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Das "andere China"? | China(kompetenz) | bpb.de

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Das "andere China"? Was wir über Taiwan wissen sollten

Jens Damm

/ 15 Minuten zu lesen

Taiwan ist eine Insel, etwa so groß wie Baden-Württemberg. Dazu gehören einige weitere kleine Inselgruppen, insgesamt leben dort 23 Millionen Einwohner. Es sind vor allem zwei Faktoren, die zu einem großen akademischen Interesse an Taiwan geführt haben. Zunächst ist es das Verhältnis zwischen Taiwan und China, dessen "Ein-China-Politik" dazu führt, dass Taiwan nur von wenigen Staaten der Welt als Republik China (R.O.C.) anerkannt wird, obwohl alle Merkmale eines eigenständigen Staates erfüllt sind. Seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs 1949, der zur Flucht von Jiang Jieshi (Chiang Kai-shek) und der nationalen chinesischen Armee nach Taiwan führte, hat sich Taiwan zu dem "anderen China" entwickelt, wenngleich in den vergangenen Jahrzehnten eine "Taiwanisierung" stattfand, die die Eigenständigkeit Taiwan betont, das sich aus dem chinesischen Kulturkreis immer weiter entfernt. Zwar wurde Taiwan bis Ende der 1980er Jahre ebenso wie China autoritär regiert, doch zeigten sich schon damals große Unterschiede. Taiwan entschied sich für den Kapitalismus, um seine Nachkriegswirtschaft zu entwickeln, während China den Sozialismus einleitete. Im Kalten Krieg verbündete sich Taiwan mit den USA. Nachdem sich die USA und die Vereinten Nationen in den 1970er Jahren entschieden hatten, die Regierung in Beijing und nicht mehr die Regierung in Taibei (Taipei) als alleinige legitime Regierung Chinas anzusehen, veränderte sich Taiwan dramatisch.

Und das führt zu dem anderen Punkt, warum es ein großes Interesse an Taiwan gibt: Taiwans Transformation zu einer eigenständigen Demokratie, trotz vieler offensichtlicher Stolpersteine: Dazu zählen eine multiethnische Bevölkerung, wobei die Mehrheit der Hoklo-Chinesen jahrzehntelang von einer Minderheit der sogenannten Festlandchinesen politisch und gesellschaftlich marginalisiert worden ist; eine außenpolitisch instabile Situation sowie die verbreitete Ansicht, dass konfuzianische Gesellschaften mit demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnungen unvereinbar sind. Taiwan entwickelte sich nichtsdestotrotz zu einer der freiesten und liberalsten Gesellschaften Asiens, mit einem geordneten Justizwesen und weitgehender Gendergerechtigkeit, einschließlich der Möglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare zu heiraten – ein Alleinstellungsmerkmal in der Region. Kultur und Religion konnten sich unbehelligt von politischem Druck entwickeln und entfalten. Im Folgenden stelle ich übersichtsartig dar, was wir über Taiwans Geschichte und Gegenwart wissen sollten.

Westliche Kolonisation und chinesische Herrschaft (bis 1895)

Archäologen und Linguisten sind sich einig, dass Taiwan bereits seit Jahrtausenden von einer indigenen austronesischen Bevölkerung besiedelt war. Diese Bevölkerung ist bis heute sehr divers in Bezug auf Sprachen, Gesellschaft (matriarchalisch und patriarchalisch; sowohl Jagd und Fischfang als auch Ackerbau). Am Ende der chinesischen Ming-Dynastie (1368–1644) besiedelten chinesische Einwanderer Taiwan stärker. Im 17. Jahrhundert war Taiwan jedoch zunächst durch die Anwesenheit westlicher Kolonialmächte geprägt, im Wesentlichen die Niederländische Ostindien-Kompanie (1622–1661, 1664–1668) und spanische Kräfte (1626–1642); der Name "Ilha formosa" (schöne Insel) geht auf die Portugiesen zurück, die im 16. Jahrhundert dort landeten. Bereits zur Zeit der kolonialen Herrschaft im 17. und dann verstärkt im 18. Jahrhundert kamen chinesische Siedler nach Taiwan und verwandelten die Jagdgebiete der indigenen Bevölkerung der westlichen Ebenen in Reisfelder und Zuckerrohrplantagen. Im Einklang mit den Praktiken des europäischen handelskaufmännischen Expansionismus in Übersee bauten die Niederländer eine Festung, setzten eine Armee ein und planten die Entwicklung einer Stadt, die mit niederländischen Familien aus Batavia (dem heutigen Jakarta) und mit Chinesen, Japanern sowie der indigenen Bevölkerung bevölkert werden sollte. Gleichzeitig geriet der Norden der Insel unter den Einfluss der Spanier.

Diese koloniale Phase wurde durch Koxinga (Zheng Chenggong) beendet: Koxinga, ein Ming-Loyalist aus Xiamen, setzte sich 1661 mit Soldaten auf die Insel Taiwan ab, als das Festland unter die Verwaltung der Qing-Dynastie geriet. 20 Jahre später gelang es festlandchinesischen Truppen der Qing, Taiwan einzunehmen, 1684 wurden die Insel Taiwan und die Penghu-Inseln zur Präfektur der Provinz Fujian, Hauptstadt der Präfektur war die ehemalige niederländische Kolonialstadt Tainan. Eine lokale taiwanische Elite entsprang den aufeinanderfolgenden Wellen chinesischer Migranten aus den beiden südlichen Küstenprovinzen Fujian und Guangdong. Die Entstehung dieser Elite stand im Einklang mit der Umsetzung der Qing-Kulturpolitik durch ein Bildungssystem, das Sprache, Literatur, Folklore und Religion förderte. Die Einrichtung des bürokratischen Prüfungssystems, das vom Konfuzianismus geprägt war, war ein Schlüsselfaktor für die Organisation der Kultur. Taiwan wurde zunehmend chinesischer, insbesondere von 1887 bis 1895 unter der Führung des Gouverneurs Liu Mingchuan, als die Insel zur eigenständigen chinesischen Provinz wurde.

Unter japanischer Herrschaft (1895–1945)

Nach dem chinesischen-japanischen Krieg endete diese Periode 1895, Taiwan wurde zu einer Kolonie des immer mächtiger werdenden imperialen Japans. Nach der Übergabe Taiwans an Japan kam es zum Widerstand der Gentry, also dem Teil der Bevölkerung, der die chinesische Beamtenprüfung absolviert hatte (etwa 1 Prozent), und reicher Kaufleute, und im Mai 1895 wurde die Republik Formosa gegründet, um Japans Übernahme zu blockieren. Durch die Erklärung der Gründung eines demokratischen Staates in Taiwan hofften die Gründer, die Unterstützung der westlichen Mächte gegen die Übernahme Japans zu gewinnen – jedoch vergeblich: Nach 13 Tagen war Schluss, und Taiwan wurde schließlich im Einklang mit dem Shimonoseki-Vertrag an Japan übergeben. Die japanische Kolonialpolitik gegenüber der Han-Bevölkerung kann in vier Stufen unterteilt werden: die militärische Unterdrückungsperiode (1895–1902); eine japanisch-chinesische Periode, in der die Chinesen prinzipiell weiterhin chinesische Sprache und Kultur verwenden durften (1903–1917); eine Assimilationsperiode (1918–1936), in der es kurzfristig zu Liberalisierungen kam und Taiwanesen beispielsweise ihr eigenes Parlament forderten; und die sogenannte Kominka-Periode (1937–1945), in der Taiwanesen zu Bürgern des japanischen Kaisers werden sollten, also zu "reinen" Japanern in Kultur, Sprache, Religion und Lebensweise. Darüber hinaus wurden die Jugendlichen mobilisiert, um sich Japans militärischen Bemühungen im Ausland anzuschließen, weil die Politik der Kominka eng mit dem Militarismus verwoben war. Zugleich verfolgte Japan eine Separationspolitik gegenüber den Han-Taiwanesen und der indigenen Bevölkerung. Aufstände wurden brutal unterdrückt.

Die japanische Periode war durch einen dualen Prozess der Kolonisierung und Modernisierung geprägt, wobei insbesondere der Modernisierungsprozess bis heute in Taiwan als positiv gesehen wird. Dazu kommt, dass im japanischen Aggressionskrieg Taiwan bereits ein integraler Teil von Japan war und Taiwanesen als Soldaten auf der japanischen Seite kämpften. Von den Grausamkeiten, die die japanische Armee in China und Südasien beging, war Taiwan nicht betroffen. In den Modernisierungsprojekten ermutigten die Kolonialbehörden die Han-Taiwanesen, das zu verwerfen, was sie als "drei große schlechte alte Gewohnheiten" ansahen – Opiumrauchen, Tragen eines Zopfes von Männern und Füßebinden für Frauen. Zu den neu gegründeten Institutionen gehörten die Eisenbahn, Postdienste, Krankenhäuser, Banken und Schulsysteme für eine moderne Bildung. Ein erheblicher Teil von ihnen ist im heutigen Taiwan noch physisch sichtbar.

Autoritäre Guomindang-Herrschaft (1945–1986)

Nachdem Japan im Zweiten Weltkrieg besiegt worden war, gelang es der chinesischen Regierung unter Jiang Jieshi, die Insel auf Grundlage der Konferenz von Kairo von November 1943 für sich zu reklamieren, 1945 erreichten chinesische Truppen die Insel. Anfänglich hieß die Bevölkerung Taiwans die neuen Herrscher willkommen, doch diese Einstellung änderte sich rasch. Taiwan war bis 1945 kaum vom Krieg berührt und hatte einen bedeutend höheren Lebensstandard als China. Nach 1945 hingegen war Taiwan stark vom chinesischen Bürgerkrieg zwischen der Guomindang (GMD), der Nationalen Volkspartei Chinas, und der Kommunistischen Partei Chinas betroffen, es kam zu Inflation, die Arbeitslosigkeit stieg an, der Lebensstandard sank, und die japanische Verwaltung, die als effizient galt, wurde von einer korrupten GMD und Festlandchinesen übernommen. Am 28. Februar 1947 kam es zu einem Aufstand der taiwanischen Bevölkerung gegen die neuen Herrscher, in dessen Folge Zehntausende Taiwanesen, de facto die gesamte unter der japanischen Herrschaft groß gewordenen Elite, ermordet wurden. Als Mao Zedong den Bürgerkrieg in China gewann, kamen zusätzlich ein bis zwei Millionen Festlandchinesen nach Taiwan, und die Regierung unter Jiang Jieshi wurde von den Westmächten als offizielle Regierung Gesamtchinas anerkannt, obwohl sie de facto nur Taiwan und einige wenige Inseln vor dem Festland Chinas kontrollierte. Innenpolitisch regierte Jiang Jieshi die Insel autoritär, Posten in Verwaltung und Erziehung wurden fast ausschließlich mit Festlandchinesen besetzt. Die GMD war zudem entschlossen, ein brutales Kriegsrechtsregime einzusetzen, um alle möglichen materiellen und personellen Ressourcen zur Verteidigung gegen eine erwartete kommunistische Invasion zu mobilisieren und die Basis für einen Gegenangriff vorzubereiten.

Bis in die 1980er Jahre litt Taiwan unter dem "Weißen Terror". Ebenso wie die Japaner in der Kominka-Periode versuchten, Taiwan zu japanisieren, wurden Taiwanesen nun gezwungen Hochchinesisch (also die Sprache Beijings) zu lernen, und nur die festländische Kultur wurde als erhaltenswert anerkannt. Wirtschaftlich entwickelte sich die Insel rasch, wenn auch unter Missachtung sämtlicher Umweltschutzmaßnahmen. Im privaten Bereich konnten sich Taiwanesen wirtschaftlich ungehindert betätigen, während die Dominanz der Festlandchinesen in Verwaltung, Politik und Wissenschaft bis zur Aufhebung des Ausnahmezustandes 1987 anhielt. Zusammen mit Singapur, Hongkong und Südkorea entwickelte sich Taiwan zu einem der vier "Tigerstaaten" beziehungsweise "Drachenstaaten", wie es auf Chinesisch heißt. In den späten 1970er Jahren liberalisierte sich die Insel zögerlich, als Jiang Jingguo, der Sohn Jiang Jieshis, Präsident (1978–1988) wurde. Wenn es auch nicht zu einer Demokratisierung kam, gelang es Taiwanesen, in Verwaltung und Politik vorzudringen.

Zwischen 1949 und 1979 stand das Verhältnis zwischen Beijing und Taibei im Zeichen der Verlängerung des chinesischen Bürgerkriegs und des Duells zwischen Jiang Jieshi und Mao Zedong: Beijings Taiwan-Politik sprach von "Befreiung", während Taiwan "das Festland zurückgewinnen" wollte. Das Gleichgewicht der diplomatischen Macht begann sich in den 1970er Jahren zu neigen, beginnend mit dem Besuch des US-Präsident Richard Nixon 1972, abgeschlossen mit der Anerkennung Chinas durch die USA 1979. Dieser Wandel wurde weniger durch die politischen Aktionen Taiwans oder des Festlandes, sondern eher durch Verschiebungen in den internationalen Kräfteverhältnissen, insbesondere mit Blick auf den Ost-West-Konflikt, eingeleitet.

Taiwan während und nach dem demokratischen Übergang (ab 1987)

Nachdem sich bereits in den frühen 1980er Jahren unabhängige Politiker in Wahlen (Dangwai, außerhalb der Partei) durchsetzen konnten, gründeten diese Abgeordneten 1986 die Demokratische Fortschrittspartei (DPP). Die regierende GMD tolerierte die Parteigründung, und relativ überraschend verkündete Präsident Jiang Jingguo am 15. Juli 1987 das Ende des bereits seit 20. Mai 1949 bestehenden Ausnahmezustandes. Wenn auch viele Regelungen noch in Kraft blieben, kam es rasch zur Bildung von Oppositionsparteien, zu einer Liberalisierung der strikten Sprachpolitik, der Gründung von zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen, einer Liberalisierung von Radio und Fernsehen. Taiwanische Politiker begannen offen, von einer taiwanischen Unabhängigkeit zu sprechen. Nachdem Taiwan 1971 aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen worden war, hatte sich eine starke taiwanische Zivilgesellschaft entwickelt. Dabei übte ein Teil starken Druck aus, um "Reform und den Wandel" in der Gesellschaft voranzutreiben, während sich philanthropische und gemeinwohlorientierte Organisationen auf soziale "Stabilität und Zusammenhalt" konzentrierten. Das Zusammenspiel von Wandel und Stabilität war in den vergangenen drei Jahrzehnten entscheidend für die Dynamik der taiwanischen Gesellschaft.

1996 wurde der Taiwanese Li Denghui, der bereits seit dem Tode Jiang Jingguos Präsident war, in einer Direktwahl im Amt bestätigt. Viele Akademiker mit Festland-Hintergrund und ihre ausländischen Kollegen haben ihm vorgeworfen, die GMD verraten zu haben, während andere seinen großen Beitrag zur Demokratisierung Taiwans und zur Beendigung der Diktatur von Jiang Jieshi und Jiang Jingguo hervorheben. Noch bedeutsamer war die Wahl des DPP-Kandidaten Chen Shuibians, ein ehemaliger politischer Gefangener, zum Präsidenten Taiwans im Jahr 2000. Auch wenn seine Präsidentschaft nach acht Jahren unrühmlich mit einer Anklage und Verurteilung wegen Korruption endete, gelang es ihm doch in seiner Regierungszeit, die Taiwan-Treue von Bürokratie und Militär zu fördern. Auch kulturell und im Erziehungsbereich setzte er sich für eine Desinisierung und Taiwanisierung der Insel ein.

Die GMD kehrte 2008 an die Macht zurück. Präsident Ma Yingjiu pflegte in den folgenden acht Jahren als Präsident erfolgreich die wirtschaftlichen Beziehungen zu China, was dazu beitrug, dass die taiwanischen Kräfte gesellschaftlich, kulturell und politisch erstarkten. 2016 und 2020 gewann dann die Kandidatin der DPP, Cai Yingwen, die Präsidentschaftswahlen und setzte zusammen mit einer Mehrheit im Parlament die Taiwanisierungspolitik Chen Shuibians fort. Wirtschaftlich versucht Taiwan seitdem, sich stärker in Südostasien und mit Japan zusammenzuschließen und politische Allianzen gegen die Volksrepublik China zu schmieden. Hinzu kam eine stärker nationalistisch ausgerichtete Politik unter dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, die Taiwan weiter von China entfremdete. Nach der Wiederwahl Cai Yingwens 2020 schränkte China den Tourismus auf die Insel stark ein – ein, wenn auch nicht der einzige Grund dafür, dass Taiwan heute einer der wenigen fast Covid-19-freien Regionen der Welt ist.

Taiwan heute

Taiwan ist seit 1996 eine semipräsidentielle Republik mit Direktwahl des Präsidenten. Politisch ist es gespalten in zwei Lager. Das sogenannte blaue Lager, insbesondere bestehend aus der GMD, betrachtet Taiwan prinzipiell als Teil von China (wobei China hier nicht gleichzusetzen ist mit der Volksrepublik China), möchte die Beziehungen zu Festland-China verbessern und arbeitet langfristig auf eine Vereinigung hin. Auf der anderen Seite steht das grüne Lager, insbesondere bestehend aus der DPP, das Taiwan zu einem international anerkannten, unabhängigen Staat machen will und auf die historischen, gesellschaftlichen und politischen Unterschiede Taiwans im Vergleich zu China verweist. Umfragen zeigen anhaltend einen stetigen Trend weg von der Identität von "ausschließlich Chinesen" und "sowohl Chinesen als auch Taiwanesen" hin zu "ausschließlich Taiwanesen" (der mittlerweile größten Kohorte).

Das Mediensystem, früher ein zentrales Instrument zur Kontrolle der Bevölkerung, hat sich liberalisiert. Heute ist Taiwan von einer Vielzahl von privaten TV-Stationen und Zeitschriften geprägt, die freier sind als in allen vergleichbaren Staaten Asiens.

Das Justizsystem gilt als wenig korrupt, das oberste Verfassungsgericht als unabhängig. Ein Problem, das die EU immer wieder bemängelt, ist die Vielzahl an Todesurteilen, die trotz Versprechungen der regierenden DPP weiterhin vollstreckt werden.

Seit den 1950er Jahren erlebte Taiwan eine rasche wirtschaftliche Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren jedoch verlangsamte. Beispielsweise betrug das Bruttosozialprodukt pro Kopf 2019 25873 US-Dollar, etwa die Hälfte von Südkorea, obwohl beide Länder jahrzehntelang eine ähnliche Entwicklung aufwiesen. Wichtige Sektoren sind zum einen die verarbeitende Industrie, vor allem im Süden, die jedoch kaum gut bezahlte Jobs hervorbringt. Bedeutsamer sind Computerindustrie, beispielsweise Halbleiterproduktion, und Biotech.

Ausgehend von den 1990er Jahren kam es zu einer bemerkenswerten Entwicklung eines gesetzlichen Sozialsystems, einschließlich der Einführung der Nationalen Krankenversicherung, einer Arbeitslosenversicherung, Zulagen für ältere Menschen, des besonderen Schutzes von Kindern und Frauen vor Gewalt und schließlich des Nationalen Rentensystems 2008.

Nachdem Umweltprobleme jahrelang ignoriert wurden, fand ein Umdenken in den 1990er Jahren statt. Taiwan ist heute Weltmeister im Recycling, und der Individualverkehr wurde ergänzt durch den Bau von U-Bahnen in den großen Städten und einer Hochgeschwindigkeitsstrecke von Taibei nach Gaoxiong (Kaohsiung) im dicht besiedelten Westen der Insel. Das größtenteils noch aus der japanischen Zeit stammende Eisenbahnsystem wurde erneuert und in den großen Städten Fahrradwege angelegt, ebenso ein Leihradsystem eingeführt. Der lange Zeit unregulierte Bau von Industrieanlagen und Wohnungen führt aber bis heute dazu, dass nur ein Teil des Abwassers geklärt wird und das Grundwasser verseucht ist, weshalb Trinkwasser aus Speicherseen in den Bergen gewonnen werden muss. Insbesondere der Süden der Insel ist zudem stark von Luftverschmutzung betroffen; Gründe hierfür sind veraltete Industrien, der Individualverkehr und große Kohlekraftwerke. Auch wenn Taiwan zunehmend auf Elektrofahrzeuge setzt, erfolgt die Energiegewinnung weiterhin zumeist mit Kohle oder Kernkraft, was angesichts Taiwans geografischer Lage (Taifune, Erdbeben) und der geopolitischen Situation (Konflikt mit China) zunehmend kritisiert wird.

In Taiwan leben heute im Wesentlichen vier ethnische Gruppen, wobei die seit den 1990er Jahren insbesondere aus Südostasien und der Volksrepublik China neu Eingewanderten auch als fünfte Gruppe gelten und ungefähr 2 Prozent der Bevölkerung stellen. Mehr als 75 Prozent gehören zu den vor allem aus Fujian im 17. und 18. Jahrhundert eingewanderten Hoklo-Chinesen; die im gleichen Zeitraum eingewanderten Hakka-Chinesen machen 10 bis 15 Prozent aus, die nach 1945 eingewanderten Festlandchinesen weniger als 10 Prozent. Die indigene Bevölkerung stellt mit ihren 540.000 Einwohner nur etwa 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung Taiwans. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich ihre gesellschaftliche Situation stark verbessert. 1996 richtete die Zentralregierung einen "Rat der indigenen Völker" auf Kabinettsebene ein. 1998 wurde der Indigenous Education Act verabschiedet, um die Entwicklung der indigenen Bildung und den Erhalt indigener Sprachen und Kultur zu fördern. Dies trug sicherlich zu Taiwans neuer Phase des demokratischen Fortschritts hin zum Multikulturalismus bei. Zudem richtete die Regierung nach jahrelangen politischen Bemühungen der Hakka 2001 den Rat für Hakka-Angelegenheiten ein, der vor allem die Bewahrung und Förderung der Sprache und Kultur von Hakka überwachte – also der kleinsten Han-chinesischen Ethnie.

Meilensteine auf dem Weg zur Gleichberechtigung waren der Sexual Assault Prevention and Control Act (1993), der Domestic Violence Prevention Act (1999), das Gleichstellungsgesetz (2004) und der Sexual Harassment Prevention Act (2009). Taiwans Frauen erlangten nach und nach gleiche eheliche Eigentumsrechte. Der Gender Equity Education Act, der Schulen auf allen Ebenen verpflichtet, jährliche Gender-Fortbildungen anzubieten, eröffnete Frauen- und auch queeren oder LGTBQ-Bewegungen gesellschaftlichen Raum. Zudem entschied das taiwanische Verfassungsgericht am 24. Mai 2017, dass die Begrenzung der Ehe auf Mann und Frau verfassungswidrig ist. Die Richter gaben dem Parlament zwei Jahre Zeit, um neue Gesetze zu ändern oder zu erlassen. Am 17. Mai 2019 verabschiedete die Legislative Yuan das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe.

Taiwan kennt keine Staatsreligion(en) und erlaubt eine individuelle Gewissensfreiheit. Eine Mehrheit der Taiwanesen gehört daoistischen (chinesischen) und buddhistischen Religionen an, eine gut organisierte Minderheit (weniger als 5 Prozent) christlichen Kirchen. Es gibt aber auch einige Muslime im Land. Insgesamt herrscht ein friedlicher Umgang aller Religionen untereinander.

Kulturell hat sich in Taiwan eine vom Festland unabhängige Literatur entwickelt; Werke von Bai Xianyong und Qiu Miaojin, um nur zwei zu nennen, wurden auch ins Deutsche übersetzt. Zudem entwickelte sich in Taiwan eine international bekannte und ausgezeichnete Filmbewegung, das sogenannte Taiwan New Cinema, die 1982/1983 begann und ab 1987, dem Jahr, als das Kriegsrecht aufgehoben wurde, zu neuen Höhen emporstieg.

Taiwan ist einer der wenigen Gebiete weltweit, in denen es seit Monaten kaum zu einer lokalen Verbreitung von Covid-19 gekommen ist. Nach dem SARS-Ausbruch 2002 hatte sich Taiwan intensiv auf eine neue Pandemie vorbereitet. Früher als westliche Länder hat Taiwan den Flugverkehr zu China eingestellt, eine effiziente Track-und-Trace-Strategie umgesetzt sowie ein Quarantäneprogramm eingeführt. Die Bevölkerung zog mit, und auch ohne einen harten Lockdown und als direkter Nachbar von China hat es Taiwan geschafft, das Virus erfolgreich einzudämmen. Das gut ausgebaute staatliche Gesundheitssystem trug ebenso dazu bei wie eine intensive Verknüpfung vorhandener Daten. In Deutschland oft geäußerte Datenschutzargumente spielen hier wie in anderen (demokratischen) asiatischen Ländern keine besondere Rolle.

Schluss

Für eine umfassende "Chinakompetenz" ist auch Wissen über Taiwan erforderlich, vor allem aus zwei Gründen. Zum einen spielt die Taiwan-Frage geopolitisch eine nach wie vor bedeutsame Rolle, insbesondere, da sich die Positionen Taibeis und Beijings immer weiter voneinander entfernen. Beijing beharrt darauf, dass es in einem überschaubaren Zeitraum zu einer Vereinigung der Insel mit dem Festland kommen muss. Wenn möglich mit friedlichen Mitteln, militärische Optionen werden aber nicht ausgeschlossen. In Taiwan hingegen wird seit einigen Jahren die Besonderheit der Insel betont. Wenn schon keine formale Unabhängigkeit erreicht werden kann, soll zumindest der Status quo mit allen Mitteln erhalten werden. Zum anderen hat die Entwicklung Taiwans als einer primär chinesisch geprägten Gesellschaft gezeigt, dass die chinesische Kultur mit einer demokratischen und liberalen Gesellschaft vereinbar ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Während es Mitte der 1980er Jahre kaum spezifische Publikationen zu Taiwan gab, spricht man heute von der "goldenen Zeit" der Taiwanforschung (Dafydd Fell/Hsin-Huang Michael Hsiao, Taiwan Studies Revisited, in: dies. (Hrsg.), Taiwan Studies Revisited, London 2020, S. 5.). Es gibt spezielle Buchreihen (beispielsweise von Routledge und Brill) und seit 2018 das International Journal of Taiwan Studies. Weltweit befassen sich drei Vereinigungen mit Taiwan: NATSA (North American Taiwan Studies Association, gegründet 1994), JATS (Japanese Association of Taiwan Studies, gegründet 1998) und EATS (European Association of Taiwan Studies, gegründet 2004).

  2. Seit 2008/9 verwendet Taiwan heute offiziell das in der Volksrepublik China entwickelte Hanyu Pinyin zur Romanisierung chinesischer Schriftzeichen. Die zehn größten Städte sowie Eigennamen sind hiervon jedoch ausgenommen. Bei der ersten Verwendung eines Namens werde ich daher in Klammern die von Hanyu Pinyin abweichende übliche Umschrift angeben.

  3. Vgl. David Blundell, Austronesian Taiwan: Linguistics, History, Ethnology, and Prehistory, Taipei 2001.

  4. Vgl. Jens Damm, Taiwanstudien und -forschung in Deutschland, in: Asien 144/2017, S. 23–35.

  5. Vgl. Ann Heylen, Taiwan in Late Ming and Qing China, in: Gunter Schubert (Hrsg.), The Taiwan Handbook on Contemporary Taiwan, Abingdon–New York 2016, S. 7–21.

  6. Vgl. Leo T.S. Ching, Becoming "Japanese": Colonial Taiwan and the Politics of Identity Formation, Berkeley 2001; Wan-Yao Chou, Taiwan under Japanese Rule (1895–1945), in: Schubert (Anm. 5), S. 22–35; Wan-Yao Chou, Between Heimat and Nation: Japanese Colonial Education and the Origins of "Taiwanese Consciousness" in: John P. Fitzgerald/Sechin Y.-S. Chien (Hrsg.), The Dignity of Nations: Equality, Competition and Honour in East Asian Nationalism, Hongkong 2006, S. 115–139, S. 231–236.

  7. Vgl. Stefan Fleischauer, Der Traum von der Eigenen Nation: Geschichte und Gegenwart der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans, Wiesbaden 2008.

  8. Vgl. Bruce J. Jacobs, Democratizing Taiwan, Leiden 2012; Hsin-Huang Michael Hsiao/Yu-Yuan Kuan, The Development of Civil Society Organizations in Post-authoritarian Taiwan (1988–2014), in: Schubert (Anm. 5), S. 253–267.

  9. Hsin-Huang Michael Hsiao/Yu-Yuan Kuan, The Development of Civil Society Organizations in Post-authoritarian Taiwan (1988–2014), in: Schubert (Anm. 5), S. 253–267, hier S. 254.

  10. Vgl. Bruce J. Jacobs, Taiwan During and After the Democratic Transition (1988–2016) in: Schubert (Anm. 5), S. 51–67.

  11. Vgl. Gunter Schubert/Jens Damm (Hrsg.), Taiwanese Identity in the 21st Century: Domestic, Regional, and Global Perspectives, New York 2011.

  12. Vgl. Gunter Schubert, Towards the End of a Long Journey: Assessing the Debate on Taiwanese Nationalism and National Identity in the Democratic Era, in: Asien 98/2006, S. 26–44.

  13. Vgl. Jens Damm, Politics and the Media, in: Schubert (Anm. 5), S. 184–198.

  14. Vgl. Yeun-Wen Ku/James Cherng-Tay Hsueh, Social Welfare, in: Schubert (Anm. 5), S. 342–358; Tse-Kang Leng, Taiwan and Economic Globalization, in: ebd., S. 233–250.

  15. Vgl. Simona Alba Grano, Environmental Issues Facing Taiwan, Center for East Asia Policy Studies 2015.

  16. Vgl. Jens Damm, The Multiculturalization of Taiwan: From a Unified Han-Identity to the "Four Great Ethnic Groups", in: Berliner Chinahefte 38/2012, S. 72–89.

  17. Vgl. Chun-Chieh Chi, Indigenous Movements and Multicultural Taiwan, in: Schubert (Anm. 5), S. 268–279.

  18. Vgl. Yun Fan/Wei-ting Wu, The Long Feminist March in Taiwan, in: Schubert (Anm. 5), S. 313–325; Timothy S. Rich/Isabel Eliassen, Has Taiwanese Public Opinion on Same-Sex Marriage Changed?, 11.9.2020, Externer Link: https://thediplomat.com/2020/09/has-taiwanese-public-opinion-on-same-sex-marriage-changed.

  19. Vgl. André Laliberté, Religion and Politics, in: Schubert (Anm. 5), S. 326–342; Michael Rudolph, Nativism, Ethnic Revival, and the Reappearance of Indigenous Religions in the ROC: The Use of the Internet in the Construction of Taiwanese Identities, in: Heidelberg Journal of Religions on the Internet 2.1/2006, S. 41–53.

  20. Vgl. Ivy I-Chu Chang, Taiwan Cinema, Memory, and Modernity, Basingstoke 2019; Nikky Lin/Chris Wen Li, A Taiwanese Literature Reader, Amherst 2020.

  21. Vgl. Jens Damm, Covid-19 and Taiwan in the German Media, August 2020, Externer Link: http://www.eats-taiwan.eu/newsletter/issue-16.

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ist assoziierter Mitarbeiter am European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT) an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Vorstandsmitglied der European Association of Taiwan Studies (EATS e.V.)
E-Mail Link: jens.damm@fu-berlin.de