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Der Gegensatz zwischen Ost und West in den außenpolitischen Plänen der deutschen Widerstandsbewegung | APuZ 50/1954 | bpb.de

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APuZ 50/1954 Das Amerikanisch-Russische Verhältnis Die Welt nach dem Kriege: Die dritte Phase Der Gegensatz zwischen Ost und West in den außenpolitischen Plänen der deutschen Widerstandsbewegung

Der Gegensatz zwischen Ost und West in den außenpolitischen Plänen der deutschen Widerstandsbewegung

Gerhard Ritter

litischen Richtung bewegen. Die düstere und äußerste Wachsamkeit fordernde Form der Koexistenz ist keineswegs die Welt, die wir uns erhofften. Doch verfügen wir über genügend Kraft-und Energiequellen und über Schutz-möglichkeiten, um den uns am Herzen liegenden Dingen des Lebens weiter nachgehen zu können. Die beiden übrigen Alternativen sind unerträglich, weil wir die heiligsten Güter des Lebens aufgeben und uns selbst zerstören würden. Alle Kompromisse abzulehnen, alle Friedenshoffnungen fahren zu lassen und schrittweise und unaufhaltsam einem totalen Krieg, einem Massenmord durch thermonukleare Waffen oder sonstige Vernichtungswaffen entgegen-zugehen, das wäre die eine Alternative. Vielleicht würden wir siegen, jedoch nur diejenigen, die überleben — Sieger auf einer Welt voller Ruinen. Dies aber wäre die andere Alternative: Wir verzichten auf „Einigkeit, Treue und Wachsamkeit“ und suchen nur unseren eigenen unmittelbaren Vorteil, bis der sich ausbreitende Kommunismus uns einen nach dem andern verschlingt, ein Schicksal, das für einen freien Menschen ebenso entsetzlich ist wie ein totaler Krieg, denn es schlägt ihn nicht nur mit Zerstörung, sondern auch mit der Schande.

Das Gedächtnis der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler ist in diesem Jahr in besonders feierlicher Form in Berlin begangen worden: durch eine Erinnerungsrede, die der Herr Bundespräsident in Anwesenheit der Bundesregierung, des Bundestags und einer Gruppe von Überlebenden und vieler Familienangehörigen der Opfer des 20. Juli 1944 hielt. Anlaß bot die 10. Wiederkehr dieses Gedächtnistages. Mein Wunsch, zu dieser Gedächtnisfeier die von mir verfaßte Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung der Öffentlichkeit vorzulegen, ließ sich leider nicht mehr rechtzeitig verwirklichen. Das Buch wird aber nunmehr noch vor Weihnachten erscheinen und ich folge gern einer Einladung dieser Zeitschrift, ihre Leser im voraus auf eines der vielen historisch — politischen Probleme hinzuweisen, die darin erörtert werden: auf die Frage nämlich, welche Rolle der Gegensatz zwischen West und Ost in den außenpolitischen Plänen der Oppositionsgruppe gespielt hat.

Warum diese Frage politisch von besonderer Wichtigkeit ist, brauche ich nicht erst ausführlich darzulegen. Welche Pläne hatten die Männer des 20. Juli für die deutsche Zukunft: für den Aufbau eines neuen Deutschland und für seine außenpolitische Stellung in der Welt? Wollten sie sich ebenso eindeutig an die Westmächte anschließen wie die heutige Bundesregierung oder dachten sie an eine Mittelstellung zwischen West und Ost? Gab es etwa gar eine Gruppe unter ihnen, die lieber mit dem bolschewistischen Rußland paktieren wollte als mit den Siegermächten des Westens? Das Letztere ist in dem bekannten Buch von Gisevius „Bis zum bitteren Ende" bejaht worden, und der ihm befreundete Amerikaner Allen Welsh Dulles, ein Bruder des jetzigen Außenministers der USA, ist ihm darin gefolgt. Da diese beiden Bücher die ersten waren, die überhaupt über die deutsche Widerstandsbewegung erschienen, haben sie weithin die Vorstellungen der Welt über diese Bewegung bestimmt. Nach ihrer Schilderung gab es da einen rechten Flügel, geführt von Carl Goerdeler und dem früheren Generalstabschef Beck, der mit den Westmächten nähere Verbindung suchte, und einen linken sozialistischen, der seine Hoffnungen auf Rußland setzte — einen bürgerlichen, der dem revolutionären Treiben der Nazi ein Ende machen wollte, und einen antibürgerlichen, der von einer neuen Weltrevolution, Arm in Arm mit den Bolschewisten, träumte. Ist das richtig?

Nun ist zunächst zu sagen, daß die Bemühungen der Verschwörung immer wieder gescheitert waren, von den Staatsmännern des Westens irgendwelche Zusagen eines gemäßigten, für Deutschland günstigen oder wenigstens tragbaren Friedens für den Fall zu erlangen, daß Hitler von ihnen gestürzt und eine neue, freiheitlich und rechtlich denkende Regierung errichtet würde. Alles, was man seit Januar 1943 von der Politik der Angelsachsen mit Sicherheit wußte, war ihr laut verkündeter Entschluß, weiterzukämpfen bis zur „bedingungslosen“ Unterwerfung Deutschlands. Unter diesen Umständen lag es offenbar nahe, trotz aller Abneigung gegen den Bolschewismus auch einmal nach Osten Fühler auszustrecken.

Zeitweise schien auch die russische Politik einem solchen Bedürfnis entgegenzukommen. Ermutigend konnte schon der bekannte Tagesbefehl Stalins vom 23. Februar 1942 wirken, in dem es hieß: „Es wäre lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte zeigen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.“ Ein solches Wort hat man in Deutschland vom Westen her nie gehört, und die russische Propaganda hat es bis Kriegsende in immer neuen Wendungen wiederholt.

Aber es war nicht nur Propaganda, was die deutsche Opposition zu einer Fühlung mit Moskau ermutigen konnte. Wir können ziemlich genau verfolgen, wie mißtrauisch Stalin gegen seine westlichen Alliierten war, die so unendlich lange brauchten, bis sie mit eigenen Landtruppen zum Kampf gegen Hitler antraten. War es am Ende die Absicht der „kapita-listischen" Mächte, ihre kommunistischen Alliierten sich bis zu äußerster Erschöpfung ausbluten zu lassen, um zuletzt selber als Schiedsrichter über den Kontinent zu triumphieren und die Früchte des Sieges allein einzuheimsen? Stalins Verdacht gründete sich u. a. auf die Erfahrung, daß man sich in London, vor allem aber in Washington zunächst überaus harthörig zeigte gegenüber seiner Forderung nach vertraglicher Festlegung einer strategisch günstigen Westgrenze Rußlands. Die Vereinigten Staaten haben sich bis zum Winter 1944/45 überhaupt auf keinen förmlichen Allianzvertrag mit den Sowjets eingelassen. Jedes Geheimabkommen über Grenzsicherungen vor der künftigen Friedenskonferenz lehnten sie energisch ab. Staatssekretär Cordell Hull fürchtete maßlose Aus-

dehnungswünsche der Russen, wenigstens im ersten Kriegsjahr 1941/42. Er war bestürzt zu hören, daß Stalin bei den Vorbesprechungen zum russisch-englischen Bündnisvertrag nicht nur die Preisgabe Finnlands und der baltischen Staaten an Rußland forderte, sondern zugleich die Garantie einer Rückgabe aller durch den Hitlerpakt 1939 erworbenen polnischen und rumänischen Gebiete — außerdem die Zerstückelung Deutschlands durch Abtrennung von Ostpreußen, dem Rheinland, Verselbständigung Bayerns und Österreichs und Wiederherstellung der früheren Verhältnisse in Böhmen und Südosteuropa. Churchill, der diese Forderungen zunächst abgelehnt hatte, war im Mai 1942 wenigstens zu einem Kompromiß bereit. Schließlich erreichte Cordell Hull aber doch, daß der Londoner Allianzvertrag (vom 26. Mai) von allen Grenzgarantien frei blieb, ja daß sogar in Art. 5 als Grundsatz festgelegt wurde, die Verbündeten wollten „weder nach territorialen Erweiterungen für sich selbst streben noch sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen. * Bei dieser ablehnenden Haltung spielte sowohl in London wie in Washington die Rücksicht auf Wünsche der polnischen Exilregierung in England eine gewisse Rolle.

Die Frage war nur, wie lange diese polnischen Emigranten mit ihren Wünschen die Unterstützung der Westmächte finden würden. Es ist in der Tat ein höchst aufregendes Schauspiel zu verfolgen, wie die ebenso kluge wie zähe Politik Stalins sich Schritt für Schritt in den folgenden Kriegsjahren gegen alle Widerstände vorankämpfte auf dem Weg zu seinen Machtzielen: Sicherung Rußlands durch einen Wall von kommunistisch regierten Vasallenstaaten, Zerstückelung Deutschlands, Beherrschung und Ausbeutung einer russischen Okkupationszone, endgültige Ausrottung des deutschen „Militarismus". Dabei erwies sich Stalin in der Klarheit und harten Konsequenz seines Zielstrebens seinen westlichen Mitspielern weit überlegen.

Doppelspiel mit Deutschland Auf die volle Höhe ihrer Aktivität gelangte die sowjetische Außenpolitik erst seit dem großen Sieg von Stalingrad. Ihr Fernbleiben von der Konferenz der Westmächte in Casablanca bewirkte sofort jene Proklamation, man werde weiterkämpfen bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands — eine Forderung, durch die sich die Westmächte selbst den Weg versperrten zu einer Deckung Deutschlands gegen maßlose sowjetische Machtansprüche. Die Bestrebungen der polnischen Exilregierung in London wurden dadurch lahm gelegt, daß man am 1. März 1943 in Moskau eine „Union polnischer Patrioten" gründete, die später als Werkzeug zur Begründung eines polnischen Vasallenstaates diente. Gleich darauf konnte die russische Diplomatie feststellen, daß man in London und in Washington bereit war, Ostpolen ungefähr bis zur Grenze von 1939 an Rußland auszuliefern und die Polen dafür durch viel deutsches Land zu entschädigen. Daraufhin wurden die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung abgebrochen. Vier Wochen später wurde die Komintern aufgelöst, dadurch die Furcht des Westens vor dem Bolschewismus verringert und der Weg freigemacht zur Verbindung kommunistischer mit nationalistischen und demokratischen Kräften. Der tschechische Expräsident Benesch kam nunmehr nach Moskau und stellte sein Land unter den „Schutz" des großen östlichen Nachbarn. Für den Herbst plante man eine Konferenz der Außenminister in Moskau; sie sollte ein Zusammentreffen der „Großen Drei“ vorbereiten: Roosevelts, Churchills und Stalins. Diesem großen Ereignis arbeiteten die Sowjets höchst wirksam vor, indem sie in Washington von einem Angebot der Japaner berichteten, zwischen ihnen und Hitler einen Sonderfrieden zu vermitteln (16. September). Wichtiger noch: sie trieben ein höchst seltsames Doppelspiel mit Deutschland.

Seit Ende 1942 bestand in Stockholm eine kunstvoll getarnte, tief geheime Verbindung zwischen einem Mitarbeiter Ribbentrops, Peter Kleist und einem Mittelsmann der russischen Diplomatie namens Klauss, der zum Auslandsdienst der russischen Staatspolizei mehr oder weniger geheimnisvolle Beziehungen besaß. Dreimal wiederholte Klauss dasselbe Angebot an den deutschen Mittelsmann: Sonderfrieden auf der Basis der Grenzen von 1939 oder von 1914, freie Hand für Rußland in der Meerengenfrage und in Asien und ausgedehnter gegenseitiger Wirtschaftsverkehr, das alles auszuhandeln in geheimen Konferenzen bevollmächtigter Diplomaten an neutralem Ort. Die Wiederholung des Angebots ist um so erstaunlicher, als Kleist nur immer von neuem melden konnte, daß Hitler sich weigere, über einen Sonderfrieden überhaupt zu verhandeln und nur die Fortsetzung der einmal angesponnenen Verbindung in möglichst „privater" Form wünsche, tief mißtrauisch und zugleich fanatisch in seinen Glauben an den „Endsieg“ verbissen. Nun ist schwer vorzustellen, daß Stalin nach der Erfahrung von 1941 jemals geglaubt haben sollte, mit Hitler einen dauerhaften Frieden schließen zu können. Das Wahrscheinlichste dünkt mir, daß man in Moskau auskundschaften wollte, ob und wie weit es überhaupt möglich wäre, den westlichen Alliierten mit einem Sonderfrieden zu drohen, falls sie sich gegen Stalins territoriale Forderungen auch weiterhin hartnäckig zeigten.

Praktisch erwiesen sich solche Drohungen aber sehr bald als unnötig. Schon im August 1943, auf der Konferenz Churchills mit Roosevelt in Quebec, zeigten sich beide Staatsmänner so beglückt darüber, überhaupt mit Stalin in unmittelbare Fühlung zu kommen, daß sie zu den größten Konzessionen bereit waren. Eben damals scheint sich in der Umgebung Roosevelts die Auffassung durchgesetzt zu haben. Rußland würde die große Weltmacht der Zukunft sein, ganz Europa nach der Niederwerfung Deutschlands überschattend. Eben deshalb müßte die Politik der Vereinigten Staaten alles aufbieten, um mit dieser kommenden Macht gut Freund zu sein, womöglich sie zur Mithilfe bei der Niederwerfung Japans zu gewinnen. Das war also genau das Gegenteil der Politik, die Goerde-ler und seine Freunde so oft als natürliche Staatsräson der Westmächte sich ausgemalt hatten und auf die sie immer wieder vertrauten. Die Konsequenz war grausam für uns Deutsche und verhängnisvoll für Europa. Man willigte darein, Deutschlands Osten systematisch der Freundschaft zu opfern, die Roosevelt und Churchill von Rußland erhofften. Um ihretwillen hat man es seiner Ostprovinzen beraubt, als Machtfaktor völlig zerstört, zur Hälfte seines Gebietes praktisch der östlichen Siegermacht ausgeliefert.

Nur auf dem Hintergrund dieser Entwicklung der allgemeinen weltpolitischen Lage rücken gewisse Erwägungen der deutschen Opposition im Herbst 1943, ob es nicht an der Zeit wäre, in Moskau statt in London Fühlung zu suchen, in die richtige Beleuchtung. In der Tat: in diesen entscheidungsvollen Monaten zwischen August und Dezember 1943, ehe sich West und Ost in dem Programm einer gemeinsamen Zerstückelung Deutschlands zusammenfanden, war der letzte Augenblick für einen so gewagten äußersten Rettungsversuch. Er war dadurch begünstigt, daß die russische Politik gleich nach Stalingrad damit angefangen hatte, ihrerseits Fühlung mit der deutschen Generalsopposition zu suchen. Die Kapitulation der Sechsten Armee in Stalingrad brachte nämlich eine ganze Menge Generäle und höhere Generalstabsoffiziere in die Hand der roten Machthaber — Offiziere, von denen viele recht laut ihre tiefe Erbitterung über Hitler und seine sinnlose Opferung von Hunderttausenden deutscher Soldaten äußerten. Sollte es am Ende jetzt möglich sein, deutsche Generäle, darunter bekannte Heerführer, dahin zu bringen, daß sie die deutschen Soldaten zur Preisgabe ihres Führers, zum Niederlegen der Waffen oder zum Überlaufen aufforderten? Die dazu nötige Verhüllung des eigenen „antikapitalistischen" Programms durch liberale Schlagworte machte so wenig Beschwerden, wie kurz vorher die formelle Auflösung der „Komintern". Ideologische Bedenken hatten zu schweigen, wenn es so große Vorteile zu erringen galt: Erschütterung der deutschen Kampf-moral an der Front, Ermutigung der bürgerlichen Opposition im Innern und schließlich, als optischen Effekt in London und Washington, die indirekte Warnung: man könnte auch wohl mit Hilfe einer deutschen Oppositionsregierung zum Frieden kommen.

Der „Deutsche Offiziersbund“

Man steckte also gefangene Offiziere in Sonderlager, besonders solche mit alten ostelbischen Adelsnamen, und brachte sie durch eine raffinierte Mischung von Terror und Verlockungen dazu, sich einem „Deutschen Offiziersbund“ anzuschließen, der sich unter der Führung des Generals von Seydlitz förmlich von Hitler lossagte. Das von ihm proklamierte Zukunftsprogramm klang völlig liberal und ließ nicht das Geringste mehr von kommunistischem Beigeschmack merken. Es war auf die deutsche bürgerliche Opposition, aber wohl auch auf das amerikanisch-englische Publikum berechnet, dessen „Kommunistenfurcht" es vermindern sollte. Erstaunlich ist, daß es gelang, von Moskau her sogar die kommunistische Untergrundbewegung in Deutschland auf ein völlig liberales Programm umzuschalten und zum Versuch einer Annäherung an die bürgerlich-adlige Oppositionsgruppe zu bewegen. Dieser Versuch ist freilich sehr rasch gescheitert, und irgendeine Verbindung zwischen der Seydlitzbewegung und der Verschwörergruppe um Beck, Goerdeler und Graf Moltke ist ni zustandegekommen.

Ebenso wenig hat jemals ein Plan bestanden, wie ihn Gisevius schildert: ein Plan der sozialistisch gesinnten Mitglieder des sogen. Kreisauer Kreises um den Grafen Moltke, Arm in Arm mit den Kommunisten und den in Deutschland tätigen Fremdarbeitern eine Art von Weltrevolution durchzuführen, ein Programm, das angeblich auch Graf Stauffenberg, der Attentäter des 20. Juli, voll glühenden persönlichen Ehrgeizes verfolgt haben soll. In diesem Zusammenhang soll vor allem der junge Diplomat Adam von Trott zu Solz als außenpolitischer Bereiter des Kreisauer Kreises für eine Fühlungnahme mit dem Osten, d. h. mit Stalin, statt mit dem Westen eingetreten sein.

Adam von Trott zu Solz und seine „Botschaft"

Nun steht fest, daß von Trott im Januar 1943 in der Schweiz dem Amerikaner Allen Welsh Dulles eine Art von Botschaft überbracht hat, die revolutionäre Zukunftsperspektiven zu eröffnen schien. Sie malt, mit reichlich vagen Pinselstrichen, die Gefahr einer sozialen Revolution der ins Elend Gestoßenen an die Wand, um damit die Politiker des „kapitalistischen" Westens von einer totalen Zertrümmerung des deutschen Wirtschaftspotentials und der totalen Zerstörung deutscher Macht und Ehre abzuschrecken. Trott hat diese Warnungen im April 1944 durch eine Neue Botschaft an Dulles ergänzt. Er berichtet darin von der neuerlich stark gesteigerten Aktivität der kommunistischen Untergrundbewegung Deuschlands, von ihrem Zusammenhang mit dem „Komitee Freies Deutschland" und von ihrer Unterstützung durch die russische Regierung. Die daraus entstehende Gefahr sei gesteigert durch die Anwesenheit sehr zahlreicher, mangelhaft bewachter russischer Kriegsgefangener im Lande. Besonders gefährlich wirke sich die Tatsache aus daß immer neue „konstruktive Ideen und Pläne" für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege von Moskau kämen und durch eine wohlorganisierte Flüsterpropaganda in den Massen verbreitet würden. (Gemeint sind offenbar die „Freiheitsprogramme" des Moskauer Nationalkomitees). Von Westen käme nichts dergleichen, immer nur Drohungen mit bedingungsloser Unterwerfung. Die deutschen Sozialistenführer glaubten infolgedessen ein starkes Abgleiten der Massen zur extremen Linken zu beobachten. Um die deutsche Arbeiterschaft für die westliche Demokratie zu gewinnen, müßte diese der sozialistischen Widerstandsgruppe zu Hilfe kommen. Sie sollten sie ermutigen durch öffentliche Erklärungen, daß die westlichen Regierungen die Teilnahme sozialistischer Führer an einer neu zu bildenden deutschen Regierung willkommen hießen; daß eine deutsche Arbeiterbewegung sich künftig würde frei organisieren dürfen, ohne die Einmischung „arbeiterfeindlicher, kapitalistischer Gruppen des Westens“ befürchten zu müssen; schließlich: daß ein erneuertes Deutschland freie Selbstverwaltung würde genießen dürfen und nicht befürchten müsse, eine bloße Puppenregierung von „deutschen Quizlings" zu erhalten.

Außerdem wäre es wünschenswert, eine ähnlich regelmäßige Verbindung der Sozialdemokraten mit den „fortschrittlichen Kräften des Westens“

herzustellen, wie sie die Kommunisten nach Moskau hin besäßen.

Diese Botschaft enthüllt mit großer Klarheit, wie mir scheint, die wahre politische Haltung der Sozialistengruppe um Julius Leber, der vermutlich ihr geistiger Urheber (oder doch Anreger) gewesen ist. Diese alten Sozialdemokraten sind durchaus keine Freunde, sondern entschiedene Gegner des Kommunismus; sie streben ebenso wie die bürgerliche Opposition eine enge Verbindung mit dem Westen an. Aber sie sind von der Furcht beherrscht, die Massen an die extreme Linke zu verlieren, wenn sie sich unter die Führung eines bürgerlich liberalen Mannes wie Goerdeler stellen und wenn der Westen gar nichts tut, um die alte sozialistische Besorgnis von „kapitalistischer Reaktion" zu zerstreuen und die lockenden Parolen aus Moskau durch eine geeignete, gut beratene Gegen-propaganda zu übertrumpfen. Man kann aber nicht sagen, daß sie mit einer grundsätzlichen Abwendung von West nach Ost auch nur geliebäugelt hätten.

Trott zu Solz hat nicht mit einem Abschwenken der deutschen Opposition ins russische Lager gedroht, sondern mit einem Abtreiben des deutschen Arbeiters ins Fahrwasser des Kommunismus. Wenn er in diesem Sinn den „Osten“ gegen den „Westen" ausspielte, so war das kein Bekenntnis zum Osten, sondern ein taktisches Manöver, dessen Nützlichkeit gar nicht zu bezweifeln ist. Seine wahre politische Haltung wird aus einer Broschüre „Deutschland zwischen West und Ost" deutlich, welche die Gestapo später unter seinen Papieren fand und über die ich einen Polizeibericht im Archiv des amerikanischen Kriegsministeriums in Washington entdeckt und gelesen habe. Hier wird von der unbedingten Notwendigkeit gesprochen, ein Gleichgewicht der großen Mächte in Europa zu erhalten und ein einseitiges Übergewicht des bolschewistischen Rußland im Interesse der abendländischen Kultur zu verhüten. „Dem Bolschewismus gegenüber" heißt es da, „ist England in Europa der einzige Gegenspieler. Die englische Politik im Sinn eines zweiten Versailles ist falsch. Deutschland bleibt in Europa immer noch die zweitstärkste Macht. Sie muß von England gegen Rußland ausgespielt werden. Die einzige Möglichkeit dazu ist ein ehrenvoller Friede ohne Besetzung, ohne Gebietsabtretung, Kriegskontributionen, ohne politische Einkreisung und wirtschaftliche Fessel. Einer solchen Lösung steht lediglich die englische Mentalität entgegen, die Deutschland als unverbesserlch agressiv betrachtet. In Wirklichkeit hat erst der Friede von Versailles den Gedanken an eine Agression hervorgerufen. Ein ehrenvoller Friede schließt daher die Kriegsmöglichkeit auf lange Zeit aus. Sicher liegt der Widerstand gegen eine solche Lösung hauptsächlich bei den Leuten, die nicht einsehen wollen, daß England gegenüber den LISA eine Macht zweiten Ranges geworden ist.“

Das sind ungefähr dieselben Gedanken, die ich selbst im November 1942 und Sommer 1943 ausführlich mit Trott zu Solz erörtert habe. Ich fand ihn damals tief beunruhigt durch die geradezu grotesken Vorstellungen von deutschem „Militarismus“ und unausrottbarem Eroberungsdrang — auch bei den Militärs, die zur Opposition gehörten — die er in der englischen Publizistik und Kriegsliteratur, aber auch in den Reden britischer Staatsmänner immerfort auftauchen sah. Im Herbst 1943 benutzte Trott eine Dienstreise nach Schweden, um mit englischen Freunden in Verbindung zu treten und zu ermitteln, ob von London her noch irgendwelche politische Unterstützung der deutschen Widerstandsbewegung zu erhoffen wäre. Das Ergebnis war abermals tief enttäuschend. Unter diesen Umständen schien es unvermeidlich, daß mindestens ein Versuch gemacht wurde zu erkunden, wie es mit Stalins Friedensbereitschaft stand. Trott zu Solz und Graf Schulenburg, der frühere Botschafter in Moskau, waren genau orientiert über die geheimnisvollen Angebote eines Sonderfriedens an die Hitler-Regierung, die Peter Kleist aus Stockholm mitgebracht hatte. Beide hatten schon im Dezember 1942, als sie zum ersten Male davon hörten, sofort geäußert, „wir müssen jeder auch noch so ungewissen Möglichkeit nachgehen, die sich uns bietet.“ Auch der frühere Botschafter von Hassell, der zur bürgerlichen Rechten gehörte, stimmte ihnen zu. Tatsächlich wurde der Plan, eine Verbindung mit Moskau anzuknüpfen, im Spätsommer und Herbst auch von der rechtsstehenden Verschwörergruppe ernsthaft erwogen. Goerdeler fragte Schulenburg über Stalins. Charakter aus und ob er an die Möglichkeit einer Verbindung mit den Sowjets glaube. Die Antwort war: Stalin sei ein kalter Rechner; das Ergebnis etwaiger Verhandlungen hänge davon ab, was man ihm bieten könne. Goerdeler verstand ihn so, daß der Botschafter die Verständigungsmöglichkeit überraschend hoch einschätze.

Mißtrauen der deutschen Oppositionsführer Um diese Haltung zu begreifen, muß man wissen, daß gerade eben, im September, die russische Seite durch Peter Kleist den Wunsch geäußert hatte, den Leiter der Europa-Abteilung ihres Außenkommissariats Alexandrow mit Graf Schulenburg ein ernsthaftes Friedensgespräch über die uns schon bekannten Friedensbedingungen führen zu lassen. Dieser war also sehr zuversichtlich. Wenn man von drüben schon solche Angebote an die Hitlerregierung machte: wieviel leichter müßte es dann sein, einen Sonderfrieden für eine neue, weit vertrauenswürdigere Regierung zu erlangen! So stellte er sich jetzt Goerdeler zur Verfügung und erklärte sich bereit, sich durch die deutschen Kampflinien durchschleusen zu lassen, um mit Stalin ins Gespräch zu kommen. Nach der Aussage eines seiner Mitarbeiter erhielt der Generalstabschef eines deutschen Armee-Korps im Osten den Auftrag, die Möglichkeit eines Durchsteuerns durch die russische Frontlinie zu erkunden.

An diesem Plan scheint der Botschafter ziemlich lange festgehalten zu haben. Noch im Dezember, offenbar ohne jede Kenntnis des Verlaufs der Konferenzen von Moskau und Teheran, hat er sich zu Hassell -sehr optimistisch über seine Aussichten bei Stalin geäußert. Gleichwohl ist das gewagte Unternehmen schließlich unterblieben. War es technisch undurchführbar? Erschien es zuletzt doch zu abenteuerlich? Oder erhoben sich politische Widerstände dagegen? Ich vermag es nicht mit Sicherheit zu sagen. Nach den späteren Ermittlungen der (in diesem Punkt zuerst sehr mißtrauischen) Gestapo war die ganze Widerstandsgruppe darin einig, erstens: daß auf die Dauer mit den Bolschewisten keine fruchtbare Zusammenarbeit möglich sei, sondern nur mit dem Westen; zweitens: daß die gewaltig anwachsende Macht der Sowjets eine so große Gefahr für Mitteleuropa bedeute, daß wir nur in Verbindung mit England und den Vereinigten Staaten hoffen dürften, uns ihrer zu erwehren. Über die Haltung der Seydlitz-Gruppe dachte auch Stauffenberg sehr kritisch; irgendeine Verbindung zum Moskauer Nationalkomitee, das man für „bolschewistisch infiziert" hielt, hat niemals bestanden.

In der Tat zeigt das Schicksal der Seydlitzgruppe handgreiflich wie aussichtslos jedes Bemühen war, durch Anpassung an russische Wünsche für Deutschland irgendeine Sicherung der deutschen Zukunft, zu erreichen. Es ist den Generälen um Seydlitz niemals gelungen — trotz aller Willfährigkeit gegen russische Wünsche — irgendeine Zusicherung der Moskauer Machthaber zu erlangen, daß Deutschland eine für seine Zukunft erträgliche Ostgrenze erhalten würde. Man hat ihm für den Friedens-schluß überhaupt nichts zugesichert. Und schon vor dem 20. Juli 1944 seit die britisch-amerikanische Kriegshilfe endlich praktisch wirksam wurde, hat man diese ganze „Freiheitsbewegung hinter Stacheldraht" mehr oder weniger fallen lassen. So hat sich das Mißtrauen der deutschen Oppositionsführer gegen Stalins Feindespläne nachträglich durchaus bestätigt.

Gegen Ende des Jahres 1943 scheinen sie sich darauf geeinigt zu haben, vor vollzogenem Umsturz keine Verbindung mit Moskau zu suchen, wohl aber unmittelbar nach dem Fall Hitlers diplomatische Verbindungen sowohl nach Osten wie nach Westen aufzunehmen, um dabei die inneren Gegensätze unserer Kriegsgegner gegeneinander auszuspielen. Goerdeler setzte seine Hoffnung darauf, daß die Westmächte sich formell noch nicht verpflichtet hätten, große Landerwerbungen der Sowjets, ein Vorschieben ihrer Grenzen weit nach Westen zuzulassen, ja daß der britisch-russische Allianzvertrag von 1942 territoriale Eroberungen förmlich ausschloß. Daß trotz alledem das Schicksal Deutschlands in Moskau und Teheran bereits besiegelt war, ahnte er nicht. Erst im Frühjahr 1944 ist den Verschwörern aus neuen Auslandsnachrichten allmählich klar geworden, daß die Westmächte bedingungslose Kapitulation nach beiden Seiten, auch nach der russischen hin, forderten. Wenn sie sich dennoch zum Gewaltstreich des 20. Juli entschlossen, so geschah es in der verzweifelten Hoffnung, daß ein rasches Kriegsende, ehe die rote Armee die deutsche Ostgrenze überschritt, unser Schicksal immer noch gnädiger gestalten würde als ein Weiterkämpfen bis zum Eindringen der Russen in Berlin. Zugleich und vor allem aber in der doppelten Erwägung, daß Deutschlands Ehre erfordere, sich selbst von seinem Tyrannen zu befreien und daß es ein Verbrechen wäre, das Leben auch nur eines Soldaten noch unnütz zu opfern, nachdem es einmal feststand, daß der Krieg unwiderruflich verloren war.

Anmerkung Sir Roger Makins, Britischer Botschafter in den Vereinigten Staaten seit 1953, stellvertretender Staatssekretär im Auswärtigen Amt, 1948— 52.

D. Dr. Dr. Gerhard Ritter, ordentlicher Professor an der Universität Freiburg i. Br., geb. 6. 4. 1888 in Bad Sooden-Allendorf.

Berichtigung: In der letzten Ausgabe S. 649 unten muß es heißen: Nun hat es innerhalb der Verschwörung selbst ehemalige Nationalsozialisten gegeben, wie den Grafen Helldorf und den Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt Nebe, und von Popitz und seinem Freunde Langbehn aus ist sogar versucht worden, Fäden zu Himmler zu spinnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart. 610 S. u. Register.

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