlicht. Die Kernpunkte politischer Maßnahmen oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehaltener Reden werden in den Parteimedien dargestellt, interpretiert und kommentiert. Für interessierte Leserinnen und Leser sei der Blog "China Media Project" und der Newsletter des Xinhua Journalisten Wang Zichen, "Pekingnology", empfohlen, die sich beide dem politischen Diskurs in der offiziellen Parteipresse widmen.

Chinakompetenz schaffen – und halten

Während in geo- und wirtschaftspolitischen Debatten die Frage gestellt wird, ob die künftige Welt eine G2 – also durch die USA und China dominiert – sein wird oder ob es Platz für Europa in einer G3 gibt, spiegeln sich die neuen globalen Machtverhältnisse mitnichten in der akademischen Landschaft wider. Das John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der Freien Universität Berlin hat insgesamt 171 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon 37 Professuren, die sich auf die sechs fachspezifischen Abteilungen (Geschichte, Kultur, Literatur, Politik, Soziologie und Wirtschaft) verteilen. Die Sinologie in Heidelberg, die zu den größten sinologischen Instituten Deutschlands gehört, hat lediglich fünf Professuren – deckt aber ein thematisch ähnliches Themenspektrum wie das John-F.-Kennedy-Institut ab. Es braucht eine Stärkung der Forschung und Lehre, die zum Verständnis von aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in China beiträgt und sehr gute Kenntnisse der chinesischen Sprache vermittelt.

Gleichzeitig jedoch werden die vorhanden sinologischen Kapazitäten an den deutschen Hochschulen nicht ausgeschöpft. Laut der Studie "China kennen, China können" stagniert die Anzahl der Studierenden seit einigen Jahren. Ein Phänomen, das altgedienten Sinologinnen und Sinologen nur zu bekannt ist: Jedes Mal, wenn Chinas Image sich verschlechtert, sinken die Zahlen der Studieninteressierten. Doch an dem Image alleine liegt es aktuell nicht. Zum einen sind im Unterschied zu anderen Studienfächern die beruflichen Perspektiven für Sinologinnen und Sinologen immer noch viel weniger klar. Zum anderen werden Fachexpertise (der Disziplinen) und sprachliche und kulturelle Kompetenz (der Sinologie) noch immer gegeneinandergestellt, mit der Konsequenz, dass es zu wenige dezidiert für Sinologinnen und Sinologen ausgeschriebene Stellen gibt und diese nicht selten schlechter als Fachkompetenzstellen bezahlt werden. So schrieb beispielsweise im Januar 2021 das Bundesamt für Verfassungsschutz Stellen für fremdsprachliches Fachpersonal mit sehr guten Kenntnissen der chinesischen Sprache in Wort und Schrift aus. Die Besoldung erfolgte in der Entgeltstufe 11 des Tarifvertrags über die Entgeltordnung des Bundes, was einem dreijährigen Bachelorstudium entspricht und nicht einer abgeschlossenen wissenschaftlichen Hochschulbildung. Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die Verantwortlichen im Verfassungsschutz im Klaren darüber sind, dass drei Jahre nicht ausreichen, um eine sehr gute Sprachkompetenz in Chinesisch von Null aufzubauen – denn noch gibt es kaum Schulen, die Chinesisch auf einem ähnlichen Niveau wie Englisch vermitteln. Die Ausschreibung ist umso weniger verständlich, wenn man die zahlreichen Warnungen vor Industrie- und Wirtschaftsspionage oder möglichen politischen Einflussnahmen bedenkt. Verhältnisse wie diese führen dazu, dass aufgebaute Chinakompetenz verloren geht. Denn Sinologinnen und Sinologen sind perfekte Generalisten. Da von ihnen prinzipiell erwartet wird, zu jedem Chinathema sprechfähig zu sein, ist eine zentrale Kernkompetenz, die sie im Studium erlernen, sich schnell in komplexe neue Sachzusammenhänge einzuarbeiten. Gerade dies ist auch in der "New Work"-Arbeitswelt gefragt, sodass zahlreiche Absolventinnen und Absolventen in chinafremde Berufe gehen.

Sinologinnen und Sinologen als Knowledge Broker

Angesichts der Tatsache, dass China zu einer techno-autoritären Supermacht aufgestiegen ist und Deutschland und der EU als ein zentraler Konkurrent im Wettbewerb der Systeme entgegentritt, ist die Betrachtung der Sinologie als ein "Orchideen-" oder "kleines Fach" wie aus der Zeit gefallen. Das "Reich der Mitte" ist nicht mehr weit weg – und es wird Zeit, das Bild der Orchidee zu verabschieden. Stattdessen braucht es eine effektive Mehrebenenstrategie, um Chinakompetenz in Deutschland aufzubauen. Ein mangelndes Verständnis von chinesischen politischen Strategien und sektorspezifischen Kontexten schafft Risiken, insbesondere dann, wenn die chinesische Seite die deutsche besser kennt als umgekehrt. Um die Wissensasymmetrie gegenüber China abzubauen und besser informierte Entscheidungen zu treffen, braucht es die Sinologinnen und Sinologen als Wissensbroker.

Zum einen müssen mehr Forschungsinstitute und Stellen geschaffen werden, die sich dezidiert Chinas aktueller Innen- und Globalpolitik auf Basis der Aufwertung von Quellen in chinesischer Sprache widmen. Dazu gehört auch das oben beschrieben "Dekodieren" der chinesischen Regierungsinteressen und Strategien, vor allem in den Bereichen, die für Deutschland und die EU von strategischer Wichtigkeit sind. Daneben braucht es transdisziplinäre und intersektorale Kooperation, um auf politischer Ebene einen europaweiten Aufbau von Chinakompetenz über alle Ressorts hinweg zu ermöglichen. Nur so wird man Antworten auf ein China finden, dass in wirtschafts- und globalpolitischen Themen zielgerichtet und höchst strategisch die eigenen Interessen vertritt und gleichzeitig ein unvermeidlicher Partner bei der Lösung globaler Herausforderung ist. Im angloamerikanischen Raum ermöglicht das Prinzip der "Revolving Doors" einen engen Austausch zwischen Hochschulen und Praxis – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten immer wieder für mehrere Jahre in Ministerien oder Behörden ein, Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter gehen für Forschungsprojekte an Universitäten. An deutschen Universitäten wird derzeit außerakademisches Engagement nicht nur nicht honoriert, es kann sogar der wissenschaftlichen Karriere schaden. Wenn Chinakompetenz in Ressorts und anderen Organisationen zeitnah gestärkt werden soll, müssen überkommene versäulte Strukturen aufgebrochen und außerwissenschaftlicher Impact als relevant anerkannt werden.

Ebenso braucht es interdisziplinären Dialog und Kooperation zwischen der Sinologie und anderen Fachdisziplinen, wie sich am Beispiel der Covid-19-Pandemie zeigen lässt. Als das Virus Ende 2019 ausbrach, wurde es zunächst als ein Problem des (autoritären) "Anderen" dargestellt, das uns nicht betrifft – während Informationen aus China als generell nicht vertrauenswürdig gesehen wurden. Eindämmungsmaßnahmen leiteten EU-Staaten und die USA erst im März ein, nachdem in Teilen Italiens das Gesundheitssystem zusammengebrochen war. Da musste die Präsidenten der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, zugeben, dass die EU das Virus "unterschätzt hat". Dabei warnten Sinologinnen und Sinologen, die die innerchinesische Debatte und den gesundheitspolitischen Kontext einschätzen konnten, bereits im Januar 2020 davor, dass es ohne gezielte Maßnahmen Europa und den USA ähnlich wie Wuhan ergehen würde. Man stelle sich ein alternatives Szenario vor: Interdisziplinäre Teams mit Expertise aus der Sinologie und Epidemiologie hätten nach Bekanntwerden des Ausbruchs gemeinsam eine Einschätzung der Lage vorgenommen, relevante chinesische Expertise identifiziert und der Politik Empfehlungen für Eindämmungsmaßnahmen unterbreitet.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg. Sie ist Dozentin für chinesische Wirtschaftspolitik und internationale Beziehungen und hat zu chinesischer Entwicklungshilfe und Chinas Rolle in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit promoviert. E-Mail Link: marina.rudyak@zo.uni-heidelberg.de