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Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer | 50 Jahre Mauerbau | bpb.de

50 Jahre Mauerbau Editorial Im Rückspiegel - Essay Walter Ulbrichts "dringender Wunsch" Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten" Ein Hauch von Frühling Mauerbau und Staatssicherheit Die Mauer und ihre Bilder Der Mauer um die Wette gedenken

Chruschtschow, Ulbricht und die Berliner Mauer

Gerhard Wettig

/ 17 Minuten zu lesen

Im November 1958 leitete Chruschtschow mit dem Berlin-Ultimatum die längst Krise des Kalten Krieges ein. Die Grenzschließung in Berlin blieb das einzige Ergebnis seines Bemühens.

Einleitung

Am 27. November 1958 richtete die UdSSR das erste Berlin-Ultimatum an die Westmächte: Binnen sechs Monaten sollten sie sich an einem Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten beteiligen. Demnach hatten sie West-Berlin aufzugeben, das zwar als "Freie Stadt" weiter das kapitalistische System behalten sollte, aber bezüglich der Verbindungen zur Außenwelt und aufgrund von Wohlverhaltensverpflichtungen völlig der DDR überantwortet werden würde. Falls die Westmächte diese Regelung ablehnten, wollte der Kreml den Friedensvertrag einseitig mit der DDR schließen, um dieser dann ohne westliche Einwilligung die Kontrolle über die Transitwege nach West-Berlin zu übergeben und so die westliche Position in der Stadt unhaltbar zu machen. Sollten daraufhin die Westmächte versuchen, den Zugang durch bewaffnete Konvois oder andere militärische Aktionen zu öffnen, würde die UdSSR das als Aggression gegen ihren ostdeutschen Verbündeten ansehen und ihrer Verpflichtung zur Beistandsleistung nachkommen. Ein Nuklearkrieg, so hieß es, wäre die Folge. Mit dieser Aussicht wollte der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow die USA, von deren Haltung die westliche Reaktion abhing, zum Einlenken bewegen. Der wertlose Außenposten West-Berlin, so betonte er in Gesprächen immer wieder, lohne das Kernwaffendesaster nicht, das Westeuropa völlig vernichten und Nordamerika schwer treffen würde.

Der sowjetische Führer hatte es nicht auf die Stadt als solche abgesehen und auch nicht nur auf die Anerkennung der DDR und der deutschen Zweistaatlichkeit. Er wollte der UdSSR das Übergewicht im Ost-West-Konflikt verschaffen, indem er die NATO "ruinierte". Er wusste, dass die Verteidigung West-Berlins seit der Blockade 1948/49 für die Westeuropäer das Unterpfand des amerikanischen Engagements auf dem Kontinent war. Wenn die USA Berlin räumten, würde ihnen kein Vertrauen mehr entgegengebracht werden. Die atlantische Allianz verlöre ihre politische Basis.

Für die DDR trat Chruschtschow nur insoweit ein, als es um die Sicherung ihrer Existenz als Grundlage seiner Position in Europa ging. Alle weitergehenden Interessen des SED-Regimes waren für ihn zweitrangig. Zu Walter Ulbrichts Leidwesen lehnte er stets ab, wenn ihm die Westmächte die Anerkennung der DDR und der deutschen Ostgrenze und die Einstellung aller unerwünschten Einwirkungen aus West-Berlin, ja sogar einen Verzicht auf das originäre Besatzungsrecht anboten, wenn er dafür Präsenz und Zugang akzeptiere. Es kam ihm vor allem auf den Schlag gegen die NATO an; er wollte auch das Flüchtlingsproblem der DDR nicht durch Schließung der Sektorengrenze, sondern durch Kontrolle über die Zugangsstrecken, vor allem die Luftwege, lösen. Anders als Ulbricht, der in Moskau schon seit Langem auf die Sperrung der innerstädtischen Grenze drang, scheute er die gewaltsame Zerreißung einer Stadt, auf die sich die Blicke der Weltöffentlichkeit richteten. Auch fürchtete er zu Recht, man würde einen solchen Schritt als Eingeständnis werten, dass das sozialistische System in Deutschland dem Wettbewerb mit dem Westen nicht gewachsen war.

Chruschtschow drohte zwar mit Krieg, wollte ihn aber auf keinen Fall führen. Er hatte nicht nur die Verwüstungen vor Augen, die sein Land in einem Kernwaffenkonflikt erleiden würde, sondern war sich auch der globalstrategischen Überlegenheit der USA bewusst. Seine Behauptung, die UdSSR sei mindestens ebenso stark, ja, wie er glaube, sogar noch stärker, war ein Bluff. Er meinte aber, dass die Westmächte durch die ihnen zugeschobene Wahl zwischen Krieg oder Frieden zum Zurückweichen veranlasst würden, so dass er kein Risiko eingehe. Das erwies sich als Irrtum. Auch sein Argument, die Westeuropäer seien Geiseln in seiner Hand, die er vernichten könne, wenn die Amerikaner in der Berlin-Frage auf ihrer "aggressiven" Haltung beharrten, blieb ohne die erhoffte Wirkung: Das Genfer Gipfeltreffen 1959 endete ohne Ergebnis. Chruschtschow hielt aber an seinem Ziel fest und hoffte, Präsident Dwight D. Eisenhower, der ihn in die USA eingeladen hatte, werde zugänglicher sein als Außenminister John Foster Dulles. Das war eine Illusion, schon deswegen, weil die Amerikaner nicht ohne die Verbündeten verhandelten und daher nur einen Gedankenaustausch zuließen. Die Pariser Gipfelkonferenz Mitte Mai 1960 ließ Chruschtschow platzen, als Eisenhower die geforderte, demütigende Entschuldigung für einen Spionageflug über der UdSSR verweigerte. Mit einem solchen Mann könne er sich nicht mehr an einen Tisch setzen. Damit waren die Berlin-Verhandlungen bis zur Wahl des neuen US-Präsidenten Mitte November aufgeschoben.

Wiederaufnahme der politischen Berlin-Offensive

Chruschtschow sah sich 1960 zu einer Neueinschätzung der Lage bewogen. Das beharrliche westliche Festhalten an West-Berlin führte er darauf zurück, dass die östlichen Truppen auf dem europäischen Schauplatz, den er bis dahin als unwichtig erachtet hatte, die Gegenseite offenbar nicht genügend beeindruckt hatten. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse erschienen in neuem Licht. Als Bonn im Herbst auf die Einführung einer Genehmigungspflicht für Besuche in Ost-Berlin mit der Kündigung des Abkommens über den innerdeutschen Handel reagierte, sah er, dass die ökonomischen Verflechtungen zwischen beiden deutschen Staaten nicht die Bundesrepublik, sondern die DDR abhängig machten. Diese konnte ohne Lieferungen aus Westdeutschland nicht auskommen, während Bonn den Warenaustausch nicht benötigte. Chruschtschow war zusammen mit Ulbricht der Ansicht, man müsse sich aus der Abhängigkeit durch "Störfreimachung" - durch Umstellung auf ein autarkes Wirtschaften im Rahmen des Sowjetblocks - befreien. Auch wenn sich die DDR zunächst den Bedingungen Bonns fügen musste, sollte sie wirtschaftlich standfest werden, bevor es zur Konfrontation kommen könnte. Chruschtschow war zuversichtlich, dass sich dies erreichen lasse, und meinte auch, dass der zum Präsidenten der USA gewählte John F. Kennedy ein politisches Leichtgewicht sei, mit dem er relativ leicht fertig werde. Am 30. November 1960 teilte er daher dem Ersten Sekretär der SED mit, er werde den Friedensvertrag im nächsten Jahr auf jeden Fall durchsetzen.

Anfang Januar 1961 ließ Ulbricht das Politbüro der SED einen Beschluss fassen, der die Prioritäten festlegte. Wie er Chruschtschow schrieb, sollten vor allem das Besatzungsregime in West-Berlin beseitigt, die von dort in die DDR ausgestrahlten Rundfunksendungen eingestellt und die Tätigkeit der Alliierten Luftsicherheitszentrale beendet werden, die den Verkehr in westlichen Flugkorridoren ermöglichte. Er bezweifelte aber, dass sich die Westmächte zu dieser Totalkapitulation bereit finden würden. Daher griff er auf den früheren sowjetischen Vorschlag einer Zwischenlösung zurück, der zufolge sie die Forderungen zunächst nur teilweise, nach Ablauf einer Frist von ein bis zwei Jahren, aber ohne Einschränkung erfüllen sollten. Da der Flüchtlingsstrom demzufolge vorerst noch nicht durch Kontrolle des West-Berliner Flugverkehrs gestoppt werden würde, wollte er dies auf andere Weise gewährleisten. Daher ließ er das Politbüro den "Kampf gegen die Republikflucht" und entsprechende "Maßnahmen" beschließen. Damit waren Vorarbeiten zur Schließung der Grenze in Berlin gemeint. Davon durfte freilich Chruschtschow nichts wissen. Ulbricht klagte zwar am 29. März 1961 auf der Tagung des Warschauer Pakts über die Folgen des Exodus aus der DDR, ließ das Thema aber sowohl bei dieser Gelegenheit als auch gegenüber dem Kremlchef zwei Tage später unerwähnt.

Chruschtschow lehnte nach wie vor jede Diskussion über eine Sperrung der Sektorengrenze ab. Wie er am 24. April dem westdeutschen Botschafter Hans Kroll erklärte, den er wegen seiner eigenwilligen, oft von der Bonner Politik abweichenden Haltung schätzte und daher öfters ins Vertrauen zog, könne die DDR zwar "nicht mit offener Tür leben" und müsse als souveräner Staat "Ein- und Ausreise kontrollieren", doch müsse die Kontrolle auf den Land-, Wasser- und Luftwegen der DDR durchgeführt werden. "Andernfalls wird es nötig sein, eine Festungsmauer um West-Berlin herum zu bauen oder ein Sonderregime zu errichten. Das ist [aber] unmöglich, weil Berlin ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ist, die Einwohner Berlins in verschiedenen Stadtteilen arbeiten, Verwandte haben usw." Demgemäß war es auf der Tagung des Warschauer Pakts nur um den Friedensvertrag und die Verstärkung und Koordination der verbündeten Streitkräfte gegangen.

Bevor sich Chruschtschow mit Kennedy traf, sondierte er beim amerikanischen Botschafter, ob der Präsident auf seine Forderungen eingehen werde. Die ablehnende Antwort bewertete er als Kriegserklärung der USA. Er führte am 26. Mai intern aus, dass er Kennedy mit aller Härte erklären wolle, der Friedensvertrag werde auch dann abgeschlossen werden, wenn die Westmächte sich verweigerten. Vor einer gewaltsamen Unterbrechung des westlichen Flugverkehrs werde er nicht zurückschrecken. Am 3. und 4. Juni 1961 behandelte er den Präsidenten in Wien von oben herab und erneuerte zum Schluss das Ultimatum. Ende des Jahres werde er den Friedensvertrag so oder so abschließen. Triumphierend kehrte er nach Moskau zurück. Kennedy war deprimiert, denn er fühlte sich in die Rolle eines Schuljungen versetzt. Durch Festigkeit wollte er den Kremlchef künftig davon überzeugen, dass er so nicht mit sich umspringen lasse.

Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 gab Ulbricht auf die Frage einer westdeutschen Journalistin, ob die Bildung einer Freien Stadt die Errichtung einer "Staatsgrenze am Brandenburger Tor" bedeute, die überraschende Antwort: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" Das war richtig und falsch zugleich. Eine Sperrung der Sektorengrenze kam zwar nicht in Betracht, weil Chruschtschow sie nicht zuließ, doch hegte der SED-Chef durchaus diese Absicht. Seine Gedanken kreisten darum, und deswegen hatte er die Frage nach den Rechtsfolgen des für West-Berlin vorgesehenen Status als Frage nach einer physischen Abriegelung missverstanden. Vor Kurzem hatte er überdies dem Kreml unter Hinweis auf die anschwellende Massenflucht die Errichtung von Sperren ausdrücklich nahe gelegt. Nur wenn man die Menschen gewaltsam zurückhalte, ließen sich die Versorgungsschwierigkeiten überwinden. Ende Juni dramatisierte er die Lage. Es müsse etwas geschehen; bei offener Grenze sei der Zusammenbruch nicht zu verhindern. Werde nicht bald gehandelt, lehne er jede Verantwortung ab, denn dann könne er die Kontrolle nicht aufrecht erhalten.

Schließung der Grenze in Berlin

Chruschtschow ignorierte Ulbrichts Appell. Nach wie vor wollte er in Berlin den fatalen Eindruck eines brutalen Grenzregimes vermeiden. Seiner Ansicht nach bauschte Ulbricht die Probleme auf. Erst als Berichte seiner eigenen Leute Anlass zur Sorge gaben, wurde er aufmerksam. Am 20. Juli 1961 meldete der KGB-Vorsitzende Alexander Schelepin, die Lage in der DDR sei bedrohlich, und zog den Schluss, die Massenflucht müsse rasch beendet werden, um ein ökonomisches Ausbluten zu verhindern. Sonst sei ein baldiges Ende des ostdeutschen Staates zu befürchten. Um diese Gefahr zu bannen, müsse sofort etwas getan werden.

Chruschtschow zog widerwillig den Schluss, eine Schließung der Grenze in Berlin lasse sich nicht vermeiden. Diese lasse sich auch benutzen, um zu testen, wie die USA auf den einseitigen Abschluss eines Friedensvertrags reagieren würden. Von seinem Urlaubsort aus wies er den sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin, Michail Perwuchin, an, den Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in der DDR, Armeegeneral Iwan Jakubowski, zu beauftragen, sofort Vorbereitungen einzuleiten. Dieser bestellte, ohne dass er Ulbricht vorher gefragt oder auch nur unterrichtet hätte, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Staatssicherheitschef Erich Mielke und den für die Polizeiorgane zuständigen Innenminister Karl Maron noch am selben Tag zu sich nach Wünsdorf. Als man dort darüber sprach, wie der Auftrag auszuführen sei, stellte er fest, dass seine Gesprächspartner bereits konkrete Vorstellungen hatten und alle Fragen sofort beantworten konnten. Nachdem man die Planung in groben Zügen festgelegt hatte, übertrug Jakubowski die Ausarbeitung der Einzelheiten dem stellvertretenden Leiter seiner operativen Stabsabteilung, Oberst Anatoli Mereschko.

Noch am 18. Juli hatte das SED-Politbüro zur Feier von Karl Liebknechts 90. Geburtstag am 14. August eine Großkundgebung auf dem Potsdamer Platz direkt an der Demarkationslinie zu West-Berlin beschlossen. Die Vorbereitungen dazu liefen zunächst zum Schein weiter, damit es keinen Hinweis auf die nun für den Vortag terminierte Aktion gab. Die militärischen und polizeilichen Dispositionen, die bis dahin räumlich gegen die Bundesrepublik und zeitlich auf das Jahresende ausgerichtet gewesen waren, wurden eilig auf das Gebiet um Berlin und einen baldigen Einsatz umorientiert. Der Bau eines tief gestaffelten, fünf Kilometer breiten Kontrollstreifens an der innerdeutschen Grenze ab Sommer 1960 wurde unterbrochen; die dafür gelagerten "Pioniermaterialien" - vor allem Betonpfosten und Stacheldrahtrollen - wurden heimlich in die Umgebung von Berlin transportiert. Sie waren zusammen mit ursprünglich für den Wohnungsbau bestimmten Hohlblocksteinen als Baumaterial für die Sperranlagen vorgesehen.

Am 25. Juli gab Kennedy Maßnahmen zur Stärkung der amerikanischen Streitmacht auf dem europäischen Schauplatz bekannt und definierte die drei "wesentlichen" Erfordernisse (essentials), auf denen er in Berlin unbedingt bestehen werde: Präsenz, Zugang und Lebensfähigkeit. Das bezog sich nur auf die Westsektoren; von einer Aufrechterhaltung des Status quo in der Stadt als Ganzer war keine Rede. Chruschtschow hatte demnach keinen Widerstand beim Bau von Sperranlagen an der Sektorengrenze zu befürchten. Trotzdem bekundete er gegenüber John McCloy, dem Abrüstungsberater des Präsidenten, am 27. Juli seine heftige Empörung und sprach erneut von einer amerikanischen Kriegserklärung.

Am 1. August erläuterte Chruschtschow Ulbricht im persönlichen Gespräch, wie die Abriegelung durchzuführen sei. Die sowjetischen Truppen würden einen Ring um Berlin legen, während die vorderen Positionen von Polizeikräften der DDR, die hinteren von der Nationalen Volksarmee (NVA) besetzt würden. Die Aktion werde dem Abschluss des Friedensvertrags vorausgehen und ein Druckmittel sein. Man werde der westlichen Seite vor Augen führen, dass man es ernst meine. "(W)enn man uns einen Krieg aufzwingt, wird es Krieg geben." Zudem diene die Maßnahme der Verringerung des Exodus. Der Bericht des sowjetischen Generalstabs mache deutlich, dass die UdSSR alles Notwendige unternehme. Sie grabe Panzer an der Grenze zur Bundesrepublik ein und halte das zum Schein geheim, damit der Westen davon Kenntnis nehme. Er hoffte überdies, die Sperranlagen gegenüber der Öffentlichkeit mit der Erklärung rechtfertigen zu können, dass die Gegenseite mit Krieg drohe. Deswegen wolle man sich vor der Entsendung von Spionen schützen.

Es war vorauszusehen, dass eine solche an den Haaren herbeigezogene Begründung kaum überzeugend wirken würde. Chruschtschow war darum bemüht, so wenig wie möglich als Befürworter der Grenzschließung aufzutreten. Daher ließ er Ulbricht das - von ihm vorher geprüfte - Plädoyer auf der Warschauer-Pakt-Tagung in Moskau vom 3. bis 5. August vortragen und erklärte sich bloß einverstanden. Alle stimmten dem vorbereiteten Beschluss zu, doch nur der polnische Parteichef Wadysaw Gomuka unterstützte ihn ausdrücklich. Chruschtschow nannte Berlin eine "offene Stadt", denn er wollte nach Abschluss des Friedensvertrags, wenn die Massenflucht durch die DDR-Kontrollen an den Zugangswegen gestoppt sein würde, die Sperranlagen an der Sektorengrenze wieder beseitigen. Das wurde klar ausgesprochen in der am 13. August publizierten Erklärung des östlichen Bündnisses: Die Notwendigkeit der Grenzschließung werde entfallen, "sobald die Friedensregelung mit Deutschland verwirklicht ist und auf dieser Grundlage die spruchreifen Probleme gelöst sind".

Trotz inneren Widerwillens stand Chruschtschow zu der Entscheidung. Als Botschafter Kroll ihn am 9. November 1961 aufforderte, die Grenze in Berlin wieder zu öffnen, bekannte er sich unumwunden zu ihrer Schließung. "Ich leugne das nicht. Natürlich hätte die DDR ohne uns die Grenze nicht geschlossen. Wozu sollen wir uns hier hinter dem Rücken von Gen[ossen] Ulbricht verstecken? Der ist doch in diesem Fall gar nicht so breit. Natürlich, wir haben die Grenze geschlossen, das geschah auf unser Betreiben hin. Technisch hat das die DDR durchgeführt, weil das eine deutsche Frage ist." Es entsprach der Logik des Kalten Krieges, dass die sowjetische Führungsmacht - und nicht das auf ihren Schutz angewiesene SED-Regime - den Entschluss gefasst hatte, denn nur sie war in der Lage, für die Konsequenzen einzustehen, die sich aus dem Konflikt mit den Westmächten, namentlich mit den USA, ergaben. Sie wollte daher auch die Kontrolle darüber ausüben, wie weit dieser Konflikt getrieben wurde, dessen Risiko sie zu tragen hatte.

Die Westmächte waren auf die Aktion "Rose" am 13. August 1961 nicht vorbereitet und nahmen die Absperrung der Sektorengrenze widerstandslos hin - aus der Sicht Moskaus und Ost-Berlins ein gewaltiger Erfolg. Kennedy sah freilich keinen Grund zur Sorge; im Gegenteil. Mit dem Stopp der Massenflucht aus der DDR habe die Gegenseite erreicht, was sie wolle. Der Konflikt sei demnach ausgestanden. Erst allmählich stellte sich heraus, dass dies eine Fehleinschätzung war. Der Präsident musste sich zudem von seinen Beratern sagen lassen, dass die Westdeutschen und vor allem die West-Berliner von der Schließung des Tores zu ihren Landsleuten im Osten schwer getroffen waren und sich von den USA allein gelassen fühlten. Durch Bekundungen der Solidarität - wie die Entsendung von Vizepräsident Lyndon B. Johnson und die Ernennung des "Helden der Blockade" von 1948/49, General Lucius D. Clay, zu seinem persönlichen Beauftragten in Berlin - meisterte Kennedy die Vertrauenskrise. Als sich zeigte, dass die UdSSR die Offensive gegen West-Berlin keineswegs beendet hatte, sondern weiter verschärfte, suchte Kennedy der Herausforderung durch geduldiges Verhandeln zu begegnen. Mit der Verstärkung seines Militärs glaubte er genug Festigkeit bewiesen zu haben, um zu einem Kompromiss zu gelangen. Chruschtschow sah darin einen Hinweis auf einen beginnenden Wandel in seinem Sinne. Um diesen sich weiter entwickeln zu lassen, wollte er, wie er gegenüber dem früheren NATO-Generalsekretär Paul-Henri Spaak am 19. September zu erkennen gab, den Termin für den Abschluss des Friedensvertrags eventuell über das Jahresende hinaus verschieben.

Chruschtschows neue Berlin-Politik

Chruschtschow suchte die Westmächte durch die Demonstration militärischer Stärke einzuschüchtern. Anfang Juli hatte er Nuklearwissenschaftler mit dem Bau einer 100-Megatonnen-Superbombe beauftragt, die der Gegenseite einen gehörigen Schrecken einjagen sollte. Diesem Zweck diente auch das Manöver "Burja", mit dem die sowjetische Führung erstmals den Nuklearkrieg in Europa übte. Das Ergebnis aber war ernüchternd: Die großflächige Verstrahlung erlaubte kein schnelles Vordringen bis zum Atlantik; bezüglich Organisation und Koordination gab es große Defizite. Washington beantwortete die Drohgebärden mit Hinweisen auf Resultate der neuen Satellitenaufklärung: Die USA waren der UdSSR in quantitativer wie qualitativer Hinsicht globalstrategisch überlegen. Nicht sie, sondern die Russen hatten einen Nuklearkrieg zu fürchten. Sie hatten mit der Vernichtung ihres Landes zu rechnen, während Nordamerika kaum bedroht war.

Chruschtschow sah ein, dass seine Einschüchterungsversuche gescheitert waren. Am 17. und 27. Oktober 1961 ließ er auf dem XXII. KPdSU-Parteitag das Friedensvertragsultimatum fallen, betonte aber die Entschlossenheit, auf der Erfüllung aller Forderungen zu bestehen, und erklärte, einen langen Aufschub der Regelung werde er nicht zulassen. Als General Clay Ende Oktober am Checkpoint Charlie Panzer auffahren ließ, um, wie es schien, die Sperren an der Sektorengrenze durch Räumgerät zu beseitigen, fürchtete Chruschtschow, die USA wollten im Bewusstsein ihrer Stärke einen militärischen Konflikt anzetteln. Tatsächlich ging es aber nur darum, ein Gegenaufgebot zu provozieren, das zeigte, dass die UdSSR - nicht die DDR - für Ost-Berlin verantwortlich war. Als das gelungen war, ließ sich die Konfrontation zur Erleichterung des Kremlchefs beenden.

Nach dem Abrücken vom Ultimatum stand Chruschtschow vor der Frage, wie er seine Ziele anders erreichen konnte. Aufgrund der Abriegelung West-Berlins schien ihm die Lage nun günstig genug, um vorerst keine Änderung anzustreben. Die UdSSR müsse sich nicht um eine Übereinkunft bemühen, sondern könne die anomale Situation einfach bestehen lassen und damit der Welt vor Augen führen, dass die Stadt nur existieren könne, wenn sie sich vom westlichen Besatzungsregime befreie. Auf der Sitzung des ZK-Präsidiums am 8. Januar 1962 erläuterte er, dass der Knochen im Hals, der vor dem 13. August die eigene Seite geplagt habe, jetzt im Hals der Westmächte stecke. "Sollen sie damit leben. Wir schaffen jetzt Schwierigkeiten für West-Berlin, und sie sagen selbst, dass das zum Absterben führen kann. Und was ist das? Das ist der Knochen. So ist es nicht an uns, diesen Knochen herauszunehmen, um das Leben West-Berlins anzuregen."

Bei anderer Gelegenheit wies er darauf hin, dass auch wichtige Betriebe nun West-Berlin verließen. Die Stadt trockne zunehmend aus und sei zum allmählichen Absterben verurteilt. Zur Bekräftigung wies er auf die Äußerung eines führenden westdeutschen Industriellen hin, nach der West-Berlin höchstens noch zehn Jahre zu halten sei, und erklärte die Absicht, dem Niedergang durch ständigen Druck nachzuhelfen. Da er nun längere Fristen ins Auge fasste, kam eine baldige Öffnung der Grenze in Berlin nicht mehr in Betracht. Die provisorisch errichteten Sperren erhielten Dauer und wurden allmählich zu einer festen Mauer. Den ersten Schritt in dieser Richtung genehmigte Chruschtschow im Gespräch mit Ulbricht am 2. November 1961.

Die UdSSR begann bald mit den vorgesehenen Pressionen. Ihr Vertreter in der Alliierten Flugsicherheitsbehörde erklärte ab Anfang Februar 1962 immer wieder die Luftkorridore der Westmächte wegen militärischer "Übungsflüge" für gesperrt. Als dem Flugverbot, das allen Regelungen widersprach, nicht Folge geleistet wurde, führten sowjetische Jagdflugzeuge mehrfach Beinahe-Zusammenstöße mit westlichen Zivilmaschinen herbei. Deren Flüge wurden trotzdem fortgesetzt. General Clay, Bürgermeister Willy Brandt und die Bonner Botschafter der USA und Großbritanniens benutzten, jeweils nach öffentlicher Ankündigung, demonstrativ bedrohte Flugzeuge. Nach fast zwei Monaten vergeblichen Bemühens wurden die Störungen eingestellt. Auch Chruschtschows Hoffnung auf zunehmende materielle Strangulierung der Stadt erfüllte sich nicht, denn die Bundesrepublik war stark genug, um die Hilfen im notwendigen Umfang zu erhöhen.

Angesichts des scheiternden Bemühens um die Zerstörung der Existenzgrundlagen West-Berlins suchte Chruschtschow eine sich ihm bietende Chance zur Veränderung der sowjetisch-amerikanischen Kräfterelation zu nutzen. Im ausgehenden Frühjahr 1962 wurde mit Kuba die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf der Insel vereinbart. Das würde die UdSSR in die Lage versetzen, diese ihr zahlreich verfügbaren Systeme auf wichtige politische und wirtschaftliche Zentren der USA zu richten. Damit sollte der Führung in Washington klar gemacht werden, dass sie sich kein Kriegsrisiko wegen West-Berlin leisten könne, obwohl die Gegenseite nur geringe interkontinentale Fähigkeiten besaß. Die Niederlage in der Kuba-Krise Ende Oktober 1962 machte dieser Erwartung ein Ende. Der Kreml sah sich fortan zu mehr Vorsicht in Berlin veranlasst.

Die Berliner Mauer ermöglichte es zwar dem SED-Regime, sich innenpolitisch zu behaupten, diskreditierte aber das sozialistische System. Chruschtschow hatte sie darum nie gewollt, und doch war sie das einzige Ergebnis, das er erzielte. Er hatte stets alle Zugeständnisse der Westmächte abgelehnt und erhielt nichts, weil er beharrlich auf der Erfüllung aller Forderungen bestand. Das war für Deutschland ein großes Glück. Hätte Chruschtschow die westlichen Kompromissangebote angenommen, wäre die Verhandlungsmasse nicht mehr vorhanden gewesen, auf der die Bonner Ostverträge und die Regelung des Berlin-Konflikts durch die Vier Mächte 1970 bis 1972 beruhten. Zudem hätte die dann erfolgte Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Vereinigung von 1990 zunichte gemacht.

Der Aufsatz fasst Ergebnisse von Forschungen zusammen, die primär auf sowjetischen Archivalien beruhen; vgl. meine Publikationen: Chruschtschows Berlin-Krise, München 2006; Sowjetische Deutschland- Politik 1953 bis 1958, München 2011; Dokumentation: Chruschtschows Westpolitik, Bd. 3: Höhepunkt der Berlin-Krise, München 2011. Vgl. auch meine Texte in Stefan Karner et al. (Hrsg.), Der Wiener Gipfel 1961, Innsbruck 2011. Der Kürze halber wird hier auf Fußnoten verzichtet, soweit ich mich nicht auf andere Publikationen beziehe. Wenn Tagesdaten ohne Fußnoten genannt werden, beruhen die Angaben auf einem Dokument der Dokumentation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD), hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, IV. Reihe, Bd. 1/1, Frankfurt/M. 1971, S. 151-177.

  2. Laut Jan ejna, der im Frühjahr 1968 aus Prag in den Westen überlief, folgte der Rede eine Diskussion, in der Ulbricht gefragt wurde, welche Möglichkeit der Abhilfe er sehe, und antwortete, dass man die Grenze in Berlin schließen könne. Das sei von den versammelten Parteichefs mehrheitlich abgelehnt worden, vgl. Honoré M. Catudal, Kennedy and the Berlin Wall Crisis, Berlin 1980, S. 49f. ejnas Aussagen haben sich sehr oft als unzutreffend erwiesen. Im vorliegenden Fall gibt es in den sowjetischen Akten weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung.

  3. Vgl. DzD (Anm. 1), IV, 6/2, Frankfurt/M. 1975, S. 933f.

  4. Schelepin an Chruschtschow, 20.7.1961, in: Oerki istorii rossijskoj vnenej razvedki, Bd. 5: 1945-1965, Moskau 2003 (russ.), S. 701-705; Aleksandr Fursenko/Timothy Naftali, Khrushchev's Cold War, New York-London 2006, S. 373.

  5. Interview von Alexander J. Vatlin und Manfred Wilke am 9.9.2010 in Wolgograd mit Generaloberst a.D.A. Mereschko, in: Deutschland Archiv, 44 (2011) 2, online: www.bpb.de/themen/NAWPSE,0,Arbeiten_Sie_
    einen_Plan_zur_Grenzordnung_zwischen_
    beiden_Teilen_Berlins_aus!.html (3.6.2011).

  6. Vgl. DzD (Anm. 3), IV, 6/2, S. 1348-1356.

  7. Neues Deutschland vom 13.8.1961.

  8. Vgl. DzD (Anm. 1), IV, 7/1, Frankfurt/M. 1976, S. 725f, S. 902.

Dr. phil., geb. 1934; bis 1999 Leiter des Forschungsbereichs Außen- und Sicherheitspolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) in Köln. E-Mail Link: wettigg@web.de