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Gustav Stresemann. Zu seinem 25. Todestage | APuZ 40/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 40/1954 Gustav Stresemann. Zu seinem 25. Todestage Das politische Vermächtnis des deutschen Widerstands Politik der Gewaltlosigkeit . Eine Rede des indischen Ministerpräsidenten Pandit Nehru vor der Volkskammer des Parlaments am 25. August 1954

Gustav Stresemann. Zu seinem 25. Todestage

Theodor Eschenburg

Fünf Jahre lang, von 1919— 1924, rang das Reich um seine äußere und innere Existenz. An Versuchen, die Demokratie zu stürzen, hat es von der radikalen Rechten und der extremen Linken her nicht gemangelt. Die von Moskau gelenkten Kommunisten trachteten durch Aufstände eine Situation herbeizuführen, die Deutschland bolschewisierungsreif machte. Rechtsradikale versuchten 1920 durch den sogenannten Kapp-Putsch, die Demokratie zu beseitigen. Der Reichsregierung gelang es immer wieder, mit Hilfe von Reichswehr und Polizei und beim Kapp-Putsch durch die Unterstützung der Gewerkschaften, dieser Aufstände Herr zu werden. Aber das Reich befand sich bis zum November 1923 in einer latenten Bürgerkriegssituation.

INHALT DIESER BEILAGE: Th. Eschenburg:

Stresemann, zu seinem 25. Todestage H. Rothfels:

Das politische Vermächtnis des deutschen Widerstands (S. 521) Pandit Nehru:

Politik der Gewaltlosigkeit (S. 526)

Deutschland hatte den Friedensvertrag unterzeichnet in der Hoffnung, daß er nicht in der vollen Härte durchgeführt werde, Frankreich hingegen, dessen Forderungen nach der Friedenskonferenz dank Wilsons und Lloyd Georges Eingreifen bei weitem nicht erfüllt wurden, in der Erwartung, daß sich in der politischen Praxis Gelegenheit zu einer Verschärfung und Ausdehnung der Friedensvertragsbestimmungen ergeben werde. Das Ziel der deutschen Außenpolitik war, durch zögernde Erfüllung eine schnelle und weitgehende Revision zu erreichen; das der französischen, durch unnachgiebiges Bestehen auf Erfüllung das Reich zum Konkurs und damit zur Aufteilung zu treiben.

Im Sommer 1923 stand das Reich vorm Zusammenbruch und Zerfall. Frankreich und Belgien hatten die Besetzung der Rheinlande auf das Ruhrgebiet ausgedehnt, weil Deutschland seine Reparationsverpflichtungen nicht erfüllt hatte. Gegen diese französische Invasion protestierte die Bevölkerung des Ruhrgebietes neun Monate lang durch passiven Widerstand — eine der grandiosesten waffenlosen Massendemonstrationen der Geschichte. Frankreich sperrte daraufhin die Ruhr, das wirtschaftliche Herz Deutschlands, vom Reich ab. Durch eine Zollinie wurde das besetzte Gebiet vom unbesetzten getrennt. Hier häuften sich die Waren-vorräte, dort fehlten sie. Hungersnot und Plünderung, Arbeitslosigkeit und Streiks zersetzten die innere Ordnung und die Wirtschaftskraft. Kommunistische Aufstände und rechtsradikale Putschabsichten, veranlaßt oder gesteigert durch die Not des Volkes, drohten eine neue Revolution auszulösen. Die mühsam bei Kriegsende und beim Friedensschluß gewahrte Reichseinheit wurde vor allem durch den von Frankreich betriebenen Separatismus im Rheinland und in der Pfal gefährdet. Ursache und Folge zugleich dieser inneren Zersetzungserscheinungen war die rapid sich entwickelnde Inflation. Die Finanzierung des passiven Widerstandes durch das Reich trieb die Fieberkurven der Inflation sprunghaft hoch. Der Dollar kostete im Juli 300 000. —, im August 10 Millionen Mark.

Alle Versuche Deutschlands, von England unterstützt, mit Frankreich ins Einvernehmen über die Räumung der Ruhr und die Festsetzung der deutschen Reparationsverpflichtungen auf Grund eines neutralen Sachverständigengutachtens zu gelangen, waren gescheitert. Poincare, Frankreichs Ministerpräsident, ein Lothringer Advokat, war unerbittlich hartnäckig in der Verfolgung seines Zieles und hatte jede Konzession abgelehnt. Der Reichskanzler Cuno war durch ein Mißtrauensvotum vom Reichstag gestürzt und resignierte. Der Reichspräsident Friedrich Ebert ernannte nunmehr zum Nachfolger den Führer der rechtsliberalen deutschen Volkspartei, die die viertstärkste Fraktion im Reichstag war, Dr. Gustav Stresemann. Stresemann stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war Bierverleger, Budiker, wie man sagte, im Berliner Norden. Als junger Doktor war er Syndikus in der sächsischen verarbeitenden Industrie geworden. 1906 wurde er zum Stadtverordneten von Dresden, 1907 in den Reichstag gewählt. Innerpoltisch gehörte er zum linken Flügel der Nationalliberalen, außenpolitisch wär er ein entschiedener Imperialist, im ersten Weltkrieg begeisterter Gefolgsmann von Tirpitz und Ludendorff. Aber er war einer der wenigen Deutschen, die aus dem Zusammenbruch von 1918 gelernt hatten. Er hegte seitdem nicht nur ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen die Politik der Militärs. Er erkannte auch die Schranken, die jeder deutschen Außenpolitik durch die geographische Lage des Reiches gesetzt waren. Er verhehlte sich nicht, wie viele es taten, daß Deutschland den Krieg verloren hatte, daß es eines Übermaßes an Geduld, Zähigkeit und Phantasie gleichzeitig bedurfte, um die Lasten des Versailler Vertrages auf allen Gebieten allmählich abzutragen. Im Grunde seines Herzens war er ein Romantiker, aber er kontrollierte Sinn und Gemüt durch einen nüchternen scharfen Verstand, so schwer es ihm auch manchmal fiel. Er hatte ein leidenschaftliches Temperament, aber einen ebenso starken Willen, jenes zu bändigen. Er war ein hinreißender Redner, aber ein ebenso schlagfertiger wie scharfsinniger Verhandlet. Seine Stärke war, daß er über einen politischen Generalplan verfügte, den er je nach der täglich sich wandelnden Situation korrigierte, an dem er sich aber ständig orientierte und an Hand dessen er sich kontrollierte. Er war ein virtuoser Taktiker, -aber er erschöpfte sich nicht in der Taktik. Er war ein Meister in der Handhabung des parlamentarischen Verfahrens wie kaum ein anderer Deutscher.

Innerhalb 24 Stunden hatte Stresemann sein Kabinett zusammengestellt, ohne sich auf langes Verhandeln mit den Parteien einzulassen.

Stresemanns Aufgabe war, die Mark zu stabilisieren, die erste Voraussetzung, um die innerpolitische Ordnung wiederherzustellen und die Wirtschaft zu stabilisieren. Ohne Aufgabe des passiven Widerstandes aber war keine Währungsreform möglich. Dieser Verzicht konnte außen-politisch den Verzicht auf das Ruhrgebiet, innerpolitisch die Gegenrevolution bedeuten. Ohne Ruhrgebiet, das wirtschaftliche Herzgebiet Deutschlands, ohne Kohle, Eisen und Exporte keine Stabilisierung der Mark, ohne Stabilisierung keine Regelung der Reparationen, ohne diese keine dauerhafte Befriedigung des Verhältnisses zu Frankreich. Zahllose politische Rezepte wurden damals ausgegeben und beraten, abgeändert und kombiniert: Preisgabe des Westens und Allianz mit Sowjetrußland, Verständigung mit Frankreich durch Bildung eines selbständigen Rhein-und Ruhrstaates, bewaffneter Widerstand bei weiterem Einmarsch der Franzosen, Kündigung des Versailler Vertrages, und hinter allen diesen Plänen stand der Plan der Diktatur.

Stresemann verkündete unbeirrt sein Programm: Währungsreform, Reparationsregelung nach Vorbereitung durch neutrale Sachverständige, Verständigung mit Frankreich, wobei er den Verbleib des Ruhrgebietes beim Reich voraussetzte.

Stresemanns letzte Versuche, den Konflikt mit Frankreich um das Ruhrgebiet zu beenden, waren gescheitert. Noch einmal fuhr er selbst in den besetzten Westen, um durch eindringlichen Appell an die Verantwortlichen jedem Gedanken oder jeder Möglichkeit einer Loslösung vom Reich unerbittlich entgegen zu treten. Diejenigen, die in einem selbständigen Rhein-Ruhrstaat noch die einzige Rettung sahen, vermochten sich dieser suggestiven Energie nicht zu widersetzen. Dann kapitulierte Stresemann, das Reichskabinett beschloß am 25. September die Einstellung des passiven Widerstandes. Stresemanns Vorgänger hatten versucht, England und Frankreich gegen einander auszuspielen; sie hatten aber überwiegend vergeblich auf die Karte Englands, einer von ihnen auf die Karte Frankreichs gesetzt. Stresemann nutzte im Gegensatz zu diesen die diplomatische Unterstützung Englands und gab gleichzeitig das Ringen um die direkte Verständigung mit Frankreich auch jetzt noch und trotz der Niederlage nicht auf. Er brach nicht einmal die diplomatischen Beziehungen ab.

Poincare lehnte Verhandlungen mit Berlin ab. Stresemann sorgte für Fortsetzung der Unterstützung des Ruhrgebictes aus moralischer Verpflichtung und um Verzweiflungsakte zu verhüten. Er duldete widerwillig direkte Verhandlungen der Industrie an Rhein und Ruhr mit Frankreich zur Wiederaufnahme der Arbeit, hielt Tuchfühlung zu ihr und lenkte sie.

Diese bedingungslose Kapitulation war nicht der letzte Akt eines Verzweifelten; sie beendete das Spiel nicht, sondern war die Fortsetzung mit anderen Methoden, nachdem die der Vorgänger versagt hatten. Ein von der Inflation ausgezehrtes Deutschland, vor dem Todeskampf des Bürgerkrieges stehend, hätte nie Aussicht gehabt, die Ruhr zu behalten, ein saniertes Reich, frei von der innerpolitischen Belastung der Aufstände und Streiks als kreditwürdiger Reparationsschuldner, würde diese Chance haben. Stresemann ist niemals ein Prestige-Politiker gewesen. Hier hat er es zum ersten Male gezeigt. Taktisch in der Durchführung, strategisch in der Auswertung blieb diese Operation seine Meisterleistung.

Die innerpolitische Folge war, daß Gegenrevolutionäre von rechts und Revolutionäre von links zum Sturz des scheinbar schwächlichen Reichs-regimentes antraten. Dieser Höhepunkt der Krise schien ein besonders günstiger Moment für Restauration und Revolution.

Thüringen und Sachsen, von kommunistisch geführten Koalitionenn regiert, hatten proletarische Hundertschaften aufgestellt. In Hamburg war ein kommunistischer Ausstand ausgebrochen. Dieser wurde niedergeschlagen. Stresemann ließ gegen den Willen seiner sozialdemokratischen Ministerkollegen Sachsen und Thüringen durch Truppen besetzen. Diese Maßnahme gegen die Kommunisten war in erster Linie eine Entlastungsoffensive gegenüber rechts. Von der Seite war die Gefahr viel größer. In den östlichen Provinzen Preußens rüsteten sich gegenrevolutionäre Organisationen oder standen bereit. In Bayern hegte man ein starkes Mißtrauen gegen den Hexenkessel Berlin und trug sich mit dem Gedanken, sich durch stärkere Selbständigkeit von der Hauptstadt zu distanzieren. Vor allem aber tobte Hitler in München gegen die Republik und die gegenwärtige Regierung mit starker Vehemenz und großer Wirkung. Alle revolutionären und gegenrevolutionären Gruppen warteten in sich gegenseitig steigernder Spannung ab, wer das Signal zum Losschlagen geben würde. Als der Reichswehrkommandant von München den Befehl des Chefs der Heeresleitung erhielt, den Völkischen Beobachter zu verbieten, verweigerte jener die Ausführung und unterstellte seine militärischen Einheiten der bayerischen Regierung. Diese lösten sich von der Reichsgewalt, ohne aus dem Reichsverband auszuscheiden. Die Sozialdemokratie drängte zu einem militärischen Eingriff in Bayern, wie er in Thüringen und Sachsen gegen die Kommunsten erfolgt war. Das hätte den Ausbruch zum Bürgerkrieg bedeutet und zwar den Zweifrontenbürgerkrieg. So bemühte sich Stresemann um friedliche Beilegung des Konfliktes.

Am 8. November abends schlug Hitler los, nachdem er vorher Reichs-wehr und bayerische Regierung zur Gefolgschaft erpreßt hatte. Er proklamierte eine neue gegenrevolutionäre Regierung unter seiner Führung. Am nächsten Morgen warfen bayerische Reichswehr und Polizei den Aufstand Hitlers nieder. Ebert und Stresemann hatten nicht einen Moment die Nerven verloren. Der Putsch war verpufft, die Gefahr des Bürgerkrieges gebannt. Am 20. November wurde die Reichsmark stabilisiert; der Höhepunkt der inneren Krise war überwunden. Das war die erste Etappe der Regicrungspolitik Stresemanns, aber auch die entscheidendste. Das Reich war vor Revolution und Zerfall bewahrt, vor dem Auslande hatte es einen großen Achtungserfolg erreicht. Auf Intervention Amerikas entschlossen sich die Alliierten, ein neutrales Sachverständigenkomitee auf Grund der deutschen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzusetzen.

Allerdings mußte Stresemann als Kanzler abtreten. Die Sozialdemokraten hatten im November 1923 wegen des militärischen Eingriffs in Thüringen und Sachsen und wegen Unterlassung der gleichen Maßnahme in Bayern mehr um eines Alibis, als um der Wirkung willen einen Mißtrauensantrag gegen ihn gestellt und wurden von den Deutsch-nationalen aus entgegengesetzten Motiven unterstützt. Stresemann hätte seinen Sturz vermeiden können. Aber er zwang das Parlament zum offenen Bekenntnis für oder gegen ihn. Er blieb aber trotz wechselnder Koalitionen bis zu seinem Tode im Amt des Außenministers und verfügte von da ab für seine Außenpolitik über eine feste Mehrheit der Regierungsparteien seiner bisherigen Kanzlerschaft. Dieselbe Sozialdemokratie, die ihn aus innerpolitischen Gründen gestürzt hatte, stützte seine Außenpolitik, die im Grunde auch die ihre war, auch, wenn sie sich selbst in der Opposition befand.

Bei den französischen Wahlen im Mai verlor die französische Rechte ihre Mehrheit zu Gunsten der Linken. Das französische Volk war des Kampfes müde; durch den Ruhreinbruch war nichts gewonnen, aber ein Viertel des Frankenwertes verloren. An Stelle des unerbittlichen Poincare wurde Edouard Herriot, ein Führer der Sozialisten, Ministerpräsident, materiell in der Reparationen-und Sicherheitsfrage, grundsätzlich ähnlich denkend wie jener, aber gewillt, sie mit friedlichen Methoden zu vertreten und geschmeidiger in seiner Politik. Auf der Londoner Konferenz im Juli 1924 wurde die neue Reparationsregelung — man nannte sie nach dem amerikanischen Vorsitzenden der Sachverständigen-Kommis-sion „Dawes-Abkommen“ — getroffen. Diese Vereinbarung sollte nur eine vorläufige Regelung darstellen, um sie dann nach einigen Jahren der Erfahrung und Ausprobierung durch eine endgültige zu ersetzen. Auch jetzt noch war die hier festgelegte Reparationsschuld von durchschnittlich 4 Milliarden jährlich eine drückende Belastung für die deutsche Volkswirtschaft. Aber die Leistungen waren fixiert, die Vorkehrungen gegen eine neue Inflation getroffen, und das Ganze auf eine einwandfrei rechtliche Basis gestellt. Die Reparationen hörten auf, ein Instrument der Politik zu sein. Frankreich verpflichtete sich, binnen Jahresfrist das Ruhrgebiet und die Städte Düsseldorf, Dortmund und Ruhrort, die aus ähnlichem Anlaß 1921 besetzt wurden, zu räumen. Was noch vor einem Jahre als verloren schien, sollte nunmehr uneingeschränkt in deutsche Hand zurückgelangen. Stresemann hatte mit seiner Einstellung des passiven Widerstandes recht behalten.

Diese Rückgabe des Ruhrgebietes bedeutete aber auch den ersten Schritt in der Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland. Die beiden Ziele der französischen Politik gegenüber Deutschland waren: Sicherung der Reparationen und der französischen Ostgrenzen gegen einen Angriff des Reiches. Das Erstere war erreicht. Aber in Versailles hatte Frankreich widerwillig auf die Loslösung des linken Rheinufers verzichtet gegen das Versprechen einer englisch-amerikanischen Garantie der französischen Ostgrenze. Da Amerika den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatte, war diese Zusage nicht eingehalten worden. Die Okkupation der Rheinlande diente daher jetzt mehr der französischen Sicherheit als der Erfüllung der Reparationsforderungen. Andererseits drängte Frankreich England immer von neuem, das Garantieversprechen auch ohne Amerika einzulösen. Das hätte eine englisch-französische Allianz gegen Deutschland bedeutet. Stresemann wollte diese Entwicklung verhindern. So bot er Frankreich, England, Belgien und Italien eine gemeinsame, auf Gegenseitigkeit basierende Garantie der französisch-belgisch-deutschen Grenze an. Das bedeutete zugleich den von Deutschland ausdrücklich und freiwillig anerkannten Verzicht Elsaß-Lothringens. Im Vertrag von Locarno vom Oktober 1925 erfolgte diese Garantieerklärung zugleich mit einem Schiedsvertrag zwischen den drei Ländern, wo auf die bewaffnete Austragung aller Streitigkeiten verzichtet wurde. Frankreich hatte ein gleiches Garantieabkommen auch für seine Verbündeten Polen und dieTschechoslowakei verlangt, was denVerzicht auf den sogenannten polnischen Korridor und Danzig, sowie auch den Anschluß Österreichs bedeutet hätte. Diese Forderung lehnte Stresemann ab mit der Begründung, daß zu diesem Verzicht keine deutsche Regierung von den Deutsch-nationalen bis zu den Kommunisten sich bereit finden würde. Wohl aber wurden gleiche Schiedsgerichts-und Kriegsverzichtsabkommen mit Polen und der Tschechoslowakei getroffen, was sie mit Frankreich und Belgien abgeschlossen waren.

Die Welt respektierte die phantasievoll konstruktive Aktivität des Schwachen. Es erschien ihr als Ansatz zu einer neuen politischen Entwicklung, deren Verwirklichung Wilsons unwirklichem Ideenschwung nicht gelungen war. Schon sprach man damals, wenn auch noch zögernd und tastend, vom Zusammenschluß der europäischen Staaten. Ein entscheidendes Hemmnis war die deutsch-französische Rivalität, der Kampf zwischen Sicherheit und Gleichberechtigung. 1926 trat Deutschland in den Völkerbund ein, der ihm durch Frankreichs Veto und den Widerstand in breiten Kreisen des eigenen Volkes bisher verwehrt war. Auch jetzt bedurfte es der ganzen vitalen Energie des deutschen Außenministers, die heimische Skepsis und Widerspenstigkeit gegen diese Aktion zu überwinden. In Deutschland gab es beachtliche Kräfte, die im Locarnopakt und im Anschluß an den Völkerbund eine Option für den Westen, eine Absage an den Osten und damit einen Verzicht auf die durchgreifende Revision des Friedensvertrages sahen. Man wollte, vor allem auf der Rechten, sich die Freiheit gegenüber Ost und West bewahren, um sich die Option von Fall zu Fall hoch bezahlen zu lassen. Man befürchtete Behinderung in der von der Reichswehr betriebenen, von Rußland unterstützten Aufrüstungspolitik. Man wollte aus innerpolitischen antidemokratischen Motiven nicht durch den Beitritt des Reiches die Stärkung dieses demokratischen Forums der Welt, dessen Stabilisierung belebende Rückwirkungen auf die schwer bekämpfte Demokratie im eigenen Lande haben mußte, fördern. Man wollte wieder Macht-politik treiben, sobald man es konnte, der Revisionismus sollte nur Über-gang zu einem mühsam bisher unterdrückten Imperialismus sein. Die Methoden von Genf aber würden eine solche Entwicklung hemmen.

In Moskau wirkte der Pakt von Locarno und der Eintritt in den Völkerbund, dem die Sowjetunion nicht angehörte, wie eine Kampfansage. Stresemann war in Haltung und Anschauung ein westlicher Typ. Das sowjetische Rußland war ihm ebenso fremd wie unheimlich. Aber Stresemann wollte, wie er selbst einmal gesagt hatte, den großen Entscheidungen ausweichen. So erneuerte und erweiterte 1926 Deutschland den Vertrag von Rapallo, den Rathenau 1922 mit Sowjetrußland abgeschlossen hatte. Hatte Deutschland in Locarno erreicht, daß es von den Verpflichtungen des § 16 des Völkerbundpaktes, nämlich von der Teilnahme an der Völkerbundsexekution gegen friedensstörende Staaten, eben wegen seiner Rüstungsbeschränkung und gleichzeitig von der Duldung des Durchmarsches fremder Truppen befreit war, so vereinbarte das Reich durch den Berliner Vertrag jetzt mit dem Sowjetstaat gegenseitige Neutralität im Falle des Angriffes einer dritten Macht, trotz friedlichen Verhaltens des anderen Partners und zugleich der Nichtbeteiligung an einer zum Zweck der wirtschaftlichen Boykottierung des Partners geschlossenen Koalition fremder Mächte.

Nunmehr hatte sich Deutschland aus eigener Kraft, über die es damals noch verfügte, zwischen Ost und West jene Sicherheit der Neutralisierung, die damals noch möglich war, geschaffen, an der Rußland, wie die West-mächte, gleichermaßen interessiert waren. Durch Unterzeichnung des Genfer Statuts war den Westmächten die Furcht vor einem deutschen Bündnis mit Rußland, durch den Vertrag von Berlin dem Kreml die Gefahr eines deutschen Aufmarschgebietes vom Westen her genommen. Es war vielleicht der letzte Moment, daß die Rüstungstechnik und die weltpolitische Konstellation eine derartige Neutralisierung zuließen.

Diese beiden politischen Aktionen waren eine diplomatisch-politisch große Leistung. Sie hätten das Fundament der deutschen Außenpolitik auf Jahrzehnte hinaus bilden können. Den schwebenden Vertragsverhandlungen zwischen Frankreich und Rußland war Stresemann zuvorgekommen. Er hatte Polen dadurch isoliert und sich einem einseitigen Optionsdruck nach Westen entzogen, ebenso wie er den Lockrufen aus dem Osten nicht gefolgt war.

Stresemann schaltete in seinen Kalkulationen die Möglichkeit eines von außen kommenden Krieges nicht aus. Er suchte sie aber auf ein Minimum durch seine Konstruktionen zu reduzieren. Noch im ersten Weltkrieg begeisterter Imperialist und gläubiger Bewunderer Ludendorffs, war er durch dessen Niederlage so erschüttert worden, daß er seitdem ein abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber allen Militärs und allem Militärischen hegte. Ludendorffs Versagen hat ihn den unerbittlichen Widerstand gegen die Einmischung des Militärs in die Politik gelehrt. Die Abrüstungsfrage hatte er selbst als eine sekundäre Angelegenheit behandelt. Er war ein liberaler Bürger, der politische Kunst und ökonomische Leistung als Faktoren der deutschen Staatsmacht in der Welt höher bewertete als die militärische Kraft.

Stresemanns großer Partner in Paris, Aristide Briand, seit 1925 wieder französischer Minister des Auswärtigen, dachte in manchem ähnlich wie jener. Beide waren aufrichtige Friedenspolitiker, doch der eine wollte auf den Preis des Sieges nicht verzichten, der andere sich der Lasten der Niederlage entledigen. Briand wollte Sicherheit, das hieß für die Deutschen der Status quo von Versailles, Stresemann Gleichberechtigung, das bedeutete für Frankreich mit seiner sinkenden Bevölkerungskurve das Übergewicht des volkreichen, dynamischen Deutschlands. Hier lag derpolitische Gegensatz. Täglich dröhnte Trompetengeschmetter der Stahlhelm-aufmärsche und Naziparaden über den Rhein. Den Franzosen war der Militärdienst selbstverständliche, bittere Pflicht; den Deutschen schien dieser eine Lust zu sein. Was würde sein, wenn Stresemann — schon zu Lebzeiten im eigenen Volk stark angefeindet — nicht mehr wäre? Hier lag der strategische Gegensatz. „Sie treiben durch Ihr Zögern die Jugend, die Massen in die Arme des Nationalismus", mag der eine, „Sie betreiben durch Ihre übertriebene Forderungen meinen Sturz im Parlament", der andere gesagt haben. Beide waren demokratische Staatsmänner, abhängig von parlamentarischen Abstimmungen und Volkswahlen Sie waren beide große Rhetoren, völlig verschiedener Art, beide verstanden sie virtuos, auf dem Instrument des Parlaments zu spielen. Aber sie waren keine Zauberer. Nur langsam folgte ihnen die Volksstimmung. Demokratien sind viel unelastischer in der Außenpolitik als Staaten, die allein in Händen der Regierenden liegen. Beide wurden gehemmt oder gedrängt von einer stärken Opposition im eigenen Land. Hier lag der taktische Gegensatz.

Stresemann, nur mühsam sein stürmisches Temperament zügelnd, kämpfte um die Legitimierung der traditionslosen Republik, die 1919 in Versailles gescheitert war und die er durch außenpolitische Revisionserfolge jetzt nachholen wollte. Briand, altersweise, behutsam, hatte einen untrüglichen Instinkt, was er seinem Parlament und Volk zumuten konnte. Sie hatten beide Sinn für Konstruktionen zur Regelung außen-politischer Dinge und waren des Ballspiels zwischen Forderung und Ablehnung müde. Gleich nach Deutschlands Eintritt in den Völkerbund trafen sich Briand und Stresemann in Thoiry bei Genf, um einen Weg für eine direkte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu finden. Frankreich wollte die besetzten Gebiete des Rheinlandes und des Saargebietes schnellstens räumen gegen eine sofortige Gesamtlösung des Reparationsproblems im direkten Verhältnis zwischen beiden Ländern. Voraussetzung war die Gewährung einer zusätzlichen Anleihe seitens Amerikas an Deutschland allein zu diesem Zweck. Der Plan scheiterte an der Weigerung der Vereinigten Staaten, an der Verärgerung Englands über diesen direkten Verständigungsversuch und an dem Widerstand, den beide zu Hause erfuhren. Die innerpolitsche Folge dieses Rückschlages war, daß sofort die Opposition gegen Stresemann bis in die Reihen der Regierungsparteien, ja auch die der eigenen Partei sich ausdehnend stieg und versteifte.

Tatsächlich hatte Stresemann viel erreicht. Auf die Räumung der Ruhr und der Sanktionsstädte 1925 war im Januar 1926 die Räumung der ersten, der Kölner Zone, des besetzten Rheinlandes erfolgt. Durch das Luftfahrtabkommen vom Mai 1926 war das gesamte Zivilluftwesen, einschließlich des Flugzeug-und Zeppelinbaus wieder freigegeben. Im Januar 1927 wurde die interalliierte Militärkontrolle, die als eine der schwersten außenpolitischen Belastungen gewirkt hatte, eingestellt. In einem schweren diplomatischen Konflikt zwischen Rußland und England bat 1927 der britische Außenminister Chamberlain Stresemann als denjenigen, der das Vertrauen beider Länder genoß, um dessen Vermittlung. Zusehends wuchs das Vertrauen der Welt für Deutschland. Das zeigte sich nicht nur daran, daß alle großen, internationalen Probleme zunächst von Stresemann, Chamberlain und Briand behandelt wurden, ehe der Völkerbund sie beriet, sondern auch in den Milliarden-Anleihen, die das Ausland — in erster Linie Amerika — der deutschen Wirtschaft gewährte und die Anlaß zu einem ungeahnt schnellen und starken Aufstieg wurden. Die erbitterte Propaganda gegen Deutschland während des ersten Weltkrieges, die lange Jahre noch nachgewirkt hatte, schien überwunden. Stresemann erhielt zusammen mit seinem französischen und britischen Kollegen 1927 den Friedens-Nobelpreis in Oslo.

Im Völkerbund trat er beharrlich für den Schutz der deutschen Minderheiten ein. 1925 leitete er eine erfolgreiche, exportfördernde Handelsvertragspolitik ein und führte sie mit fast allen Abnehmerländern der Erde systematisch durch. Nie ging er über die eigenen, über Deutschlands Kräfte hinaus, dessen Schwäche er sicher kalkulierend in seine Rechnung einsetzte, aber stets suchte er die gegebenen Möglichkeiten mit vitaler Wachsamkeit auszunutzen.

Im Frühjahr 1929, nachdem auf Thoiry eine anderthalbjährige außer-politische Pause gefolgt war, wurden die Reparationsverhandlungen wieder ausgenommen. Die Alliierten drängten nach endgültiger Regelung. Nur unter dieser Bedingung schien Frankreich zur Räumung der zweiten und dritten Zone bereit zu sein. Aus diesem Grunde wie auch in Erwartung einer Lastenminderung war auch Deutschland an der Wiederaufrollung interessiert. Im August 1929 fanden die abschließenden Verhandlungen auf einer Konferenz im Haag statt. Stresemann, schwerkrank, schon vom Tode gezeichnet, rang erbittert mit Briand um die vollständige Aufhebung der Besetzung. England und Belgien erklärten sich zur Räumung der zweiten Zone bereit. Nur Briand zauderte. Stresemann drohte nicht nur, er beabsichtigte tatsächlich zurückzutreten. Unter Englands Vermittlung einigten sie sich auf die Räumung der dritten Zone in Jahresfrist; das bedeutete vollständige Wiederherstellung der deutschen Souveränität. Auch wirtschaftlich wurde durch die neue Reparationsregelung Deutschland wieder Herr im eigenen Haus. Die jährlichen Zahlungen wurden herabgesetzt; dennoch blieben sie eine drückende Last.

Gemessen an der Zeit vor 1924 waren die außenpolitischen Erfolge Stresemanns groß. Aber sie wurden in der Bevölkerung nicht gewürdigt, weil der Vertrag von Versailles mit den hohen Reparationsforderungen, der Rüstungsbeschränkung und der Trennung des Reichsgebietes im Osten durch den polnischen Korridor schwer auf dem Volk lastete. Es fehlte an politischer Geduld, die ohnehin dem Deutschen nicht liegt und in Sonderheit dem Rekonvaleszenten häufig überhaupt fehlt. Zwar wurde Hitler nur von einem kleinen Teil des Volkes beachtet. Aber um so systematischer und energischer wirkte mit der noch in keiner Weise abgenutzten Parole des Kampfes gegen Versailles auf die Meinungsbildung der gegenrevolutionäre Führer der Deutsch-Nationalen, Alfred Hugenberg, ein Mann der Schwerindustrie. Er verfügte mit deren Geld über den größten Pressekonzern und das bedeutendste Filmunternehmen im autoritären, antirepublikanischen Geist. Schwerindustrie und ostelbische Groß-landwirtschaft hatten es verstanden, sich auch in der Demokratie eine zwar nicht wie im Kaiserreich beherrschende, so doch weit über ihren ökonomischen Bereich hinausgehende einflußreiche politische Stellung zu verschaffen, wozu ihnen mittelbar die Alliierten durch den Versailler Vertrag verhelfen hatten. Die Rüstungsbeschränkung des Friedensdiktates gab der Schwerindustrie im Hinblick auf eine deutsche Wiederaufrüstung Anspruch auf besonderen Schutz, und die Landwirtschaft leitete diesen Anspruch aus ihrer Grenzlandposition in den durch Polen verstümmelten Ostgebieten her. Sie waren beide die größten Gegner der Republik und ihre stärksten Nutznießer zugleich. Über sie hielt die Reichswehr ihre schützende Hand aus Rüstungsüberlegungen und dank traditioneller Beziehungen des Offizierkorps zu ihren Kreisen.

So wuchs der innerpolitische Widerstand gegen Stresemanns Außenpolitik. Das wirtschaftliche und finanzielle Problem der Reparationen und das taktische Verfahren seiner Behandlung war eine so komplizierte Materie, daß sie von den Massen nicht verstanden werden konnte, aber gerade deswegen in Händen der Demagogen ein umso wirksameres Instrument der Aufreizung der Massen vor. Dabei war keineswegs die Arbeiterschaft, die durch Gewerkschaft und sozialdemokratische Partei wohl disziplinierte, Gegner dieses ausgesprochen bürgerlichen Politikers, sondern die Gegner saßen in dem weiten Bereich seiner eigenen Reihen. Das Bewußtwerden der außenpolitischen Erfolge im Volk mußte zu einer politischen Legitimierung und Befestigung der Republik führen. Die aber wollte man nicht. So forderte man auf der Rechten mehr, nicht, weil man wußte, daß man dieses Mehr durch eigene Außenpolitik erhalten würde, sondern um Stresemann, die Republik und damit die Demokratie zu diffamieren.

Am 3. Oktober 1929 starb Stresemann. Er war nicht nur der Deutsche des höchsten Ansehens seiner Zeit im Ausland, sondern hatte auch in der Innenpolitik starkes Gewicht. Er war der eigentliche Konstrukteur aller wechselnden Regierungskoalitionen gewesen. Gleich nach seinem Tode fiel die Regierungskoalition auseinander, letztlich weil die Kraft fehlte, die sie zusammenhielt oder die eine neue zu schaffen vermochte.

Stresemann hatte die deutsche Innenpolitik in allen Bereichen den Belangen der deutschen Außenpolitik untergeordnet und sie nach jener aus-gerichtet. Neben seiner parlamentarischen Virtuosität lag in diesem, vielleicht bis zu einem gewissen Grade situationsbedingten Verfahren das Geheimnis seines Erfolges, aber auch zugleich die Schwäche seiner Politik.

Stresemann wußte, was Regieren bedeutet, sowohl gegenüber dem Parlament als auch der eigenen Partei. Er respektierte die regulierende sowie kontrollierende Kraft und Aufgabe der Volksvertretung, aber er erwartete nicht von ihr politisch-schöpferische Impulse. Er stellte sie immer wieder vor die Entscheidung, selbst bereit, jeden Tag zu dimissio-nieren. Aber er machte ihr keine Konzessionen im grundsätzlichen. Und ebenso setzte er sich mit seiner eigenen Partei auseinander, im Notfall bereit, den Vorsitz niederzulegen und die Mitgliedschaft aufzuheben.

In Stresemann verband sich ein echtes, wenn auch nach hartem Ringen erworbenes demokratisches Bewußtsein mit einer wirklichen Führungsbegabung.

Fussnoten

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