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Friedliche Koexistenz. Ein westlicher Standpunkt | APuZ 13/1960 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 13/1960 Das Wichtigste zuerst. Eine demokratische Betrachtung Friedliche Koexistenz. Ein westlicher Standpunkt Die Gefahr des Verhandelns mit Moskau

Friedliche Koexistenz. Ein westlicher Standpunkt

Diese Betrachtung ist der Januarnummer der „Foreign Affairs" entnommen. Dem nachfolgenden Abdruck liegt der Text der Zeitschrift „Dokumente" zugrunde, die den Erstabdruck in deutscher Sprache vornahm.

In der öffentlichen Debatte, die das jeweilige Entwicklungsstadium des sogenannten Kalten Krieges kennzeichnete, ist kein Begriff leichtfertiger und manchmal skrupelloser gebraucht worden als das Wort „Koexistenz". Im Oktoberheft 1959 der Foreign Affairs hat Nikita Chruschtschow unter seinem Namen einen Aufsatz veröffentlicht, der uns eine interessante Definition dessen gibt, was er darunter versteht. Friedliche Koexistenz bedeutet — so sagt Chruschtschow — im wesentlichen die Ablehnung des Krieges als Mittel zur Lösung von Streitfragen. Sie setzt die Verpflichtung voraus, sich jeglicher Verletzung der territorialen Integrität und Souveränität eines anderen Staates zu enthalten. Sie verlangt den Verzicht auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Sie bedeutet, daß die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auf einer Grundlage völliger Gleichheit und gegenseitigen Nutzens zu stellen sind. Sie führt — immer nach Chruschtschow — zu einer tatsächlichen Ausschaltung der Kriegsgefahr.

Sie ist etwas, was sich „in friedlichen Wettbewerb verwandeln . sollte, mit dem Ziel, die Bedürfnisse des Menschen auf bestmögliche Weise zu befriedigen“.

Chruschtschow liefert uns nicht nur eine solche Definition, sondern erklärt offen, daß nach seiner Meinung die Sowjetunion zu diesen Grundsätzen steht, seit der Oktoberrevolution von 1917 immer zu ihnen gestanden hat und in Anbetracht ihrer gesellschaftlichen Grundstruktur gar nicht anders kann, als zu ihnen zu stehen. Dagegen existierten noch wichtige Elemente in den westlichen Ländern, die seiner Ansicht nach nicht zu diesen Prinzipien stehen, die „glauben, daß der Krieg ihnen nütze", die widerstrebenden Völkern gewaltsam den „Kapitalismus“ aufzwingen wollen und deren Widerstand zu überwinden ist, bevor man von einem Sieg der friedlichen Koexistenz sprechen kann.

Die wahre Geschichte der russischen Revolution

Kaum eine Behauptung dürfte mehr erstaunen als die Versicherung, daß der Sowjetstaat „von Geburt an . . . die friedliche Koexistenz als Grundprinzip seiner Außenpolitik proklamierte" und daß die ersten kommunistischen Führer in Rußland entschlossen die Ansicht vertraten, zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen könne und solle friedliche Koexistenz herrschen.

Wir wenden uns nur widerstrebend der Geschichte jener frühen Jahre der Sowjetmacht zu. Man mag gern glauben, daß maßgebliche Kreise in Moskau heute die Aussichten für eine gewaltsame soziale Revolution in den wichtigsten Industrieländern des Westens ein wenig anders beurteilen und vielleicht sogar über ihre Notwendigkeit anders denken. Man mag annehmen, sie hätten von den Pflichten der russischen Kommunisten gegenüber den Arbeitern dieser westlichen Länder ebenfalls eine etwas andere Auffassung, als sie 1917 und 1918 in Moskau herrschte. Wenn das so ist, wäre es sicher besser Vergangenes vergangen sein zu lassen, statt das Problem der Koexistenz in der Gegenwart zu komplizieren, indem man auf die Geschichte zurückgreift. Die Jahre 1917 und 1918 waren schließlich eine Zeit schrecklicher Verwirrungen und weltweiter Tragödien. Überall handelten die Menschen im Geist der Gewalt und des Fanatismus. Auf beiden Seiten, bei den Kommunisten und bei den Nichtkommunisten, geschahen Dinge, die wir heute aus dem Abstand von vierzig Jahren klar bedauern müssen. Sicher gibt es in der nichtkommunistischen Welt sehr wenige Leute, die die Kontroversen jener Tage neu zu beleben wünschen oder sich selbst unbedenklich mit den Anschauungen und Vorurteilen aus der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg solidarisch erklären würden.

Aber wenn von prominenter kommunistischer Seite die Haltung der Sowjetführer des Jahres 1917 ins Feld geführt wird, um die unzerstörbare und naturnotwendige Bindung des russischen Kommunismus an Grundsätze wie die Ablehnung der Gewalt als Mittel zur Lösung politischer Streitfragen zu beweisen — oder den Verzicht auf Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder oder den friedlichen Wettbewerb zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen —, dann kann der westliche Wissenschaftler nicht umhin, seine Verwunderung und seinen Protest anzumelden. Es ist überraschend, daß gerade jene Leute die wahre Geschichte der russischen revolutionären Bewegung so respektlos behandeln, die sich heute als ihre Hüter und Vorkämpfer bekennen; daß sie diese Geschichte dermaßen verdrehen, um ihre eigenen taktischen Manöver zu erleichtern. Man schaudert bei dem Gedanken, was Lenin zu solchen nachträglichen Entstellungen gesagt hätte. Haben die gegenwärtigen Führer der russischen Kommunistischen Partei denn tatsächlich vergessen, daß Lenin sich selbst betont als internationalen Sozialistenführer betrachtet? Wer schrieb denn am 3. Oktober 1918: „Die bolschewistische Arbeiter- klasse Rußlands war immer irtternationalistisch, nickt nur in Worten, sondern in Taten, im Gegensatz zu den Schurken, den Helden und Führern der Zweiten Internationale . . ."? Wer sagt denn in dem gleichen Dokument: „Das russische Proletariat wird verstehen, daß jetzt bald von ihm schwerste Opfer für die Sache des Internationalismus gefordert werden . . . Laßt uns sofort mit der Vorbereitung beginnen. Laßt uns beweisen, daß der russische Arbeiter fähig ist, noch viel energischer zu arbeiten, noch viel opferfreudiger zu kämpfen und zu sterben, wenn es nidtt um die russische Revolution allein, sondern um die internationale Arbeiterrevolution geht . . ."? Das ist, wie jeder gute Kommunist in Rußland weiß, nur ein einziges Zitat von buchstäblich Tausenden, die man hinzufügen könnte, um die Begeisterung der Bolschewiki zu Lenins Zeit für den Sozialismus als eine internationale Sadie zu illustrieren — genauer gesagt: die Begeisterung für die Pflicht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumisdien, mit dem Ziel, ihr Regierungssystem und ihre Lebensweise zu verändern!

Wer behauptet, die in der Sowjetunion herrschende politische Macht stehe seit jeher auf der Seite der Koexistenz, wie Chruschtschow sie definiert, verlangt damit von uns ferner, die lange und finstere Geschichte der Beziehungen zwischen Moskau und den ausländischen kommunistischen Parteien in der Stalin-Ära zu vergessen. Es gibt eine umfangreiche Dokumentation, die beweist, für welche Zwecke, von wem und mit welchen Methoden die ausländischen kommunistischen Parteien in diesen Jahren benutzt wurden. Wiederum wären viele von uns im Westen bereit, derartige Erinnerungen beiseite zu lassen, wenn die Politik von heute zur Diskussion steht. Aber etwas anderes ist es, die Verhöhnung unserer Intelligenz hinzunehmen; und wenn die Leute in Moskau wünschen, daß man jene unglückliche Geschichte außerhalb Rußlands vergißt, dürfen sie nicht mit freundlichem Lächeln die historischen Tatsachen auf den Kopf stellen und verlangen, wir sollten das dann entstehende Bild als Beweis für die unveränderliche Verpflichtung des russischen Kommunismus auf die Prinzipien der Koexistenz anerkennen. Vor mehr als hundert Jahren schrieb ein erlauchter westlicher Beobachter, der Marquis de Custine, aus St. Petersburg: „Dem russischen Despotismus gelten nicht nur Ideen und Gefühle nichts: er modelt auch die Tatsachen um, tritt gegen die Evidenz in die Schranken und triumphiert in diesem Kampf."

Heute kann niemand hoffen, in diesem Kampf zu triumphieren. Wer historische Verdrehungen kultiviert und damit (wie es geschieht) versucht, das Verständnis der Öffentlichkeit für die geschichtliche Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen zu vernebeln, der leistet gerade dadurch jeder wahrhaft hoffnungsvollen Form von Koexistenz einen schlechten Dienst.

Die wirkliche Entwicklung des westlichen Kapitalismus

Diese meine Feststellungen sind nicht so aufzufassen, als sei ich von vornherein geneigt zu glauben, daß die Hinwendung Chruschtschows und einiger seiner Kollegen zu den Prinzipien der Koexistenz, wie er sie definiert, unehrlich sei und finstere Absichten verschleiere. Das ist keine notwendige Folgerung. Ich will nur klarlegen, daß die Leute in Moskau sicherlich außerhalb Rußlands den Glauben an ihre ehrliche Hinwendung zu liberalen und toleranten Grundsätzen für das internationale Leben nicht stärken, wenn sie die Geschichte der Lenin-oder Stalinzeit verfälschen oder behaupten, eine solche Hinwendung leite sich notwendig aus der Natur des in der Sowjetunion herrschenden gesellschaftlichen und politischen Systems her. Wir können uns wohl vorstellen, daß die sowjetische Haltung sich geändert hat; wir können jedoch nicht die Behauptung hinnehmen, daß sie keiner Änderung bedurfte, um die Forderungen friedlicher Koexistenz zu erfüllen, wie Chruschtschow sie definiert.

In der Darlegung der sowjetischen Auffassung von Koexistenz wird immer wieder die Bindung der Menschen im Westen an den Kapitalismus und ihr angeblicher Wunsch betont, dem Kapitalismus als Welt-system zum Sieg zu verhelfen.

Der Westler von heute fühlt sich etwas verwirrt, wenn er diese Argumentation mit dem Begriff „Kapitalismus" hört. Was meint man denn eigentlich damit? Wir stellen fest, daß der „Kapitalismus" sich in den Augen der russischen Kommunisten nicht merklich verändert hat, seit die Russische Sozialdemokratische Partei um die Jahrhundertwende in Erscheinung trat — ohne Rücksicht auf die Realität, die der Begriff zu symbolisieren beabsichtigt. Wenn es in der offiziellen sowjetischen Doktrin irgendwo eine Anerkennung der Tatsache gibt, daß sich die ökonomische Praxis und die Institutionen der nichtkommunistischen Länder während des letzten halben Jahrhunderts in einer Weise verändert haben, die irgendwie die Elemente der klassischen marxistischen Anschauung vom westlichen Kapitalismus berührt, so habe ich jedenfalls die Stelle nicht gefunden, wo das zum Ausdruck kommt. Die gegenwärtige Sowjetideologie geht offenbar davon aus, daß außerhalb des kommunistischen Bereichs statische und festverwurzelte Bedingungen herrschen — ein Bündel von praktischen Zuständen, die als „Kapitalismus“ bekannt sind und sich vor allem im Privateigentum an den Produktionsmitteln ausdrücken, das in den letzten fünfzig Jahren (oder eigentlich seit der Lebenszeit von Karl Marx) keine wesentliche Veränderung erfahren hat; das auch heute die beherrschende Realität der westlichen Gesellschaft darstellt; an das zu glauben, das Wesen aller nichtkommunistischen politischen Philosophie ausmacht; an das insbesondere die westlichen Regierungen und „herrschenden Kreise“ zutiefst gebunden bleiben, da es hier um ihren Stolz und ihr zähes Selbstinteresse geht. Vermutlich hat Chruschtschow einen solchen „Kapitalismus" im Auge, wenn er schreibt, daß viele Leser seines Aufsatzes in Foreign Affairs vielleicht meinen, der Kapitalismus werde letzten Endes triumphieren.

Es ist kaum nötig hervorzuheben, wie weit uns, vielen von uns außerhalb Rußlands, diese Betrachtungsweise von der heutigen Wirklichkeit entfernt zu sein scheint. Gewiß spielten die Prinzipien des freien Unternehmertums und des Privateigentums an den Produktionsmitteln überall während des letzten halben Jahrhunderts in der Wirtschaft der nichtkommunistischen Staaten eine wichtige Rolle. Aber nicht in zwei Ländern war die Rolle genau die gleiche. Überall kamen Elemente öffentlicher und gesellschaftlicher Kontrolle hinzu und brachten neue Impulse und Modifizierungen in die Anwendung dieser Grundsätze. Das Resultat ist ein Gleichgewicht von privater Kontrolle auf der einen, gesellschaftlicher oder öffentlicher Kontrolle auf der anderen Seite, das jetzt große Variationen von Land zu Land äufweist. Es gibt heute außerhalb des kommunistischen Bereichs kein in sich geschlossenes Gesellschafts'-und Wirtschaftssystem, sondern mindestens ebenso viele Systeme wie Staaten; und viele von ihnen ähneln mehr dem, was Marx sich unter Sozialismus vorstellte, als dem Laissez-faire-Kapitalismus seiner Tage. Außerdem befindet sich das Gleichgewicht zwischen privaten und gesellschaftlichen Einflüssen überall im Fluß, in einer Entwicklung, die es ziemlich unmöglich macht, auf Grund seiner heutigen Erscheinungsform vorauszusagen, wie es wohl morgen aussehen wird. Das bedeutet: in der nichtkommunistischen Welt, wo es üblich ist, eine Übereinstimmung der Wortbedeutungen mit objektiven Phänomenen anzustreben, hat der Begriff „Kapitalismus“ heute keinerlei scharfumrissene und sinnvolle Bedeutung mehr. Nur in Ruß-land, wo theoretische Konzeptionen sich die Prüfung ersparen können, ob sie für eine objektive Wirklichkeit von Belang sind, existiert noch eine Bedeutung für dieses Wort. Nicht genug damit. Es gibt eine Menge Probleme des öffentlichen Lebens, die offenbar für die meisten Menschen in der nichtkommunistischen Welt eine höhere Bedeutung haben (weil sie sich stärker auf die menschlichen Lebensbedingungen auswirken) als die Fragen des Eigentums an den Produktionsmitteln und der Verteilung des Reichtums, mit denen sich die marxistische Lehre befaßte.

Wie absurd erscheint es im Licht dieser Tatsachen, die Nichtkommunisten des Westens als fanatische Vorkämpfer und Anbeter einer „Kapitalismus" genannten Sache zu zeichnen und anzudeuten, daß einflußreiche Leute im Westen das Elend eines neuen Weltkrieges über die Erde zu bringen wünschen, weil sie hoffen, großen Menschenmassen gegen deren Willen das kapitalistische System aufzwingen zu können. Nicht die Frage, wem die Maschinen gehören, beherrscht heute Gedanken und Debatten in der westlichen Gesellschaft und in den „herrschenden Kreisen" des Westens, sondern die Frage der Freiheit des Menschen — des Rechts der Völker, ihre gesellschaftlichen und politischen Systeme zu wählen und zu ändern, wie sie wünschen, jene Menschen auszusuchen, die sie im Rahmen solcher Systeme regieren sollen und in dem gleichen Rahmen die bürgerlichen Freiheiten zu verwirklichen, die sie von der Furcht vor Willkür und Ungerechtigkeit erlösen, ihnen Gedankenfreiheit sichern und ihnen ermöglichen, erhobenen Hauptes ihren Weg zu gehen.

Der eigentliche ideologische Gegensatz

Ich weiß, daß die Kommunisten lange Zeit behauptet haben, sie sähen weder in den parlamentarischen Institutionen noch in der Rechtssicherheit des liberalen Westens irgendeinen Wert. Die klassische kommunistische Lehre brandmarkt diese Einrichtungen als Betrug, den die ausbeuterischen Monopolisten an hilflosen Arbeitern verüben. Ist es zuviel zu hoffen, daß die Menschen der kommunistischen Welt jetzt ihr Interesse an der Koexistenz dadurch beweisen, daß sie den zynischen und lächerlichen Extremismus aufgeben, durch den die gesamte Entwicklung der britischen und amerikanischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrhunderten historisch unverständlich wird?

Daß die liberalen Institutionen unvollkommen sind, werden die meisten Engländer und Amerikaner — denke ich — bereitwillig zugeben. Aber die überwältigende Mehrheit von uns sieht in ihnen etwas verkörpert, was eng mit dem Wesen der Menschenwürde zusammenhängt, wie wir sie zu sehen gelernt haben — sieht in ihnen eine der wertvollsten Errungenschaften der zivilisierten Menschheit. Darauf, nicht auf das herrschende System des Eigentums und der Kontrolle über unsere Industrie, sind wir im tiefsten Grunde stolz und fühlen wir uns loyal verpflichtet. Wenn im fairen Spiel der parlamentarischen Institutionen und unter Beachtung aller Grundrechte der Bürger die Ordnungen des Eigentums oder der Kontrolle über die Produktionsmittel drastisch geändert werden sollten (und bei einigen ist das schon geschehen), würden die meisten von uns darin keine Tragödie oder Niederlage sehen. Sollte es aber anders kommen, müßten wir diesen Wandel mit dem Opfer der Rechte und Privilegien bezahlen, die uns unsere parlamentarischen Einrichtungen und Rechtssicherungen jetzt allgemein, wenn auch unvollkommen, gewähren — dann und nur dann würden wir glauben, eine nicht wiedergutzumachende Niederlage erlitten und das Wichtigste verloren zu haben.

Wir weigern uns daher, als leidenschaftliche Vorkämpfer eines soge-nannten „Kapitalismus" abgestempelt zu werden, die in einen ideologischen Wettbewerb mit den Vorkämpfern eines sogenannten „Sozialismus" treten. Am allerwenigsten können wir Amerikaner den Vorwurf auf uns sitzen lassen, wir wollten anderen Völkern einen irgendwie gearteten Kapitalismus aufzwingen. Mehrere europäische Staaten haben während der letzten Jahrzehnte ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen so einschneidend umgestaltet, daß sie weit von den in den Vereinigten Staaten herrschenden Verhältnissen abweichen. Dabei stießen sie auch nicht auf den leisesten Widerstand oder Bremsversuch von amerikanischer Seite. Die entscheidende ideologische Auseinandersetzung, wie wir Amerikaner sie heute sehen, heißt nicht Kapitalismus gegen Sozialismus, sondern Freiheit gegen ihr Gegenteil.

Bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und den „führenden Kreisen" der nichtkommunistischen Welt handelt es sich in Wahrheit nicht darum, welches Gesellschaftssystem produktiver ist; vielmehr sind wir verschiedener Meinung darüber, was im Leben der Völker das Wichtigste ist, welchen Werten der erste Platz gebührt.

Der sowjetische Expansionismus

Die Tatsache, daß eine solche ideologische Meinungsverschiedenheit existiert, ist an sich noch kein Grund, warum friedliche Koexistenz, wie Chruschtschow sie definiert, unmöglich sein sollte. Ein dauerhaftes friedliches Nebeneinander-Bestehen von ideologisch gegensätzlichen Systemen ist keineswegs eine neue Erscheinung. Viele friedliche Beziehungen im internationalen Leben von heute, außerhalb des kommunistischen Bereichs, sind aus einem ursprünglich tiefen ideologischen Antagonismus hervorgegangen. Zum Beispiel gab es keine ideologische Übereinstimmung zwischen dem zaristischen System in Rußland und dem politischen Denken Amerikas. Trotzdem lebten beide Mächte lange Zeit ohne Feindseligkeiten in derselben Welt.

Zweifellos gibt es in den westlichen Ländern verstreut einzelne Mensehen, die den augenblicklichen weltanschaulichen Gegensatz zwischen der Sowjetregierung und den westlichen Völkern unerträglich finden; Menschen, die nicht sehen, wie es ohne einen Weltkrieg zu einer Lösung kommen oder weitergehen soll. Wenn man sucht, kann man zum Zweck des Zitierens sogar öffentliche Äußerungen solcher Ansichten finden. Aber ich denke, wir sind uns alle einig, daß diese Leute nicht sehr zahlreich und nicht sehr einflußreich sind. Unzweifelhaft überwiegt im Westen die Auffassung — und das gilt ebenso für die Regierungen wie für die Einzelpersonen —, daß in Rußland herrschende gesellschaftliche und politische System uns zwar wenig empfehlenswert erscheint, wir aber für seine Existenz und Geltung nicht verantwortlich sind; es ist nicht unsere Angelegenheit, es zu ändern. An sich betrachtet, besteht kein Grund, warum eine Beziehung friedlicher Koexistenz mit ihm nicht möglich sein sollte.

Wir wollen an dieser Stelle nachdrücklich unterstreichen, daß der Kalte Krieg nicht deshalb existiert, weil bestimmte Leute im Westen dem russischen Volk den Sozialismus oder irgendein anderes System, das es sich wünscht, zum Vorwurf machen. Hätten wir es nur mit Ideologien und mit den Beziehungen zwischen dem Westen und Ruß-land im eigentlichen Sinn zu tun, so gäbe es keinen Grund, das sowjetische Ersuchen nach „friedlicher Koexistenz" nicht rückhaltlos zu akzeptieren.

Aber die Sowjetunion ist mehr als ein bloßes ideologisches Phänomen. Sie ist auch eine Großmacht, physisch und militärisch. Selbst wenn die in Rußland herrschende Ideologie nicht zu den anderswo geltenden Begriffen in ihrem Widerspruch stände, würde die Welt das Verhalten der sowjetischen Regierung in ihren internationalen Beziehungen, insbesondere jede Ausdehnung ihrer Macht auf Kosten der Freiheit anderer Völker, immer noch mit ernsthaftem Interesse verfolgen.

Und wir wollen daran denken, daß wir in den letzten Jahren Zeugen einer solchen Expansion waren. Was Europa betrifft, hatte sie ihren Ursprung in dem Vormarsch der sowjetischen Armeen nach Ost-und Mitteleuropa im Jahre 1945. Der Westen fand sich seinerzeit mit diesem Vormarsch nicht nur ab — er begrüßte ihn allgemein als wichtigen Beitrag zur Endphase des Kampfes gegen Hitler. Aber nur wenige Menschen im Westen überblickten 1945 die Konsequenzen, und noch weniger wünschten sie herbei: die quasi-endgültige Verschiebung der tatsächlichen Grenzen der politischen und militärischen Macht Moskaus in das Zentrum Europas.

Die kommunistische Seite führt die Diskussion über die Frage der Koexistenz mit Begriffen, die dieser Situation nicht gerecht werden und uns implizit zumuten, sie entweder zu ignorieren oder so zu tun, als gebe es sie gar nicht. Man sagt uns, es gehe um die „Liquidation der Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs“; aber diese spezielle Konseqenz darf weder liquidiert werden, noch darf man darüber reden. Ist das eine realistische Forderung? Wir behaupten, nein. Es ist kein Geheimnis, daß die Sowjetunion unter den Staaten des kommunistischen Blödes eine Vormachtstellung einnimmt. Das erkennen auch die kommunistischen Führer der verschiedenen Länder an, wenn sie zur Diskussion internationaler Fragen zusammenkommen. Ob wir im Westen etwas tun oder nicht tun sollten, um diese Lage zu ändern oder zu beeinflussen, ist ein anderes Problem; aber zu verlangen, daß wir eine innerhalb der kommunistischen Welt anerkannte Situation einfach ignorieren, wenn es zur Diskussion der Koexistenz zwischen Ost und West kommt, ist sicherlich weder vernünftig noch nützlich. Es ist ein Faktum, daß die Ausdehnung der politischen und militärischen Macht Rußlands bis ins Herz Europas das strategische und politische Gleichgewicht der Welt maßgeblich verändert hat, ohne daß man diese Veränderung je als solche mit westlichen Staatsmännern diskutiert oder gar ihre Zustimmung erhalten hätte.

Das kommunistische Regime in Osteuropa

Dabei geht es für die westlichen Völker nicht nur um die Tatsache selbst, sondern auch um die Frage, wie sie zustande kam und wie der gegenwärtige Zustand aufrechterhalten wird. Die Wahrheit lautet, daß die neue Lage nicht eintrat, weil die Mehrheit der Menschen in dem betroffenen Gebiet sich davon überzeugte, daß der Kommunismus — um mit Chruschtschow zu reden — „das fortschrittlichere und gerechtere System ist". Der friedliche Wettstreit um die Überzeugung der Menschen, von dem die Kommunisten heute verlangen, daß wir ihn als Gegenstand und Bedingung der friedlichen Koexistenz anerkennen, hat bitter wenig mit den Methoden gemein, durch die in den osteuropäischen Staaten 1944 und 1945 sozialistische Regierungen nach dem von Moskau gebilligten Muster errichtet, oder mit den Mitteln, durch die in der Folge ihre Herrschaft dort konsolidiert wurde. Nach westlicher Auffassung, die auf der Kraft überwältigender geschichtlicher Evidenz beruht, haben straff disziplinierte kommunistische Minderheiten durch geschickte Manipulationen das betreffende Regime den Völkern aufgezwungen; diese von Moskau geschulten und inspirierten Kommunisten fanden eine Stütze in der Anwesenheit oder unmittelbaren Nachbarschaft von Einheiten der sowjetischen Streitkräfte. Sie wurden durch ähnliche Mittel an der Macht gehalten.

Ich beabsichtige nicht, diese Ereignisse hier vom moralischen Standpunkt zu beurteilen. Ich will auch nicht gegen das Argument polemisieren, daß Rußland in Osteuropa politische Interessen besitzt, deren Beachtung durch die westlichen Regierungen eine Sache des elementaren politischen Realismus ist. Ebensowenig will ich leugnen, daß die Sowjetregierung durch die bestehende Situation, wie wir auch über ihren Ursprung denken mögen, heute schwerwiegend engagiert ist, so daß wir vernünftigerweise nicht von ihr verlangen können, irgendwelche abrupten oder drastischen Änderungen vorzunehmen, die ihre eigene politische Sicherheit in Gefahr brächte.

Es gibt Leute im Westen — und Chruschtschow weiß das —, die die Hoffnung nicht aufgeben, einen Weg zu finden, auf dem sich die sowjetischen Interessen in diesem Gebiet sowohl mit den Interessen der Westmächte wie mit denen der betroffenen Völker versöhnen lassen, und die getan haben, was sie konnten, um den Weg zu einer vernünftigen und maßvollen Lösung der Schwierigkeiten zu ebnen. Aber die Bemühungen dieser Leute müssen fruchtlos bleiben, wenn die Sowjetregierung fortwährend den Eindrude erweckt, daß sie nun, da sie jenes Gebiet in aller Ruhe in die Tasche gesteckt hat, zum Westen sagt: „Die Koexistenz beginnt an diesem Punkt, und sie wird durch jede neugierige Frage von eurer Seite nach dem Schidisal der betreffenden Völker verletzt."

Idi erwähnte vorhin, daß der Westen die Existenz eines sowjetischen Typs des Sozialismus in Rußland selbst durchaus als Rußlands eigene Angelegenheit betrachten kann, daß hier kein Hindernis für die friedliche Koexistenz besteht. Immerhin ist das Sowjetregime auf dem größten Teil des Gebiets der Sowjetunion ein aus dem Lande selbst stammendes Regime. Seine Ursprünge waren nicht demokratisch im westlichen Sinn, aber sie waren zutiefst russisch und spiegelten gewisse fundamentale Realitäten des russischen politischen Lebens jener Zeit wieder. Gewiß ist es nicht Aufgabe der Amerikaner, sich in ein solches Regime einzumischen.

Sobald wir aber die Regierungen des kommunistischen Blocks in Ost-und Mitteleuropa betrachten, kompliziert sich das Problem unvermeidlich. Diese Regierungen haben ihren Ursprung zumeist nicht wirklich im Lande selbst. Das alles ist natürlich relativ; denn selten, wenn überhaupt, gibt es überhaupt keine Gemeinsamkeit zwischen den Interessen und Gefühlen eines Volkes und dem Regime, sei es auch eine Despotie, die regiert. Aber in den Augen des Westens sind diese Regime die Frucht einer bestimmten Form von Eroberung und Unterwerfung, die deshalb nicht weniger real ist, weil sie im allgemeinen ohne feindselige militärische Invasion im üblichen Sinne vonstatten ging. Und unvermeidlich kommt einem der Gedanke: wenn so etwas diesen Völkern widerfahren konnte und dabei Mittel angewandt wurden, die nahe an offene militärische Aggression grenzen, und wenn wir nun aufgefordert werden, das als Tatsache hinzunehmen, die im Zusammenhang mit der friedlichen Koexistenz nicht diskutiert werden darf — wie vielen anderen Völkern könnte dann gerade im Rahmen der Koexistenz, die wir ja bejahen sollen, das gleiche zustoßen?

Es ist eine Tatsache — und man hat sie uns in den letzten vierzig Jahren schmerzvoll eingebrannt —, daß kleinere Völker nicht nur durch brutale militärische Aggression oder formelle politische Intervention, sondern auch durch andere Methoden dem Willen größerer Nationen gefügig gemacht werden können; und es gibt mehr Systeme als nur den klassischen Kolonialismus des neunzehnten Jahrhunderts, um die Völker in einem derartigen Zustand festzuhalten. Es gibt doch wohl so etwas wie eine regelrechte Wissenschaft des Umsturzes, die Wissenschaft von der Machtergreifung durch konspirative Minderheiten, von der Eroberung der Lebenszentren der Macht, der Kontrolle über die Straßen, der Manipulation des innenpolitischen Konflikts. Wer wollte leugnen, daß diese Wissenschaft eine Rolle, und zwar eine sehr wichtige Rolle, im kommunistischen Denken und in der kommunistischen Ausbildung einer früheren Zeit spielte? Revolutionen finden vielleicht nicht „auf Befehl“ statt; aber daß sie im Normalfall allein dem spontanen Impuls der Massen entspringen und niemals durch die organisatorische, militante Aktivität politischer „Avantgarden“ beeinflußt werden — eine solche Behauptung ließe sich kaum mit der älteren kommunistischen Doktrin vereinbaren. Das zu glauben, kann man im Licht der geschichtlichen Evidenz nicht von uns verlangen.

Chruschtschow läßt durchblicken, daß alle diese Dinge in seinem Denken heute keine wichtige Rolle spielen. Es wäre verfehlt, automatisch anzunehmen, er meine das nicht ehrlich (er sammelt Punkte, wenn er sagt, wir sollten nicht in Koffer nach dem doppelten Boden jedem suchen). Aber selbst wenn es für ihn persönlich wahr ist, gilt es kaum für seine sämtlichen derzeitigen Genossen im Politbüro und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion; wir haben auch keinen Grund anzunehmen, es gelte für die Führer des wichtigsten Partners der Russen in der Familie der Nationen: das kommunistische China.

Noch einmal müssen wir betonen, daß niemand die historische Erfahrung plötzlich vergessen kann. Wenn Chruschtschow sagt, die kapita-listischen Staaten hätten ein geschichtliches Konto, das erst noch auszulöschen sei (er beschuldigt uns, „sinnlose Kreuzzüge" gegen Sowjetrußland organisiert zu haben), so gilt das gleiche für Sowjetrußland selbst. Vor allem wird noch viel Zeit vergehen müssen, bis die Außenpolitik und die Methoden Josef Stalins aufhören, ein bestimmender Faktor im Bewußtsein des Westens zu sein. Im gewissen Sinne sind wir alle, wie Chruschtschow, Stalins Schüler. Von ihm lernten wir einen großen Teil dessen, was wir etwa über Rücksichtslosigkeit, Zähigkeit und Enttäuschung in der internationalen Politik wissen. Chruschtschow darf heute nicht von uns verlangen, allzu schnell zu vergessen — gewiß nicht schneller als einige seiner eigenen russischen und chinesischen Partner —, was wir von Stalin als politischen Lehrer gelernt haben.

Was heißt Frieden?

Ein wichtiger Akzent bei allen gegenwärtigen Erörterungen liegt auf den Worten „Frieden" und „friedlich“, die auf kommunistischer Seite so oft im Zusammenhang mit Koexistenz gebraucht werden. Was ist damit gemeint?

Das Wort „Frieden" hat keinen Sinn außerhalb konkreter Bedingungen, die ihm seine Prägung geben. Frieden ist nicht einfach das Nicht-Vorhandensein offener Feindseligkeiten. In diesem Sinn hätten wir heutzutage Frieden; so gesehen, herrscht auch in jedem wohldisziplinierten Gefängnis Frieden. Frieden ist keine Abstraktion. Lenin wußte das genau; darum schrieb er 1915: „Die Parole vom Frieden kann entweder int Ziisamnienkang mit spezifischen Bedingungen des Friedens benutzt werden, oder ohne alle Bedingungen, daß heißt nicht für einen bestimmten Frieden, sondern für Frieden ohne weiteres. Es ist klar, daß wir es im zweiten Fall nicht nur mit keiner sozialistischen Parole zu tun haben, sondern mit einem Schlagwort, das keinen Sinn hat und inhalts-leer ist.“

Welchen Inhalt sollen wir also erkennen, wenn die Kommunisten von „Frieden" sprechen? Ist es unvernünftig, Lenins Schüler aufzufordern, offen zu sagen und zu spezifizieren, welche Art von Frieden sie genau meinen, wenn sie das Wort im Munde führen? Frieden in wessen Interesse, zu’welchen Bedingungen, um welchen Preis?

Es gibt eine Art von Frieden, die mit der wahren Sicherheit der Völker vereinbar ist: sie beruht auf den Prinzipien echter nationaler Freiheit. Eine andere Art von Frieden ist das Schweigen, das eintritt, wenn die Zwangswerkzeuge einfach zu machtvoll sind, als daß die Menschen, gegen die sie sich richten, dagegen aufbegehren könnten.

Die Anwendung des Wortes Frieden als Abstraktion unterschlägt wieder einmal die Tatsache, daß Völker auch auf eine Weise unterdrückt werden können, die nicht notwendig in jedem Augenblick die sichtbare Gewaltanwendung über internationale Grenzen hinweg einschließt. Manchmal genügt die bloße Androhung von Gewalt. Und sie unterschlägt die Tatsache, daß die Sowjets sich unter manchen Umständen, zum Beispiel in Ungarn 1956, durch ihre „Friedensliebe“ nicht gehindert fühlen, sowjetische Streitkräfte einzusetzen, um die politische Lage in einem Nachbarland zu bestimmen. Erwartet man im Ernst, die Menschen außerhalb Rußlands könnten diese Fakten übersehen, wenn die Frage „friedlicher" Koexistenz diskutiert wird?

Die kommunistischen Diskussionsbeiträge zur Koexistenz machen viel Wesens von den militärischen Planungen der westlichen Staaten, besonders Amerikas. Sie werfen der amerikanischen Regierung vor, in verschiedenen Teilen der Welt Stützpunkte zu unterhalten; die Zustimmung zu einer totalen Abschaffung und zum Verzicht auf Atomwaffen sowie zu einem endgültigen Verbot nuklearer Versuchsexplosionen zu verweigern; dem Beispiel der Sowjetregierung nicht zu folgen, die (ohne es wirklich überzeugend zu beweisen) behauptet, ihre konventionelle Rüstung einzuschränken; die Deutschen im Rahmen der NATO zu bewaffnen, und so weiter. Alle diese Maß., ahmen der Regierung der Vereinigten Staaten gelten den Kommunisten als unvereinbar mit einer wahren Bereitschaft, zu den Grundsätzen der friedlichen Koexistenz zu stehen.

Der Schreiber dieser Zeilen hat in den letzten Jahren seine eigenen Differenzen mit der Militärpolitik der westlichen Koalition ausgefoch-ten. Er ist der Meinung, daß diese Politik unter manchen Verzerrungen litt. Sie spiegelte oft eine gewisse Fehleinschätzung der wirklichen Natur des Problems, mit dem sie es zu tun hatte. Gelegentlich sah es so aus, als ließe man sich die Militärpolitik von Auffassungen über die sowjetischen Absichten vorschreiben, die jedem, der sich in der Geschichte and Psychologie der Sowjetmacht auskennt, nur bizarr und einseitig erscheinen können, da sie eher auf den Erinnerungen alter Gegnerschaft als auf einer leidenschaftlslosen Studie der russisch-kommunistischen Prinzipien und Taktiken fußen. Zeitweise hat sich der Westen einseitig und ungesund auf einzelne Waffenkategorien festgelegt. Manchmal zeigte er ein übertriebenes Vertrauen zu der Devise des Militärbündnisses, als sei es ein Allheilmittel für alle politischen Übel, als existiere keine andere Gefahr als die direkter militärischer Aggression. Eine derartige Politik führte mehr als einmal zu militärischen Planungen, die zwar in ihrer Motivierung defensiv waren, dem möglichen Gegner aber sehr wohl als Ausdruck einer Absicht erscheinen konnten, die Feindseligkeiten in dem einen oder anderen Stadium selbst auszulösen.

Das alles ist wahr,; aber keiner dieser Faktoren für sich genommen, noch alle zusammen rechtfertigen die extreme Interpretation, die Moskau darauf aufbaut. Die Sowjetführer sind offenbar nicht gewillt oder unfähig, das wahre Ausmaß des Schocks ernsthaft in Rechnung zu stellen, den die westliche Öffentlichkeit erlitt, als Rußland seine militärische Position in Ost-und Mitteleuropa 1945 bis 1948 zur politischen Expansion ausnutzte; als Rußland sich . weigerte, dem Beispiel der Demobilisierung der westlichen Armeen zu folgen; als die Kommunisten in Westeuropa 1947 und 1948 zum politischen Angriff übergingen; als sie Berlin blockierten und (das war der Höhepunkt) als sie den Koreakrieg vom Zaun brachen. Den Völkern des Westens schienen diese Aktionen eine in ihrer Absicht nicht weniger bedrohliche Feindseligkeit widerzuspiegeln, als es Drohungen mit einer offenen militärischen Aggression gewesen wären. Da alle genannten Dinge unmittelbar im Gefolge des Zweiten Weltkrieges passierten, da sie somit auf bereits zerrütteten Nerven und auf Gemüter stießen, die nach frischen Erfahrungen besonders zu Furcht neigten, war das Resultat nicht überraschend: sehr viele Menschen im Westen gewannen den Eindruck, daß die Sicherheit Westeuropas, das gerade eine furchtbare Bedrohung abgeschüttelt hatte, nun einer neuen, kaum geringeren Herausforderung ausgesetzt sei. Es ist ebensowenig überraschend, daß die Völker auf diesen Eindruck mit der energischen Anstrengung reagierten, im Rahmen eines westlichen Bündnisses einiges von der bewaffneten Macht wiederherzustellen, die sie unmittelbar nach dem Krieg so hastig und vertrauensvoll demobilisiert hatten. Die Geschichte Europas sagt aus, soweit historische Erinnerung zurückreicht, daß Gefahr für eine Nation im allgemeinen mit der Bewegung von Armeen über Landgrenzen hinweg verbunden war. So ist es wohl nur natürlich, daß die kontinentalen Völker von einer Invasions-Manie besessen sind und im Aufbau defensiver Militärmacht ein Schutzmittel gegen feindlichen Druck sehen, der heute viel subtilere und raffiniertere Formen kennt als reguläre militärische Aktion.

In den Fragen, die von sowjetischer Seite über die militärische Rivalität aufgeworfen werden, ist Raum für Diskussion und Raum für Kompromisse. Aber die absichtlich falsche Interpretation und die Verzerrung des Themas, auf der die Leute in Moskau stur beharren, dient keinem nützlichen Zweck. Die Unterstellung, es gebe im Westen eine erkennbare oder ernstzunehmende Gruppe von Menschen, die unmittelbar nach dem Grauen von 1939— 1945 nach neuen Orgien des Blutvergießens und Gemetzels dürsten, ist zu absurd, als daß sie auch nur für einen Augenblick Geltung beanspruchen dürfte. Besonders die Behauptung, Bundeskanzler Adenauer sei einer dieser Menschen, ist so offensichtlich absurd, so völlig ohne jeden Zusammenhang mit dem ganzen Gewebe politischer Realitäten im heutigen Deutschland und so verfehlt in ihren offenkundigen Absichten und Folgerungen, daß ihre dauernde Wiederholung durch Moskau all jene Menschen im Westen schwer entmutigt, die auf eine bessere Verständigung hoffen.

Chruschtschow hat recht, wenn er den Rüstungswettlauf von heute für unvereinbar mit jeder zufriedenstellenden Form von Koexistenz hält. Aber es bestehen wenig erfolgversprechende Aussichten, diese Lage zu verbessern, solange Moskau fortfährt, die Militärpolitik der westlichen Koalition in den letzten Jahren lediglich als Ausfluß der Begierde kriegslüsterner westlicher Finanz-und Produktions-Magnaten nach größeren Profiten zu betrachten; solange Moskau sich weigert zuzugeben, daß diese Politik, so verkehrt und übertrieben sie auch in ihrer Konzeption sein mag, in weitem Umfang eine natürliche und vorhersehbare Reaktion großer Völker auf eine Situation war, zu deren Schaffung Moskau selbst viel beitrug.

Grenzen des Wirtschaftsaustauschs

Als eine weitere Komponente der kommunistischen Forderungen im Namen der friedlichen Koexistenz nennt Chruschtschow das „Wachstum eines intensiven und völlig unbehinderten internationalen Handels“. Ideologische Differenzen sollten, so heißt es, kein Hindernis für die Entwicklung des Handels bilden. Ohne solchen Handel dürfe man nicht erwarten, daß das internationale Leben sich normal entwickelt.

Vom Westen her gesehen, ist das ein sonderbares und einigermaßen amüsantes Ersuchen. Wenn der Handel zwischen der Sowjetunion und nichtkommunistischen Ländern so geartet wäre, daß er die normalen Vorteile mit sich bringt, die sonst aus wirtschaftlichen Kontakten entstehen — intensiver gegenseitiger Reiseverkehr und Niederlassung von Geschäftsleuten im anderen Land, Herstellung enger persönlicher Kontakte und Verbindungen, kurz eine Verzahnung nicht nur des Wirtschaftslebens, sondern auch der Menschen zweier Länder wenigstens in einem bestimmten Berufsmilieu — dann könnte man das Handelsproblem als irgendwie relevant für die Frage der friedlichen Koexistenz anerkennen. Aber bekanntlich besitzt die Sowjetregierung ein Außenhandelsmonopol, führt die meisten ihrer Transaktionen mit dem Ausland selbst durch und verweigert im allgemeinen ausländischen Kaufleuten das Recht, sich auf sowjetischem Boden niederzulassen und Geschäfte zu tätigen. Sie ergreift höchst vielseitige und ungewöhnliche Maßnahmen, um zu verhindern, daß Sowjetbürger ständige persönliche Beziehungen mit Ausländern anknüpfen, sei es durch Geschäftskontakte oder auf andere Weise.

Unter derartigen Umständen, so mag man einräumen, beziehen sich die Vorteile eines gesteigerten internationalen Handels auf den direkten Nutzen für die Wirtschaft der Partnerstaaten. Daß ein solcher Nutzen denkbar ist, wenigstens in bescheidenen Ausmaßen, wird niemand bestreiten. Aber Chruschtschow selbst leugnet, daß er für die Sowjetunion irgendeine lebenswichtige Bedeutung habe. Er schreibt: „In unserer ökonomischen Entwicklung verlassen wir uns ganz auf die inneren Kräfte unseres Landes, auf unsere eigenen Reichtümer und Möglichkeiten . . . Unabhängig davon, ob wir mit westlichen Ländern Handel treiben oder nicht, . . . die Erfüllung unserer Wirtschaftspläne wird nicht die leiseste Behinderung erfahren.“ Was nun die Vereinigten Staaten angeht, so ist kaum anzunehmen, der Handel mit Rußland könne für sie stärker ins Gewicht fallen als für die Russen. Außer in Kriegszeiten war der Handel zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten nie sehr bedeutend, weder in der Zaren-noch in der Sowjetzeit. Die Dinge, die Rußland normalerweise zu verkaufen hat, erregen wirklich keine Sensation in der amerikanischen Wirtschaft, und das gleiche gilt für die neuesten Angebote im Verkaufsprogramm des sowjetischen Außenhandels-Monopols.

Außerdem müssen die westlichen Regierungen nicht nur die möglichen Vorteile des Handels mit einem fremden Handels-Monopol berücksichtiden, sondern auch seine möglichen Gefahren. Auf sowjetischer Seite wird dieser Handel von einer großen Regierung kontrolliert und genormt, die ebenso politische wie wirtschaftliche Interessen zu verfolgen hat. Da das so ist, genügt der bloße gegenseitige ökonomische Vorteil nicht als Garantie für die Stabilität, wie das im Handel zwischen Ländern mit einer freien Wirtschaft der Fall ist. Insbesondere gilt das, wenn die Regierung gleich zu Anfang darauf pocht, wie wenig sie von diesem Handel abhängig ist, wie gut sie auch ohne ihn auskommt. Die nichtkommunistischen Regierungen haben immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein sorgsam im Laufe vieler Jahre aufgebauter Handelsaustausch, der westliche Firmen in bedeutendem Umfang bindet, ganz plötzlich durch einen Umschwung in der Verkaufspolitik der anderen Seite beendet wird — aus Gründen, die mit wirtschaftlichen Vorteilen nicht das geringste zu tun haben. Solche Dinge sind geschehen. Und selbst wenn sie in der Vergangenheit nicht geschehen wären, wäre niemand sicher, daß sie in der Zukunft nicht geschehen könnten. Diese Ungewißheit, die sich aus dem Fehlen des normalen Gleichgewichtsfaktors — des kommerziellen Selbstinteresses — auf der einen Seite für den internationalen Handel ergibt, bedeutet nicht, daß Handel mit der Sowjetunion nie gesichert oder wünschenswert wäre; aber sie setzt seinen Möglichkeiten doch deutliche Grenzen.

Man darf wohl annehmen, daß die Betonung dieses Punktes durch Chruschtschow und andere sowjetische Sprecher damit zusammenhängt, daß der Wunsch nach einer Ausweitung der Handelsbeziehungen oft (und besonders in der Geschichte der sowjetischen Diplomatie) das Vorspiel zu einer politischen Annäherung oder Entente zwischen zwei Mächten ist. Aber es wäre schwierig, die Amerikaner von einem solchen Sinn der Handelspolitik zu überzeugen. In der amerikanischen Tradition bedeutet Handel ein Mittel, um echte ökonomische Bedürfnisse zu befriedigen, nicht um politische Gefühle auszudrücken.

In den letzten Jahren wies die amerikanische Haltung in Fragen des Ost-West-Handels gewisse Merkmale auf, die von manchen Leuten in den mit uns verbündeten Ländern und auch von manchen Amerikanern als Verzerrung empfunden wurden: als Ausdruck einer unangemessenen Zaghaftigkeit gegenüber der Kritik im eigenen Haus oder als übertriebene Vorstellung von den Auswirkungen des Handels auf die militärischen Rüstungen der Sowjets. Wenn eine Überprüfung dieser Haltung in sowjetischen Augen eine Bedeutung hätte, die wirklich zum Nachlassen internationaler Spannungen beitrüge, dann sollte man den Vorschlag in Washington nicht leichthin zurückweisen.

Aber selbst im Falle einer solchen Überprüfung kätten wir es immer noch mit der Tatsache zu tun, daß in Moskau ein Außenhandels-Monopol besteht und daß damit Handelsbedingungen gegeben sind, die sich erheblich von den im Westen üblichen unterscheiden. Das macht einen kommerziellen Austausch nicht möglich; es verhindert nicht einmal ein beträchtliches Anwachsen des sowjetisch-amerikanischen Handelns über seinen bisherigen Umfang hinaus. Aber es setzt den vernünftigen Erwartungen des Westens eine Grenze. Und diese Grenze ist so gezogen, daß man kaum erkennen kann, wie der Außenhandel jemals ein wirklich wichtiger Faktor in der Frage der friedlichen Koexistenz werden sollte.

Zweierlei Wahrheit?

Eine letzte Überlegung. Wieder handelt es sich um relative Werte; aber wir werden mit den Schwiergkeiten, die den Kern der Spannung zwischen kommunistischer und nichtkommunistischer Welt bilden, niemals fertig, wenn wir relative Unterschiede ignorieren. Ich meine den Wahrheitsbegriff, der in Moskau herrscht (um von Peking gar nicht zu reden); er ist dem Wahrheitsbegriff in den meisten anderen Teilen der Welt entgegengesetzt.

Wir haben uns alle daran gewöhnt, nicht nur aus den Sprachrohren der kommunistischen Propagandamaschine, sondern auch von den Lippen respektabler sowjetischer Staatsmänner Behauptungen zu hören, die so offenkundig absurd sind oder in so flagrantem Widerspruch zu bekannten Tatsachen stehen, daß kein Kind an sie glauben kann. Wenn wir ernst nehmen sollen, was von sowjetischer Seite auf uns zukommt, müssen wir zum Beispiel glauben, daß Rußland seit über vierzig Jahren von einer Schar Menschen regiert wird, die sich so grundlegend von allen vormals oder anderswo existierenden Sterblichen unterscheiden, daß sie in diesem ganzen Zeitraum nie einen Irrtum begingen, nie ein Problem falsch analysierten, nie von anderen Gefühlen gelenkt wurden als von selbstlosester Hingabe an das Wohl ihrer Mitmenschen. Das sollen wir glauben ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß im Laufe der gleichen Jahre eine ganze Anzahl derselben Leute, also ein Teil der angeblich allweisen Führung, plötzlich von ihren Kollegen als verräterische Verbrecher gebrandmarkt und entsprechend behandelt wurde. Gleichzeitig verlangt man von uns, der These beizupflichten, daß in den westlichen Ländern (vielleicht mit ein oder zwei Außnahmen) in einer ebenso bemerkenswerten Koinzidenz ausschließlich unverfälschte Schurken herrschen: entweder blutdürstige, habgierige Kapitalisten oder die rückgratlosen Lakaien von Kapitalisten. Beispiele ließen sich in jeder gewünschten Länge zitieren. Man denke nur an die blanken Verdrehungen der historischen Wahrheit, die sich dauernd in sowjetischen außenpolitischen Dokumenten finden: Behauptungen etwa über den Ausbruch des Koreakrieges, den Ursprung der Schwierigkeiten in Süd-ostasien, die Motive der sowjetischen Aktion in Ungarn und dergleichen. Ein charakteristisches, besonders ernstes Beispiel dieses unverantwortlichen Umspringens mit objektiven Tatsachen finden wir in der antiamerikanischen Kampagne der letzten Jahre. Wenn sie auch vor Stalins Tod ihren Höhepunkt erreichte, so hörte sie doch leider danach nicht völlig auf. Die westliche Öffentlichkeit nimmt im allgemeinen kaum zur Kenntnis, welch phantastisch verzerrtes Bild der Vereinigten Staaten die Partei-Kontrolleure der Informationsmittel in den vergangenen zehn Jahren der sowjetischen Öffentlichkeit und besonders der sowjetischen Intelligenz vorgesetzt haben. Selbst heute noch wird ein Amerika-Bild kultiviert, in dem auch solche Amerikaner, die vielen Lebensäußerungen unserer Gesellschaft kritisch gegenüberstehen, ihr Land nicht wiedererkennen würden — ein Bild, in dem die wirklichen Mängel der amerikanischen Zivilisation übrigens ebensowenig Beachtung finden wie ihre wirklichen Leistungen. Propaganda ist Propaganda. Aber sie hat ihre Grenze, wie alles in der Welt. Was sollen wir aus der Propagierung solcher phantastischen Verzerrungen über die Vereinigten Staaten schließen? Daß die Sowjetführer wirklich daran glauben? Oder wissen sie, daß es Verzerrungen sind, finden es aber trotzdem in Ordnung, daß Sowjetbürgern zugemutet wird, sie für war zu halten? Beides hätte höchst fragwürdige Auswirkungen auf das Problem der friedlichen Koexistenz. Es ist auch nicht sehr beruhigend für die Menschen im Westen, wenn man ihnen versichert, sobald einmal die Spannungen gemildert und die militärischen Rüstungen eingeschränkt seien, werde dieser Strom absichtlicher Verdrehungen so geheimnisvoll und plötzlich versiegen, wie er einst ausbrach. Die Menschen in den Vereinigten Staaten haben an ihrer Zivilisation viel zu korrigieren, aber wenig zu verheimlichen. Sie sind ebensowenig daran interessiert, von anderen mit kritischen Bemerkungen über die amerikanische Lebensweise künstlich verschont, wie absichtlich mit Schmutz beworfen zu werden. Das Urteil mag so kritisch und skeptisch sein, wie es will — vorausgesetzt nur, daß es ehrlich ist!

Moskaus totale Rechthaberei

Können wir bei.der Diskussion des Koexistenz-Problems die Auswirkungen einer solchen Haltung gegenüber der objektiven Wirklichkeit ignorieren — einer Haltung, die nicht nur den professionellen sowjetischen Propagandisten eigen ist, sondern der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der aus der Partei hervorgehenden politischen Führung insgesamt? Es wird immer schwierig sein zu wissen, wieweit man Leuten vertrauen darf, die offenbar entweder andere oder sich selbst wohlüberlegt betrügen. Ist es zuviel verlangt, die Sowjetführer möchten jetzt ihren byzantinischen Dogmatismus im politischen Denken und Reden fallen lassen, der sich vielleicht in den frühen Tagen der militant-revolutionären Partei rechtfertigen ließ, als sie noch in Ruß-land um ihren Aufstieg kämpfte, der aber fehl am Platze ist, wenn eine mächtige Regierung als reife und verantwortliche Kraft im Weltgeschehen ernst genommen sein will? Sicher wird heutzutage kaum jemand durch solche absurden Überspanntheiten getäuscht. Aber für viele Menschen in der nichtkommunistischen Welt sind die dauernd wiederkehrenden Beweise einer verantwortungslosen Haltung gegenüber der Wahrheit eine ständige Quelle des Zweifels an den Chancen einer gesunden und dauerhaften Koexistenz zwischen kommunistischer und nichtkommunistischer Welt. Was kann Verständigung im Einzelfall wert sein, so fragen sie, wenn die tieferliegenden Vorstellungen und Überzeugungen so grotesk auseinanderklaffen? Wenn die Sowjetführer uns wirklich für so böse halten, wie sie uns ihrem eigenen Volk schildern — wie können sie dann ehrlich an die Möglichkeit friedlicher Koexistenz mit uns glauben? Wenn sie aber ihr eigenes Volk absichtlich belügen, wie sollen wir ihnen dann Vertrauen schenken?

Was wir von Moskau verlangen, ist keineswegs die kritiklose Übernahme anderer Standpunkte. Aber wir möchten in den Erklärungen sowjetischer Führer und in dem unter ihrer Leitung produzierten Propagandamaterial wenigstens ein vernünftiges Bemühen erkennen, das von ihnen gezeichnete Weltbild mit der objektiven Evidenz in Übereinstimmung zu bringen. Solange die Führer der KPdSU daran festhalten, daß Wahrheit ist, was den Interessen der Partei nützt, und daß die Leute es zu glauben haben ohne Rücksicht darauf, wie unsinnig und absurd es im Lichte objektiver Evidenz erscheinen mag — solange sie fortfahren zu leugnen, daß eine objektive Wirklichkeit existiert, und sich folglich in keiner Weise verpflichtet fühlen, sie zu verstehen und zu respektieren — solange werden selbst solche Menschen in anderen Teilen der Welt, die eine Koexistenz im Sinne der Chruschtschowschen Definition ernstlich wünschen, ihren Hoffnungen und Erwartungen Zurückhaltung auferlegen müssen. Die Straße zur friedlichen Koexistenz führt zugestandenermaßen durch viele Tore; aber eines von ihnen heißt Verzicht der russischen Kommunisten auf den absurden Anspruch, daß ihre Partei die menschlichen Bedürfnisse immer in vollendeter Weise verstanden und nie einen Irrtum begangen habe.

Wenn Moskau es mit dem Programm der friedlichen Koexistenz ehrlich meint und zu diesen Zweck bereit ist, eine generelle Berichtigung der Haltungen und Praktiken — auf beiden Seiten — ins Auge zu fassen, die den gefährlichen, als Kalter Krieg bekannten Zustand der Weltpolitik erzeugt haben oder von ihm erzeugt wurden, dann wird es nicht an Menschen in den Ländern außerhalb des kommunistischen Machtbereichs fehlen, die bereit sind, ihren Einfluß in den Dienst dieser Entwicklung zu stellen, und sei es auch um einen beträchtlichen persönlichen Preis. Denn nicht allein in Rußland hat man das Ausmaß der Gefahr erkannt. Aber wenn man sich in Moskau einbildet, alle Berichtigungen hätten nur auf westlicher Seite stattzufinden, dann wird kaum jemand oder niemand bei uns in der Lage sein, etwas Nützliches für ein Vorankommen der Koexistenz über den gegenwärtigen unsicheren Zustand hinaus zu tun.

Könnten wir nicht endlich alle den Anspruch auf totale Rechthaberei beiseite lassen und ein gewisses Maß an Verantwortung für den verschlungenen Geschichtsablauf zugeben, der die Welt in den heutigen Gefahrenzustand gebracht hat? Könnten wir nicht, wenn das einmal erreicht ist, die Frage ruhen lassen, wessen Verantwortung schwerer wiegt, und uns endlich ernsthaft und ohne gegenseitige Vorwürfe auf die Beseitigung der zentralen und unerträglichsten Elemente der Gefahr konzentrieren?

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. I. Lenin, Bd. 28 der russischen Gesamtausgabe, 4. Ausl., Moskau 1952, S. 83.

  2. a. a. O. Bd. 21, S. 262.

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