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Im Rückspiegel - Essay | 50 Jahre Mauerbau | bpb.de

50 Jahre Mauerbau Editorial Im Rückspiegel - Essay Walter Ulbrichts "dringender Wunsch" Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten" Ein Hauch von Frühling Mauerbau und Staatssicherheit Die Mauer und ihre Bilder Der Mauer um die Wette gedenken

Im Rückspiegel - Essay

Günter Kunert

/ 14 Minuten zu lesen

Der Sonntag hatte so schön begonnen. Im Radio hörte man dann, im amtlichen Ton verlesen: Heute Nacht haben unsere Sicherungskräfte den Schutz der Grenze übernommen.

Der Sonntag hatte so schön begonnen. Wunderbares Wetter verlockte zu einer Spritztour an den Müggelsee. Zwar sollte es zu einer Spritztour kommen, doch anders als gedacht. Draußen in der Straße Stille und kein Passant. Wie friedlich die Welt einem doch vorkommen konnte. Die örtliche Historie schien eingeschlafen zu sein. War doch unser sächsischer Duodezkönig im April mit seiner Aktion, West-Berlin in eine "freie Stadt" zu verwandeln, glücklich (nicht für ihn) gescheitert. Da durfte man mit Adenauer sagen: Keine Experimente. Und der neue junge Präsident, Liebling der Götter, hatte sich mit dem dicken Chruschtschow im Juni in Wien getroffen, frisch, fromm, fröhlich, frei. Ja, Wien bleibt Wien und Berlin im alten Status.

Wahrscheinlich hatte sich Kennedy für die missglückte Invasion auf Kuba im April entschuldigt und versprochen, solche dummen Späße nie mehr zu wiederholen. Chruschtschow strahlte über das ganze Bratkartoffelgesicht. Für ihn brachte der April nur Triumphe: der erste Mensch im All, unser Gagarin! Neunzehn Orden hatten sie dem Erdumkreiser angeheftet (ich habe sie gezählt!). Und unsere wie stets informationsfreudige Presse ehrte sich selber mit einem Extrablatt: "Kommunismus verwirklicht kühnste Träume der Menschheit!" Letztere bestand zurzeit gerade mal aus drei Milliarden von Träumern, die jetzt gefälligst ihre kühnsten Träume als verwirklicht anzusehen hatten. Kleinigkeiten wie Elend, Not, Krieg spielten dabei keine Rolle und würden auch künftig keine spielen.

In diese Träumerei klingelte das Telefon, und vorerst verwirklichte sich ein Albtraum. Am Apparat eine aufgeregte Stimme. Karl-Heinz: "Stellt sofort das Radio an ...", und aufgelegt.

Da hörte man dann, im amtlichen Ton verlesen, die unschöne Bescherung: Heute Nacht haben unsere Sicherungskräfte (oder so ähnlich) den Schutz der Grenze und so weiter übernommen. Der genaue Wortlaut hat sich mir nicht eingeprägt, was auch nicht nötig war; man wusste, was geschehen ist. Und dennoch: Man ist sich über die Konsequenzen und Folgen der sogenannten "Maßnahmen" in diesem Moment nicht klar gewesen.

Vielleicht handelte es sich nur um eine verstärkte Kontrolle des Innerberliner Verkehrs, vielleicht würde man zwischen Treptow, wo wir wohnten, und Neukölln seinen Ausweis zeigen müssen, vielleicht Taschen öffnen oder einen Obolus entrichten müssen - die Naivität war groß, insbesondere meine. Es war ja unvorstellbar, dass man die Stadt radikal teilen und die Einwohner voneinander separieren könne. Obschon ein durch Erfahrung gebranntes Kind, konnte ich mir nicht vorstellen, was da entstand. Ach, ich kannte aus meiner Kindheit die Sprüche der Erwachsenen: Es wird schon nichts so heiß gegessen wie gekocht, bis sie selber in dem für sie hergestellten Orkus verschwanden. Ich hätte es besser wissen müssen. Viele haben es besser gewusst, die vor diesem Tag sich auf die Socken gen Westen gemacht hatten. Und dann klingelte es an der Wohnungstür.

Karl-Heinz, der Anrufer, erschien, in den Armen irgendwelche Kleidungsstücke, die Augen gerötet, die Nase schniefelnd, aufgeregt, aufgelöst. Im Wohnzimmer, nachdem er die Sachen abgelegt hatte, sank er in einen Sessel, zog sein Taschentuch heraus und tupfte sich das Gesicht ab. Solltest du nicht schon fern in Mainz oder München sein, Karl-Heinz? Und Karl-Heinz gestand den größten Fehler seines Lebens ein. Er und seine Frau und die beiden Kinder sollten heute Vormittag von Tempelhof abfliegen, zu der Familie seiner Frau, die irgendwo im Hessischen eine Textilfabrik betrieb. Flugtickets, Geld, alles da. Und nun sitze seine Gattin nebst Nachwuchs in der Abfertigungshalle des Flugplatzes und warte auf ihn, der nicht mehr kommen könne und - was er kaum ahnte - niemals wieder mit ihr und den Kindern zusammen sein würde.

Warum bist du denn um Gottes Willen noch einmal zurückgekommen?! Taschentuch, Augenbetupfen. Wieso? Um Abschied zu nehmen. Die letzte Nacht mit Monika ... (Ob er es als Strafe für das sündige Verhältnis zu einer Geliebten empfand, erfuhr ich nie.) Und was sind das für Kleidungsstücke, Karl-Heinz? Die Mäntel von meiner Frau und meinen Kindern, sie hatten sie in Ost-Berlin vergessen ... Sie oder du? Waren die Sachen sein Alibi, noch einmal zurückzukehren? Ihr müsst ihr die Sachen zum Flugplatz bringen. Jetzt? Wie denn? Ihr habt doch die Grüne Karte!

Ja, die Grüne Karte. Das war ein Berechtigungsschein, mit dem Auto nach West-Berlin zu fahren. Manche Ärzte besaßen die Karte, um Patienten (lukrativ) in Charlottenburg oder Dahlem behandeln zu können. Auch Historiker und irgendwelche Wissenschaftler. Ich, als Amateurzeitgeschichtler auf den Spuren der trostlosen deutschen Vergangenheit, beantragte eines Tages frech diese Karte zum Besuch von Bibliotheken und zur Inaugenscheinnahme historischer Stätten, über die ich zu schreiben gedachte. Und das Wunder geschah: Ich, nein, wir bekamen diese Karte, ausgestellt auf das Ehepaar Kunert, also für zwei Personen. Da zu jener Zeit die Grenze ohnehin noch offen war und ich meinen Wartburg kaum in Berlin W. auf den Markt bringen würde, stellte man mir die Karte aus: Übergangsstelle Brandenburger Tor. Ihr habt doch die Karte, versucht es doch einfach! Taschentuch, Augentupfen, bettelnder Blick. Na gut.

Da meinte meine Frau eine glänzende Idee zu haben: Unser Heizlüfter (Siemens-Produkt, Geschenk von Tante X.), der doch kaputt sei, könnte bei dieser Gelegenheit, falls es klappen würde, wir kennten doch Gerd Hoffmann, du weißt doch, der aus dem Elektroladen in Tegel, da könnten wir doch ... Auch der defekte Heizlüfter landete im Kofferraum. Während in der Friedrichstraße russische und amerikanische Panzer aufzogen; während Leute verzweifelt versuchten, sich aus den Fenstern von Grenzhäusern in die Arme West-Berliner Feuerwehrmänner zu stürzen; sich die Schicksale von Millionen Menschen auf einen Schlag änderten, Zukunftspläne erloschen, die ganze Welt gebannt "auf diese Stadt" starrte, voller Befürchtung, nun könne der berüchtigte Fall X eintreten, es könne die Weissagung sich bewahrheiten und die Apokalypse ausbrechen, verstaute ich neben Wintersachen den verstorbenen Heizlüfter, als handele es sich um einen kleinen Sonntagsausflug zu Freunden und Bekannten.

Unsere Straße war menschenleer wie auch die folgenden. Durch halb Ost-Berlin bis Unter den Linden kaum Passanten. Hier und da ein Militärfahrzeug, ansonsten eine Reglosigkeit, eine dumpfe Stille, wie man sie auch an sonstigen Sonntagen nicht kannte. Langsam die Linden Richtung Brandenburger Tor. Plötzlich wurde das Plastiklenkrad feucht. Mit jeder Radumdrehung verwandelten sich meine Innereien in einen zusammengeballten Klumpen Gedärm. Schon sah ich aus dem Wachtgebäude rechterhand einen Polizisten kommen und sich in der Mitte der Fahrbahn aufbauen. Außer meinem war kein Privatwagen in Sicht. Vor dem Grünuniformierten hielt ich an und stieg aus.

Wo wollen Sie hin?, wollte er wissen, und ich zog wie ein Zauberkünstler auf der Bühne seinen Stab meine Grüne Karte ("Propusk" auf DDR-Deutsch) aus der Jacke und präsentierte sie dem amtlichen Argusauge. Dann verschwand der Wächter mit der Karte.

Solche Minuten des Wartens kennt jeder, der zwischen Ost- und Westdeutschland die städtische oder die Landesgrenze passierte: Man fühlte sich bereits schuldig, bevor sich überhaupt etwas ereignet hatte. Wer erinnert sich nicht an den stechenden Blick des Zerberus, der das Gesicht des Bittstellers (und potentiellen Klassenfeindes) und sein Konterfei im Ausweis verglich. Ich erlebte Einsteins Relativitätstheorie am eigenen Leibe. Nach offenkundig wenigen Minuten, die für mich Tage dauerten, kehrte der Wächter zurück: Sie können fahren, Ihre Frau aber nicht! Oho! Dieser Mensch, dieser Verordnungshütejunge - der kannte meine Frau nicht! Sie sprang aus dem Wagen, hielt dem Kerl die Grüne Karte unter die Nase: Können Sie nicht lesen? "Mit Frau" steht da! Ein Befehlsempfänger wagt keine Widerrede. Er legte verlegen die Hand an die Mütze und wünschte in seiner totalen Verlegenheit und Verwirrung uns noch: "Gute Fahrt!" Dann rollten wir zum letzten Male für die nächsten Jahrzehnte durch das Berliner Wahrzeichen. Im Schritttempo. Den Blick starr geradeaus gerichtet.

Hinter dem Tor eine Reihe grauer Gestalten, die auseinander traten, so dass ich an ihnen vorbeifahren konnte. Im Rückspiegel sah ich, wie sich die Reihe wieder schloss. Die Tour nach Tempelhof überstanden wir schweigend: Was sollte man dazu noch sagen, es war doch eindeutig, was geschehen war. Ich hatte das Empfinden, mich in einer langen Filmsequenz zu befinden, als sähe ich mir selber zu, abgetrennt von dem Ich hinter dem Lenkrad; desgleichen erlebt man nur in seinen Träumen. Automatisch schalten, bremsen, kuppeln, weiter bis zum Luftbrückendenkmal, wo wir in einer Seitenstraße parkten.

Mit den Mänteln über dem Arm zur Abfertigungshalle. Da hockte Karl-Heinzens Familie in einer Bankecke, verstört, reglos. Nach Übergabe der Kleidungsstücke belanglose Worte voller falschem Trost. Die "Maßnahme" werde sicher Ausnahmen zulassen, Karl-Heinz würde schon eine Möglichkeit finden nachzukommen, und was des Unsinns mehr war, an den man weder beim Reden noch beim Zuhören wirklich glaubte. Den wahren Grund seiner Abwesenheit verschwieg ich. Die Situation war ohnehin katastrophal genug. Dann die hastige Trennung, eine von vielen Trennungen, die ich erleben musste. So erreichten wir über Reinickendorf, Tegel endlich das wie eh und je vor sich hin dämmernde Heiligensee. Eine übersonnte Nekropole.

Am Ziel angekommen, öffnete uns Gerhard H., der Stromspezialist, die Gartenpforte mit ungläubiger Miene, überrascht und verwundert. Und als ich den Heizlüfter aus dem Kofferraum vorführte, hielt er mich wahrscheinlich für geistesgestört. Und genauso kam ich mir danach auch vor. Und wie der Offizier in Stendhals "Schlacht von Waterloo", der abseits des Gemetzels durch die Fluren reitet, ohne sich zurechtzufinden. In einem Zustand von starker Gespanntheit und Realitätsverkennung versprach ich, das reparierte Stück nächste Woche abzuholen. Ich besaß ja die Grüne Karte: Da sie heute gewirkt hatte, warum sollte sie nicht auch morgen gelten? Doch ich hatte die soeben von der DDR-Führung exemplifizierte Perfektion der Abriegelung überschätzt. Honecker, der "Maßnahme"-Meister, hatte bloß vergessen, die Grünen Karten einzuziehen. Dergestalt gelangten an diesem Sonntag noch eine Anzahl von Ärzten und Wissenschaftlern von Ost nach West. Nun drängte die Zeit. Abfahrt zurück zu meinen Eltern und zu Mariannes Brüdern.

Je mehr wir uns dem Tiergarten näherten, desto belebter wurden die Straßen und Alleen. Wo die Siegessäule stand, ballte sich bereits eine Menschenmasse zusammen. Ich musste den Platz umrunden, um auf die "Straße des 17. Juni" zu kommen, aber das war leichter gedacht als getan. Die Menge umschloss unser Auto, meine Bänglichkeit wuchs, obzwar niemand den Wagen berührte. Aber ich kam nur zentimeterweise voran, die Gesichter rund um mich wirkten nicht gerade freundlich, und ich konnte mir denken, was in den vielen Köpfen vorging.

Mehrere Male kroch ich im Schneckentempo im Kreis durch die unübersehbare Flut von Leuten, die sich zögernd vor mir öffnete und hinter mir, wie ich im Spiegel bemerkte, wieder massiv schloss. Es schien keinen Ausweg zu geben. Da ertönte von ferne eine unüberhörbare Lautsprecherstimme: Den Ostwagen durchlassen! Und es öffnete sich eine Schneise, durch die ich meinen Mitberlinern entkam. Außerhalb des dichten Zirkels der Retter: ein Polizeiwagen, aus dem Anweisungen ertönten. Das restliche Wegstück ohne Neugierige, Zornige, Verzweifelte, von der "Maßnahme" schockierte Bürger. Bis zum Brandenburger Tor nur noch Niemandsland, an dessen Ende sich Bewaffnete abzeichneten, ein Panzerwagen, Zivilisten. Wie mit einem Kamerazoom rückte näher, was für die Ewigkeit von den Erbauern erdacht erschien.

Dabei hatte doch noch vor wenigen Tagen der oberste Dienstherr verkündet: Niemand hat die Absicht, in Berlin eine Mauer zu bauen. Vorerst bestand sie aus einem über die ganze Breite des Tores gespannten Stacheldraht. Vor dem stoppte ich. Ein Mann mit einer Maschinenpistole um den Hals ergriff den Stacheldraht und zog ihn hoch und hielt ihn fest. Wir blieben ohne Blickkontakt. Ob er dasselbe dachte wie ich? Unter dem Draht hindurch. Friedrichstraße. Alexanderplatz. "Die Heimat hat uns wieder ...", hätte jetzt ein Zyniker gesagt, doch zu diesem Charakteristikum fehlte mir das Talent. Man hätte wissen müssen, dass weder die Sowjets noch die DDR-Führung dem sich rapide beschleunigenden Ausbluten des staatlichen Kunstgebildes auf Dauer tatenlos zusehen würden. Und doch und dennoch: Wie viele hatten die zu erwartenden Konsequenzen verdrängt! Ein bisschen Normalität des Daseins bewahren. Befürchtungen nicht nachgeben. Abwarten. In Deutschland ist immer zu lange abgewartet worden, bis die Ereignisse mit ihrem Eigengewicht nicht mehr aufzuhalten gewesen sind.

Parole: Keine ideologische Koexistenz. Ein Befehl aus dem 19. Jahrhundert. Die wackeren Maurer an der Spitze hatten vergessen, dass nach ihrer Jugend diverse elektronische Erfindungen gemacht worden waren, von deren Macht sie nichts ahnten. Der Versuch, den Leuten auf die Bude zu rücken, um ihre Antennen in die Richtung der glücklichen Zukunft zu drehen, scheiterte; jetzt im Juni hatte der Klassenfeind sogar einen zweiten Fernsehsender geplant. Was tun? Nun, Deutsche sind ein Bastlervolk. Als das ZDF zu senden anhob, bauten geschickte Hände kleine Kästchen, bestückt mit Transistoren, die man vor dem Antenneneingang seines Gerätes einklinkte: Schon war man dem heimischen Augenpulver entflohen.

Der Erfindungsreichtum der Leute erhielt einen enormen Schub. Heimwerker konstruierten Heißluftballons und entschwebten durch die Luft, Benzintanks wurden (im Westen) ausgebaut, um Platz für einen staatsunwilligen Bürger zu schaffen (mit drei Litern über die Grenze und zurück). Und ein besonders Schlauer ließ sich von seiner geschickten Freundin eine amerikanische Uniform schneidern und spazierte gemächlich über die Frontlinie des immer kälter werdenden Krieges. Derlei Eulenspiegeleien waren an jenem berüchtigten Sonntag noch unvorstellbar.

So fuhren wir niedergedrückt heim. Kaum waren wir zurück in unserer Wohnung, tauchte überraschend ein Besucher auf, ein Autor, wohl Mitglied der Parteileitung des Schriftstellerverbandes, ein Jemand, von dem ich nie eine Zeile gelesen und auch nicht das Bedürfnis danach hatte. Er wolle mich abholen, wir seien zusammengerufen worden, wir würden Informationen über die Lage erhalten, Auskunft über weitere Entwicklungen, und unten warte der Wagen. Karl Marx hatte, zwar leichthin aphoristisch, doch nicht ganz stimmig, behauptet, der Tragödie folge unweigerlich die Posse. Nun hatte die Tragödie gerade erst begonnen, und schon wurde man mittels diverser Possen unterhalten, wenn auch mittelmäßig. Ich stieg mit dem Abgesandten höherer Provenienz in den Wagen, und wir landeten am Köllnischen Park, nahe dem Märkischen Museum, wo in einem Bärenzwinger ein einsames, ziemlich mottenangefressenes Tier seinen einsamen Lebensabend verbrachte.

Plötzlich entdeckte man überall Symbole. Assoziationen, Anspielungen und Andeutungen zuhauf. Wir liefen zu einem Gebäude, Backsteinbau, Krankenversicherungsstil einer früheren Epoche. Über die Fassade spannte sich ein rotleuchtendes Transparent mit der bewegenden Aufschrift "Achtet auf Agenten, Diversanten und Spionen". Das hob meine Stimmung. Ganz gewiss würde ich ab sofort auf Spionen achten. Vorausgesetzt, ich bekäme einen entsprechenden Hinweis. Aber den sollten wir ja nun innerhalb des Gebäudes erhalten. Großer Saal, bis auf den letzten Platz gefüllt, natürlich alles Dichter, alles angehende Goethes und Schillers. Vorn auf dem Podium hinter dem Rednerpult ein Zwerg namens Klaus Gysi. Er würde uns informieren und instruieren und sonst wie bepredigen.

Mein bisheriger Reisebegleiter hatte mir bereits im Auto glückstrahlend erklärt, jetzt endlich, da der Klassenfeind zu uns nicht mehr eindringen und wühlen könne, würden wir uns eine größere Offenheit leisten dürfen. Dinge beim Namen nennen, ohne befürchten zu müssen, dem Feind in die Hände zu arbeiten. Ich hatte vordem nie geahnt, mit was für Narren ich es einmal zu tun haben könnte. Tatsächlich hatten sich manche Schriftsteller und Künstler dieser Illusion hingegeben, bis die amtlich verordnete Wirklichkeit sie eines Schlechteren belehrte. Mir war doch von den ersten Minuten an klar gewesen, dass gerade jetzt, da wir alle in der Falle saßen, der Dompteur die Dressurakte ausweiten und steigern würde, ohne noch Rücksicht nehmen zu müssen. Der Käfig als Instrument der Disziplinierung.

Als gewohnheitsmäßiger Hinterbänkler in einer der letzten Reihen vernahm ich von dem, was aus des Genossen Gysi Mund quoll, glücklicherweise sehr wenig. Es waren ohnehin nur die tausendmal auch sonst überhörten Phrasen. Eine Vorstellung, für die ich keinen Eintritt bezahlt hätte. Vorläufig entlassen nach draußen, wo es vermutlich keineswegs mehr von Spionen wimmelte, wo der triste Meister Petz in der Sonne den besonderen Jahrestag verschlief, wo sich die Zuhörer teils kopfnickend und befriedigt, teils bedrückt und schweigend zerstreuten. Merklich froh waren jene Autoren, denen es Mühe machte, einen Bleistift zu halten: Sie bekamen Oberwasser, wie die paar kritischen Geister unter den Geistesarmen bald merken würden. Immerhin brachte man mich wieder nach Hause, wo meine Frau irgendetwas zum Essen bereitet hatte, vielleicht war es gekochte Pappe oder gedünstetes Sperrholz: Ich schmeckte nichts, aß kaum etwas, und dann meldeten wir uns bei meinen Eltern an. Auf zur nächsten Fahrt.

Dimitroffstraße 143, früher Elbinger. Eine Ecke weiter hatte ich das Kriegsende erlebt, die Rote Armee begrüßend, ohne deren Einmarsch ich garantiert nicht über alles Folgende hätte räsonieren können. Ich war ja auf der richtigen Seite gewesen. Meine Mutter trat 1919 in die SPD ein, so dass ich schon mit der Muttermilch eine gewaltige Portion sozialistischer Nährstoffe zu mir nahm. Meine Entwicklung lag mit mir zusammen in der Wiege fest. An dieser Wiege stand die Fee Utopia und versprach mir den Himmel auf Erden, der, wie ich mehr und mehr merkte, eher den sich zu Adlern aufplusternden Spatzen gehörte. Mein Vater war der Kontrahent meiner Mutter, und sein tägliches Gebet hieß: Wirtschaft in Ketten ist Tod der Wirtschaft. Er hielt sich nebbich für einen Unternehmer und produzierte in der Kommandantenstraße, Nähe Moritzplatz in einem Stockwerk eines alten Fabrikgebäudes Schreibblocks, Durchschreibebücher, Hefte. Er war sein eigener Chef, sein eigener Arbeitgeber, sein eigener Vertreter und sein eigener Lieferant - alles in Personalunion. Nun saßen wir am Küchentisch zusammen. Über die Zukunft zu sprechen lohnte nicht. Was würde mein Vater machen, wenn er nicht mehr zu seinen paar Maschinen zurück durfte? Meine Mutter war Rentnerin, OdF, ein "Opfer des Faschismus", und erhielt somithin eine höhere Rente als der Durchschnittsbürger. Davon konnte man leben.

Mein Vater sprach kaum ein Wort, er hatte wohl das Gefühl, recht behalten zu haben: Der Tod der Wirtschaft war nun im Osten mit allen Begleiterscheinungen eingetreten. Die Versager hatten ihren Laden zugemacht: Das war's. Wenig später knöpften sich die Kämpfer für Humanität und Recht alle jene vor, die in West-Berlin beschäftigt gewesen waren. Mit ihnen wurde entsprechend den Direktiven umgesprungen: wahrscheinlich sowieso alles Spionen! Mein Vater hatte insoweit Glück, als meine Mutter als alte Genossin und Opfer nicht mitbestraft werden sollte: Er durfte einen Laden für Flaschen und Altpapier in eigener Regie führen. Das nennt man doch Vertrauen! Nebenbei: Sein OdF-Status war ihm aberkannt worden, weil er keine DDR-Flugblätter den von ihm hergestellten Heften beilegen wollte. Er würde nie mehr seine "Arbeitsbude" betreten. (Unter anderen Papieren fand ich nach seinem Tod vor Erreichung des Rentenalters eine Postkarte des West-Berliner Senats des Inhalts, seine Maschinen seien verschrottet worden.)

Am Abend endlose Debatten mit Freunden und Bekannten. Immer aufs Neue der aufflackernde Wahn, irgendetwas werde sich doch so regeln, dass wenn auch eingeschränkte menschliche Bindungen erlaubt bleiben würden. Träumereien an erloschenen preußischen Kaminen. Die Resignation griff erst später epidemisch um sich. Assoziationen an eingemauerte Wohnstätten waren unausbleiblich, aber nicht im Geringsten tröstlich. Karl-Heinz, der am folgenden Morgen erneut aufkreuzte, brachte außer seiner Depression eine Flasche "Hennessy" mit - diese Marke könnten wir künftig vergessen. Dennoch: Auch er klammerte sich an den Kinderglauben, es würde Sondergenehmigungen geben, Ausnahmen, von Institutionen befürwortet, Familienzusammenführungen - doch bis es viel später zu derartigen Übereinkünften kam, existierte Karl-Heinz nicht mehr. Von einer Reise zurück, ruhte er sich auf einer Treppenstufe zu seiner Wohnung im dritten Stock aus, und zwar für die Ewigkeit.

Im Dezember dieses Jahres ging ein anderes Leben zu Ende, ich muss gestehen, zu meiner Befriedigung. In Jerusalem wurde Adolf Eichmann zum Tode verurteilt und fünf Monate später aufgehängt. Das war zwar im Vergleich zu seinen Untaten kein wirkliches Äquivalent, dennoch: Wenigstens einen von den vielen Eichmännern hatte man erwischt. Wie viele noch an diesem Sonntag vor den Bildschirmen saßen und zufrieden dem Unglück der Zeitzeugen zusahen, wird uns kein Hellseher verraten können.

Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 3.1. 2011; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der FAZ GmbH.

Dr. h.c., geb. 1929; Erzähler und Lyriker, Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland; 1979 Ausreise aus der DDR, lebt seitdem in der Nähe von Itzehoe.