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Das Amerikanisch-Russische Verhältnis | APuZ 50/1954 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 50/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Die Welt nach dem Kriege: Die dritte Phase Der Gegensatz zwischen Ost und West in den außenpolitischen Plänen der deutschen Widerstandsbewegung

Das Amerikanisch-Russische Verhältnis

George F. Kennan

Mit Genehmigung der DEUTSCHEN VERLAGSANSTALT GMBH, Stuttgart, setzen wir in dieser Ausgabe mit dem dritten Vortrag „Die Jahre ohne formelle Beziehungen" den Abdruck der Vorlesungen des ehemaligen amerikanischen Botschafters in Moskau, George F. Kennan, über das Amerikanisch-Russische Verhältnis fort.

Die Jahre ohne formelle Beziehungen

Die Welt Die dritte zwischen West in den außenpolitischen der deutschen (S. dem (S. Inhalt dieser Beilage: George F. Kennan: Die Jahre ohne formelle Beziehungen Roger Makins: nach Phase Gerhard Ritter: Der Gegensatz 664) Kriege: 659) Ost und Plänen

Im letzten Vortrag haben wir die Entwick-lung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bis zum Frühherbst 1918 verfolgt. Der Weltkrieg ging zu Ende. Alle amerikanischen Vertreter waren aus dem sowjetischen Gebiet abtransportiert worden. Dagegen waren amerikanische Truppen im Zuge einer gemeinsamen alliierten Intervention an zwei ganz verschiedenen und weit voneinander entfernten Punkten an Land gesetzt worden: das eine Kontingent in Wladiwostok, dem Ausgangshafen für die trans-sibirische Bahn am Stillen Ozean, das andere in Archangelsk am Weißen Meer, im hohen russischen Norden. In beiden Fällen waren die amerikanischen Truppen erst nach langem und energischem Drängen der anderen Alliierten entsandt worden. In beiden Fällen stand die amerikanische Regierung oder wenigstens ihr Präsident unter dem Eindruck, daß es sich nicht um einen militärischen Eingriff in die inneren russischen Verhältnisse handelte, sondern bloß um die Verteidigung des in diesen Häfen aufgestapelten, von den Alliierten schon vorher gelieferten Kriegsmaterials, um wirtschaftliche Hilfe für die schwer bedrängte russische Bevölkerung, und ferner, im Falle der sibirischen Expedition, um einen Nachschubdienst für die tschechischen Truppen, die gerade damals — wie Wilson meinte — versuchten, sich durch Sibirien den Zugang zum Stillen Ozean zu erkämpfen. Wir haben gesehen, daß die amerikanische Regierung die Besonderheiten der Lage weder in Sibirien noch in Nordrußland richtig verstanden hat. In beiden Fällen wurde sie von den eigenen Alliierten — ob aus Versehen oder mit Absicht — etwas irregeführt. In beiden Fällen verfolgten die anderen Alliierten, die an diesen militärischen Unternehmungen teilnahmen, ihre eigenen Ziele, über welche die Staatsmänner in Washington am Anfang sehr schlecht unterrichtet waren und die sie auch zu keiner Zeit weder billigten noch sich ganz zu eigen machten.

Unter solchen Umständen nimmt es nicht wunder, daß die beiden Expeditionen nicht nur ohne positives Ergebnis blieben, sondern zu traurigen, verworrenen und für keine der daran beteiligten Parteien besonders rühmlichen Zuständen führten, ja am Ende als vollkommen mißglückt betrachtet werden mußten.

Die kurze Zeit, die uns heute zur Verfügung steht, erlaubt es mir nicht, den außerordentlich komplizierten Verlauf der sibirischen Intervention darzustellen. In diesem enormen sibirischen Kessel gärten und kochten in den Jahren 1918 und 1919 die verschiedensten Elemente — die Tschechen, die Japaner, die Engländer, die Franzosen und vor allen Dingen die vielen russischen Parteien und Persönlichkeiten: die Bolchewiki selbst, die Sozialrevolutionäre, Admiral Koltschak mit den ehemaligen Offizieren, die sich ihm angeschlossen hatten, und die verschiedenen Kosakenführer, die sich — wie der berüchtigte Ataman Semjonow — als japanische Marionetten gebrauchen ließen. Was sich da alles zwischen diesen bunten Elementen abspielte, wie sie sich gegenseitig beeinflußten, was es da an Abenteuern, Kämpfen, Grausamkeiten und Überraschungen gegeben hat, läßt sich in dieser kurzen Zeit kaum andeuten. In dieses wimmelnde, brodelnde, unübersehbare Durcheinander wurden die 7000 amerikanischen Soldaten einfach hineingeschleudert. Sie waren von einem amerikanischen General kommandiert, dem General Graves, der später ein bekanntes Buch über diese Erlebnisse schrieb.

Graves war ein Mann, der — wenn er auch von Politik herzlich wenig verstand — an Willenskraft, Gewissenhaftigkeit und militärischer Sturheit keinem nachstand.

. Anderthalb Jahre lang hatten die amerikanischen Soldaten nur die langweilige und eintönige Aufgabe, gewisse Strecken der sibirischen Eisenbahn — meistens nicht gerade die angenehmsten — zu bewachen. Nur einige Male nahmen sie an ge-ringfügigen Plänkeleien mit den Bolschewiki teil — und bei einer dieser Gelegenheiten, ohne zu wissen, was sie taten. Von den fieberhaften, chaotischen politischen Kämpfen, die um sie herum tobten, wußten sie sehr wenig. Der General wehrte sich entschieden gegen jeden Versuch, seine Soldaten zu überrumpeln, sie an der Ausführung ihrer Aufgaben zu hindern oder in politische Abenteuer zu verwickeln. Mit keinem seiner alliierten Kollegen stand er auf gutem Fuß: auch mit keiner der russischen Parteien; mit allen zankte er sich (und nicht am wenigsten mit den Vertretern des eigenen Außenministeriums); alle wollten ihn und seine Truppe irgendwie für ihre eigenen politischen Ziele mißbrauchen; keinem gelang es, dies zu tun. Am Ende war er bei niemandem beliebt, aber geachtet von allen, was vielleicht das Beste war, was unter diesen Umständen von einem ehrenhaften Soldaten erwartet werden konnte.

Schon in den ersten Monaten nach der Landung entfielen, einer nach dem anderen, die Gründe für die Entsendung der amerikanischen Streitkräfte. Die Bedrohung Sibiriens durch deutsche Kriegsgefangene — ein Gespenst, mit dem die Alliierten dauernd versucht hatten, die Amerikaner in die Kämpfe gegen die Bolschewiki hineinzulocken — entpuppte sich als ein Märchen. Das Kriegsmaterial war nach Einstellung der Feindseligkeiten im Westen auch nicht mehr wichtig. Die Lage der Tschechen änderte sich bald grundsätzlich, und mit der Zeit wurden sie alle nach Hause abtransportiert. Von einer wirt-schaftlichen Hilfe für die russische Bevölkerung konnte wegen der verworrenen politischen Zustände keine Rede mehr sein. Zwar befaßten sich die anderen Alliierten schon ganz offen mit dem Kampf gegen die Bolschewiki und nahmen es den Amerikanern sehr übel, daß sie sich — streng nach dem ursprünglichen Befehl handelnd — nicht daran beteiligen wollten. Aber mit dem Zusammenbruch des von den Alliierten unterstützten Koltschak-Regimes Ende 1919 wurde auch dieses Vorhaben zunichte. Die Anwesenheit der alliierten Truppen war jetzt nicht nur überflüssig, sondern sie wurde gefährlich. Nach langem Zögern kamen die Regierungen endlich zu dem Schluß, daß die Soldaten abtransportiert werden mußten. Anfang 1920 wurden die Truppen der Westmächte abkommandiert. Zurück blieben nur die Japaner, die über die Abfahrt der Amerikaner frohlockten. Aber zwei Jahre später fanden es auch die Japaner vorteilhaft, von ihren politischen Plänen in Sibirien vorläufig Abstand zu nehmen und das Gebiet bis auf weiteres den Kommunisten zu überlassen.

Sieg der Kommunisten

So siegten am Ende in Sibirien doch die Kommunisten, und es ist vielleicht nicht ohne Nutzen, im Vorbeigehen die Gründe zu verzeichnen, aus denen es dazu kam. Die Kommunisten siegten, weil sie die einzigen waren, die eine starke einheimische Kampfbasis hatten, die nicht auf ausländische Unterstützung angewiesen waren, die eine strenge politische Disziplin ein-hielten und deren politische Linie, wenn sie auch keinen großen Enthusiasmus in der sibirischen Bevölkerung auslöste, wenigstens für die große Masse — und vor allen Dingen für die Arbeiter und Soldaten — nicht ganz abstoßend war. Ferner unterliegt es keinem Zweifel, daß den Bolschewiki durch die ausländische Intervention eher geholfen als geschadet wurde, woraus man vielleicht ein politisches Prinzip ableiten darf, und zwar, daß man von der Okkupation eines fremden Landes, wenn sie auch sonst unvermeidlich und berechtigt sein mag, nicht erwarten sollte, daß sie positiven politischen Zielen dienen könnte. Die bloße Anwesenheit einer fremden Truppe wird für alle politischen Ziele, die irgendwie mit ihr Zusammenhängen, eine Belastung sein.

In Nordrußland nahm die Entwicklung einen ähnlichen, wenn auch nicht genau den gleichen Verlauf. Ein erheblicher Unterschied bestand allerdings darin, daß es hier eine einheimische politische Macht gab — die sogenannte Oberste Regierung des nördlichen Gebietes —, die sofort nach der alliierten Landung in Archangelsk gebildet worden war und von den Alliierten, wenn auch nicht als die souveräne Regierung Rußlands, so doch als die örtliche Vertretung der russischen Bevölkerung anerkannt wurde. Dazu noch, daß, was in Sibirien keineswegs der kam Fall war, die gesamten alliierten Verbände unter einem einzigen Kommando standen, und zwar unter dem Kommando eines englischen Generals.

Aus diesen Gründen nahm die nördliche Intervention einen etwas planmäßigeren Verlauf als die sibirische. Aber sie war nicht weniger mißglückt und ihr Ergebnis nicht weniger traurig.

Da aus der Bedrohung der Murmanskbahn durch die Finnen, die ja der Anlaß zu der Intervention im Norden gewesen war, nichts Ernstes wurde, blieben die Operationen der Alliierten nur auf einen ereignislosen, aber langweiligen Stellungskrieg im nördlichen Urwald beschränkt. Die Truppen wurden erst im Spätsommer an Land gesetzt. Sie bezogen Stellungen in einem Llmkreis von ungefähr 150 bis 200 km um Archangelsks Zweck der Übung, wie es der englische Kommandeur verstand, war, die örtliche antibolschewistische Regierung zu stützen und ihr vor allen Dingen Gelegenheit zu geben, unter dem Schutze der Alliierten eine russische Streitmacht aufzustellen, die den Kampf gegen die Bolschewiki aufnehmen könnte.

Die Tatsache, daß die amerikanische Regierung einen ganz anderen Begriff von den Zielen des Unternehmens hatte, konnte hier keine große Rolle spielen, denn die amerikanischen Einheiten, die an diesem Punkte eingesetzt wurden, hatten keinen eigenen General und keine selbständige politische Verantwortung. Es waren nur 4000 Mann, alles ganz neue, unerfahrene Rekruten, vorwiegend aus Volksgruppen, die erst jüngst in die Staaten Michigan und Wisconsin eingewandert waren. Schweigend, hilflos und über die Ziele der Operation wenig unterrichtet, wie es so oft im Soldatenleben der Fall ist, entschwanden diese einfachen Leute in den endlosen nördlichen Urwald, wo sie ein ganzes Jahr verbrachten. Bald nach der Ankunft packte sie der frühe, harte, dunkle russische Winter. Die Flüsse froren zu. Die Stellungen schneiten ein. Die Temperatur sank bis auf 60 Grad Kälte herab. Davon weiß ja auch der deutsche Soldat vieles zu erzählen. Von Kämpfen war meistens nicht die Rede, es sei denn, daß irgendeine Einheit — was bei den Amerikanern, Gott sei Dank, nicht geschah — so schlapp wurde, daß es die Gegner zum Angriff geradezu heranlockte.

So vergingen lange, eintönige Wochen und Monate; in denen es vollkommen mißglückte, das eigentliche Ziel der Unternehmung zu erreichen. Eine einheimische russische Truppe war auf freiwilliger Basis nicht aufzubringen. Die Bauern dachten: Wozu sich freiwillig zum Kriegsdienst melden? Gewinnen die Alliierten, dann braucht man uns nicht, dann sind die Bolschewiki sowieso geschlagen; gewinnen dagegen die Bolschewiki, dann ist es vorteilhafter, die Alliierten nicht unterstützt zu haben.

Als es sich gezeigt hatte, daß es unmöglich war, Freiwillige zu finden, wurde versucht, die allgemeine Dienstpflicht einzuführen. Aber die Einheiten, die auf diese Weise zusammengetrieben werden konnten, erwiesen sich als wenig zuverlässig. Mit dem Versagen Koltschaks, der Tschechen und der anderen antibolschewistischen Kräfte gewannen die Bolschewiki an Prestige, und im Sommer 1919 wurde ganz klar, daß aus der antibolschewistischen Bewegung im Norden nichts werden würde. Die Engländer zögerten lange, die Truppen zurückzurufen. Sie wußten sehr gut, daß die einzelnen Russen, die mit ihnen kollaboriert hatten oder auch an der nördlichen Regierung irgendwie beteiligt waren, nach Abzug der ausländischen Truppen von den Kommunisten das Schlimmste zu befürchten hatten. Aber man konnte die Truppen auch nicht ewig da lassen. Die Moral hatte infolge der klimatischen Verhältnisse und anderer schwieriger Umstände schon erheblich gelitten. Der Weltkrieg war schon lange zu Ende. Von allen anderen Fronten waren die Truppen nach Hause zurückgekehrt. Die Soldaten dort im Norden fühlten sich vergessen und verlassen. Bei jedem der verschiedenen nationalen Verbände, und zwar auf beiden Seiten, kam es zu richtigen Meutereien. Nur die Amerikaner, die am Anfang von den anderen wegen ihrer mangelhaften militärischen Schulung belächelt worden waren, bewahrten ihre militärische Disziplin.

LInter diesen Umständen war es für die Alliierten unmöglich, das Unternehmen fortzusetzen, und schon im Herbst 1919 — sechs Monate früher als in Sibirien — fuhren die alliierten Truppen ab.

Drei Monate später brach der örtliche Widerstand gegen die Bolschewiki zusammen. Murmansk und Archangelsk wurden von den Kommunisten eingenommen. Nach Schätzungen liegt die Zahl der von den Sowjets wegen Kolloboration mit den Alliierten erschossenen Opfer in diesen nördlichen Gebieten zwischen 3000 und 7000.

Wenn ich so ausführlich über die alliierte Intervention spreche, so tue ich es deshalb, weil diese Entwicklung in der späteren Debatte über die Ursachen des sowjetisch-amerikanischen Konfliktes eine erhebliche Rolle gespielt hat. Diejenigen, die dazu neigten, die sowjetische Politik gutzuheißen und die Schuld an den gespannten Beziehungen hauptsächlich den Vereinigten Staaten zuzuschreiben, pflegten zu behaupten, daß die Amerikaner mit diesem militärischen Eingriff in die russischen Verhältnisse das Mißtrauen und den Haß der Sowjetregierung auf sich gezogen hätten und daß, wenn nur die Intervention unterlassen worden wäre, die Sowjetregierung sich freundlich zu Amerika gestellt hätte.

Idi bin nicht imstande, diesen Standpunkt vollkommen zu billigen. Die feindliche Propaganda nicht nur gegen die amerikanische Regierung, sondern auch gegen die ganze in Amerika herrschende Sozialordnung begann schon lange vor der Intervention. In den ersten Monaten der Sowjetherrschaft, als von der Intervention noch keine Rede war, wurde das amerikanische Volk dauernd von Petrograd und Moskau aus aufgehetzt, die eigene Regierung zu stürzen und sich dem Einfluß der Bolschewistenführer zu unterstellen. Dabei steht es außer Zweifel, daß die amerikanische Regierung gegen ihren Willen von den eigenen Alliierten in die Intervention hineingezogen wurde und tatsächlich keine politischen Ziele dabei verfolgte, eine Tatsache, die der Sowjetregierung bekannt gewesen sein mußte.

Gewiß war diese militärische Intervention der Alliierten in Rußland unklug und verfehlt. Gewiß wäre alles viel einfacher und klarer gewesen, wenn sie unterlassen worden wäre. Aber sie war eine Konsequenz jener Einstellung aller Werte und Urteile, die — wie ich im ersten dieser Vorträge ausführte — unumgänglich mit dem totalen Kriegserlebnis zusammenhängt. Und ich befürchte, wir werden alle mit den Problemen des internationalen Lebens nicht fertig werden, solange wir nicht lernen, auch bei den anderen die Folgen der Schwäche und des Irrtums von den Früchten des bösen Willens zu unterscheiden und ihnen einen kleinen Teil jener menschlichen Unzulänglichkeiten zuzubilligen, von denen wir selbst — und zwar auch die Besten von uns — nicht immer frei sind.

Friedenskonferenz in Paris Während die amerikanische Truppe noch in Rußland stand, trat in Paris Anfang 1919 die Friedenskonferenz der Alliierten zusammen. Wieder versuchte man, eine friedliche Lösung des russischen Problems herbeizuführen, jedoch abermals ohne Erfolg. Die überlasteten und übermüdeten Staatsmänner in Paris waren den Verwicklungen des russischen Problems einfach nicht mehr gewachsen. Sie fanden nicht den Ausgang aus dem Labyrinth der verschiedenen Interessen und Leidenschaften, mit denen diese Frage umgeben wurde.

Kurz vor Eröffnung der Konferenz war ein amerikanischer Vertreter nach Skandinavien geschickt worden, wo er mit Litwinow zusammentraf und sich davon überzeugte, daß die Sowjet-regierung tatsächlich zu dieser Zeit geneigt war, eine friedliche Lösung der verwickelten Situation zu suchen. So kamen die in Paris versammelten Staatsmänner im Monat Januar auf die Idee, eine Konferenz aller an den Kämpfen in Rußland beteiligten russischen Parteien zusammen mit Vertretern der Alliierten auf die im Marmarameer liegende Insel Prinkipo einzuberufen. Eine entsprechende Anregung in Form einer Proklamation der Konferenz wurde an die Weltöffentlichkeit gerichtet. Aber die Antwort der Sowjetregierung, obwohl im Grunde genommen günstig, war an wichtigen Punkten ausweichend und enthielt die üblichen überflüssigen Beleidigungen gegen die alliierten Regierungen, ohne die es für die Kommunisten scheinbar unmöglich war, eine diplomatische Note zu schreiben. Die meisten Vertreter der antibolschewistischen russischen Parteien lehnten es auch ab, mit den Bolschewiki zusammenzutreffen. An diesen Tatsachen sowohl wie an der immer noch bestehenden Uneinigkeit unter den Alliierten (die Franzosen verhielten sich sehr flau in dieser Sache) scheiterte der ganze Versuch.

Daraufhin wurde von den maßgebenden amerikanischen Staatsmännern mit Wissen der englischen Delegationsführer ein anderer Weg beschritten, nämlich der, mittels eines alliierten Verbindungsmannes eine direkte und geheime Fühlungnahme mit den Sowjetführern in Moskau herbeizuführen. Ein junger Attache der amerikanischen Delegation auf der Friedenskonferenz, William Bullitt, der viel später der erste amerikanische Botschafter in Rußland werden sollte, wurde nach Moskau geschickt.

Von dieser Reise Bullitts wußten nur die wenigsten: der amerikanische Präsident, sein Gewährsmann, Oberst House, der amerikanische Staatssekretär Lansing und der englische Premierminister Lloyd George sowie die Mitglieder seines persönlichen Kabinetts. Den Franzosen wurde vorläufig nichts gesagt, auch hatten nicht alle Mitglieder der amerikanischen Delegation von dem Unternehmen Kenntnis.

Bullitt machte sich mit großem Enthusiasmus an seine Aufgabe. Nach einer abenteuerlichen Reise in Moskau angelangt, führte er Bespre-

chungen mit Litwinow und Tschitscherin, ja mit Lenin selbst und erlangte schließlich die sowjetische Zustimmung zu einer Reihe von Vorschlägen, vorausgesetzt daß diese Vorschläge von den Alliierten binnen einer gewissen Frist an die Sowjetregierung gerichtet würden. In dieser Absprache wurden folgendes vorgesehen: Die Feindseligkeiten im ganzen russischen Reich sollten eingestellt werden; in den verschiedenen umstrittenen russischen Gebieten sollte der Status quo vorläufig beibehalten werden; die Truppen der Alliierten sollten sofort abgezogen und allen Russen, die mit ihnen kollaboriert hatten, sollte eine Amnestie zugesichert werden.

Mit diesen Vorschlägen kehrte der junge Bullitt nach Paris zurück, wo er den hohen Staatsmännern, die ihn geschickt hatten, schriftlich und mündlich Bericht erstattete — mit Ausnahme des Präsidenten. Seine Vorschläge wurden zunächst von Oberst House und von Lloyd George sehr günstig ausgenommen, und es schien eine Zeitlang, als sollte ihnen entsprochen werden. Wäre das geschehen, so hätten sich wahrscheinlich die weiteren Beziehungen zwischen Rußland und Amerika etwas anders ent-

wickelt. Aber irgendwie wurden die Vereinbarungen, die Bullitt ausgehandelt hatte, von anderen Ratgebern hintertrieben. Es wimmelte ja damals in Paris von Vertretern antibolschewistischer politischer Gruppen und von Beamten der alliierten Regierungen, die leidenschaftlich antibolschewistisch waren und die keine Einigung mit der Sowjetregierung wollten. Bullitt selber meinte später, die Tatsache, daß gerade damals in Paris Gerüchte von einem angeblichen großen Sieg Koltschaks über die Bolschewiki in Umlauf waren, hätte auch eine Rolle gespielt. Wie dem auch sei, von den Vorschlägen Bullitts wurde kein Gebrauch gemacht. Der vorgesehene Termin lief ab, ohne daß den Russen eine Antwort erteilt worden wäre. Vom Präsidenten wurde Bullitt überhaupt nicht empfangen. Und als dann Lloyd George im Parlament befragt wurde, ob nicht eine Fühlungnahme mit den Bolschewiki stattgefunden hätte, antwortete er ausweihend, er wisse von nichts Derartigem; allerdings sei einmal davon die Rede gewesen, daß irgendein junger Amerikaner mit irgendeinem Schreiben aus Rußland zurückgekehrt wäre, aber den Wert dieses Schreibens einzu-

schätzen sei er nicht imstande; wenn der amerikanische Präsident dem Schreiben irgendeine Bedeutung beigelegt hätte, so würde er es sicher der Konferenz zur Kenntnis gebracht haben — das habe er aber nicht getan usw.........

Bullitt war über diese Behandlung seitens der Staatsmänner tief enttäuscht und entrüstet. Er war übrigens einer der ersten, der die unheilvollen Folgen des Versailler Vertrages klar vor-aussah und sich energisch dagegen wandte. Bald darauf schrieb er dem Präsidenten einen ganz ungewöhnlichen und mutigen Demissionsbrief. Als die Journalisten ihn fragten, was er jetzt zu tun gedenke, sagte er, er wolle an die Riviera fahren, am Strande liegen und zusehen, wie die Welt zum Teufel gehe.

Den erfolglosen Bemühungen in Paris, ein geordnetes Verhältnis zur Sowjetmacht zu shaf-fen, folgte die lange Zeit — genau dreizehneinhalb Jahre —, in der keine formellen Beziehungen zwischen Moskau und Washington bestanden. In New York arbeitete die sowjetische Handelsfirma, die sogenannte AMTORG. Auch standen die Führer der russischen kommunisti-shen Partei, die gleichzeitig die höchsten sowjetischen Regierurrgsposten bekleideten, mit den amerikanischen Kommunisten in engstem Kontakt. Die Sowjetregierung wurde also auf ihre eigene Art in Amerika vertreten. Die ame-rikanishe Regierung dagegen hatte in Sowjetrußland überhaupt keine Vertretung.

Wenn man sich diese lange Periode der soge-nannten Nichtanerkennung heute wieder ins Gedähtnis zurückruft, muß man darüber staunen, wie ungetrübt und ruhig die Beziehungen zwischen den beiden Ländern damals waren. Die Probleme, welche die Unterhaltung einer Botschaft in Moskau mit sich bringt, existierten nicht. Es gab keine Zwischenfälle, weder mit amerikanischem Personal in Rußland noch mit sowjetischem Personal in Amerika. Und diejenigen guten Bürger in den Vereinigten Staaten, die heute unsere Zivilisation bald daran zugrunde gehen sehen, daß sich kommunistische Vertreter in unserer Mitte aufhalten, konnten sich noch in Ruhe und Sicherheit fühlen. So glatt liefen damals die Dinge, so wenig Probleme hatten wir damals im Verhältnis zu dem, was uns heute belastet, daß man fast geneigt ist, anderen Ländern die sich nicht leicht miteinander vertragen, zu empfehlen, sie sollten einmal versuchen, ohne formelle diplomatische Beziehungen zu leben. Zu meinem Bedauern muß ich aber feststellen, daß es heutzutage für die Amerikaner und Russen keine Rückkehr zu diesen idyllischen Zuständen gibt und daß auch ein erneuter Abbruch der formellen Beziehungen die schweren Spannungen und Konfliktstoffe nicht aus der Welt zu schaffen vermöchte, an denen das Verhältnis zwischen den beiden Ländern jetzt leidet.

Wie dem auch sei, verhältnismäßig jener glückliche Zustand ging Anfang der dreißiger Jahre zu Ende, und zwar durch drei in sich zusammenhängende Faktoren.

Versuche zur Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen

Der erste war die erneute Bedrohung Sibiriens von Seiten der Japaner, die in die mittlere und nördliche Mandschurei eindrangen. Im September 1931 wurde Mukden von den Japanern okkupiert. Man erkannte, daß es sich hier um die Verwirklichung eines großartig angelegten und sorgfältig vorbereiteten Planes handelte. Vergebens hatte die Sowjetregierung versucht, die Japaner mit Zugeständnissen von ihren Absichten abzubringen. Es half nichts. Schon im Frühjahr 1932 herrschte in Moskau große Unruhe über die japanischen Pläne. Unter diesen Umständen sahen die Sowjetführer in einer Wiederanknüpfung der Beziehungen zu Amerika eine Möglichkeit, auf die Japaner Eindruck zu machen und sie dadurch vielleicht zu etwas mehr Vorsicht zu veranlassen. Deshalb verdoppelten sie ihre Bemühungen, in Amerika Propaganda für die Wiederaufnahme der Beziehungen zu machen. Aus Prestigegründen wollten sie nicht selber um die Anerkennung werben. So unternahmen sie alles Mögliche, um in der amerikanischen Öffentlichkeit für diese Idee zu werben.

Hier spielte — was ich als zweiten der drei Faktoren anführen möchte — die amerikanische Geschäftswelt eine große Rolle. Trotz des Fehlens formeller Beziehungen blühte Ende der zwanziger Jahre der russisch-amerikanische Handel. Die amerikanische Ausfuhr nach Sowjetrußland belief sich im Jahre 1928 auf 74 Millionen, im Jahre 1929 auf 114 Millionen Dollar — eine damals nicht unbedeutende Summe. Dieser Aufschwung der sowjetrussischen Aufträge hatte angesichts der damals herrschenden Wirtschaftkrise eine gewisse Bedeutung, vor allen Dingen für einige große Firmen, die besonders daran interessiert waren. So hatte er bei einer Reihe von führenden Geschäftsleuten die Hoffnung auf einen noch größeren Handel mit Sowjetrußland genährt. Groß war dann die Enttäuschung, als im Jahre 1931 die Aufträge erheblich nachließen. Die wahren Gründe dafür lagen vermutlich hauptsächlich in der allmählichen Erschöpfung der Devisenvorräte, über welche die Sowjetregierung damals verfügte.

Man muß annehmen, daß die Bestellungen sowieso nachgelassen hätten, wenn nicht sofort, dann im nächsten Jahr, ganz unabhängig davon, wie die amerikanische Politik gewesen wäre.

Aber die Kommunisten haben sich nie gescheut, aus einer gegebenen politischen Situation den größtmöglichen Profit herauszuschlagen. So ließen sie in Amerika verbreiten, das Abflauen des Handels sei durch die Politik der amerikanischen Regierung verursacht, durch die Nichtanerkennung Sowjetrußlands und durch die Weigerung, Regierungskredite für den russischen Handel zur Verfügung zu stellen; und wenn sich das änderte, so würde sich alles zum besten wenden. So kam es, daß sich zu den liberalen und linksgerichteten Stimmen, die schon lange für die Anerkennung plädierten, jetzt wichtige Stimmen aus der Geschäftswelt gesellten.

Es sei nebenbei bemerkt, daß die Anerkennung tatsächlich keinen günstigen Einfluß auf den Handel hatte und daß der Hochstand von 1929 nie wieder unter normalen Umständen erreicht wurde.

Der neue Präsident: Franklin D. Roosevelt

Dann kam gerade zu dieser Zeit der große Umschwung in der inneren amerikanischen Politik; im November 1932 wurde FranklinD. Roosevelt zum Präsidenten gewählt. Im März erfolgte seine Amtsübernahme. Dieser politische Umschwung war der dritte Faktor, der zur Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen zwischen Amerika und Rußland führte.

Roosevelt hatte vor der Wahl zu dieser Frage keine Stellung genommen. Nach seinem Amtsantritt wurde aber bald deutlich, daß er tatsächlich zu diesem Schritt geneigt war. Neue Forschungen haben gezeigt, daß ihn die Machtübernahme Hitlers in seiner Bereitschaft bestärkte, der Frage der Anerkennung näherzutreten, denn er hoffte, daß Sowjetrußland als Gegengewicht gegen das nationalsozialistische Deutschland von Wert sein könnte.

Im Laufe des Sommers 1933 fand so eine geheime Fühlungnahme mit sowjetrussischen Staatsmännern statt. Im Herbst folgte ein Brief Roosevelts an Kalinin. Darauf wurde Litwinow sofort nach Washington geschickt. Die Verhandlungen verliefen eigentlich weder vom amerikanischen noch vom sowjetrussischen Standpunkt aus vollkommen zufriedenstellend. Aber beide Seiten hatten sich jetzt so weit in die Sache eingelassen, daß an ein Zurücktreten nicht zu denken war. Man machte daher gute Miene zum bösen Spiel, und die Wiederanknüpfung der Beziehungen wurde vereinbart.

Anfang Dezember 1933 bei 30 Grad Kälte überquerte der erste bei der Sowjetregierung akkreditierte amerikanische Botschafter am Bahnhof Njegorjeloje die sowjetische Grenze und bestieg dort einen der großen, breiten russischen Schlafwagen, von dessen mit tiefem Schnee be-deckten Dach lange Eiszapfen herunterhingen und aus dessen altmodischem Schornstein der Rauch von Holzfeuer in den Himmel stieg. In der Abenddämmerung fuhr der Zug in die endlosen russischen Schneefelder. Der Botschafter war derselbe William Bullitt, der im Jahre 1919 vergebens mit Lenin verhandelt hatte. Jetzt sollte sein Traum endlich in Erfüllung gehen. Wieder einmal, wie damals, machte er sich mit großer Begeisterung an seine Aufgabe. Er wurde von zwei jungen Attaches begleitet, von denen der eine vor lauter Erregung die ganze Nacht aufblieb, andauernd das Eis vom Fenster abkratzte und versuchte, in die nächtige, bleiche Landschaft Rußlands binauszusehen. Mit dieser Nacht begann nicht nur für viele von uns persönlich, sondern auch für die russisch-amerikanischen Beziehungen eine neue Zeit, die vielleicht als die Rooseveltsche bezeichnet werden kann.

Franklin Roosevelt war ein Mann von großem persönlichem und politischem Format. In den letzten Jahren haben manche von uns den Zauber seiner Persönlichkeit und die Großzügigkeit seines politischen Handelns vermißt. Aber man kann von ihm sagen, daß er das Sowjetproblem nie richtig verstanden hat, noch imstande war, es zu verstehen. Gerade die gleichen Eigenschaften, die ihm zu Hause seinen großen politischen Erfolg sicherten — die starke Wirkung der eigenen Persönlichkeit, die völlig pragmatische Art der Staatskunst, die Abneigung gegen alle Theorie, der muntere, unüberwindbare Optimismus, die geistige Oberflächlichkeit und vor allem die Tatsache, daß seine ganze geistige Ausrüstung und seine Weltanschauung aus der Zeit des ersten Weltkrieges, also aus der vortotalitären Zeit, stammten, alle diese Eigenschaften erschwerten ihm das Verständnis des Sowjetproblems, ja, sie erschwerten es nicht nur, sie machten es ihm unmöglich. Um begreifen zu können, was sich in der Seele des russischen Kommunisten und im Leben des von ihm beherrschten Gemeinwesens abspielt, muß man die Neigung und die Fähigkeit haben, in den tiefsten Abgrund des Bruderhasses, der Verbitterung, der Menschenverachtung und der Selbstüberhebung zu blicken. Denn jede utopische politische Bewegung, die von dem Grundsatz ausgeht, daß sie nur über das Unglück und Elend großer Bevölkerungsteile und sogar über unzählige Leichen zu ihrem Ziel kommen kann, muß auf solchen Eigenschaften beruhen. Nicht jeder bringt es fertig, in diese Tiefen zu schauen; wer es aber einmal fertiggebracht hat, der geht nicht wieder leichten sorglosen Schrittes in dieser Welt umher, wie Franklin Roosevelt es immer tat, und er verfügt auch nicht mehr über die reizvollen Eigenschaften, die dem Politiker Roosevelt so nützlich waren. Roosevelt machte in seiner Einstellung zum Sowjetproblem einen Fehler, zu dem vielleicht die Mitglieder der älteren höheren angelsächsischen Gesellschaft besonders geneigt waren: er unterschätzte nämlich die ideologische Ernsthaftigkeit der russischen Kommunisten, er bezweifelte die Bedeutung des Prinzipiellen in ihrer Psychologie, er meinte, daß ihre verwickelte, mißtrauische, reizbare, fast psychopathische politische Persönlichkeit bloß eine subjektive Reaktion auf das persönliche Gesicht des Gegners darstelle, nicht aber eine ideologisch-bedingte, prinzipielle Haltung. Nachdem Roosevelt zu Hause einen großen innerpolitischen Erfolg damit errungen hatte, daß er sozusagen aus seiner eigenen Gesellschaftsschicht heraustrat und sich zu dem kleinen Mann herabließ, ihn umwarb, ihm als Sprecher und Vertreter diente, war er überzeugt, daß er mit einer ähnlichen Haltung auch auf die Sowjets Einfluß nehmen konnte. Sie waren ja, wie er es verstand, auch nur kleine Leute. Er erwartete, daß auch sie auf ein freundliches Lächeln, einen brüderlichen Klaps auf die Schulter und eine große Dosis des Roosevelt-sehen Charmes günstig reagieren würden. Wenn sie bis dahin dem Westen gegenüber eine so feindliche Haltung eingenommen hatten, so war dies sicher darauf zurückzuführen, daß die westlichen Staatsmänner zu hochnäsig und unfreundlich mit ihnen umgegangen waren. Bei einer anderen Behandlung, meinte Roosevelt, müßte sich das alles ändern.

Diese Einstellung Roosevelts, welche die Bolschewik! ausgerechnet in der Festigkeit ihres ideologischen Glaubens, in ihrer Selbstachtung als theoretisch geschulte und disziplinierte Marxisten gering achtete und ihnen eine Empfänglichkeit für subjektive Impulse zumutete, die in der kommunistischen Bewegung als abscheuliche Schwäche gelten mußte, war für sie eigentlich das Beleidigendste, was es geben konnte. Obwohl sich dieser Irrtum mit der Zeit bitter rächte, ist zu bezweifeln, daß Roosevelt selber ihn jemals durchschaut hat.

Außerdem hat er den Bolschewismus als politisches System anscheinend nie verstanden, am wenigstens das eigenartige Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, welches die kommunistische Diktatur auszeichnet. Was es bedeutete, unter der Stalinschen Herrschaft zu leben, blieb ihm unbekannt und wahrscheinlich unvorstellbar. Seine Begriffe hätten vielleicht zu der Leninschen Periode etwas besser gepaßt, aber zu der Stalins paßten sie überhaupt nicht. Für die großen Veränderungen in der Psychologie und Politik, zu denen der innerpolitische Sieg Stalins, die Kollektivierung und die großen Säuberungen führten, hatte er kein Verständnis. Aus diesem Grunde war er wohl auch unfähig, den Totalitarismus Stalins in seinem Verhältnis zu dem Hitlers richtig einzuschätzen.

In engstem Zusammenhang mit diesen Blick-fehlem stand der verhängnisvolle Gedanke, von dem nicht nur Roosevelt, sondern fast die ganze liberale Intelligenz der westlichen Länder in den dreißiger Jahren beherrscht wurde, der Gedanke, Sowjetrußland könnte ein geeigneter Partner im kollektiven Widerstand gegen Hitler, Mussolini und die Japaner sein. Die westlichen Liberalen wollten nicht glauben, daß der sowjetische Imperialismus für beide Nachbarländer und insbesondere für die europäischen Völker eine Bedrohung darstellte, die nicht geringer war als all die Gefahren, gegen die man diese Völker schützen wollte. Er verstand nicht, daß die russische Mitwirkung an der sogenannten kollektiven Sicherheit gegen Hitler nur zu einem unsinnigen Wucherpreis zu haben war — der Einverleibung großer Teile Osteuropas in den sowjetischen Machtbereich —, zu einem Preise also, der nicht nur für die betreffenden Völker den Verlust der staatlichen Unabhängigkeit, die Auslieferung an die eigenen Kommunisten, wenn nicht den Völkermord schlechthin bedeutete, sondern auch das Kräfteverhältnis in ganz Europa auf höchst gefährliche Weise verschieben mußte. Diese Ahnungslosigkeit des Präsidenten und vieler seiner Ratgeber ist der Schlüssel zu seiner ganzen Politik der Sowjetunion gegenüber von der Zeit der Anerkennung bis zum zweiten Weltkrieg.

Die prosowjetische Linie der Roosevelt-Regierung

Ich sagte vorhin, daß Roosevelt der Wiederherstellung der Beziehungen hatte Verhandlungen vorangehen lassen. Bei diesen Verhandlungen handelte es sich um die zwei Fragen, bei denen früher, während der Amtszeit republikanischer Präsidenten, die Wiederanknüpfung der Beziehungen immer ins Stocken geraten war: erstens die langweilige Frage der Schulden früherer russischer Regierungen und der Schäden, welche amerikanischen Bürgern aus der Verstaatlichung der russischen Industrie entstanden waren, und zweitens die Frage der kommunistischen Propagandatätigkeit in den Vereinigten Staaten. Man hat allerdings den Eindruck, daß es Roosevelt weniger darum ging, diese beiden Fragen in einem für Amerika positiven Sinne wirklich zu lösen, vor allem kam es ihm wohl darauf an, von den Russen Versicherungen einzuholen, die auf die amerikanische öffentliche Meinung imponierend wirken und ihn selbst vor dem politischen Vorwurf schützen könnten, er wäre auf die Anerkennung eingegangen, ohne die Interessen des Landes und seiner Bürger in diesen Punkten berücksichtigt zu haben. So verfuhr Roosevelt bei den Verhandlungen ziemlich oberflächlich und etwas zu eilig, so daß es nicht überraschte, als sich bald nach der Anerkennung herausstellte, daß ausgerechnet in diesen beiden Hauptfragen eigentlich keine Einigung erreicht worden war, ja, auch nicht zu erreichen wäre. Wie zu erwarten, versteifte sich gleich nach der Anerkennung die Haltung der Sowjetregierung in diesen zwei Fragen. Sie hatte das Gewünschte, nämlich die Anerkennung selbst. Wozu sollte sie jetzt noch Zugeständnisse machen?

Der neue Botschafter Bullitt war von diesem Gang der Dinge tief enttäuscht. Außerdem überzeugten ihn die Eindrücke eines längeren Aufenthaltes in der russischen Hauptstadt, daß zwischen dem Leninismus und dem Stalinismus ein großer Unterschied bestand. Seine Erfahrungen in Rußland bewirkten also eine grundsätzliche Änderung seiner Einstellung zum ganzen Sowjet-problem. Er kam schließlich zu der Überzeugung, daß der russische Kommunismus der dreißiger Jahre eine große Gefahr für die westliche Zivilisation darstellte. Nach ein paar Jahren legte er seinen Posten nieder, kehrte nach Hause zurück und versuchte, dem Präsidenten seine Eindrücke zu beschreiben und ihn für seine neuen Erkenntnisse zu gewinnen. Das gelang ihm aber nicht.

Anscheinend sah der Präsident in ihm jetzt nur den Widersacher seiner eigenen Politik. Er hörte bald auf, Bullitt in russischen Angelegenheiten zu Rate zu ziehen, und ließ sich weiterhin von Leuten umgeben, die zwar wenig von Rußland wußten, aber die Hoffnung auf eine glückliche Zusammenarbeit mit den Russen noch glühend im Herzen trugen.

Damit hatten die Russen gerechnet. Sie hatten die Persönlichkeit und die geistige Einstellung des Präsidenten vollkommen richtig einschätzt.

Sie hatten darauf gesetzt, daß er im Konflikts-fall den eigenen Botschafter nicht unterstützen würde. Deshalb waren sie nicht auf Zugeständnisse eingegangen. So war Bullitt also dreimal enttäuscht worden — zweimal von der eigenen Regierung, einmal von der sowjetischen.

Anfang 1937 schickte der Präsident einen neuen Botschafter nach Moskau, dessen betont freundschaftliches und entgegenkommendes Benehmen für die Russen nur die Bedeutung haben konnte, daß alles vergeben und vergessen war.

Gleich danach wurde im Staatsdepartement die ganze russische Abteilung einfach abgeschafft.

Sie hatte sich bei den Kommunisten sowie bei einigen Liberalen zu Hause unbeliebt gemacht, sowohl wegen ihrer skeptischen Einstellung zur Rooseveltschen Politik als auch wegen der scharfen Gründlichkeit ihrer Analysen der sowjetischen

Wirklichkeit. Durch diese Ereignisse wurde die prosowjetische Linie der Roosevelt-Regierung nicht nur bestätigt, sondern sogar verstärkt.

Dies war der Zustand, der am Vorabend des zweiten Weltkriegs herrschte. Sie wissen ja alle, wie es dann weiterging. Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin und die sowjetischen Handlungen, die darauf folgten (der Angriff auf Finnland und die zynische Einverleibung der baltischen Staaten sowie Ostpolens in die Sowjetunion), erregten gewiß eine starke Verstimmung in Washington. Aber die Verstimmung ging nicht tief. Und als der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 dieser Periode ein Ende setzte, gerieten diese unangenehmen Erfahrungen bei den Staatsmännern in Washington bald in Vergessenheit.

Wieder waren es, wie im ersten Weltkrieg, die Anforderungen einer Kriegslogik, welche die Politik der Alliierten Rußland gegenüber bestimmten und — man darf schon hinzufügen — verzerrten. Die gefährdete Lage Englands bedeutete auch eine Gefährdung der Sicherheit Amerikas.

Die letzte Verteidigungslinie der britischen Inseln wurde zur ersten Verteidigungslinie der Vereinigten Staaten. Und für die Behandlung dieser Linie schien der russische Widerstand im Jahre 1941 ebenso unentbehrlich zu sein wie früher im Jahre 1917. So wurde die Unterstützung Rußlands für die Vereinigten Staaten zu einem Gebot der eigenen militärischen Sicherheit. Mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour und der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 bekamen diese Erwägungen nur eine neue Betonung.

Militärische Realitäten sind harte Realitäten

An der Hilfeleistung für Rußland war unter solchen Umständen auch seitens der größten Skeptiker in Amerika nichts auszusetzen. Militärische Realitäten sind harte Realitäten. Sie müssen berücksichtigt werden. Von um so größerer Wichtigkeit war aber nun die Frage: „In welchem Geist, auf Grund welcher Voraussetzungen, unter welchen Bedingungen sollte diese Unterstützung der Russen vor sich gehen?“ Vergebens versuchten einige der alten Rußlandkenner, der Regierung klarzumachen, daß die Ziele, welche die Sowjetunion bei ihren Kriegshandlungen gegen Deutschland verfolgte, mit den Kriegszielen der Alliierten keineswegs identisch waren. Vergebens rieten sie, schon in den ersten Kriegsjahren auf einer restlosen Aufklärung der russischen Absichten in bezug auf Ost-und Zentralcuropa zu bestehen und, falls diese Aufklärung nicht befriedigend ausfallen sollte, die materielle Unterstützung der Sowjetregierung recht-zeitig einzuschränken und jede Verantwortung moralischer oder vertraglicher Natur für die künftigen Handlungen der Sowjetunion in diesen ost-und zentraleuropäischen Gebieten aufs sorgfältigste zu vermeiden. Aber für all dies war es jetzt schon zu spät. Die nüchternen Stimmen waren zu klein und nicht zahlreich genug. Sie hatten sich jetzt nicht nur gegen die prosowjetischen Illusionen der amerikanischen Liberalen zu behaupten, sondern auch gegen die ganze Kriegshysterie und vor allem gegen die entschiedene Weigerung der amerikanischen Militärs, politischen Rücksichten irgendeinen Einfluß auf die Kriegführung zu erlauben.

Unter diesen Umständen wurden die warnenden Stimmen überhaupt nicht gehört. Die pro-sowjetischen Strömungen bekamen freie Bahn.

Der verhängnisvolle Einsatz auf die bloße Möglichkeit, daß die Kommunisten durch das Kriegserlebnis und durch die militärische Zusammenarbeit mit den Westmächten zu einer neuen Auffassung ihres Verhältnisses zur Außenwelt gebraht werden könnten — wurde jetzt gezahlt.

Für diejenigen Amerikaner, welche diesen Versuch mit tiefster Besorgnis verfolgten, und insbesondere für die Berufsdiplomaten, die ja im Kriege zu dienen und zu gehorchen und nicht in die hohe Strategie hineinzureden haben, blieb nichts mehr zu tun. Und was dann daraus wurde, was für Folgen das alles hatte, das brauche ich hier nicht weiter zu erzählen, das wissen die Deutschen ja am allerbesten.

Ich will hier nicht als Kritiker auftreten — erst recht nicht als Kritiker der eigenen Regierung.

Wir müssen uns alle vor der „nachträglichen Weisheit “ hüten. Noch weniger möchte ich den Eindruck erwecken, als sei das ganze Unglück dieser Nachkriegszeit ausschließlich auf die Irrtümer zurückzuführen, die Roosevelts Haltung zur Sowjetunion bestimmten. Die Probleme, vor die sich die amerikanischen Staatsmänner während des letzten Weltkrieges gestellt sahen, waren nicht leicht. Die Möglichkeiten, unter denen sie zu wählen hatten, waren viel geringer und begrenzter, als vielfach angenommen wird. Es möge mir verziehen werden, wenn ich an dieser Stelle daran erinnere, daß die Politik Hitlers für seine Gegner nicht gerade viele Möglichkeiten offen ließ. Es wird zu leicht vergessen, daß es in den Jahren 1944/1945 für die Amerikaner — auch bei klarster Einsicht und vorausgesetzt, daß eine antirussische Politik damals denkbar gewesen wäre (was nicht der Fall war) — faktisch nicht möglich gewesen wäre, die Russen von der Okkupierung des größten Teiles des heutigen Satellitengebietes abzuhalten. Dazu reichte die militärische Kraft einfach nicht aus. So wäre ein großer Teil dessen, was heute vielleicht als Torheit oder Blindheit der alliierten Staatsmänner erscheinen mag, besser als unvermeidbarer Bestandteil der grenzenlosen Tragik dieses letzten Krieges anzusehen.

Gerade deshalb hüten sich heute viele von uns, die damals die ernstesten und vielleicht auch die kompetentesten Zweifel an der Rooseveltschen Politik hegten, die Rolle des mißachteten Propheten zu spielen und den Eindruck zu verbreiten, als hätten wir damals zu all den unermeßlich schwierigen und komplizierten Problemen einer Staatsführung in Kriegszeiten immer ohne weiteres die richtige Antwort gewußt. Vor allen Dingen wollen wir uns nicht mit den billigen, emotionellen und wenig wissenschaftlichen Anklagen und Verdächtigungen identifizieren, die heutzutage, besonders in Verbindung mit der Konferenz zu Jalta, dem toten Präsidenten ins Gesicht geschleudert werden, und zwar hauptsächlich von Leuten, die damals an seiner Politik nicht das geringste auszusetzen hatten und erst nachträglich zu dieser selbstgefälligen Weisheit gekommen sind.

Aber ich glaube, daß dem allgemeinen Verständnis für die Probleme der Gegenwart nicht gedient wird, wenn wir Amerikaner nicht offen anerkennen, daß die Fehler, die zwischen 1935 und 1 94 5 in unserer Politik der Sowjetunion gegenüber gemacht worden sind, zu den schwersten und verhängnisvollsten in der ganzen Ge-

schichte unserer Außenpolitik gerechnet werden müssen.

Wenn ich diese Feststellung mache, was wohl kein Amerikaner mit leichtem Herzen tut, so geschieht das in der Überzeugung, daß es heute nötig ist, die Ursachen dieser Fehler ruhig und gewissenhaft zu erforschen und in unserem Gedächtnis zu verzeichnen, statt die Einsicht durch gegenseitige Beschuldigungen zu trüben.

Fussnoten

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