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Freiheit und Gleichheit -Schlagworte oder Wirklichkeiten? | APuZ 51/1959 | bpb.de

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APuZ 51/1959 Hitlers Weg zur Verständigung mit Rußland im Jahre 1939 Freiheit und Gleichheit -Schlagworte oder Wirklichkeiten?

Freiheit und Gleichheit -Schlagworte oder Wirklichkeiten?

LUDWIG FREUND

In einem Zeitalter, in welchem solch grundsätzlich entgegengesetzte Systeme wie die der westlichen Demokratien und des kommunistischen Blocks gleichmäßig und mit rivalisierender Ausschließlichkeit den Anspruch erheben, die einzig „wahre“ Form der Demokratie zu repräsentieren, erwacht notwendig wieder die Frage des 18. Jahrhunderts nach dem „Wesen“ der Demokratie. Die Mitbestimmung des Volkes durch freie Wahlen, freie Meinungsäußerungen, die Trennung der Regierungsgewalten, gewisse Macht-und Beaufsichtigungsprivilegien der Legislative über die Exekutive zu dem Zwecke der Autoritätsbeschränkung eines möglicherweise selbstherrlichen obersten Exekutivbeamten, die Beugung aller Zweige der Regierung unter die unbedingt bindende Gewalt des Rechts und der Verfassung („Rechtsstaat“), die allgemeine Rechtssicherheit, die verhindert, daß Menschen oppositioneller Gesinnung verhaftet und ohne ordentliches Gerichtsverfahren und humane rechtliche Grundlage abgeurteilt werden können, stellen nach wie vor'einige der prominenten Grundsätze demokratischer Regierungen dar, die das 18. Jahrhundert, teilweise in bewußter Anlehnung an griechische Philosophen und altrömische Staatskunst entwickelte, und die den Anspruch irgendeines diktatorischen oder despotischen Systems, die wahre „Volksdemokratie“ oder irgendwelche andere Form der Demokratie zu repräsentieren, ad absurdum führen.

Darüber hinaus besteht, vom Standpunkt einer vernünftigen und soziologischen Analyse, keine logische Rechtfertigung für den Anspruch eines politischen Systems auf den Namen der Demokratie, solange die Macht nicht in regelmäßigen und freien Wahlvorgängen, welche die ungezwungene volkstümliche Entscheidung zwischen mehreren Parteien und Kandidaten einschließen, vom Volke ausgeht, und solange der Besitz und die Verwaltung dieser Macht von einer gegebenen Clique mit allen Mitteln der Gewalt, List und Propaganda verteidigt und monopolisiert werden.

Die westlichen Demokratien haben den Sinn und das Erbe der Demokratie nicht überall vorbildlich vertreten und verwaltet, aber im Vergleich zur sogenannten „demokratischen" Staatsform kommunistischer Länder (deren materieller Fortschritt im Falle Rußlands und Chinas und deren materieller und geistiger Rückschritt im Falle der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands im Vergleich zum vor-totalitären Regime hier im Augenblick nicht zur Debatte stehen) ist ihre Regierungsform so viel näher dem unverdorbenen Ideal der Demokratie, daß die Forderung der Sowjetparteigänger auf Anerkennung ihres Systems als des einzig echten Ausdrucks „wahrer Demokratie“ lächerlich wirken würde, wenn dieses Schlagwort nicht für viele Menschen auf der Welt einen überzeugenden Klang hätte.

Dies letztere hängt nicht nur zusammen mit den Schwierigkeiten, den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, deren Massen nie erfahren haben, was WürdedesEinzelmenschen, Freiheit und Gleichheit bedeuten, mit westlichen Propagandathesen zu imponieren, sondern auch mit dem falschen Unterton, den diese Thesen insgeheim selbst für einige Bevölkerungsschichten Europas haben. Wie viele unserer Skribenten und wieviele selbst der wissenschaftlichen Autoren geben sich die Mühe exakter Analyse, wenn sie von Freiheit oder Gleichheit reden und schreiben?

Zum Beispiel: In einer Massendemokratie ist es unmöglich, den Volkswillen ohne demagogische, wirtschaftliche oder politische Druckmittel oder Verzerrungen zum Ausdruck gelangen zu lassen. Man soll diese Dinge getrost offen aussprechen und bei Namen nennen, denn wenn wir es nicht selber tun, dann tun es die unrechten Leute, welche die Demokratie gar nicht wollen. Wir halten die Demokratie, wie alles Menschliche, lediglich für unvollkommen, doch immerhin für die unter unvollkommenen Menschen beste Regierungsform.

Gaetano Mosca sprach schon im Jahre 1895 den Gedanken aus, daß selbst in der Demokratie eine organische Minderheit die amorphe Mehrheit lenkt. Dies ist gar nicht anders möglich, weil nämlich die große Mehrheit auch in der Demokratie sich nicht ohne Anleitungen von Seiten einer Führungsgruppe bewegt oder entschließt, — ob diese „Winke“ nun von den Parteien und Verbänden, den Leitartiklern der Presse, den Reden und Handlungen führender Politiker oder den Schriften populärer Autoren kommen. Man bildet sich eine Meinung, aber nur wenige haben eine unabhängige Meinung, obgleich es noch wenige unter uns gibt, die sich das offen eingestehen. Daneben gibt es natürlich die ganz große Gruppe von Menschen — und das ist ein Thema ganz für sich —, die ihre „Winke“ von überhaupt keiner ernsthaften Informationsquelle beziehen, sondern von den unsagbar geist-und kulturlosen Berichterstattern, welche vor zwei Jahren, als ich in Deutschland weilte, an allen Kiosken und Zeitungsverkaufsständen dem staunenden Betrachter die neuesten „Abenteuer“ und „Erlebnisse“ und „Boudoirgeheimnisse" der „Kaiserin Soraya“ zu enthüllen versprachen, und heute mit denselben unanständigen Geschichten immer noch aufwarten und mit diesen in Deutschland in diesem Umfange noch nicht dagewesenen Geschmacklosigkeiten den Sinn der Pressefreiheit und den Zweck der Demokratie profanieren. — Warum? Ganz offensichtlich, weil ein Großteil des „souveränen“ deutschen Publikums dies zu seiner Lieblingsinformationsquelle gemacht hat!

Von hier aus könnte man nützliche Überlegungen anstellen über den in der modernen Demokratie eingeschlichenen Mißbrauch der geistigen und Pressefreiheit durch Geschäftemacher und einen Großteil des Publikums. Lind man könnte die Frage aufwerfen, nicht so sehr, ob die Demokratie und der demokratische Staat den Bürgern gegenüber seine Pflicht erfüllt, sondern ob die große Mehrzahl der modernen Menschen die Demokratie überhaupt verdient. Denn die Demokratie lebt natürlich nicht nur davon, daß alle möglichen Berufe und Verbände beim Staate ihre Ansprüche anmelden, sondern daß der einzelne Bürger sich sorgfältig sein LIrteil bildet, das ihn befähigt, die Probleme und Aufgaben des Staates zu begreifen und seine demokratischen Rechte mit Sinn und Verstand geltend zu machen.

Die Konfusion, von der die Rede sein wird, beginnt daher mit der Richtungslosigkeit und Verwirrung derjenigen Begriffe, die der ganzen demokratischen Staatsform zugrunde liegen und von denen die demokratischen Staatsgebäude ihre ursprüngliche Inspiration empfingen, also den Begriffen der Freiheit und Gleichheit. (Der Begriff der allgemein-menschlichen Brüderlichkeit, den der amerikanische Philosoph T. V. Smith für primär und grundlegend hält, hat sich vorläufig noch als nicht viel mehr als eine agitatorische, bestenfalls zeitferne moralische Kategorie erwiesen, die wohl als religiöse Forderung und Verheißung, aber nicht als eine politische Realität, eine greifbar-bedeutsame Rolle spielt. Über dieses interessante Problem können wir uns im Rahmen des Themas leider nicht verbreiten.)

In bezug auf „Freiheit und Gleichheit" liegen die Dinge so, daß Politiker, Journalisten und Pädagogen einiger demokratischer Länder die Begriffe zu leichtfertig anwandten und dabei interne Kritik herausforderten. Sie redeten, als ob bei ihnen unbeschränkte Freiheit und Gleichheit zugleich zu Hause seien. Sie bemühten sich selten oder gar nicht, ihrem Publikum die augenscheinlichen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis in bezug auf diese beiden Ideale zu erklären, die sich täglich dem kritischen Auge darboten. Mehr skeptisch veranlagte Geister begannen, die Unfreiheiten und Ungleichheiten aufzuzählen, die sich in den modernen Abwandlungsformen der Demokratie entwickelt haben, und nicht selten boten sie anschließend das selbst-fabrizierte oder das fremde Heilmittel an, — je nach Anlage und Geschmack, — das die Herstellung vollkommener Freiheit und Gleichheit verbürgen sollte. Das Heilmittel schmeckte nach allem Möglichen, nur nicht nach Demokratie.

Der Gegensatz von Freiheit und Gleichheit

Schließlich erschienen die „Realisten“, welche die absolute Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit verkündeten. Sie versuchten keine nähere Spezifizierung, welche Form von Freiheit und welche Form von Gleichheit sich gegenseitig ausschließen. Freiheit und Gleichheit wurden ohne klare Definitionen einander gegenübergestellt. Der Engländer James Fitzjames Stephen war der erste, der den logischen Gegensatz systematisch herausarbeitete Lord Acton folgte ihm. William F. Russell in den Vereinigten Staaten, Guillaume E. Rappard in der Schweiz sind vorsichtige Vertreter dieser Anschauungsweise. Walter Lippmann und Friedrich Hayek folgen ziemlich bedenkenlos den Spuren Lord Acton s in ihrem scharfen und einseitigen Angriff auf sogenannte „gleichmacherische Tendenzen und in ihrer Apologie der Freiheit, im Falle Hayeks besonders der wirtschaftlichen Freiheit als des summum bonum der Demokratie. Dies sind nur einige der bekanntesten Exponenten einer Denkweise, welche Freiheit und Gleichheit für unvereinbar halten und der Freiheit den unbedenklichen Vorrang vor der Gleichheit zugestehen. Gleichheit sei eine sozialistische, ja kollektivistisch-kommunistische Vokabel, die mit Demokratie nichts mehr zu tun habe.

In der amerikanischen Geschichte hat der Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit seinen folgenreichen Ausdruck gefunden. In der von Thomas Jefferson entworfenen Unabhängigkeitserklärung von 1776 stand der Gleichheitssatz an erster Stelle.

Die Bundesverfassung von 1787 wurde in Jefferson's Abwesenheit konzipiert, der damals in Frankreich Botschafterdienste leistete. Die Freiheit, nicht die Gleichheit, stand hoch im Kurs in den Debatten der Verfassungsgebenden Versammlung zu Philadelphia. Die »Federalist Papers“ von Hamilton, J a y und M a d i s o n , welche die Aufgabe hatten, die Verfassung zu popularisieren und welche gegen Jefferson und andere -den Gedanken einer starken Bundesregierung vertraten, enthielten kaum einen einzigen Hinweis auf das Ideal der Gleichheit. Der Kampf zwischen „liberals ‘ und „equalitarians zieht sich späterhin von Andrew J a c k s o n bis H o o v e r und Franklin Delano Roosevelt und bis auf den heutigen Tag durch die ganze amerikanische Geschichte.

In der Großen Französischen Revolution offenbarte sich dieselbe Entwicklung in umgekehrter Reihenfolge, in kürzeren Stößen und mit tragischerer Gewalt. Die Assemblee nationale war zuerst von den Vertretern des Freiheitsgedankens beherrscht. M i r a b e a u entwarf die Erklärung der Menschenrechte, welche die Freiheit der Person, des Gewissens, des gesprochenen und geschriebenen Wortes garantierte, während sie gleichzeitig Handel und Wandel von den Fesseln der Regierungsgewalt zu befreien versprach. Dann erschien Marat und Robespierre. In ihrer Leidenschaft für das Gleichheitsprinzip erneuerten sie das Eingriffsrecht der Regierung, terrorisierten und guillotinierten sie die privilegierten Klassen und verfolgten sie die politische Opposition und alle, die von ihrer Ansicht oder ihren Methoden abwichen.

LInter diesem Gesichtswinkel wird es dann begreiflich, wenn W. F.

Russell folgert, daß die Worte Freiheit und Gleichheit sich gut anhören, wenn sie zusammen ausgesprochen werden. „But they never liked each other.“ Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit, und je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit, erklärte Russell in Übereinstimmung mit J. F.

Stephen. Die Aufgabe der Demokratie besteht daher nach Russel in einem Mittelkurs zwischen diesen beiden Polen-). Das Pendel schwingt manchmal in die Richtung der Freiheit, ein anderes Mal in die Richtung der Gleichheit. Die freiheitlichen Tendenzen waren niemals stark genug, um einen Hamilton (oder einen Ludwig v. Mises oder Friedrich v. Hayek) zufrieden zu stellen, d. h., die Verteidiger oder Vertreter eines extremen laissez-faire-Standpunktes der Unternehmerklasse. Lind die gleichmacherischen Tendenzen waren niemals stark genug, um einen Lipton Sinclair, Harold Laski (odei einige amerikanische und auch einige europäische Universitätsprofessoren) zu befriedigen.

Das Problem wird abgerundet durch die Erwägung, die wir hier einschalten möchten, daß absolute Freiheit gleichbedeutend ist mit Anarchie, und daß absolute Gleichheit nur realisiert werden kann durch ein konstantes System der Unterdrückung oder Eliminierung menschlicher Elemente, welche im Besitze persönlichen Ehrgeizes, abweichender sozialer Ideen, überlegener Begabung oder auch — günstiger Beziehungen zu den Machthabern sind. Denn daran geht dieser Utopismus absoluter Gleichheit eben notwendig zugrunde, oder vielmehr führt sich selbst ad absurdum, daß der vollkommene Zustand der Gleichheit die völlige Ungleichheit voraussetzt, welche durch eine Gruppe absoluter Machthaber verkörpert wird, die wiederum die „Gleichheit“ und Nivellierung der übrigen Bevölkerung überwachen, kontrollieren und erzwingen müssen, dadurch aber selbst eine solche Machtfülle auf sich vereinigen, daß keine Garantie gegen äußerste Ungleichheit, Unfreiheit, Privilegienwirtschaft und Terror gegeben ist. An diesem Paradox erwies sich in praxi die Unwahrhaftigkeit des gesamten marxistisch-leninistischen Experiments, das in den Blutbädern Stalins unterging.

Die Denker, die den Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit aufzeigen und dabei die Mäßigkeit und Unparteilichkeit W. F. Russell’s statt der agitatorischen Einseitigkeit Friedrich v. Hayek’s besitzen, könnten der Demokratie einen Dienst erweisen, wenn sie nicht von dem Chorus der völlig Unwissenden auf der einen, dem der subjektiv Einseitigen auf der anderen Seite übertönt würden. Das in den Demokratien so volkstümliche Geschrei nach simultaner Verwirklichung von mehr Freiheit und Gleichheit würde gedämpft werden, und die beständige soziale Unzufriedenheit mit den verwirklichten Graden beider könnte im Interesse der Volksharmonie verringert werden, wenn diese gemäßigte Philosophie des Mittelkurses und des „Pendulums" zum mindesten verstanden und verbreitet werden könnte. Unglücklicherweise repräsentiert sie den Teil der literarischen Erzeugnisse in dieser allgemeinen Kategorie, der vielleicht am schwersten verständlich, jedenfalls aber nicht in Übereinstimmung mit den Gedankenlinien politischer Interessentengruppen, Ideologen und Agitatoren ist und aus beiden Gründen daher die geringste Aussicht auf politische Dauerwirkung hat, insbesondere dann, wenn es besonders wichtig wäre, daß diese Wirkung erzielt werde, nämlich in politischen Krisensituationen. Unbeschadet ihrer relativen politischen oder sozialen Nützlichkeit kann aber auch diese gemäßigte Denkweise nicht vor dem Vorwurf geschützt werden, daß sie, ebenso wie ihre radikaleren Ausprägungsformen, vom wissenschaftlich-soziologischen Standpunkte aus unexakt ist. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen.

Die Korrelation von Freiheit und Gleichheit

Zunächst aber gilt es die entgegengesetzte Gruppe von Anschauungen wenigstens sehr kurz zu skizzieren.

Auf der einen, bisher charakterisierten Seite stehen also die Vertreter des „Freiheitsprinzips auf Kosten der Gleichheit“, deren Unvereinbarkeit sie für erwiesen halten, neben den Vertretern des parteipolitisch mehr oder weniger farblosen „Mittelkurses“ bzw.der „Pendeltheorie“, nach welcher das Pendel der Regierungskunst manchmal zugunsten eines größeren Maßes von Freiheit, ein anderes Mal zugunsten größerer Gleichheit ausschlagen muß. Im direkten Gegensatz zu ihnen steht eine andere, parteipolitisch links orientierte Gruppe von Theoretikern, welche die Lehre verbreiten, daß FreiheitundGleichheit zusammengehören, daß aber Freiheit ohne Gleichheit unmöglich sei. Zu dieser Gruppe von Publizisten gehören u. a.der verstorbene englische Politikwissenschaftler Harold J. Laski, die Amerikaner Thorstein Veblen, Carl L. Bekker, der Dichter Thomas Man n und der amerikanische Philosoph Thomas V. Smith, sowie die europäischen Inhaber von Lehrstühlen der politischen und anderen Sozialwissenschaften, welche noch der marxistischen Ideologie verbunden sind oder dem Sozialismus nahestehen.

Niemand im Besitze intellektueller Redlichkeit, kann die Größe sowohl wirtschaftlicher als auch anderer Ungleichheiten in den sozialen Ausprägungsformen westlicher Demokratie leugnen. Diese werden allerdings durch die exorbitanten Lingleichheiten der Macht und der Ränge im sowjetisch-kommunistischen Bereich überschattet, ja geradezu bedeutungslos im Vergleich zu diesen. Es ist kaum mehr fraglich, daß der Versuch, die Freiheit zu kritiklos auf der Basis sozialer Gleichheiten aufzubauen, immer und notwendig zum Vorwande der Tyrannei und zum Verrat anbeiden Werten, Freiheit und Gleichheit, wird.

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Was bedeutet Freiheit?

Freiheit ist nichts anderes als die Abwesenheit von Zwang, absolute Selbstbestimmung. Eine andere Definition der Freiheit kann es ohne Begriffsverschiebung und ohne Verletzung der logischen Grundsätze des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten nicht geben. Die marxistischen Bemühungen, Freiheit mit der „Notwendigkeit“ des dialektischen Geschichtsprozesses, der in die „Diktatur der Arbeiterklasse bzw.des Proletariats" mündet, gleichzusetzen, hat sich bestenfalls als eine beträchtliche Gedankenakrobatik erwiesen.

Nicht viel weniger bedenklich vom Standpunkt intellektueller Klarheit ist es, wenn z. B.der Amerikaner T. V. Smith, dessen Behandlung des Fragenkomplexes von vielen seiner akademischen Bewunderer als „vorbildlich“ gepriesen worden ist, und die in Amerika in dieser Form Schule gemacht hat, zunächst die logisch einzig richtige Definition der Freiheit als „to do as one pleases" formuliert dann fortfährt, die Freiheit einfach mit Wohlfahrt, sozialer Sicherheit und Gleichheit, ja, mit dem „Zwang zur Arbeit“ zu identifizieren als der einzigen Form von Freiheit, die „diskussionswürdig“ sei Dem gleichen Denkfehler, welcher die Reinheit logischer Grundsätze und Regeln zugunsten einer politisch vorgefaßten Meinung verdirbt und konsequenterweise die Begriffe weniger klärt als verwirrt, ist Harold Las-k i verfallen

Auf einer Seite definiert dieser, von vielen als „klassisch“ bewunderte politische Denker, die Freiheit als „Abwesenheit von Gesetz und Zwang“ Ein anderes Mal setzt er sie mit politischer „Autorität“, also Gesetz und Zwang, auf verwandten Fuß und verkoppelt den Freiheitsbegriff außerdem mit dem der Gleichheit und der Wohlfahrt

Es ist unklar, inwiefern solche Denkprozesse, welche getrennte Begriffe als identisch oder „praktisch gleichbedeutend“ vorspiegeln, als wissenschaftlich gelten können. Der einzig mögliche logische Schluß ist vielmehr, daß Freiheit als Selbstbestimmung, d. h., als absoluter Begriff im Menschlichen nirgends verwirklicht ist. Wenn also biologische, geographische, geschichtliche, politische und soziale Bedingungen die Freiheit des Menschen ganz generell einschränken, so folgt, daß die Freiheit empirisch nur in relativen Graden existiert. Es heißt also, in jeder geschichtlich verifizierten Form die empirischen Beschränkungen des Ideals zu erkennen. Der so manifestierte Relativitätscharakter der Freiheit berechtigt niemanden, seinen subjektiven Freiheitsbegriff als unbeschränkt und in Übereinstimmung mit irgendeiner ihm angenehmen Doktrin zu postulieren, wenn er dabei von dem der reinen Selbstbestimmung abweicht, die es auf dieser Welt nun einmal nicht gibt. Die Reinheit des Denkens muß auf alle Fälle gewahrt bleiben.

Das Problem der Freiheit zeigt weitere Komplikationen, wenn man die Überlegung anschließt, daß absolute Selbstbestimmung und zwang-loses Handeln im gesellschaftlichen Kontext nicht nur unmöglich sind, sondern selbst im Rahmen gewisser natürlicher Eingrenzungen sozial gefährlich und unbefriedigend sein können. Dies muß zu einer Unterscheidung von „negativer" und „positiver“ Freiheit in einem ganz besonderen Sinne führen. Der Begriff der negativen Freiheit fällt mit dem der individualistischen Willkür zusammen, welcher involviert, daß das Individuum sich nicht notwendig durch Gesetze des Anstandes oder andere ähnliche Rücksichten an die Sensibilitäten der Gesellschaft gebunden fühlt. Er gibt sich auch im Freiheitsbegriff einiger der Nachfolger Freuds zu erkennen: Freiheit bedeutet ihnen wesentlich Freiheit des Trieblebens. Kultur als solche und Beachtung gewisser moralischer Normen bedeuten ihnen eine Verdrängung des Trieblebens und folglich eine Unterdrückung der Freiheit.

Diese beiden Auffassungen der Freiheit können unter Umständen gescllschaftsfremd, ja -feindlich sein. Wenn eine bedeutende Gruppe, innerhalb relativ minimaler, von den Gesetzen eines demokratischen Staatswesens vorgeschriebener Grenzen, nach triebhaftem oder egoistischem Belieben handelt, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß das Gesetz der „Grenzmoral“ nicht nur im Wirtschaftlichen, sondern auf allen Gebieten sich geltend macht. Gewisse Zustände in einzelnen Demokratien (Korruptionsskandale großen Stils, Jugendkriminalität, beides von besonders großen Ausmaßen in Amerika, wo die individualistische Version des Freudianismus heute immer noch sehr ernst genommen wird, unterstützt von einer Pädagogik, die in allerbester moralischer Absicht, aber oft unbewußt und sehr naiv, gerade diesen amoralischen Kernsätzen des Freudianismus seit einigen Jahrzehnten sehr entgegenkam durch eine Auffassung von der Freiheit des Kindes, welche die Selbstdisziplin untergrub) sind ominöse Kennzeichen der Vorherrschaft des rein negativen Freiheitsbegriffs.

Um einen ethischen Maßstab zu erreichen, sind dem Menschen gewisse „positive“ Forderungen gestellt. „Der freie Mensch ist der, der nur nadt dem Gebot der Vernunft lebt und so seine Affekte beherrscht“, sagte Spinoza. Kant stellte die Freiheit der „vernunftlosen Willkür“ entgegen. Und Goethe stimmt zu, daß Freiheit das Vermögen ist, „unter allen Umständen das Vernünftige zu tun.“

Die klassischen Formulierungen mögen zu einseitig rationalistisch gefaßt sein. Ich kann mir aber keinen menschlichen Gesellschaftszustand vorstellen, in welchem die Freiheit ohne Spinozas einschränkende Bedingungen moralischer Selbstbeherrschung und vernünftiger Selbst-gesetzgebung fruchtbare, kultur-und gesellschaftsfördernde Wirkungen erzeugen könnte. Die Klagen über die „Entleerung“ und „Erschöpfung“ der westlichen Freiheitsidee hängen gerade damit zusammen, daß man den Mangel an positiver Verankerung und das Vorwiegen der bloß triebhaften Freiheitsdynamik sehr wohl bemerkt hat.

Der „positive“ Freiheitsbegriff ist nicht so fraglos und freigiebig wie der „negative“. Er fordert Selbstdisziplin und gewisse Stufen der Intelligenz für seine Bewährung. Und dies ist just der logische und psychologische Ort, wo die Freiheit so oft scheitert. Wieviele Menschen in irgend einem Lande haben den Willen und die Fähigkeit, die Regeln der Selbstbeherrschung, vernünftigen Lebenswandels und der auf moralischen Prinzipien aufgebauten Beziehungen zu den anderen Gliedern der Gesellschaft zu befolgen, und zwar in einem Maße, das erlaubt, äußeren Zwang und Staatsautorität auf ein mögliches Minimum zu beschränken? Die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeiterschaft in den Perioden des „laissez-faire" -Liberalismus, die andauernde politische Ausbeutung der Massen durch „pressure groups“ und Demagogen in einigen demokratischen Ländern, der Aufstieg politischer Diktaturen in der jüngsten Vergangenheit auf dem Untergründe von Ignoranz, äußerster Selbstsucht und Brutalität in einigen anderen, gaben die historische Antwort auf die Frage. Unerbittlich steht das Urteil der Geschichte, daß Freiheit jedesmal durch Autorität ersetzt wird, wenn die Menschen ihre Freiheit entweder aus Mangel an moralischen oder intellektuellen Kräften mißbrauchen, oder wenn sie den Mißbrauch der Freiheit durch andere stillschweigend dulden. In den Worten von John Stuart Mill: „In the particular circumstances of a given age or nation, there is scarcely anything . . . whidt it may not be desirable or even necessary, that the government should take upon itself, not b e c a u s e private i n d i v i d u a l s c a n n o t e f f e c t u a 1 l y p e r f o r m i t, b u t b e c a u s e t h e y will not“

Was bedeutet Gleichheit?

Gleich'drückt in der deutschen Spradie, wenn es ohne Zusatz gebraucht wird, den Begriff völliger Übereinstimmung (in allen Eigenschaften) der verglichenen oder gleidtgesetzten Gegenstände aus (. absolute' Gleichheit)“ „Will man dagegen nur teilweise Übereinstimmung der Eigensdiaften bei teilweiser Nichtübereinstimmung (. relative'Gleidtheit) ausdrücken, so ist man gezwungen, durdt einen Zusatz anzugeben, worin die behauptete Übereinstimmung erblidrt wird“ Diese beiden Zitate aus einer deutschen juristischen Abhandlung über den Gleichheitssatz des Artikels 109 1 der Weimarer Reichsverfassung, drücken das Problem der Gleichheit in unübertrefflicher Weise aus.

Wenn wir Mainzers Definition auf allgemeine menschliche Verhältnisse übertragen, so wird der „absolute“ Gleichheitsbegriff unbrauchbar. Er ist gleichbedeutend mit dem „naturalistischen“ oder „rationalistischen“ Gleichheitsbegriff der Utopisten, welche die völlige Übereinstimmung menschlicher Substanz, menschlichen Wertes und menschlichen Könnens in allen Individuen annehmen.

Soweit geistige und häufig auch biologische und physische Gleichheiten in Frage kommen, können sie nur „relativ“ sein. Das Maximum von Gleichheit, das irgendeine Gesellschaft ihren Gliedern bieten kann, ist die Bewährungschance des Anspruchsauf Gleich-h e i t m i t a n d e r e n, das was die Angelsachsen in unnachahmlicher Exaktheit des Ausdrucks „equality of opportunities" nennen, und was man im Deutschen vielleicht die „Gleichheit der Erprobungsmöglichkeiten“ nennen könnte. Sie ist „relativ“, d. h. sie trägt dem Umstande Rechnung, daß die Menschen auf physisch-biologischem und vor allem auf geistig-seelischem Gebiete nicht die identischen Leistungen zu vollbringen vermögen bzw. identische oder übereinstimmende Eigenschaften aufzuweisen haben. Der einzelne hat aber im demokratischen Staat innerhalb der Fehlergrenzen, die der menschliche Charakter und die menschliche Aufsicht überall ziehen, die „Möglichkeit der Erprobung“, die Möglichkeit also, seine Intelligenz, sein Können, seine Ausdauer und seine Willenskraft, kurzum seine konstruktiven Fähigkeiten im freien Wettbewerb mit anderen zu erweisen. Gäbe es nun noch die Möglichkeit einer ähnlichen Prüfung oder Erprobung der unterschiedlichen moralischen Konstitutionen derjenigen unter uns, welche jedesmal die Auswahl der Begabten zu beaufsichtigen haben, bevor sie sich nicht für die Bürde ihres verantwortlichen Amtes als geeignet auswiesen, so könnte eine demokratische Gesellschaft mit einem relativen Höchstmaß der Kompetenz zu operieren erwartet werden. Leider hapert es gerade an dieser Stelle, wo die Auslese der „Tüchtigen“ oder „Geeigneten“ mitentschieden und wo durch Vorurteile Diskriminierungen, Begünstigungen, Ungerechtigkeiten und andere Zeugnisse menschlicher Schwächen das Gesamtbild der Gleichheitschancen ungünstig beeinflußt werden kann. Die moralische Eignung zu einem Verantwortung tragenden Amte kann ganz allgemein deshalb nicht vor der Amtsübernahme zuverlässig geprüft werden, weil die moralischen Eigenschaften sich nur in tatsächlichen Lebenslagen und Lebensvollzügen erproben, aber nicht selber Gegenstände einer theoretischen Prüfung werden können wie die bloße Kenntnis der Morallehre dies sein kann. Kenntnis von Moralprinzipien und moralische Haltung sind nicht dasselbe, und das Leben bietet manchmal geradezu „köstliche“ Proben moralindifferenten Verhaltens auf Seiten derer, die in unserer Zeit so viel über Moral, Liebe und Humanität philosophieren und zu wissen vorgeben.

Eine Form der Gleichheit, die in der Moderne eng mit der Gleichheit der Erprobungsmöglichkeiten zusammenhängt, ist die Gleichheit vor dem Gesetz, für die Mainzer damals vergeblich eine Lanze brach. Denn der freie Wettbewerb der Geister und Talente ist unterbrochen, wenn eine durch Klassen-, Rassen-oder religiöses Vorurteil gespeiste Gesetzgebung die Erprobungs-und Entwicklungsmöglichkeiten der Mitglieder gewisser Bevölkerungsgruppen unterbindet.

Hauptanwendungsgebiete von Freiheit und Gleichheit

Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, daß Personen oder Bevölkerungsgruppen, denen somit das Gesetz einen Status der Inferiorität und sozialen Lingleichheit zuweist, in demselben Maße, in welchem das Gesetz dadurch ihre Möglichkeit beschränkt, nicht nur u n-gleich, sondern auch unfrei sind im Vergleich zu den Bevölkerungsteilen, die den vollen Schutz und Vorteil des Gesetzes genießen. Die Beschränkung der Möglichkeiten der Entfaltung und Erprobung ist auch eine Beschränkung der Selbst bestimmung der Person. Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz gehören demnach zusammen in einem demokratischen Staat. Man kann z. B. nicht die Gleichheit des Anspruchs auf eine Bildungschance für eine Bevölkerungsgruppe gesetzlich beschränken und vorgeben, daß diese Gruppe genau so frei sei wie die anderen Gruppen im Staate. Allerdings müssen wir uns vor dem Trugschluß der Egalitätstheoretiker hüten, daß Freiheit und Gleichheit unter allen Umständen zusammengehören. Ein tyrannisches Staatswesen kann — theoretisch — die Gesamtheit seiner Bürger gleichmäßig ihrer Rechte berauben. Sie wären dann „vor dem Gesetze gleich". Aber sind sie frei? Die Gefahr des Theoretisierens ist häufig, daß es sich in logischen Deduktionen und Konklusionen verliert, ohne den Blick beständig auf die Klippen und Fährnisse des Lebens im profanen Alltag fixiert zu halten. Nur so ist es wohl zu erklären, daß z. B. Laski die „Freiheit der Arbeiterklasse“ im sowjetrussischen System unter Stalin der „Scheinfreiheit“ des Arbeiters in der „kapitalistisch-demokratischen“ Gesellschaft gegenüberstellte

Das Gebiet der politischen Rechte ist eine Abwandlungsform der gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Staats-und Lebensordnung. Das Prinzip der politischen Freiheit und Gleichheit ist im freien, geheimen und allgemeinen Wahlrecht beschlossen. Es muß jedem Bürger, der im Vollbesitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, auch das grundsätzliche Recht einräumen, in freiem Wahlkampf mit anderen und auf der Grundlage gleicher Bedingungen als Kandidat für politische Ämter aufzutreten. Die Gefahren der Vorherrschaft starker Wahlblöcke, der Parteibosse, straff organisierter und einflußreicher Interessentenverbände, oder des despotischen Machtmißbrauchs durch die Mehrheit zum Zwecke völliger Unterdrückung der Minderheiten, sind jedoch ständige Begleiterscheinungen dieses Systems. Es gibt zwei Garantien gegen die Überwucherung dieser Gefahren, die hier nur kurz gestreift und kaum erklärt werden können. Die eine besteht in der verfassungsrechtlichen und unzweideutigen Erklärungen der bürgerlichen Rechte und Freiheiten, der „civil liberties", die sacrosanct und unantastbar sind, und über deren Unantastbarkeit die Presse, die Parlamente und die Gerichtshöfe zu wachen haben. Die andere Garantie ist der Eifer, mit dem, auf der Grundlage eines tief wurzelnden demokratischen Bewußtseins, das Volk als „der politische Souverän“ die Verteidigung und Aufrechterhaltung dieser Freiheiten durch den „legalen Souverän“, d. h., die Regierungs-und Staatsorgane, überwacht. Die freie Meinungsäußerung auf Seiten der Bevölkerung und das Streben nach Volksgunst auf Seiten der gewählten und durch Volkswahl absetzbaren politischen Amtsinhaber haben sich, wo immer wirklich freie und direkte Wahlen stattfinden, oft als mächtige Garanten der Freiheit erwiesen. Andererseits sind diese selben Faktoren der Volksmacht leider auch gelegentlich die Ursache von sozialem Unrecht, Vorurteil und der von Volks-h a ß getragenen Benachteiligungen gewisser Personenklassen, denen der gegenüber den Volksstimmungen sehr labile demokratische Staatsapparat kaum wirksam zu Hilfe zu kommen vermag.

Wie im Gesetzlichen gehören prinzipiell auch im Politischen Freiheit und Gleichheit zusammen. Im Politischen — im Vergleich zum reinen „Gesetz“ — sind allerdings Freiheit und Gleichheit relativiert aus den erwähnten Gründen notwendig und praktisch ungleiche Verteilung von Macht, Ämtern und Einfluß, welche sich auch in den Demokratien nicht vermeiden läßt.

Ein Spezialfall politischer Rechte ist mit dem Problem zwischenstaatlicher Gleichheit gegeben. Einige Andeutungen müssen genügen. Die Machtfaktoren im Spiel der internationalen Kräfte sind so ungleich verteilt, daß die Ideen internationaler Gleichheit und Gerechtigkeit nie mehr als Worte waren. Die „Gleichheit vor dem Gesetz“ könnte unter Staaten nur verwirklicht werden, wenn in Analogie zur inner staatlichen Ordnung, der Gesetzesverächter und der Gesetzeswächter (die „Polizei“) nicht oft identisch wären. Eine neutrale übernationale Polizeimacht gibt es noch nicht, und es bleibt abzuwarten, ob es sie jemals geben kann. Die Prominenz der Großmächte, ihre Übermacht in der Handhabung der Instrumente des Krieges und des Friedens, der Wirtschaft und der Politik haben ganz natürlich zur Folge, daß die Realität der politischen Lingleichheit das Ideal der rechtlichen Gleichheit souveräner Staaten überschattet. Der amerikanische Staatsrechtler Edwin D. Dickinson stellte die „formale“ oder „rechtliche“ Gleichstellung der Staaten, die er als unentbehrlich bezeichnete, ihrer tatsächlichen politischen Lingleichheit unter dem Gesichtswinkel der „capacity for rights“, also der Lingleichheit ihrer Rechtsfähigkeit, gegenüber Solange es Staaten gibt, die auf den Schutz, die Subsidien, in anderen Fällen die Neutralisierung anderer Staaten angewiesen sind, um überhaupt normal bestehen zu können, stehen jene Staaten weder auf gleicher Ebene, noch sind sie ganz frei in ihren Beziehungen zu den letzteren, sofern die letzteren ihre Vormachtstellung ausnutzen.

Das eigentliche Gebiet, auf das die Forderung der Gleichheit der Entwicklungs-und Erfolgsmöglichkeiten sich bezieht, ist das der persönlichen und intellektuellen Entfaltung. Es ist die Gleichheit der Erzieh ungs-und Bildungschance. Diese ist zunächst einmal ganz offensichtlich durch die LI n g 1 e i c h h e i t natürlicher Begabungen in den Individuen begrenzt. Weiterhin besteht eine Störung des Gleichgewichtszustandes am sogenannten Startpunkt durch die „unsichtbaren Schranken“, die unumgängliche Wirkung günstiger oder ungünstiger äußerer Lebensumstände, des Milieus, der Klasse, Konfession, der ethnischen Gruppe oder Nation, mit denen der einzelne verflochten ist. Alle diese Umstände sind mitbestimmend bei der Möglichkeit und Aquswahl der Schulungs-und Bildungschancen und auch späterer Erfolgsaussichten. Für Amerika als Sonderfall hat dies soeben Vance Packard gezeigt 15a). Bemerkenswert ist aber, daß selbst die Absolventen akademischer Bildungsstätten sehr differenziert sind auf Grund der verschiedenen nationalen Bildungstraditionen und -güter, die ihren Geist gemäß den verschiedenen Qualitäten, Vorschriften, Usancen und geistigen Höhengraden ihrer jeweiligen Bildungsanstalten geprägt haben. Man kann als Gebildeter irgendwo materiell gesichert und erfolgreich und doch nicht geistig beheimatet sein, weil man seine Bil-dungsgüter an einem kulturell eigentümlich differenzierten Orte empfing, für welche anderswo das Verständnis entweder nicht gereift oder nicht vorhanden ist. Auch in dieser Beziehung gibt es also eine „unsichtbare Schranke“, die den Betreffenden „ungleich" mit anderen sein läßt, solange er sich nicht „angleicht". Ich beziehe mich hier natürlich auf die eigentümliche Lage der geistigen Emigration.

Die einzige Methode, die überall und für jeden eine Gleichstellung herbeiführen könnte, wäre die Einführung von äußeren Kontrollmaßnahmen, welche Schulungswahl und freie Berufswahl unterdrücken und den Individuen ihren Schulwerdegang sowie ihre spätere Stellung im Leben rigoros zuweisen. Diese „äußeren Kontrollmaßnahmen", die den Opfern totalitärer Regierungsformen nur zu bekannt sind, entwickeln in der Praxis der Ausführung Ungerechtigkeiten und Willkür, sowie Unfreiheiten, die mit dem Vorwande der Überwindung von sozialen Startungleichheiten schlechterdings nicht zu vereinbaren sind und den sprichwörtlichen Teufel durch Beelzebub austreiben. E s scheint also, daß Gleichheit und Freiheit auf diesem Gebiet unverständlich sind. Gerade im Hinblick auf die nicht zu lange zurückliegenden Bestrebungen, das deutsche höhere Schulwesen dem amerikanischen anzugleichen, könnte man hier lehrreiche und in Amerika endlich stattfindende, reuige Betrachtungen anschließen über die sinkende Qualität der amerikanischen höheren Schulgattung als die Folge des Bestrebens, diese Schulkategorie nicht nur allen sozialen Klassen (eine sehr wünschenswerte und löbliche Einrichtung!), sondern allen Intelligenzgraden zugänglich zu machen. Die Einführung eines abstrakten Gleichheitsgrundsatzes gefährdet hier den Anspruch der überdurchschnittlichen Begabung auf adäquate Vorbereitung für eine komplizierte Kulturexistenz und auf eine Freiheit der Lernens, die nicht andauernd durch den niedrigen Stand des Klassenniveaus beeinträchtigt wird. Diese Bemerkung schließt nicht aus, daß das amerikanische Credo der Herabminderung von sozialen Klassenunterschieden bei der Erprobung der Talente ein Vorbild für alle Völker bleibt.

Der meist umstrittene Gegenstand ist jedoch der wirtschaftliche Status im Zusammenhang unseres Fragenkomplexes. Im Wirtschaftlichen ist unser Problem besonders kompliziert durch den Umstand, daß es für das Individuum anscheinend keine Rettung vor der Alternative zwischen zwei grundsätzlichen Abhängigkeiten gibt. Der einzelne unterliegt, solange er als Lohnempfänger in den Wirtschaftsprozeß eingeschaltet ist, entweder der Kontrolle des Privatunternehmers bzw.der Geschäftsführung, oder er ist der staatlichen Autorität, möglicherweise sogar beiden unterworfen. Als dritter Herrschaftsfaktor hat sich dann noch die Gewerkschaft herausgebildet, die in einigen Ländern des Westens geradezu die direkte Kontrolle über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers und in nicht geringem Maße auch über gewisse Befugnisse des Arbeitgebers übernommen hat.

Jedenfalls deuten die Abhängigkeitsverhältnisse in der Wirtschaft der demokratischen Länder an, daß die beiden Theoretikerfronten, die sich in bezug auf den Streit um „Freiheit und Gleichheit als Gegensätze o d e r als Koordinaten" herausgebildet haben, ungenau sind. E s gibt weder Gleichheit noch Freiheit in der ökonomischen Struktur irgendeines Landes. Im Hinblick auf die Menge von Literatur erübrigt sich der nähere Hinweis auf die maximalen Ungleichheiten und Unfreiheiten der unter den Kommunisten existierenden Wirtschaft. Anderswo gibt es die Möglichkeit der Unterscheidung von Graden der Unfreiheiten und Ungleichheiten in der Wirtschaft. Der entscheidende Punkt hängt jedoch mit der Frage nach der Macht-oder Autoritätsquelle zusammen: Welches ist die Stelle, welche die Unfreiheiten oder Ungleichheiten verhängt? Ist es der Staat oder der Unternehmer? Oder jetzt als Drittes sehr häufig: Ist es die Gewerkschaft?

Außerdem muß die Formel „Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit, und je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit" qualifiziert werden, indem wir hinzufügen „für wen?" Dann enthüllt sich auf einmal die realitätsfremde und stark verallgemeinernde Logik der Gegensatztheoretiker, deren These überall, mit der einzigen Ausnahme des intellektuell-pädagogischen Bereiches, ad absurdum geführt worden ist.

Die Sache liegt nämlich so, daß der liberale Staat, der dem Unternehmer anfänglich die fast unbestrittene Herrschaft über den Arbeitsplatz und die Ausbeutung des Arbeitsmarktes nach allen Regeln der Rationalisierung überließ, die Freiheit des Unternehmers mit der Lingleichheit und damit korrespondierenden Unfreiheit des ökonomisch unterlegenen Arbeiters paarte. Der Unternehmer war wirtschaftlich frei, der Arbeiter wirtschaftlich unfrei bei diesem Stand der Dinge. Der moderne Sozialstaat, der sich nicht aufhalten ließ unter diesen Verhältnissen, konnte nicht anders als die Rechte des Unternehmers in bezug auf die Arbeitnehmer einschränken. Dieser Staat hat die grundsätzlichen Ungleichheiten natürlich nicht aufheben können, denn diese liegen im Wesen der wirtschaftlichen Funktionen begründet, d. h. in der grundsätzlichen und unaufhebbaren Trennung der Aufgaben von Unternehmertum, Kapital, Bodenrente und Arbeit. Immerhin hat der Staat für mehr Gleich heitundFreiheit Raum geschaffen. Dabei wurden die Freiheiten des Unternehmers gekürzt. Des Arbeiters Freiheiten werden in der modernen Demokratie mehr und mehr der Fürsorge der Gewerkschaften anvertraut. Dadurch aber entsteht nach dem aktuellen Vorbilde amerikanischer Gewerkschaften zum mindesten die Gefahr, daß sich eine neue Klasse von „Bossen“ entwickelt die, falls der Staat oder die Arbeiterschaft sie nicht rechtzeitig steuert, ihre Macht und Freiheit auf Kosten der Freiheiten des Arbeiterstandes ausbauen können, obgleich dies im Falle einiger Länder, einschließlich der Bundesrepublik, in diesem Zeitpunkte eine weithin theoretische Befürchtung ist. Gerade die deutschen Gewerkschaften und ihre Führung haben sich seit ihrer Wiedererweckung nach 1945 im allgemeinen als politisch verantwortlich, ja vorbildlich gezeigt in ihrer Anpassung an wirtschaftliche Möglichkeiten und Bedürfnisse. Diese Tatsache hinwiederum beweist, daß die Gewerkschaftsführung bei hinreichender Intelligenz und sittlicher Verantwortung für das Ganze die Möglichkeit hat, ein vernünftiges Gleichgewicht von Freiheiten und erträglichen wirtschaftlichen Ungleichheiten für den Arbeiterstand innerhalb der Gesamtgesellschaft herbeizuführen und zu erhalten.

Zusammenfassung

Es hat den Anschein, daß gegenüber der farbigen Wirklichkeit die verschiedenen und gegensätzlichen Theorien, die wir eingangs geschildert haben, verblassen. Freiheit und Gleichheit sind keine Schlagworte. Sie sind Wirklichkeiten mit intensiver Lebens-und Wirkungskraft. Doch leider werden sie im politischen Tageskampf häufig mißbraucht und verzerrt. Auch ihre sozialwissenschaftliche oder philosophische Klärung hat oft zu wünschen übrig gelassen, da die meisten Theoretiker mit vorgefaßten Meinungen an ihr Thema herangingen. LInsere Beispiele der Anwendungsgebiete von Freiheit und Gleichheit scheinen zu beweisen, daß man keine „Pauschaltheorien“ über Freiheit und Gleichheit, ihre Zusammengehörigkeit oder ihren inneren Gegensatz, aufstellen darf. Vielmehr muß man die Anwendungsmöglichkeiten beider Begriffe jeweils auf den konkreten Lebensgebieten untersuchen. Dabei wird man dann wahrscheinlich zu dem Ergebnis gelangen, daß selbst die wissenschaftlichen Allgemeinurteile einfach nicht passen, sondern daß jedes Gebiet mehr oder weniger seine eigenen Regeln in bezug auf die Anwendungsmöglichkeiten setzt, — in dem einen Falle, aber stets unter spezifischen Bedingungen, Gleichheit mit Freiheit koordiniert, im anderen Falle zur Reduzierung von abstrakten Gleichheitsprinzipien rät, damit die Freiheit nicht bedroht werde. Am aller unklarsten sind die verschiedenen, einander widersprechenden Theorien auf dem Wirtschaftsgebiet, wo Schlagworte von Freiheit und Gleichheit am häufigsten operieren, wo aber Freiheit für alle sich am wenigsten durchführen läßt und wo Gleichheit für den Arbeiterstand unter irgendeinem System illusorisch ist. Die Aufgabe für eine gesunde Demokratie im Industriestaat ist, die konstitutiv verankerten wirtschaftlichen Ungleichheiten dem Arbeiter-stande so erträglich wie möglich zu machen, ohne die wirksame Durchführung der Aufgaben der anderen Wirtschaftsfunktionen zu behindern oder gar zu paralysieren.

All das beweist, wie ungeheuer wichtig und nötig es ist, daß die Menschen in der Demokratie durch überparteiliche politische Bildungsmaßnahmen mit dem Sinn ihrer Einrichtungen und Ideen vertraut gemacht werden. Die Demokratie ist die schwierigste aller Staatsformen. Ihre Begriffe sind ungemein kompliziert. Propaganda, d. h. blitzartige Verallgemeinerungen und gefährliche Einseitigkeiten sind nichtsdestoweniger fast die einzigen Informationsquellen über die Demokratie, die der Masse zugänglich sind. Das genügt nicht, wenn die heutige Massendemokratie krisenfest bleiben soll. Die Demokratie verlangt Anstrengung von jedem einzelnen ihrer Träger und Komponenten. Leider sind wir gewöhnt worden, die persönliche Anstrengung und Schulung den viel einfacheren, monolithischen Systemen der Diktatur zu überlassen. Darüber müssen wir hinausgelangen. Das Volk in der Demokratie bedarf der Regierung nicht immer und unter allen Umständen, um das Notwendige zu tun. Es kann und muß sich seine eigenen, freien Mittel schaffen, um das Verständnis der Demokratie in die Seelen zu pflanzen. Verfassungen und Gesetze vermögen das nicht. Aber die geeigneten Vorbilder und Führergestalten im Volke, in den Parteien und in der Regierung können das leisten, — nicht im Sinne der Utopie einer fehlerlosen Demokratie, aber in der stetigen, unablässigen Bemühunginder Richtung auf einen Idealzustand, welch letzterer als ein durch gewisse, oben geschilderte, ganz natürliche menschliche Fehlerquellen beständig gefährdeter Zustand realistisch ins Auge gefaßt werden muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Liberty, Equality, Fraternity, London 1874, S. 198 ff.

  2. W. F. Russell, Liberty vs. Equality, New York 1936, S. VIII, 10 17; 29— 30; 109— 111.

  3. Sehr deutlich in seinem Beitrag „Freedom and Equality" in: Freedom, Its Meaning, herausg. von Ruth N. Anshen, New York 1940.

  4. The Democratic Way of Life, Chicago 1926 und spätere Auflagen, S. 69.

  5. ebd., S, 91 ff.

  6. vgl. u. a.seinen Beitrag „Liberty" in der Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1931, Bd. IX, S. 442 ff.

  7. ebd., S. 442.

  8. ebd., S. 445.

  9. ebd., S. 443.

  10. „In einem relativ freien Wettbewerb besteht die T e n d e n z , daß das Glied mit der niedersten Moralgrenze das Verhalten auch der anderen Mitglieder der Gruppe bestimmt“ (Goetz Briefs). Freilich gibt es nicht-korruptible Elemente in jeder Gesellschaft. Das Gesetz der „Grenzmoral" gilt offensichtlich nur für Kreise, die entweder zur Korruption konstitutiv neigen oder in Krisensituationen ihre moralische Festigkeit einbüßen. Diese Gruppe ist überall relativ zahlreich, obgleich sie von Gesellschaft zu Gesellschaft in ihrer Größe variiert.

  11. The Principles of Political Economy, 1848, siebte Ausl. 1872, Book V, Kapitel: „The Limits of the Province of Government".

  12. Otto Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, Berlin 1929, S. 24.

  13. ebd., S. 25.

  14. Reflections on the Revolution of Our Times, New York 1943, Kap. VIII, besonders S. 396— 98.

  15. in: The Equality of States in International Law, Harvard Studies in Jurisprudence, Bd. II, Cambridge (Mass.) 1920.

  16. Weniger „aktuell", aber von gewissermaßen überzeitlicher Bedeutung, sind die Auseinandersetzungen zu diesem Thema von Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 2. verb. Ausl. Leipzig 1925; Goetz Briefs, The Proletariat, New York und London 1937, und Joseph Goldstein, The Government of British Trade Unions, London 1952.

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