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Chinas wahre Macht | APuZ 11/1959 | bpb.de

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APuZ 11/1959 Der Westen und die Arabische Welt Chinas wahre Macht

Chinas wahre Macht

Zeit bewahren wird. Vorausgesetzt, es gelingt nicht, den Westen durch Unterbrechung der arabischen Ölzufuhr für einige Jahre in die Knie zu zwingen, würde er sich dann in einer ausgezeichneten Position befinden, um mit den Arabern zu verhandeln und für beide Seiten befriedigende Bedingungen zu erzielen. Mit anderen Worten, Europas Bedarf an arabischem Öl, zur Zeit die wichtigste Ursache seiner Schwäche in der arabischen Welt, ließe sich in eine Position der Stärke umzuwandeln und letztlich wären normale Beziehungen zwischen dem Westen und den Arabern denkbar, die auf Geben und Nehmen und gegenseitigen Konzessionen beruhen.

Es ist nicht die Absicht des Autors, eine der beiden politischen Möglichkeiten zu empfehlen. Denn erstens ist die Mittelostpolitik des Westens, der sich naturgemäß mit einem weit über den Bereich der arabischen Länder hinausgreifenden Raum befassen muß, nur ein Teil, und dazu ein kleiner Teil seiner globalen Außenpolitik. Zweitens kann selbst innerhalb der engen Grenzen der regionalen Politik ein außenstehender Beobachter nicht vorgeben, überausreichende Informationen zu verfügen, um Empfehlungen zu unterbreiten. Dieser Artikel wird seinen Zweck aber dann vollkommen erreicht haben, wenn er eine Analyse der augenblicklich n Situation in den arabischen Staaten gegeben und diejenigen Fragen aufgeworfen hat, welche die Möglichkeiten des Westens in einem entscheidenden Augenblick seiner Beziehungen zur arabischen Welt bestimmen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages der Januarnummer der französischen Monatsschrift „Ralits“ entnommen.

Das Geheimnis, das die Absichten der absoluten Herren dieser gewaltigen Menschenmasse umgibt, lastet schwer auf der Welt. Was bedeuten die heftigen Drohungen, die während der Quemoy-Krise ausgestoßen wurden? Was will China, und über welche industriellen und militärischen Mittel verfügt es, um seine Ziele zu erreichen?

Sechs Monate nach Beginn der Feindseligkeiten fragen sich die westlichen Experten immer noch, welche tieferen Absichten Mao Tse-tung während des Konfliktes von Quemoy leiteten.

Nach einem äußerst heftigen Anfang — alle Welt erwartete einen Landungsversuch auf Quemoy und Matsu und vielleicht sogar auf Formosa, während die chinesische Propaganda jedem, der es hören wollte, verkündete, daß man endlich im Begriffe sei, dem „Papptiger“ das Maul zu stopfen — nahm der Konflikt eine weniger gefährliche Wendung; die Kanonen schießen nur noch ab und zu, und man fängt an zu verhandeln. Dennoch haben die Chinesen kein konkretes Resultat erzielt: sie haben nicht auf Quemoy landen können, und der „Papptiger“ hat standgehalten.

Worauf zielten die Geschütze bei Quemoy?

Kann man von einem westlichen Sieg sprechen? Niemand wagt das zu behaupten; denn man fragt sich immer mehr, ob ‘nicht dieser offensichtliche äußere Mißerfolg einen inneren Sieg des Mao Tse-tung-Regimes verbirgt. Man fragt sich, ob das Ziel der Kanonen von Fou-Kien wirklich Quemoy war oder ob sie nicht auf indirekte Weise die chinesischen Massen anvisierten, um sie aufnahmebereiter für eine neue Revolution zu machen.

Wie soll man anders den Widerspruch zwischen dem äußerst vorsichtigen Verhalten von Mao Tse-tung und der unerhört heftigen chinesischen Propaganda erklären? Mao Tse-tung vermied sorgfältig, die Grenzen zu überschreiten, die der internationalen Politik durch die Existenz der Atomwaffen gezogen sind. Die Propaganda dagegen mobilisierte die chinesischen Massen durch eine großangelegte anti-amerikanische Hetze und setzte 650 Millionen Chinesen in Kriegsbereitschaft, einem angeblich drohenden Angriff zu begegnen.

In Wirklichkeit benutzt das Mao Tse-tung-Regime die durch den aufgestachelten Nationalismus entfesselten Kräfte und die Angst vor einem amerikanischen Angriff zur Durchsetzung einer tiefgreifenden Reform, deren Umfang sich erst allmählich in den Berichten, die zum Westen dringen, abzuzeichnen beginnt.

China schüttelt mit einem Male das Joch, das ihm die von russischen Methoden beeinflußten Planungsspezialisten auferlegt hatten, ab und stürzte sich vor einem Jahr in gewaltsame Anstrengungen, um seine wirtschaftliche Entwicklung noch mehr zu beschleunigen. Mao Tse-tung verlangt von den Chinesen, die Plan-Ziele des zweiten Vierjahresplanes in einem einzigen Jahr zu erreichen.

Lim dieses schwindelerregende wirtschaftliche Wachstum zu ermöglichen, das gemäß der chinesischen Propaganda „alles je in der Geschichte aller Länder Dagewesene“ übertreffen soll (mit Einschluß der UdSSR, was die chinesische Propaganda allerdings nicht ausdrücklich sagt; unterwirft Mao Tse-tung, der bäuerliche Revolutionär, die Massen der chinesischen Landbevölkerung einer neuen Revolution, die radikaler ist als alle vorhergehenden: die Errichtung der „Volkskommunen“.

Man versteht die augenblicklichen Vorgänge in China nicht, wenn man sich nicht vor Augen hält, daß Mao Tse-tung in erster Linie ein Bauernführer ist. Im Gegensatz zu den anderen Würdenträgern des Regimes — Tschu-Teh ist ein ehemaliger Feudalherr und Kriegsführer, Liu Schao-Chi ehemaliger Intellektueller, heute Theologe des Regimes, oder sogar Tschu En-Lai, ein ehemaliger sowjetisch ausgerichteter Internationalist, jetzt dem Maoismus verbunden — wurde Mao Tse-tung als Bauer geboren. Er kämpfte gegen die ursprüngliche Konzeption der kommunistischen Partei Chinas, die sich auf die gewaltige Erhebung der proletarischen Massen der Großstädte Schanghai oder Kanton stützte, und stritt für seine eigene Auffassung eines bäuerlichen Guerilla-Krieges. Von 1927 an versicherte er: „Die Revolution wird mir siegen, wenn sie eine diinesisdte ist, und das wahre China ist ein China der Bauern.“

Diese Linie, an der Mao in allen Wechselfällen der Revolution festgehalten hat, besteht heute noch unversehrt, und wahrscheinlich untersch. idet sich China hierdurch am meisten von der Sowjetunion. Deshalb ist es nur natürli 1, daß Mao, der ein ganz außergewöhnliches Maß an Anstrengung von China verlangt, sich in erster Linie an die bäuerlichen Massen wendet und nicht so sehr an die der Städte, deren Entwicklung immer hinter der des Landes zurück war.

Die Revolution der Volkskommunen hat vor einem Jahr durch die Erprobung einer Volks-kommune genannt „Weihsing“ (Sputnik), in Ho-Nan begonnen. Sie wurde durch den Zusammenschluß von 27 Genossenschaften, die genau dem Muster der sowjetischen Kolchosen nachgebildet waren, geschaffen und vereinigte mehr als 43 OOO Bauern in einem einzigen Wirtschafts-und Verwaltungsverband. Beim Eintritt in die Kommune bringt der Bauer sein Haus und sein ganzes Eigentum an Land, Ackergerät und Großvieh, mit Ausnahme einiger Haustiere und Hühner, in diesen Gemeinschaftsverband ein. Der Kreis, der 1949 begann, -schließt sich jetzt. Damals führte die Revolution eine Agrarreform durch und verteilte das Land an die armen Bauern. 1956 wurden sie aufgefordert, Genossenschaften nach sowjetischem Muster zu bilden. Mao konnte sich damals der Erfolge rühmen: in einem einzigen Jahr wurden alle Ländereien wieder in 750 000 Genossenschaften zusammengefaßt, ein erstaunliches Resultat, wenn man an die jahrzehntelange Entwicklung und zahllosen Schwierigkeiten der sowjetischen Genossenschaften, der Kolchosen, denkt. Und zwei Jahre später stößt Mao noch einmal das System völlig um, indem er die Bildung von 100 000 Volkskommunen aus den 750 000 Genossenschaften fordert und den Rest des Privateigentums, das im System der Genossenschaften noch existierte, vollkommen unterdrückt.

Militärische Organisierung der Handarbeit

Aber das System der Volkskommunen hat noch sehr viele andere erstaunliche Aspekte. Es umfaßt in der Tat eine Organisierung der Handarbeit unter militärischen Formen, die Abschaffung des Familienlebens und die Verfolgung industrieller wie landwirtschaftlicher Ziele.

Wenn der Bauer in die Kommune eintritt, ist er nicht nur mehr Bauer, sondern ebensosehr auch Soldat. Alle erwachsenen Mitglieder sind in Milizen zusammengefaßt und erhalten eine intensive militärische Ausbildung. Sie bereiten sich darauf vor, „ihr nationales Territorium zu verteidigen oder jede andere Aufgabe, die das Land von ihnen verlangen könnte, zu erfüllen'. Es ist alltäglich, eine Gruppe im Gleichschritt vom Dorf bis zum Arbeitsplatz marschieren zu sehen, die dann nach einer Waffenübung die Gewehre zusammenstellt, um den Spaten in die Hand zu nehmen und die landwirtschaftlichen Arbeiten durchzuführen.

Es handelt sich in der Tat darum, alle Arbeiter in eine militärische Organisation einzuschmelzen. Eingeteilt in Arbeitsbrigaden nach militärischem Vorbild organisiert, sollen die Bauern den Kollektivgehorsam in die Tat umsetzen. „Das Volk muß in einer militärischen Weise organisiert werden“, schreibt die „Rote Fahne“ und fährt fort: „Es muß seine Pflicht tun, wie man seine Pflicht im Kampfe tut, und es muß ein kollektives Leben leben.“ „Ein kollektives Leben leben“ ist in den Volkskommunen kein frommer Wunsch, sondern eine Realität. In dem Rahmen einer jeden Brigade gibt es eine Gemeinschaftskantine, eine Gruppe von Frauen, die die Kleidung instand hält, eine Kinderkrippe, die alle Kinder verwahrt und aufzient, und „Häuser des Glücks“, in denen die nicht mehr arbeitsfähigen Alten zusammengefaßt sind. Wenn man die öffentlichen Krankenhäuser und Friedhöfe, die auf der Ebene der Volkskommunen geschaffen wurden, betrachtet, so zeigt sich, daß der Chinese von der Wiege bis zur Bahre in einem Kollektivrahmen betreut wird. Um diese Integration wirksam durchzuführen, werden die Bauern bei der Schaffung einer Volkskommune aufgefordert, ihr eigenes Haus abzubrechen und die Materialien zum Aufbau der wichtigsten Gemeinschaftshäuser mitzubringen.

In diesem System sind Männer und Frauen von allen Familienbindungen losgelöst, um zur vollständigen Verfügung der Partei und des Staates zu stehen. Gemeinschaftsküchen bereiten den Reis, der in Gemeinschaftskantinen verzehrt wird, und befreien so den Haushalt von der Sorge für die Mahlzeiten. Die Kinderkrippen, die sich der Kinder annehmen, machen die Familienmütter frei für den Arbeitseinsatz. Audi das Waschen und Nähen wird in Wäschereien und Nähstuben der Gemeinschaft getätigt. Ebenso besorgt die Kommune die Einrichtung von öffentlichen Bädern, Friseurstuben usw. Die Männer und Frauen der Produktionsbrigaden stehen also völlig dem Arbeitseinsatz zur Verfügung.

Ein wesentlicher Punkt ist schließlich, daß die Aufgaben der neuen Kommune nicht allein im landwirtschaftlichen Bereich liegen, sondern ebensosehr auch im industriellen. Sie soll offensichtlich an den großen Bauprojekten des Regimes mitarbeiten, z. B. an dem Bau von Talsperren, Dämmen und Bewässerungsanlagen; sie hat aber auch die Aufgabe, auf lokaler Ebene kleine Industrieeinheiten zu schaffen, z. B. kleine Hochöfen, Schmieden, mechanische Werkstätten, Betriebe, die Dünger erzeugen oder Kohlengruben und Steinbrüche ausbeuten, ferner solche Betriebe, die landwirtschaftliche oder industrielle Werkzeuge herstellen. Es handelt sich darum, die Industrialisierung in den ländlichen Bezirken selbst durchzuführen. Von nun an entstehen kleine Hochöfen überall im Land und befriedigen die lokalen Bedürfnisse. Mit ihrer Hilfe rechnete Mao, in dem einzigen Jahr 1958 mehr als 10 Millionen Tonnen Stahl zu erzeugen, d. i. das Doppelte der Produktion von 1957 ) *.

Diese außergewöhnliche Revolution wird die Existenz von 650 Millionen Chinesen von Grund auf umstoßen. Man kann sich fragen, warum Mao Tse-tung es für nötig gehalten hat, eine solche radikale Umwälzung ins Werk zu setzen. Für die einen ist die Revolution der Volkskommunen ein Beweis der Schwäche: man mußte die bäuerliche Bevölkerung wieder fest in die Hand bekommen; denn diese, die erste Stütze des Regimes, hätte, so glaubt man, die Zusammenfassung der Ländereien in Kolchosen schlecht ausgenommen und sei durch das „Blühen der 100 Blumen“ verwirrt worden, diesem Versuch der Liberalisierung und Lockerung der strikten kommunistischen Disziplin. Für die anderen dagegen ist die Einrichtung der Volkskommune ein Beweis für die Stärke des Regimes. Sie sei ein Schritt voran zum Kommunismus. Man argumentiert, daß man sich so dem Modell der kommunistischen Gesellschaft viel mehr annähere, als es die Sowzetunion je getan oder auch nur gewagt habe. So hat z. B.der Großteil der Kommunen die Bezahlung des Hauptnahrungsmittels, Reis, in Geld aufgehoben und ein Verteilungssystem organisiert, das sich nicht nach den finanziellen Möglichkeiten, sondern nach den Bedürfnissen des Arbeiters richtet, die nach Veranlagung und Tätigkeit variieren.

Aber die wirkliche Erklärung liegt woanders.

Sie hängt eng mit der raschen Ausdehnung der chinesischen Bestrebungen auf dem Gebiete der Produktion zusammen. So läßt sich am besten die Schaffung einer para-militärischen Organisation für die Erfüllung von Arbeitsaufgaben erklären, deren Ziel es ist, die Produktionskapazität zu vergrößern, indem sie erlaubt, geschlossene Arbeitsbrigaden je nach Bedarf in der Landwirtschaft oder Industrie einzusetzen, so wie cs den Notwendigkeiten der zentralen Produktionsplanung entspricht. Die Konzentration in Volkskommunen gibt den Produktionseinheiten die breiteste Grundlage, die Landarbeit produktiver zu gestalten und Industrien auf lokaler Ebene zu errichten. Während sich für ein Dorf der Bau eines Hochofens nicht lohnt, ist er im Rahmen einer Volkskommune von 50 000 Mitgliedern völlig am Platze. Schließlich schafft sich China, indem es die Frauen durch die Kollektivierung des ganzen Lebens von der Hausarbeit befreit, eine Arbeitskraft-Reserve, die es nötiger als je braucht. Das System der Volks-kommunen ist eingerichtet worden, um von heute auf morgen schneller und immer schneller produzieren zu können.

Warum hielt es Mao Tse-tung für richtig, abrupt mit den schon ehrgeizigen Programmen des Fünfjahresplanes zu brechen, die von den chinesischen Planungsspezialisten nach sowjetischem Muster aufgestellt worden waren? Diese Entscheidung wurde nicht leichthin gefällt, denn Mao hatte vielfache Warnungen von einer Gruppe der kommunistischen Führer selbst erhalten. Er ist sich der Risiken, die diese Entscheidung nach sich zieht, voll bewußt: in diesem Stadium den Kessel der chinesischen Wirtschaft zu überheizen, kann indirekt politische Unruhen in einer Bevölkerung hervorrufen, die in einer Anstrengung ohnegleichen begriffen ist.

Um die Entscheidung Mao Tse-tungs zu verstehen, muß man auf die „Hundert Blumen zurückgehen. Für den Westen stellen die „Hundert Blumen“ einen Versuch dar, die Spannung, mit der das Regime die Geister belastete, zu lockern. Das verhält sich in der Tat so. Aber die „Hundert Blumen" sind für die chinesischen Kommunisten auch eine Periode der Verwirrung und des Zweifels gewesen. Der erste Fünfjahresplan war soeben zu Ende gegangen. Vorbereitet seit der Befreiung im Jahre 1949, wurde er 1953 für den Zeitraum von 195 3 bis 19 57 begonnen. Aufgestellt nach den Erfahrungen der sowjetischen Planung — russische Experten haben übrigens in weitem Maße an seiner Ausarbeitung mitgewirkt —, sah der erste Fünfjahresplan die Schaffung eines industriellen Oberbaus eines neuen China über der ländlichen Struktur des traditionellen China vor, gestützt auf das Vorhandensein vereinzelter Industriezentren. So sollte Anschan in der Mandschurei 19 5 7 78 Prozent des chinesischen Stahls und fast alle Gußerzeugnisse, die für den Bau von Lokomotiven, Fahrzeugen und Traktoren erforderlich sind, produzieren. Die neuen Etappen der zukünftigen industriellen Expansion waren vorbereitet: Kombinate sollten in Hankau und Paotau aufgebaut werden. Die Landwirtschaft aber sollte sich in den Formen der Genossenschaften nach dem Muster der sowjetischen Kolchosen entwickeln.

Ein modernes Land erst in vierzig Jahren?

Der Erfolg der Planziele ist unleugbar, und die Herren Chinas hatten hinreichenden Grund mit den erreichten Fortschritten zufrieden zu sein. Und dennoch befiel sie von 19 56 an der Zweifel. Mao Tse-tung stellte in einer Rede fest: „Bei unserem Marschrhythwus brauchen wir noch 40 Jahre, um aus China ein modernes Land zu madren.“

Offensichtlich konnten diese Aussichten als äußerst günstig angesehen werden. 40 Jahre, das ist der Zeitraum, den die Russen gebraucht haben, um aus ihrem Land einen modernen Industriestaat zu machen. Warum sollten sich die Chinesen mit einem solchen Entwicklungsrhytmus nicht zufrieden geben, der, in Prozenten ausgedrückt, erheblich über dem der kapitalistischen Volkswirtschaften liegt?

Wer so denkt, vergißt, daß das Problem der Entwicklung Chinas anders gelagert ist als das Rußlands, eine Feststellung, die Jawaharlal Nehru in allgemeiner Formulierung bei der Eröffnung der letzten Sitzung der Weltbank in Neu-Delhi traf, als er erklärte: „Der eigentliche Unterschied besteht heute weit mehr zwisdten den entwicklungsfähigen Ländern und den fort-gesd'irittenen als zwisdten den kommunistisdten und kapitalistischen.“

Chinas Problem sind die Menschen. Und Mao Tse-tung konnte schon den Gedanken als einen Alpdruck empfinden, daß 40 Jahre notwendig sein sollten, um aus China ein modernes Land zu machen. 40 Jahre, das bedeutet eine Bevölkerungszahl zwischen 1 und 1, 5 Milliarde Chinesen. Gibt es im augenblicklichen Entwicklungsrhythmus eine reelle Chance, dieser unglaublichen Masse Essen und Arbeit zu geben? Mao Tse-tung sah ein, daß es sie nicht gibt. Die Erklärungen von Liu Schao-Tschi auf dem achten kommunistischen Parteikongreß Chinas sind aufschlußreich: den Einwänden derer, die den „Sprung nach vorn“ kritisierten, weil er den Volksmassen eine zu große Anspannung zumute, hielt er entgegen: „Jeder muß wissen, daß ein furchtbarer Drud t entstehen würde, wenn 600 Millionen Chinesen für lange Zeit in Armut leben müßten.“

AIs man sich dieser Gefahr bewußt wurde, faßte man den Entschluß, die Art und Weise der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas von Grund auf zu ändern. Er fand seinen Ausdruck in einer plötzlichen Kampagne für den „Sprung nach vorn . Überholt, bevor man sie offiziell angekündigt hatte, ruhen heute die Ausarbeitungen über die Ziele des zweiten Fünfjahresplanes in den Akten der Planungsspezialisten. Mao Tsetung will alles, und zwar sofort.

Nach vierjähriger Anstrengung sollten 10 Millionen Tonnen Stahl erzeugt werden. Mao verlangte 10 Millionen für das Jahr 19 5 8 und 20 Millionen für das folgende. Nach dem Tlan sollten 19 58 150 Millionen Tonnen Kohlen gefördert werden, Mao verlangte 180 Millionen.

Parolen überfluten die chinesischen Massen: „England einholen und überholen!“ — „Größer, schneller, besser, wirtschaftlicher!“ — „Drei Jahre ununterbrochene Arbeit, um das Gesicht Chinas in den meisten Bereichen zu ändern!“ -Und schließlich der Gipfel der Wünsche: „ 20 Jahre zusammengedrängt in einem einzigen Tag!“

Von da an ist die Verwirrung unter den chinesischen Führern zu Ende; sie fühlen, daß die einzige Lösung die Flucht nach vorn ist, sie suchen ihr Heil in ihr auf Biegen oder Brechen.

Die These von der Beschleunigung gewinnt allmählich in den Führungskreisen des chinesischen Regimes an Boden. Am 5. Mai 195 8 wählte Liu Schao-Tschi, der Theoretiker der Partei, auf dem 8. Parteitag der kommunistischen Partei diese These zu seinem Thema: „Die Schnelligkeit des sozialistischen Aufbaus ist das wichtigste Problem seit dem Siege der Revolution. Die Festigung des sozialistischen Staates fordert die höchstmöglidte Beschleunigung des Aufbaus u Was die chinesischen Führer nicht erwähnen, ist die Tatsache, daß sie sich, um diese Verbesserungen zu erreichen, nicht mehr auf das sowjetische Beispiel stützen können.

Trotz des revolutionären Charakters, den wir den sowjetischen Methoden zuweisen, sind sie für die chinesische Wirtschaft und den Ehrgeiz ihrer Führer noch viel zu konventionell

In der Sicht Mao Tse-tungs hat die sowjetische Wirtschaft alle Aspekte einer westlichen.

Mao schafft eine eigene Methode

Die 200 Millionen Russen stehen auf derselben Stufe wie die 175 Millionen Amerikaner. Wenn sich das Problem des Einsatzes von Arbeitskräften zu Beginn der Industrialisierung stellt, muß man schnell zur Mechanisierung, dann zur Automatisierung übergehen, um mit weniger Arbeitskräften mehr zu erzeugen. Für China stellt sich das Problem umgekehrt; es muß 650 Millionen Chinesen Arbeit geben. Das ist eine ernsthafte Schwierigkeit, aber darin liegt auch eine beachtliche Stärke; es bevorzugt die Industrialisierung durch kleinere Einheiten, wobei es viel mehr Arbeitskräfte benötigt, als sie in automatisierten Betrieben gebraucht werden, die viel mehr Kapital, viel mehr Techniker, aber weniger Arbeiter erfordern.

Bodenschätze in ausgedehnten Lagen die sehr ergiebig sind und mit anderen Bodenschätzen zusammen vorkommen, erlauben den Aufbau großer Industriezentren, so z. B. Pittsburg in den Vereinigten Staaten, die Ruhr in Europa und Magnitogorsk in der UdSSR. China dagegen hat nur Vorkommen geringerer Ergiebigkeit. Mit Ausnahme der Mandschurei sind die Kohle-und Eisenerzvorkommen über das ganze Land verstreut. Kleinere Einheiten sind rentabler als große Kombinate. Die UdSSR konnte dank ihrer äußerst reichen Goldminen von 19 30 an beträchtliche Einfuhren von Grundstoffen und Investitionsgütern finanzieren. China dagegen hat nichts Entsprechendes und kann nur mit seinen Überschüssen aus der Agrarproduktion rechnen, um ein Einfuhrprogramm zu finanzieren. Die Landwirtschaft, wenig geachtet und in ihrer Bedeutung immer mehr zurückgedrängt, hat in den Vereinigten Staaten und in Europa die Kosten der Industrialisierung tragen müssen, ebenso auch in der UdSSR. Fortwährend mußte das Land Arbeitskräfte an die Industrie-städte abgeben. Für das sowjetische Regime, das sich auf das Industrieproletariat stützte, war dieser Vorgang ein Moment der Politik Mao, der Bauer, kann die Landwirtschaft nicht opfern, sie ist im Gegenteil seine wirksame Waffe. Audi weigert er sich, die Städte weiter wachsen zu lassen. Er hat ihnen als Maximum die Grenze von drei Millionen Einwohnern gesetzt; die Industrie, so hat er entschieden, soll direkt auf dem Lande aufgebaut werden. Das ist geradezu der Wesenskern des revolutionären Systems der Volkskommune.

Die Vereinigten Staaten, Europa und ebenso die UdSSR stehen nicht unter Zeitdruck. Obwohl es so aussieht, ist das Anwachsen der Bevölkerung nicht so bedrohlich, wie es in China der Fall ist.

Aus all diesen Gründen kann sich Mao Tsetung nicht auf die sowjetischen Methoden stützen. Er ist dabei, die Grundlagen einer eigenen chinesischen Methode zu erarbeiten, die, wenn sie Erfolg hat, gewaltige Auswirkungen auf alle süd-ostasiatischen Länder haben kann.

Während China in der Gefahr schwebt, von der Masse der Menschen erdrückt zu werden, bedient sich Mao ihrer, um aus ihr eine Waffe zu schmieden. Man glaubte, daß er Angst vor der Arbeitslosigkeit hätte, aber im Gegenteil, durch das System der Volkskommunen erzielt er noch ein Mehr an Arbeitskräften. Während in der Unsicherheit der Hundert Blumen-Per -ode eine Politik der Geburtenbeschränkung verfolgt und stark propagiert wurde, ist heute die Bevölkerungspolitik erheblich vielschichtiger ge-worden. Der Urheber der Maßnahmen für die Geburtenkontrolle ist lebhaft kritisiert wor ’ 1 und man weiß noch nicht, ob die von ihm an gepriesene Politik noch lange verfolgt wird. Hierzu erläutert gleichfalls der Bericht von Liu Schao-Tschi auf dem achten Parteikongreß der chinesischen Kommunisten die Einstellung der führenden Kreise; er weist die Schlüsse der Leute zurück, die „sich auf eine pessimistische Sid^t der Wachstumsmöglidtkeiten der Landwirtschaft und der Nationalökonomie stützen“ und deshalb eine Politik der Geburtenbeschränkung predigen, und er fügt hinzu: „Sie sehen nidtt, daß die Mensdren in erster Linie Produzierende sind und daß bei einer größeren Bevölkerung auch die Möglichkeit einer größeren Produktion gegeben ist.“

Die größte Arbeitskraft der Welt wirksam einsetzen

Indem Mao Tse-tung sich auf diese neue Konzeption stützt, entscheidet er, daß der Hebel der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas die Masse der Menschen ist; man müsse, so sagt er „die größte Arbeitskraft der Welt wirksam einsetzen“. neue Investitionstheorie entwikkelt sich: die alte Formel ür Investitionen, bis heute von den kapitalistischen wie von den sowjetischen Wirtschaftlern anerkannt, lautet: Kapital + Material + Menschen, wird abgelöst von der chinesischen Formel: Arbeit+Arbeit +Arbeit. Den Chinesen gelingt es auf diese Weise den Bedarf an Kapital und Material auf ein Minimum herabzusetzen und somit den darin liegenden Engpaß zu überwinden. Von daher sind nennenswerte Resultate erzielt worden: man benötigt eine Milliarde Yen, um ein Hüttenwerk mit einer Jahreskapazität von einer Million Tonnen zu bauen; jetzt veranschlagt man hierfür nur 400 Millionen Yen. Desgleichen kostet eine Fabrik für Stickstoffdünger, die jährlich 50 000 Tonnen erzeugt, heute 60 Millionen Yen, während sie früher 130 Millionen kostete.

Als die große Umleitung des Jang-Tse-kiang auf einer Länge von 1 500 km durchgeführt wurde, brauchte man kein Material und kein Kapital. Tausende von Arbeitsbrigaden, die ihre Schaufeln auf den Schultern trugen und ihre Verpflegung im Brotbeutel, wurden von den Genossenschaften und Kollektiven geschickt. Sogar die Russen, die doch für ihre Genügsamkeit bekannt sind, waren bei den großen Bauten in der Mandschurei mehr als einmal über die außerordentlichen Leistungen der Chinesen erstaunt: mit dem Material, das genau abgezählt für drei Hochöfen von der LIdSSR geliefert worden war, bauten die Chinesen vier Hochöfen. Diese Technik ist heute auf ganz China ausgedehnt worden.

Diese gewaltige Anstrengung darf uns aber nicht vergessen lassen, daß China auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiete gegenwärtig noch schwach ist.

Trotz gewisser aufsehenerregender Erfolge, wie die letzte Ernte, die die optimistischsten Erwartungen übertroffen hat, oder der Fortschritt in der Stahlerzeugung des Jahres 1958, ist die wirtschaftliche Situation Chinas noch schwierig. Die wirtschaftliche Entwicklung hat große Engpässe auf den meisten Gebieten zu überwinden: so erfuhr man erst kürzlich, daß zahlreiche kleine Hochöfen ihre Fabrikation haben einstellen müssen, weil Schrott und Eisenerz nicht in ausreichender Menge zur Verfügung standen. Den Großteil der chinesischen Produktion stellt immer noch die Landwirtschaft, die 8 5 Prozent der Bevölkerung beschäftigt, die 80 Prozent der Grundstoffe für die Leichtindustrie liefert und die 75 Prozent der Auslandsexporte erzeugt.

Auf dem Industriesektor kann die chinesische Kapazität mit der Polens oder der der Tschechoslowakei oder der Rußlands vom Jahre 1913 verglichen werden.

Auf dem militärischen Sektor ist China auch noch sehr schwach. Amerikanische Experten haben bei der Beschießung Quemoys die außerordentliche Zielungenauigkeit der kommunistischen Batterien festgestellt. Ohne im Besitz der Atomwaffe zu sein, ist die chinesische Armee ein großes Infanterie-Herr — 5 Millionen in der regulären Armee, 70 Millionen, wenn man die örtlichen Milizen, die kürzlich im Rahmen der Volkskommunen geschaffen wurden, rechnet — und würde im Falle eines Konfliktes der UdSSR als der tonangebenden Militärmacht nur durch seine Zahl oder seine geographische Lage dienen können. Was die Unverletzlichkeit Chinas im Falle eines Atomkonfliktes angeht, so handelt es sich hier um ein reines Propaganda-Argument ohne eine reale Grundlage.

Bei dem augenblicklichen Stand der Dinge darf also der Westen sich nicht hypnotisieren lassen durch eine unmittelbat bevorstehende chinesische Drohung. China hat noch nicht die wirtschaftlichen und militärischen Mittel, seinen Willen wirksam dem Westen entgegenzusetzen. Aber die wirkliche Gefahr liegt keimhaft in der Revolution der Volkskommunen und der außerordentlichen Schnelligkeit der wirtschaftlichen Entwicklung, die sie begleitet, verborgen. Sicherlich handelt es sich noch um ein kühnes Spiel, denn nichts berechtigt zu der Annahme, daß die Massen, die vollständig in Brigaden erfaßt sind, das Regime, das ihnen auferlegt wurde, ertragen werden. Aber wenn dieses Spiel Erfolg hat, wird die chinesische Führungsgruppe einen solchen Ruhm daraus ziehen, daß nichts eine tief-greifende Veränderung der Beziehungen Chinas zu den ausländischen Mächten, die UdSSR eingeschlossen, verhindern wird.

Fussnoten

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