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Die deutsche Politik an der Wegegabel | APuZ 36/1955 | bpb.de

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APuZ 36/1955 Die deutsche Politik an der Wegegabel Die Vereinigten Staaten blicken nach Süd- und Südostasien Taifun-Küste

Die deutsche Politik an der Wegegabel

Ludwig Dehio

Mit Genehmigung der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, übernehmen wir aus der Zeitschrift für Internationale Fragen „AUSSENPOLITIK" (Heft 8, August 1955) den folgenden Beitrag von Professor Ludwig Dehio:

Zum drittenmal in einem halben Jahrhundert steht Deutschland vor einer Wegegabel seines Schicksal.. Zweimal hat es einen Irrweg gewählt, egozentrisch seine Möglichkeiten überschätzt, das alte Europa wie sich selbst an den Rand des Nichts gebracht. Es hat ungewollt als Katalysator eines völlig neuen Weltzustandes gewirkt, über der zerstörten Mitte die beiden Giganten der Außenräume emporwachsen lassen, die die Welt, Europa, Deutschland in zwei Teile zerrissen haben. Das Ausgreifen der LISA in Europa und Asien ist ebenso Folge der beiden deutschen Hegemonialkriege wie das Ausgreifen Rußlands, ja Deutschland ist geradezu im ersten Weltkriege Geburtshelfer des Bolschewismus gewesen, bevor es im zweiten sein Schrittmacher wurde.

Auf einer alten Sonnenuhr heißt es von den Stunden: vulnerant omnes — ultima necat. Das könnte auch von den europäischen Hegemonialmächten gelten — die letzte, die deutsche, hat das europäische System getötet.

Hat Deutschland seine Rolle als weltgeschichtlicher Katalysator verstanden? Es wird sich zeigen. Denn heute kommt die abgestürzte Nation nach unwahrscheinlichem Aufstiege zum drittenmal in die Lage, ihren Weg zu wählen: Die Sibylle bietet ihm das dritte und letzte Buch zum Kaufe an. Der Preis freilich für späte Erkenntnis ist nur um so höher geworden!

Glück im Unglück war erforderlich, um uns in die heutige günstige Lage zu bringen. Denn Glück war es, daß der Großteil des Reiches 1945 dem Westen zufiel und damit seinen Bewohnern ohne ihr Zutun bürgerliche Freiheit in einem Maße, das ihnen seit 1933 fremd geworden. Lind Glück war es, daß die siegreichen Riesen unter sich zerfielen und die Vereinigten Staaten den Besiegten umwarben, um zunächst ihren Anteil an dem geborstenen Reiche zur Bastion auszubauen, bis sie etwa den Eisernen Vorhang zurückrollen und dabei das ganze Deutschland zusammenfügen möchten. Nur so konnte sich die Bundesrepublik derart festigen, daß sie, des amerikanischen Spaliers nicht mehr bedürfend, nach eigener Wahl die Richtung ihres weiteren Wachstumes zu bestimmen vermag.

Sie erklärt nunmehr als zugleich höchstes wie dringendstes Ziel ihrer Politik die Wiedervereinigung, mit dem nachgeschalteten Zusatze „in Freiheit“. Was sie fortan auch unternimmt — sie hat es zu rechtfertigen als Mittel zu jenem Zwecke. Damit ist der so natürliche und gewohnte Primat des Nationalen programmatisch aufs neue festgelegt — in einer Formulierung, die den Blick zurücklenkt bis 1848 und zur Pauls-kirche, d. h. in eine Zeit, in der weniger die bürgerliche Freiheit Problem war als die Einheit. Ist dem aber noch heute so? Ist uns nicht von primärer Bedeutung, ob ein Volk frei oder gefes-selt ist, erst von sekundärer, ob es — so oder so -auch die Einheit genießt? In der Tat, in der Formulierung des Programmes liegt der Dolus eventualis, es könne die Einheit ein Vorfahrtsrecht beanspruchen vor der Freiheit, es könnten die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurücktreten vor denen des 19.

Aber solange das Wort Freiheit — bürgerliche, nicht staatliche —, wenn auch im Beiwagen untergebracht, mitfährt, ist dem Dolus eine Schranke gesetzt, eine mehr oder weniger hohe, je nachdem bei der Wahl der Mittel zur Erreichung des Zieles der Akzent mehr auf dem Begriffe der Einheit oder mehr auf dem der Freiheit gesetzt wird. Insofern entsteht eine echte Wegegabel: die eine Straße führt gradlinig auf das nationale Ziel zu, die andere mit dem Umwege über die abendländische Solidarität, und zwar als eine Dauererscheinung.

Betrachten wir die zweite Möglichkeit zuerst. Sie ist gänzlich fremd der Geschichte des abendländischen Nationalstaates, am fremdesten der Geschichte des deutschen hegemonialen, weil das jeweilige Hegemonialvolk definitionsgemäß am weitesten entfernt ist von solidarischer Anwandlung. Aber echte Überzeugungskraft erhält der Gedanke der Solidarität gerade durch das furchtbare Scheitern unserer Hegemonie, sodann durch die Erfahrungen, die uns in den ersten Jahren nach der letzten Katastrophe eingehämmert wurden: nur solidarischen Anstrengungen gelang die Überwindung des deutschen Totalitarismus, wie die Eindämmung des russischen. Beide Male haben die Angelsachsen, entscheidend die Amerikaner, die Führung gehabt, sind beide Male in ihrem Bereiche das Rückgrat der Freiheit gewe, sen: kein Fußbreit Boden auf unserem Festlande, dessen Freiheit nicht ihnen verdankt würde. Das heißt also: auch unsere Wiedervereinigung in Freiheit, die Bewahrung abendländischen Menschentums in Deutschland setzt feste Bindung an die Angelsachsen voraus, und jede Lockerung gefährdet sie, wenn nicht sofort, dann auf die Länge.

Nun ist freilich diese Vision der abendländischen Solidarität nicht gleichzeitig entstanden mit der Formulierung jenes Programmes der Wiedervereinigung. Sie wurde vielmehr schon zuvor als elementare Notwendigkeit empfunden, als Westdeutschland noch um seine Existenz bangte, ohne daß sich die Forderung nach Wiedervereinigung deutlich hervorwagte, als wir vielmehr nur an der Seite der anderen freien Europäer in einem integrierten Europa eine Zukunft vor uns sahen und nur an der Seite des gemeinsamen amerikanischen Protektors, der für alle freien Festländer wirtschaftliche wie militärische Rettung bedeutete und in potenziertem Maße für die deutsche Exklave Westberlins.

Wenn also Wiedervereinigung, so nur im Zuge erhoffter Zurückdrängung des Bolschewismus auf breiter Front, als Teilergebnis allgemeiner und solidarischer Befreiungsaktion. Damals hörte man oft Bekenntnisse zur klaren Option zwischen Ost und West, selbstredend für den Westen, einer Option, der aus dem Wege zu gehen bis dahin geradezu das Charakteristikum unserer Politik in diesem Jahrhundert gewesen war.

Lind gewiß nicht nur aus machtpolitischer Berechnung erfolgten sie: die Welle religiöser Einkehr war noch nicht im Verebben, noch nicht konfessionell gebrochen.

Diese ältere abendländische Vision bildet auch heute noch den Hintergrund bei der Forderung der Einheit unter Akzentuierung der Freiheit. Sie führt zu einer Hierarchie der beiden Werte und erteilt den Vorrang dem der Freiheit. Ist diese doch das Allgemeine und nur als gemeinsamer Besitz der freien Völker solidarisch zu erhalten. Die Einheit aber ist das Besondere, wertlos ohne die Freiheit und ihr also in doppeltem Sinne unterzuordnen.

Anders freilich empfinden diejenigen, die den Akzent auf das nationale Sonderziel der Einheit setzen, wozu ja eigentlich die Formulierung des Programmes auffordert, und die es um so entschlossener tun, je günstiger sich unsere wirtschaftliche und politische Sicherheit entfaltet — dank der wirtschaftlichen und militärischen Anstrengungen von Amerika und ebenso dank der sanfteren Taktik des Kremls schon seit dem letzten Lebensjahre Stalins. Sie fühlen sich getragen von den Überlieferungen unserer Geschichte, die zu ihrer Größe emporgewachsen ist in einer Mittelstellung zwischen Ost und West, durch das Prinzip der freien Hand. Warum nicht zu dieser Überlieferung zurückkehren? Folgerungen aus der jüngsten Katastrophe freilich sind unvermeidlich auch bei dieser Einstellung. Aber sie beschränken sich darauf, unter keinen Umständen aufs neue militärische Mittel einzusetzen, auch unter keinen LImständen hegemonialer Hybris zu verfallen, sondern eben nur nach dem Maße der eigenen Kräfte diplomatisch aufs neue eine bewegliche Rolle zwischen Ost und West zu kreieren. Sie machen es den LISA gerade zumVorwurf, daß sie uns wieder auf den Weg eines neuen Militarismus zu drängen suchen und dem Risiko eines neuen Weltkrieges aussetzen, dem zu entgehen ein Grundgebot nüchterner deutscher Politik sein müßte. Denn was hilft der Verzicht auf eigene Hegemonie, wenn man sich für eine fremde zu schlagen genötigt wird, und als Landsknecht auf verlorenem Posten?

Dieser Einstellung erscheint die friedliche Gewinnung der Einheit durch eine streng nationale Politik durchaus möglich: bei wendiger Ausnutzung der klaffenden Gegensätze zwischen den Giganten. Schon Hitler hatte bis in seine letzten Stunden auf diese Gegensätze spekuliert. Was damals Fantasterei war, soll jetzt Realpolitik werden.

Die Rechnung wirkt suggestiv auf Nationalisten wie Pazifisten, auf industrielle Kapitalisten wie auf Sozialisten jeder Schattierung bis zum Kommunismus hinüber. Sie enthüllt den Nationalismus in einem ganz neuartigen Spät-stadium: seine kämpferischen Jünglings-und Mannesjahre sind dahin — aber seine überraschende Verbindung gerade mit der Gewaltlosigkeit verleiht ihm eine neue Anziehungskraft! Er sammelt um seine Fahne, die so viel blutige Opfer eingefordert hatte, nunmehr gerade auch diejenigen, die sich gegen ihre Wiederholung sträubten, geleitet von Idee wie Interesse. Nationale Wiederherstellung ohne militärische Anstrengung: diese Sammelparole entfaltet gewiß auch außerhalb Deutschlands werbende Kraft, und überall auf dem Festlande lockt das Zauber-mittel, das Wohlwollen der östlichen Vormacht zu gewinnen durch die Lockerung der Bindung an die westliche. Aber in dem abgestürzten und zerteilten Deutschland findet jene Parole ihr mächtigstes Echo. Ist doch die Dynamik der deutschen Frage seit 1900 überlegen der jeder anderen nationalen Problematik in Europa.

Inwiefern vermag sich aber auch dem selbständig nachdenkenden Deutschen, der zugleich vom Kommunismus nichts wissen will, die An-wendung des Zaubermittels zu empfehlen? Es bedarf dazu einer komplizierten Rechnung, deren einzelne Posten zusammenaddiert die gewünschte Gesamtsumme ergäben. Das Wunschbild strahlt eine eigenartige Interpretation aller politischen Verhältnisse auf dem Globus aus, um sich dann rückwirkend von solcher Interpretation bestätigt zu finden. Der Weg führt nicht von der Untersuchung der Weltverhältnisse zu der der deutschen, sondern von diesen zu jenen und in einer Kreislinie wieder zurück.

Dabei leben Hoffnungen auf dritte Kräfte in der Welt wieder auf, wie sie schon zu Beginn des Jahrhunderts unser Einschwenken auf den Weg der Weltpolitik ermutigt hatten. Schon damals suchten wir nach Bundesgenossen zwischen Rußland und Angelsachsen, vor allem bei den Farbigen, um dem Spiel der freien Hand gewachsen zu sein. Wird sich diesmal solche Spekulation auf dritte Kräfte als mehr erweisen denn als typische Projektion europäischer Aufspaltungserfahrungen hinaus in die Welt? Bewirken wirklich die Ressentiments der Farbigen gegen die weißen Herrenvölker eigenkräftige politische Bildungen zwischen den großen Blöcken oder nicht vielmehr wesentlich die Desorganisation des freien Blockes zugunsten des kommunistischen? Bewirkt zumal wirklich der Aufstieg Chinas eine Desorganisation des kommunistischen Blockes durch die vermuteten chinesisch-russischen Friktionen oder nicht vielmehr wesentlich seine Stärkung, wie sie vom Kreml seit Jahrzehnten vorausberechnet worden ist, mag auch vom chinesischen Satellitentum die Rede nicht sein?

„Der russische Bär frißt euch nicht"

Inhalt dieser Beilage

Aber auch bei der Interpretation der beiden Giganten läßt sich die unbewußte Regie unserer Wünsche verspüren.

Rußland, so heißt es heute, fürchtet vor allem für seine eigene Sicherheit. Sein Interesse an Westdeutschland und Westeuropa beschränke sich darauf, den Ausbau bedrohlicher amerikanischer Brückenköpfe zu verhindern. Die russischen militärischen und politischen Anstrengungen seien nur das Echo der entsprechenden der Amerikaner. Die expansiven, altrussischen Tendenzen, die marxistische Weltmission? Sie seien nicht mehr aktuell: eine innere Wandlung habe in Rußland stattgefunden. Lind demgemäß müßten auch wir unsere Vorstellung, die wir früher von der Rollenverteilung zwischen den Giganten hatten, wandeln. Früher, noch vor fünf Jahren, verspotteten wir wohl Roosevelts Vertrauensseligkeit Rußland gegenüber, die Deutschland so teuer zu stehen kam, verurteilten die leichtsinnige Abrüstung Amerikas und begrüßten seine Wiederaufrüstung in täglicher Sorge vor der Auswirkung des Schdanow-Kurses. Aber heute lassen wir uns beruhigen: „Der russische Bär wird euch nicht fressen; er weiß, daß er euch nicht verdauen kann.“ Heute fühlen wir uns viel eher von der Vorstellung eines vernichtenden Präventivkrieges belastet, den der amerikanische Militarismus im Vertrauen auf seine Superwaffen entfesseln könnte.

Also ein totaler Umschwung in der Einschätzung der beiden Giganten! Er erstaunt weniger, wenn man das Gewicht der nationalen Wünsche ermißt, die sich in der Atmosphäre scheinbar zurückgekehrter Sekurität entfalten und das Pendel zurückschwingen lassen — wenn man sich vergegenwärtigt, wie zusammen mit dem Nationalismus, diesem Kinde des europäischen Staatensystems, auch die ganze Mentalität dieses verblichenen Systems der Bindungslosigkeit wieder auflebt und mit ihr die Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Rußland, einem seiner Garanten — endlich, wenn man erwägt, daß die jüngste hegemoniale Geschichte Deutschlands am allerwenigsten eine Vorschule zur Solidarität darstellen kann.

Von diesem totalen Umschwung zeugt, daß wohl der amerikanischen Fehler in Jalta klagend gedacht wird, aber nicht mit Dank der bürgerlichen Freiheit, die doch ebenfalls die Angelsachsen gebracht haben -daß die Wiedervereinigung gefordert wird weniger von Rußland als vom Westen, dessen Pflicht es sei, uns zur Einheit zu verhelfen (warum ging sie verloren?) und zu unserem Recht auf Heimat (wie stand es in Europa vor 1945 mit dem entsprechenden Recht ande-rer?) — daß der Westen zwar unsere Einheit von Rußland erkaufen müsse, nicht etwa, um uns als Verbündeten sich zu erhalten, sondern um uns zu verlieren, damit wir unsere bindungslose Unabhängigkeit zurückgewönnen, das Arkanum unserer klassischen Politik und zugleich Verheißung für unsere Wirtschaft. Denn worin müsse der Preis bestehen, den der Westen zu erlegen habe? In der Minderung seiner eigenen Sicherheit zur Beruhigung jenes russischen Bedürfnisses nach Sicherheit, im tunlichen Anschlusse an die vom Kreml formulierten Wünsche.

Daß dabei auch die deutsche Sicherheit Gefahr liefe, wird nicht allzusehr besorgt: „Der russische Bär frißt euch nicht.“ Daß dabei das Gleichgewicht auf der Welt, das für uns selbst lebenswichtig ist, verhängnisvoll gestört werden könnte, wird im Vertrauen auf die dritten Kräfte nicht allzu ernst genommen, oder gar im Vertrauen auf die UNO, die doch gar keine Willens-einheit bildet, sondern die Weltgegensätze widerspiegelt, die sie überwinden soll. Auch daß die Angelsachsen längst von dem Gipfel abgesunken sind, den sie 1945 innehatten, beunruhigt nicht oder wird nur bemerkt, um die Gefahr eines amerikanischen Präventivkrieges zu unterstreichen, kaum aber in den tieferen Zusammenhängen erkannt und etwa bloß mit Jalta erklärt. Sind wir doch allzusehr mit unseren eigenen Wünschen beschäftigt, um die drohende Gewichtsverlagerung zwischen den insularen und den kontinentalen Kräften zugunsten der letzteren ins Auge zu fassen: nämlich die Schrumpfung der insularen Macht durch die Erhebung der Farbigen, durch die Schwierigkeit, zuverlässige Verbündete zu gewinnen, wie es vor 1945 Jahrhunderte lang glückte, durch die Bummerangwirkung ihrer überlegenen Technik auf ihre insulare Sicherheit und auf ihren Kredit als Beschützer der Humanität usw. Während wir im stillen mit dem amerikanischen Interesse rechnen, unsere Freiheit zu beschützen, ohne daß wir dabei mithülfen, erwägen wir kaum den Widerspruch einer parasitärenTaktik, die durch egoistische Absonderung diejenige Macht schwächt, auf deren Stärke sie sich gleichzeitig verläßt —, erwägen nicht, daß listiges Schaukeln zur Dummheit wird, wenn dadurch das tiefliegende Boot zu kentern droht, in dem wir als freies Volk mit allen anderen freien Völkern gemeinsam sitzen.

Und doch genügte zur Warnung die offen ausgesprochene Spekulation der russischen Staatsmänner auf die Sprengwirkung, die ein unter ihren Auspizien wiedervereintes Deutschland auf die Organisation des Westens ausüben werde. Sie erwarten von der Wiedervereinigung nicht Beruhigung, sondern Verwirrung. Sie gilt ihnen als Trumpfkarte des kommunistischen Spieles in Europa wie in Außereuropa die Bewegung der Farbigen, wobei die Verwendung beider Karten bislang aufs genaueste aufeinander abgestimmt werden konnte trotz der angeblichen Friktionen zwischen Moskau und Peking. Hier wie dort fühlt sich der Kommunismus stark ge-nug, zur Erreichung internationaler Ziele die Nationalismen in seinen Dienst zu nehmen.

Zusammenfassend: Das Risiko beider Wege, die zur Wahl stehen, ist ein ungeheures, wenn auch ein verschiedenes. Die Straße, die gradlinig dem nationalen Ziele zustrebt, kann dieses nur erreichen unter Gefährdung der Freiheit, mag auch ein naher Triumph zur Lockspeise dienen. Freude war in Trojas Hallen, als seine Bürger das unheilschwangere hölzerne Pferd durch die Bresche hereinzogen, die sie freiwillig in den sichernden Mauerring gebrochen hatten. Die andere Straße aber, die dasselbe Ziel auf dem Umwege über dauernde westliche Solidarität zu erreichen strebt, führt zwar zur Sicherung der westdeutschen Freiheit, aber niemand vermag ehrlicherweise zu prophezeien, wann sie das Ziel der Einheit erreiche.

Bittere Erkenntnis

Werin liegt die größere Gefahr? Die Antwort gibt jene Rangordnung der Begriffe Freiheit und Einheit, die wir bereits oben andeuteten. Ist die Einheit wertlos ohne Freiheit, diese aber zu bewahren nur durch solidarische Anstrengung, dann hieße es den zweiten Schritt vor dem ersten tun, wollten wir uns nicht für die Solidarität entscheiden. Der Schritt zur Einheit bliebe uns immer noch möglich und damit die Befreiung unserer Landsleute in der Zone und darüber hinaus die Rückführung der Flüchtlinge. Beim ungeduldigen Vorwärtseilen auf der gradlinigen Straße aber droht die Freiheit zu Schaden zu kommen, wie 1933, nur nachhaltiger. Denn hülfen wir in nationaler Egozentrik zum drittenmal dem Kommunismus indirekt voran, so gäbe es wohl keine Freiheitsmächte mehr, die uns vor den Folgen unseres Tuns bewahrten, wie sie es zum Teil nach der letzten Katastrophe noch vermochten. Die Türe wäre endgültig ins Schloß gefallen.

Bittere Erkenntnis! Aber hieße es nicht an Wunder glauben, wollten wir damit rechnen, die Konsequenzen des furchtbarsten Weltkrieges — und zwar des unseren! —, der über 50 Millionen Menschen das Leben, der vielfachen Zahl die Freiheit gekostet und die Welt verwandelt hat, durch diplomatische Geschicklichkeit in Kürze von unseren Schultern zu schütteln?

Ungeduld und Mangel an Augenmaß, Kennzeichen unserer verspäteten Nation, sie haben zweimal die Wahl von Irrwegen verschuldet. Das dritte Mal ist uns bei Todesstrafe aufgegeben, zuerst kühl die Welt zu betrachten, um das rechte Augenmaß für die deutschen Dinge zu gewinnen, und sodann geduldig einen Schritt nach dem anderen auf dem Wege voran zu tun, für den wir uns entscheiden werden — nicht aber in den von Stresemann an der damaligen Opposition gegeißelten Fehler zu verfallen: nämlich nach Kinder-art einen Wunschzettel für den Heiligen Abend zu schreiben, der aber auch alles enthält, was der Wünschende für ein Menschenalter zu bedürfen glaubt.

Die schmerzliche Selbstzügelung mag uns leichter fallen, wenn wir der Flucht aus unserer jüngsten Geschichte ein Ziel setzen, mit Erfahrungen unsere Neigungen bekämpfen, endlich wenn wir das halbverschüttete Erbe unseres abendländischen Wesens wieder zu Ehren bringen zur Veredelung nationaler Triebhaftigkeit.

Fussnoten

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