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Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | bpb.de

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Editorial Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Grundlage und Motor des Menschenrechtsschutzes Zur postkolonialen Kritik der Menschenrechte Von Universalität und Macht. Der UN-Menschenrechtsrat als Hüter der Menschenrechte Wer den Mächtigen que(e)r kommt ... Verfolgung und Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen Wirtschaft und Menschenrechte. Regelungsinstrumente zwischen Recht und Moral Menschenrechte in der Klimakrise. Zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Grundlage und Motor des Menschenrechtsschutzes

Beate Rudolf

/ 17 Minuten zu lesen

Auch 75 Jahre nach ihrer Verabschiedung hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. In Zeiten einer zunehmenden Infragestellung von Menschenrechten sind sie als Rechtspflichten und moralische Pflichten wichtiger denn je.

Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen feierlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Sie sollte den Staaten der Welt als gemeinsame Richtschnur dienen, da – so die Präambel – „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. 75 Jahre später hat die Erklärung nichts von ihrer Bedeutung verloren. Sie ist nach wie vor der zentrale politische Maßstab für das Handeln aller Staaten, sie ist Motor für die rechtliche Anerkennung von Menschenrechten weltweit, und sie ist in aller Welt Grundlage für die Forderung nach ihrer Verwirklichung.

Jeder Mensch hat Menschenrechte, überall. Das erscheint heute selbstverständlich. Schließlich bezeugen nicht allein die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sondern auch zahlreiche Menschenrechtsverträge und einzelstaatliche Verfassungen wie das deutsche Grundgesetz die weltweite Geltung der Menschenrechte. In der Wirklichkeit sind Menschenrechte jedoch keine Selbstverständlichkeit. Sie werden weltweit massiv verletzt, und es werden die Stimmen lauter, die die Menschenrechte rundweg ablehnen. Zum 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung wird deutlicher denn je, dass die Menschenrechte immer wieder bekräftigt und behauptet werden müssen – überall in der Welt und auch hierzulande.

Grundsätze

Zwischen 1947 und 1948 formulierten Menschen aus aller Welt, verschiedenster Herkunft, Kultur, Religion und philosophischer Tradition die Allgemeine Erklärung. Bewusst vermieden sie jede ausdrückliche Anknüpfung an diese Religionen, Philosophien oder Traditionen, um den weltweiten Geltungsanspruch der Erklärung zu stärken. Der erste Entwurf wurde von einer 18-köpfigen Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt erarbeitet. Nach Kommentierung durch die damaligen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen wurde der endgültige Text im Dezember 1948 in Paris feierlich angenommen.

Die Allgemeine Erklärung bekräftigt, dass die Menschenrechte universell sind: Sie gelten für alle Menschen, weil sie Menschen sind, und sie gelten jederzeit und überall. Dies bringen die Worte ihres ersten Artikels zum Ausdruck: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren.“

Die Erklärung umfasst alle Kategorien von Menschenrechten: Sie proklamiert die bürgerlichen und politischen Menschenrechte – etwa die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, das Recht von Staatsbürgern auf politische Partizipation, das Recht auf Ehe und Familie, auf Eigentum, auf Asyl sowie das Recht, Rechte zu haben. Gerade in den beiden letztgenannten Rechten zeigt sich besonders, dass die Allgemeine Erklärung unter dem Eindruck der Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands entstand und auch eine Reaktion auf diese ist. Die Allgemeine Erklärung proklamiert ferner wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, etwa das Recht auf Bildung, auf Gesundheit, auf Wohnen und Nahrung sowie das Recht, zu arbeiten, und Rechte in der Arbeit. Zudem verbietet sie Diskriminierung, insbesondere aufgrund rassistischer Zuschreibungen, des Geschlechts oder der Religion.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde als Resolution der UN-Generalversammlung von den damals 58 UN-Mitgliedstaaten verabschiedet, ohne Gegenstimme, bei acht Enthaltungen. Allerdings fehlten damals große Teile der noch kolonial beherrschten Welt. Doch bereits 1955 bekannten sich auf der Konferenz von Bandung die Vertreter von 29 unabhängig gewordenen Staaten zu den Menschenrechten und verwiesen auf die Allgemeine Erklärung als gemeinsame Richtschnur. Seitdem und bis heute beziehen sich zahllose Resolutionen der Generalversammlung und des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen auf die Allgemeine Erklärung und bekräftigen sie damit immer wieder aufs Neue. 1993 erneuerten die Staaten der Welt gemeinsam auf der Wiener Weltkonferenz über Menschenrechte ihr Bekenntnis zu den in der Allgemeinen Erklärung niedergelegten Menschenrechten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird als kopernikanische Wende des Völkerrechts angesehen: Sie erkennt an, dass jeder Mensch Rechte gegen den Staat hat. Im Mittelpunkt der internationalen Ordnung steht daher nicht länger der Staat, sondern der Mensch. Denn wie sie in der Präambel betont: Ohne Anerkennung der gleichen Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte aller Menschen gibt es keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keinen Frieden in der Welt. Das deutsche Grundgesetz übernimmt dies in Artikel 1 Absatz 2 mit ähnlichen Worten und unterstreicht die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Menschenrechte: Zentrale Konzepte

Die Grundidee der Menschenrechte ist so einfach wie kraftvoll: Jeder Mensch hat aufgrund seines Menschseins Rechte gegen den Staat. Diese Rechte, die Menschenrechte, ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben. Niemand, auch und gerade der Staat nicht, ist berechtigt, einem Menschen vorzuschreiben, welchen Zweck sein Leben hat oder was ein gutes Leben ist. Vielmehr hat jeder Mensch ein Recht darauf, seinem Leben selbst einen Sinn zu geben. Das ist der Kern der Menschenwürde, in der die Menschenrechte wurzeln. Die Menschenrechte bewahren den Freiheitsbereich, der für ein selbstbestimmtes Leben nötig ist, und sichern, wie die Präambel der Allgemeinen Erklärung formuliert, die „Freiheit von Furcht und Not“.

Die Menschenrechte sind nicht vom Staat verliehen, sondern liegen dem Staat voraus. Sie zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, ist der zentrale Zweck und die verbindliche Aufgabe eines jeden Staates. Denn der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen, wie es der Herrenchiemseer Entwurf für das Grundgesetz so treffend formulierte. Staatliche Souveränität ist deshalb nicht absolut, sondern stets menschenrechtlich gebunden. Die Menschenrechte sind verbindlicher Maßstab und Grenze für den Staat, da dieser die Machtmittel hat, um Menschenrechte zu verletzen – und zugleich auch die Mittel, um sie zu schützen. Menschenwürde muss man sich auch nicht verdienen; sie wohnt dem Menschsein inne. Folglich sind die Menschenrechte auch nicht von einem bestimmten vorherigen Verhalten abhängig; insbesondere setzen sie nicht voraus, dass man Pflichten gegenüber dem Staat erfüllt oder die Menschenrechte anderer geachtet hat. Dies macht Artikel 29 der Erklärung deutlich, der klar trennt zwischen den moralischen Pflichten gegen die Gemeinschaft (Absatz 1) und den Gründen, aus denen Menschenrechte eingeschränkt werden dürfen (Absatz 2). Daher hat auch der schlimmste Verbrecher dieselben Menschenrechte wie ein rechtstreuer Mensch. Da die Menschenrechte aus der Menschenwürde fließen, sind sie schließlich auch nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig.

Menschenrechte verlangen, dass Politik, Verwaltung und Gerichte sich an ihnen ausrichten. Sie werden zur Bewährungsprobe für den Staat, wo es um den Schutz der Schwachen oder der Ausgeschlossenen geht, wo die Tyrannei der Mehrheit droht oder Machtmissbrauch der Exekutive, oder wo tatsächliche oder behauptete Gemeininteressen mit individuellen Rechten kollidieren.

Motor der Menschenrechte

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist rechtlich nicht bindend. Das hat ihrer Wirkung jedoch keinen Abbruch getan. Sie bildet den unangefochtenen Maßstab für den Schutz der Menschenrechte weltweit. Sie gab den Anstoß dafür, Menschenrechte in nationalen Verfassungen, darunter dem Grundgesetz, und in internationalen Verträgen verbindlich festzuschreiben. Neben den neun UN-Menschenrechtsverträgen (hierzu sogleich) existieren heute weitere Menschenrechtsverträge für den (nord- und süd-)amerikanischen Kontinent, für Europa und für Afrika, über deren Einhaltung regionale Menschenrechtsgerichtshöfe wachen. Für Europa ist dies die Europäische Menschenrechtskonvention mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Mit ihren verbindlichen Urteilen sind sie die stärksten Mechanismen und Akteure zur internationalen Durchsetzung der Menschenrechte.

Von zentraler Bedeutung für den internationalen Menschenrechtsschutz sind der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) von 1966. Zusammen mit der Allgemeinen Erklärung werden sie oft als „internationale Menschenrechtscharta“ bezeichnet. Die beiden Weltpakte machen für ihre Vertragsparteien die in der Allgemeinen Erklärung proklamierten Rechte rechtsverbindlich. Für die Rechtsanwendung besonders bedeutsam ist: Die Weltpakte konkretisieren die Maßstäbe für die Beschränkung von Menschenrechten. Die Allgemeine Erklärung enthielt noch eine sehr generelle Beschränkungsklausel (Artikel 29 Absatz 2 AEMR). Danach sind solche Einschränkungen der Rechte zulässig, die die Achtung der Rechte anderer sichern und „den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft“ genügen (siehe Anmerkung 6). Hingegen enthält der Zivilpakt für jedes einzelne Recht spezifische Schrankenregelungen und stellt klar, dass im Falle eines öffentlichen Notstands, etwa eines bewaffneten Angriffs auf den Staat oder einer Pandemie, Menschenrechte nur unter engen Voraussetzungen vorübergehend außer Kraft gesetzt werden dürfen – und manche Rechte nach Artikel 4 des Zivilpakts gar nicht eingeschränkt werden dürfen.

Die Aufspaltung des Menschenrechtskatalogs der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in zwei Verträge war den politisch-ideologischen Gräben in der Zeit der Ost-West-Konfrontation geschuldet. Während der politische Westen die bürgerlichen und politischen Rechte propagierte, betonte der Ostblock soziale Menschenrechte – die er freilich nicht als individuelle Ansprüche gegen den Staat verstand, sondern als staatliche Instrumente, um die „sozialistische Persönlichkeit“ zu formen. Erst in der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 wurde dieser Graben überwunden, indem die Staaten die Unteilbarkeit, Interdependenz und Wechselbezüglichkeit aller Menschenrechte anerkannten. Denn die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sichern die Voraussetzungen für die Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte: das Überleben, das menschenwürdige Leben sowie – durch das Recht auf Bildung, einschließlich der Menschenrechtsbildung – die Entfaltung der Persönlichkeit und die Fähigkeit, die eigenen Rechte zu kennen und einzufordern. Ohne sie können Menschen ihre bürgerlichen und politischen Rechte gar nicht erst wahrnehmen. Umgekehrt sichern die bürgerlichen und politischen Rechte, dass Menschen von ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten Gebrauch machen können, also in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Sicherung, Bildung und Kultur ihr Leben gestalten können – und damit Akteure sind und nicht bloß Adressaten staatlicher Maßnahmen und Regelungen.

Weitere UN-Menschenrechtsverträge betrafen rassistische Diskriminierung (1965), die Diskriminierung von Frauen (1979), die Menschenrechte von Kindern (1989), von Menschen mit Behinderungen (2006) und von Wanderarbeitnehmern (1990) sowie das Verbot von Folter (1984) und gewaltsamem Verschwindenlassen (2010). Die Verträge benennen die Verletzungen, die Menschen als Angehörige der genannten Gruppen oder in den spezifischen Situationen typischerweise erfahren haben, und sie schreiben den Staaten vor, dass und wie sie solche Verletzungen verhindern, beenden, beseitigen und sanktionieren müssen. Sie konkretisieren also die in der internationalen Menschenrechtscharta niedergelegten Menschenrechte um des besseren Menschenrechtsschutzes willen. Nicht zuletzt deshalb gibt es heute auch Diskussionen über einen Vertrag über die Menschenrechte Älterer und über die menschenrechtlichen Verpflichtungen privater Wirtschaftsunternehmen. Die Kämpfe um weitere notwendige Konkretisierungen stehen aber noch am Anfang. Das gilt etwa für die Rechte von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen, queeren und nicht-binären Personen (LSBTIQ+), zu denen unabhängige Experten der Vereinten Nationen seit 2016 arbeiten, oder für das 2022 von der UN-Generalversammlung anerkannte Recht auf saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt.

Die Allgemeine Erklärung stieß auch wichtige inhaltliche und institutionelle Entwicklungen des Menschenrechtsschutzes an. So enthalten alle UN-Menschenrechtsverträge Regelungen für eine Überwachung durch unabhängige Expertengremien („Vertragsausschüsse“). Sie überprüfen regelmäßig den Stand der Umsetzung anhand von Berichten der einzelnen Vertragsstaaten, der Zivilgesellschaft und der unabhängigen Nationalen Menschenrechtsinstitution eines Landes („Staatenberichtsverfahren“). Zusätzlich können einzelne Betroffene vor den meisten Vertragsausschüssen eine Individualbeschwerde erheben. In diesem gerichtsähnlichen Verfahren wird überprüft, ob ein Staat in einem konkreten Fall Menschenrechte verletzt hat. Diese unabhängige Umsetzungskontrolle ergänzt die innerstaatliche Kontrolle durch Gerichte und Beschwerdestellen. Dabei ist das Individualbeschwerdeverfahren der stärkste Ausdruck der kopernikanischen Wende des Völkerrechts, weil einzelne Menschen auf internationaler Ebene dem Staat auf Augenhöhe entgegentreten, wenn sie die Einhaltung ihrer Rechte einfordern.

Die Allgemeine Erklärung hat mit der Aufnahme von bürgerlichen und politischen Menschenrechten sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten auch Impulse für das Verständnis der Menschenrechte gegeben. UN-Vertragsausschüsse und Wissenschaft haben seit den 1990er Jahren die Unteilbarkeit aller Menschenrechte ernst genommen und konzeptionell in einen Dreiklang von staatlichen Pflichten übersetzt, der für alle Menschenrechte gilt. Diese „Pflichtentrias“ umfasst die Pflichten, Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Die Achtungspflicht bezeichnet die Pflicht aller Staatsorgane, durch ihr eigenes Handeln oder Unterlassen Menschenrechte nicht zu verletzen. Dementsprechend dürfen etwa Behörden Verdächtige nicht misshandeln. Die Schutzpflicht verlangt vom Staat, gegen Menschenrechtsverletzungen durch Privatpersonen einzuschreiten, beispielsweise Misshandlungen strafrechtlich zu sanktionieren. Die Pflicht, Menschenrechte zu gewährleisten, erlegt es dem Staat zudem auf, einen Rahmen für die wirksame Ausübung von Menschenrechten zu schaffen, etwa der misshandelten Person Zugang zu Gericht zu ermöglichen, um Schadensersatz einklagen zu können. In gleicher Weise wirkt die Pflichtentrias für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. So verbietet es die Achtungspflicht dem Staat, Menschen das Arbeiten zu untersagen, wenn er nicht zugleich dafür sorgt, dass ihr Lebensunterhalt auf andere Weise gesichert ist. Aufgrund der Schutzpflicht ist der Staat auch gehalten, Menschen davor zu schützen, dass private Arbeitgeber sie willkürlich entlassen. Die Gewährleistungspflicht verlangt vom Staat, den Arbeitsmarkt und Unterstützungsstrukturen für Arbeitssuchende so auszugestalten, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu erwirtschaften.

Menschenrechte als westliches Konzept?

Immer wieder wurden und werden die Menschenrechte als Rechte des Individuums gegen den Staat als „westliches Konzept“ kritisiert und damit ihre Universalität infrage gestellt. Dazu trug zum einen die ideologisch begründete und – wie gezeigt – falsche Kontrastierung von bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits bei, die sich mit dem Beginn des Kalten Krieges ausbreitete. Sie blieb auch während der anschließenden Phasen der friedlichen Koexistenz und der Entspannungspolitik bestehen, spiegelt sie doch unterschiedliche Staatsverständnisse und Konzeptionen von legitimer Herrschaft wider. Hinzu kam und kommt bis heute die Erzählung von der westlich geprägten Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung, die – historisch unzutreffend – eine gerade Linie von der Magna Carta über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zieht und damit die bürgerlichen und politischen Rechte als die „ursprünglichen“ Menschenrechte qualifiziert. Dieses Narrativ blendet die unterschiedlichen philosophischen und religiösen Perspektiven aus, die im Redaktionsausschuss der Menschenrechtskommission vertreten waren, und kann die Aufnahme wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte nicht erklären. Vielmehr war und ist gerade der Verzicht auf solche Anknüpfungen ein zentraler Grund für die Erfolgsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Mit der Menschenwürde hatten die Mütter und Väter der Allgemeinen Erklärung vielmehr eine länder- und kulturenübergreifende Grundlage für die Menschenrechte gefunden, die bis heute nichts von ihrer Wirkkraft verloren hat.

Mit dem Ende des Ostblocks verschob sich die Begründung für den behaupteten „westlichen“ Charakter der Allgemeinen Erklärung. In den 1990er Jahren versuchten autoritäre Staaten, unter dem Schlagwort der „asiatischen Werte“ das Konzept der kulturellen Relativität der Menschenrechte als Gegenentwurf zu einem universalistischen Menschenrechtsverständnis zu etablieren. Danach sollen bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Menschenrechte die kulturellen Traditionen jedes einzelnen Landes entscheidend sein, also lokale religiöse, politische und rechtliche Praktiken. Das „asiatische“ Verständnis sei, so wurde postuliert, nicht individualistisch, sondern stelle die Gemeinschaft in den Vordergrund. Dieses Argumentationsmuster konnte sich international nicht durchsetzen und beruht auf unzutreffenden Prämissen. Schon die Behauptung einer einheitlichen Kultur in einem Staat ist falsch. Denn Kulturen wandeln sich stetig, und innerhalb von (kulturellen) Gemeinschaften gibt es immer Minderheiten, die hegemoniale Herrschaftsstrukturen kritisieren und zu überwinden suchen. Genau dies ist menschenrechtlich geschützt. Bei genauer Betrachtung versteckt sich hinter der Berufung auf kulturelle Traditionen also das, wogegen Menschenrechte schützen: Missbrauch von Macht durch die Herrschenden.

Die postkoloniale Kritik an den Menschenrechten, die insbesondere von Denker*innen und Aktivist*innen aus dem Globalen Süden seit der Jahrtausendwende formuliert wird, rückt ins Zentrum, dass „westliche“ Staaten, der Globale Norden, oftmals die Menschenrechte zur Legitimation von politischer Einmischung und von militärischen Interventionen instrumentalisieren. Mit der Differenzierung zwischen „entwickelt“ und „unterentwickelt“ und der daraus hergeleiteten Hilfsbedürftigkeit des Globalen Südens würden die Länder des Globalen Nordens die Legitimierungsstrategie von Kolonialismus als Rettungsmission reproduzieren und damit die eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen verbergen. Im Kern der postkolonialen Kritik an den Menschenrechten steht also die opportunistische Berufung auf Menschenrechte durch „den Westen“. Die inhaltliche Berechtigung dieser Kritik zeigt sich deutlich, wenn Staaten des Globalen Nordens Menschenrechtsverletzungen mit zweierlei Maß messen, abhängig davon, ob ein befreundeter Staat sie begangen hat oder ein nicht befreundeter. Zwar handeln auch Staaten aus anderen Weltregionen so, doch verlieren nur diejenigen Staaten ihre Glaubwürdigkeit, die sich als die Heimat der Menschenrechte geben. Diese Haltung drückt sich etwa in dem affirmativ gebrauchten Narrativ von den Menschenrechten als „westlichen Werten“ aus, das bei Politiker*innen aus dem Globalen Norden beliebt ist. Ironischerweise leugnen sie damit zugleich die Universalität der Menschenrechte und untergraben deren Fundament.

Infragestellungen der Menschenrechte heute

Unabhängig von dieser Kritik an den Menschenrechten ist zu konstatieren: Auch in der Praxis waren Menschenrechte nie selbstverständlich. Seit 1948 wurde über Inhalt und Reichweite von Menschenrechten in den Gremien der UNO und innerhalb von Staaten gestritten. Massive und systematische Verletzungen von Menschenrechten waren verbreitet. Aber stets war dies von einem – zumindest verbalen – Bekenntnis zu den Menschenrechten begleitet. Gegenwärtig ist in der Welt, auch in Deutschland, etwas Neues zu beobachten: Die Idee und das Fundament der Menschenrechte werden offen angegriffen, und Regierungen oder politische Bewegungen propagieren andere Konzepte. Am deutlichsten wird dies in dem Ansatz, den die chinesische Regierung seit einigen Jahren verfolgt: die Umdeutung der Menschenrechte von individuellen Rechten in rein zwischenstaatliche Kooperationspflichten. Mit der propagierten Zielsetzung, die Selektivität und Politisierung des UN-Menschenrechtsrates zu überwinden, warb China für „gegenseitig vorteilhafte Kooperation“, also den bloßen Austausch guter Praxisbeispiele in den UN. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Menschenrechtslage in einzelnen Staaten ist mit diesem Konzept unvereinbar; das Individuum als Rechtsträger verschwindet.

Zu den weiteren Konzepten, die die Menschenrechte unterminieren, gehört etwa ein verabsolutiertes Verständnis staatlicher Souveränität, wonach jedes Mittel zum Schutz des Staates einschließlich seiner Grenzen und seiner – oft völkisch verstandenen – Bevölkerung zulässig ist. Eng verbunden damit sind Vorstellungen einer absoluten Volksherrschaft, die frei ist von menschenrechtlichen Bindungen. Menschenrechtsfeinde sehen sich als die Vertreter des „wahren Volkes“ und leugnen damit das gleiche Recht aller Staatsbürger*innen auf politische Partizipation. Sie lehnen zugleich eine internationale gerichtliche Kontrolle über die Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen ab und diffamieren sie als Entscheidungen „ausländischer Gerichte“, obwohl diesen Menschenrechtsgerichtshöfen immer auch ein*e Richter*in angehört, den oder die dieser Staat vorgeschlagen hat.

Auch durch kulturalistische Konzepte und nationalistische oder völkische Ideologien sind Menschenrechte zunehmend bedroht. Diese propagieren die Ungleichheit von Menschen, indem sie ihre Ungleichbehandlung fordern, Gruppen durch Zuschreibungen von Eigenschaften konstruieren und abwerten oder indem sie sie zu Sündenböcken machen und Hass und Gewalt schüren, um Menschen auszugrenzen, zu vertreiben oder gar zu töten. Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus, Antiziganismus und Rassismus gegen Schwarze Menschen sind die am weitesten verbreiteten Ideologien der Ungleichheit. Um das Fundament der Menschenrechte zu unterminieren, werden die Menschheitsverbrechen heruntergespielt oder gar geleugnet, die Auslöser für die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte waren.

Mit solchen Ideologien der Ungleichheit verwandt sind Ideologien, die es als Aufgabe des Staates ansehen, „traditionelle Werte“ zu verteidigen. Sie richten sich zumeist gegen LSBTIQ+-Personen und deren Rechte. Hierzu gehört auch die „Anti-Gender“-Bewegung, die die grundlegende Erkenntnis der UN-Frauenrechtskonvention ablehnt, wonach die Diskriminierung von Frauen ganz überwiegend nicht auf dem biologischen Geschlecht (sex) beruht, sondern auf dem sozialen Geschlecht (gender), also auf geschlechterstereotypen Zuschreibungen und Erwartungen. Damit verbunden sind Bestrebungen, die wirksame Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu verhindern, etwa durch Ablehnung der Istanbul-Konvention des Europarats und das Propagieren von Rechten „der Familie“, um männliche Vorherrschaft aufrechtzuerhalten.

Gegen solche Bestrebungen, die Grundlagen der Menschenrechte zu beseitigen, braucht es starke Institutionen, die dazu beitragen, dass der Staat seine menschenrechtlichen Bindungen ernst nimmt. Das bedeutet in erster Linie, dass die Parlamente, Regierungen und Gerichte die Menschenrechte zum Maßstab ihrer Entscheidungen machen und hierfür auch in der Bevölkerung werben müssen. Dazu gehört auch, Menschenrechte in der politischen Debatte differenziert zu diskutieren und im gesellschaftlichen Miteinander durch ihre Anwendung zu bekräftigen. Unverzichtbar sind hierfür unabhängige Medien, Medienvielfalt, eine engagierte Zivilgesellschaft und kritische Kunstschaffende, die sich solidarisch für die Rechte anderer einsetzen. Es ist nicht überraschend, dass Autokraten und Populisten gerade diese Akteure attackieren und ihre Menschenrechte missachten.

Zentrales Instrument, um die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte durch den Staat zu fördern, ist Menschenrechtsbildung. Alle Staatsgewalt ist menschenrechtlich gebunden; deshalb müssen alle staatlichen Akteure mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen in ihrem Tätigkeitsfeld vertraut sein und imstande sein, sie anzuwenden. Zugleich braucht es eine Kultur der Menschenrechte, also eine Bevölkerung, die die Beachtung der Menschenrechte vom Staat einfordert und deren Mitglieder im Sinne von Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung „einander im Geiste der Solidarität begegnen“. Dafür muss Menschenrechtsbildung den Maßstäben der UN-Erklärung über Menschenrechtsbildung und -training von 2011 entsprechen. Dazu gehört insbesondere, dass nicht allein Wissen vermittelt wird, sondern auch und gerade die kritische Auseinandersetzung mit den menschenrechtlichen Werten gefördert wird, sodass Menschen die Chance haben, sie freiwillig als eigene moralische Handlungsmaximen anzunehmen („Lernen über Menschenrechte“). Menschenrechtsbildung muss zudem dazu befähigen, sich für die eigenen Rechte und solidarisch für die Rechte anderer einzusetzen („Lernen für Menschenrechte“). Dies gelingt nur, wenn das Lernumfeld selbst von der Achtung der Menschenrechte geprägt ist („Lernen durch Menschenrechte“).

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist deshalb auch nach 75 Jahren noch wichtig. Sie erinnert daran: Menschenrechte sind die Grundlage des friedlichen Miteinanders in einer Gesellschaft. Deshalb muss der Staat die Menschenrechte aller Menschen in seinem Herrschaftsbereich sichern, und deshalb sind Menschenrechte in unser aller ureigenem Interesse. Die Allgemeine Erklärung bestärkt uns darin, von allen Staatsorganen, von Politik und Parteien Menschenrechte einzufordern. Sie stärkt uns darin, die Menschenrechte im Alltag zu leben, indem wir Abwertung, Ausgrenzung und Hass klar entgegentreten, Menschen als Individuen wahrnehmen und einander als Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten achten.

ist Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR). Das DIMR ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands mit Sitz in Berlin.
E-Mail Link: rudolf@institut-fuer-menschenrechte.de