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Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933 | APuZ 23/1960 | bpb.de

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APuZ 23/1960 Das Ende der Parteien 1933 Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Die Deutsche Staatspartei

Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933

Das demokratisch-republikanische Deutsche Reich der zwanziger Jahre wurde schon zur Zeit seines Bestehens häufig als Parteienstaat bezeichnet — abwertend verächtlich von den einen, bejahend von den andern. Bei beiden Wertungen stand das Kaiserreich, auf dessen nichtparlamentarische Regierungsweise sich die deutschen Parteien eingestellt hatten, ehe sie 1917 vor eine neue Lage gestellt wurden, als mächtig nachwirkender Gegensatz im Hintergrund. In der Tat ist die Republik von Weimar, wie es der Absicht ihrer Gründer, wenn auch nicht dem Wortlaut der Verfassung, in der bekanntlich von Parteien nicht die Rede war, entsprach, ein Parteienstaat gewesen, den allerdings Referendum, Wahl und Stellung des Präsidenten einschränkten. Wenn im Verfassungstext die Rolle des Reichstags betont wurde, dessen Vertrauens der Reichskanzler ebenso wie die Reichsminister bedurften, dabei jedoch die Parteien unerwähnt blieben, so lag dem im Grunde noch die alte Idealvorstellung parlamentarischer Diskussion und Beschlußfassung der allein ihrem Gewissen verantwortlichen, durch keinen Parteizwang gebundenen Abgeordneten zugrunde. Die politische Partei galt nicht als konstitutiv für diesen Reichstag. Sie war noch „extrakonstitutionell" obgleich in der Praxis sowohl die Gesetzgebung als auch die Regierungsbildung und Regierungstätigkeit vollständig durch die Parteien bestimmt wurden. Nicht nach dem formalen Verfassungsrecht, wohl aber in der von vornherein anders gegebenen Verfassungswirklichkeit war also die Republik von Weimar ein Parteienstaat. Der Sinn der Verfassung bestand nach dem Willen ihrer Schöpfer darin, daß der Staat durch seine Parteien funktionsfähig sein sollte. Tatsächlich ist er das jedoch nur notdürftig und angefochten, seit dem März 1930 aber überhaupt nicht mehr gewesen. Weder hatten die führenden Politiker der Parteien, auf die es ankam, im Frühjahr 1930 genügend Einsicht und Kraft, um angesichts der einbrechenden Wirtschaftskrise, die zur Staatskrise wurde, den Parteienstaat so zu realisieren, daß durch das Medium zumindest der Koalitionsparteien die Stabilität des Staates und der Sinn der Reichsverfassung aufrechterhalten werden konnten, noch stand ihnen für ein derartiges Handeln der Wille des sich abwendenden Reichspräsidenten oder des immer mißtrauischer und radikaler gestimmten Volkes helfend zur Seite. So hatte der Parteienstaat einer ernsthaften Belastung, die von seinen Feinden rücksichtslos ausgenutzt wurde, nicht standgehalten und hatte sich selbst ausgeschaltet, ehe Hitler ihn sichtbar zerstörte. Das heißt: zwischen dem Ende des Parteienstaates und dem Beginn der Einparteiherrschaft Hitlers lagen zwei bis drei Jahre, in denen es mitten im Wirbel der Wirtschaftskrise nicht um die Alternative Weimar oder Hitler, sondern um die Entscheidung ging, ob Staat und Gesellschaft der in Frage gestellten Demokratie so fortentwickelt und gefestigt werden konnten, daß die „Machtergreifung" Hitlers verhindert werden konnte, da ein Weg zurück zur Verfassungswirklichkeit der zwanziger Jahre offenbar nicht mehr möglich, vielmehr eine wie immer geartete Verfassungsreform unvermeidbar war.

1919 1920 1924 18 34 39 1924 1928 1930 33 28 38 1932 1932 1933 58 59 64

Mit der Vorstellung einer solchen Alternative zwischen Weimar und Hitler ist offenbar wenig für unsere Erkenntnis gewonnen, und auch die vielfach angewandte grobe Gegenüberstellung von „totalitärer Diktatur“ auf der einen, „parlamentarischer Demokratie“ auf der andern Seite ist kaum geeignet, das Verständnis für den komplexen Zusammenhang aufzuschließen. Auch Hitler arbeitete, wenngleich mit umgekehrtem Vorzeichen und mit anderen Begriffen, gern mit dieser Antinomie zwischen seinem Führerstaat und der „westlichen“ Demokratie. Er argumentierte zur Erhärtung dessen auf seine Weise demokratisch, indem er die angeblich germanisch-demokratischen Elemente seines Staates hervorhob und vor allem auf die wachsende Volksbewegung und die schließlich offenbar erreichte Volksmehrheit hinwies, die ihn „demokratisch“ legitimierte, während er zugleich an das selbstzerstörerische Ungenügen der politischen Parteien erinnerte, die er nie reformiert, sondern stets nur hatte beseitigt wissen wollen. Denn in Hitlers Kampfideologie rückten alle unter sich keineswegs eng verbundenen, sondern großenteils gegensätzlich voneinander entfernten Parteien, sofern sie sich ihm nicht bedingungslos anschließen wollten, als seine Gegner zusammen. Es gab für Hitler, wie für alle Revolutionäre, nur zwei Lager: die siegreiche eigene Bewegung und alle übrigen Richtungen zusammengenommen, deren Gemeinsamkeit allein darin bestand, daß sie sich ihm widersetzten oder mindestens seine Forderungen nicht anerkannten.

1919 1920 1924 76 44 40 1924 1928 1930 46 47 40 1932 1932 1933 35 33 30

Eine vergleichbare Freund-Feind-Aufspaltung in zwei Lager gab es in der ausgehenden Weimarer Republik in ähnlicher Unbedingtheit nur noch in der Ideologie der Kommunisten als der einzigen Partei, die außer den Nationalsozialisten ihrer Lehre gemäß uneingeschränkt revolutionär genannt werden konnte. Ihre prinzipiell kämpferische Isolierung gegenüber allen anderen Parteien, wie sie aus der leninistischen Auslegung des Marxismus folgte, hatte sich in der „ultralinken“ Taktik seit 1928 so gesteigert, daß jedes taktische Zusammengehen mit den Sozialdemokraten abgelehnt und diese als „Sozialfaschisten" zum ärgsten Feind vor allen andern, auch den Nationalsozialisten, erklärt wurden.

Mandatsverteilung 1928 und 1930

So gab es also in den Jahren unmittelbar vor 1933 zwei radikale Parteien, die ihren Wahrheitsanspruch absolut setzten. Beide waren sie als Kampforganisationen der rechten und der linken Revolution scharf miteinander verfeindet. Aber politisch wichtiger als dies war die Tatsache, daß sich beide, wenn auch jede für sich allein, im totalen Angriff gegen alle Parteien befanden, die mit mehr oder weniger Vorbehalt staats-bejahend waren und den Parteienstaat bildeten. Kommunisten und Nationalsozialisten gehörten nicht zum Parteienstaat, weil sie, ungeachtet gewisser pseudolegaler Taktiken, mit revolutionärer Prinzipien-festigkeit nicht nur das Ende des bisherigen Parteienstaates besiegeln, sondern auch jede vernünftige Reform der Verfassung verhindern woll-ten. Daraus ergab sich für sie die Lockung oder die Notwendigkeit, gelegentlich ihr taktisches Interesse gemeinsam wahrzunehmen. Das zeigte sich 1931/32 mehrmals in ihrem parlamentarischen Verhalten sowie besonders beim Streik der Berliner Verkehrsgesellschaft im November 1932; es zeigte sich durchgehend im Festhalten der Kommunistischen Partei an der ultralinken Taktik, deren Hauptangriffsfront gegen die Sozialdemokraten gerichtet blieb, auch noch und gerade dann, als Hitler vor den Toren stand. Beide revolutionäre Parteien lebten von der Krise der Wirtschaft und des Staates. AIs Nutznießer der Not gehörten sie zusammen gegen alle andern Parteien, die durch die Krise Abbruch erlitten und gegen diese einen mehr oder weniger bewußten Willen zu staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit, freilich ohne harte Konsequenzen, setzten.

Mandatsverteilung 1930-1933

Als diese beiden Ilmsturzparteien noch relativ schwache Randerscheinungen des politischen Lebens waren, mochte es im Zeichen weit gefaßter Freiheitsrechte vertretbar erscheinen, sie gewähren zu lassen. Die Regierungen der Weimarer Republik haben freilich solche Freiheitsgewährung eines Rechtsstaates so weit überdehnt, daß dadurch die Freiheit desselben Rechtsstaates von Grund auf bedroht wurde; und sie gingen davon auch nur zum Teil, jedenfalls nicht scharf genug, ab, als die beiden verfassungsfeindlichen Parteien so anschwollen, daß sie die Republik unmittelbar in Gefahr brachten.

Dies Anschwellen hatte zur Folge, daß das labile demokratische Reich vor eine Situation gestellt wurde, der es nicht gewachsen war. Allein schon die Rücksichtslosigkeit außerparlamentarischer Kampfmethoden widersprach dem Geist und der Tradition aller anderen Parteien. Seit den Tagen der sogenannten Revolution von 1918/19 und der Herbst-krise von 1923 war etwas derartiges nicht mehr erlebt worden. Vor 1918 aber war eine solche Kampfweise ganz unbekannt gewesen; die Revolution von 1848 lag allzuweit zurück; sie übte keine unmittelbare Wirkung mehr aus. Auch die „revolutionäre“ Partei des Kaiserreichs, die Sozialdemokratie, hatte vor 1918 nur Aufmärsche organisiert, aber keine Straßenschlachten gewagt. Sie hatte bewußt das von Karl Marx bejahte, seit 1793 erprobte Mittel des „Terrors“ vermieden. Den politischen Massenstreik hatte sie verworfen. Die Partei war praktisch immer mehr auf den Weg des Parlamentarismus gedrängt worden, durch den sie nolens volens kompromißbereit gemacht wurde, auch wenn sie gerade auf diesem Wege schließlich die absolute Mehrheit zu erlangen und damit weitgehende Ziele einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu verwirklichen hoffte. Die Führer dieser „revolutionären“, aber nicht „Revolutionen machenden" Partei hatten insofern konsequent 1918/19 sogar die Revolution verhindert, die ihre eigenen, sich von ihr absplitternden Revolutionäre im Namen eines aktiven Marxismus gefordert hatten.

Sollte, so lautete die freilich illusionäre Hoffnung, die Entwicklung bei Nationalsozialisten und Kommunisten nicht ähnlich laufen können, sofern diese beiden Krisenparteien überhaupt die Ausnahmejahre der großen Not in beträchtlicher Stärke würden überleben können? Weniger für die Kommunisten, die in ihrer Linie nicht selbständig, sondern vom Moskauer Zentrum abhängig waren, als für die Nationalsozialisten wurde eine solche Minderung ihrer Gefährlichkeit vielfach für möglich, wahrscheinlich oder gar bereits gegeben gehalten. Audi die NSDAP entgehe nicht der Gefahr, schrieb der auf Schleicher einwirkende Hans Zehrer im Frühjahr 1932, „den ursprünglidien Geist der geschlossenen revolutionären Kampfgemeinschaft . . . einmünden und verwässern zu sehen in den bürokratischen Apparat einer Millionen-partei, die ihrerseits wieder um weitere Millionen von Stimmen zu ringen hat“. Als „Endprodukt des Liberalismus“ werde auch diese revolutionäre Massenpartei sich abnutzen. Die Zeit der Parteien sei abgelaufen. Selbst die NSDAP sei davon nicht ausgenommen Auch Graf Westarp bezog wenige Monate später die NSDAP in die „Parteiendämmerung“ ein; denn diese Partei habe sich „von Kopf bis Fuß auf Parlamentarismus eingestellt“. Eine „parlamentarische Massenpartei“ habe noch niemals den Parlamentarismus überwunden. „Nicht die NSDAP wird es sein, die an die Stelle der Parteiherrschaft etwas Neues setzt“ Diese Zitate stammen von Männern einer staatsreformerisch-konservativen oder einer „hündischen" Richtung, die sich 1932 im Besitz eines zukunftsträchtigeren Konzepts wähnten als Hitlers Kampfpartei. Vergleichbare Äußerungen anderer Richtungen, die alle auf eine ähnliche Unterschätzung der nationalsozialistischen Revolution hinausliefen, könnten in großer Zahl angeführt werden.

Der Ernst der akuten Gefahr wurde wohl vielfach gesehen, aber kaum mit der nötigen Entschiedenheit politisch realisiert. Doch sollte rückblickend nicht übersehen werden, daß in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 in der Tat Anzeichen dafür erkennbar waren, daß der Wellenberg erreicht war. Hitlers „Legalität" schien entweder Verpassen seiner Chance oder Zähmung im Koalitionskompromiß bedeuten zu können. Es wurde kaum für möglich gehalten, daß Hitler mit seiner schlecht vorbereiteten Anhängerschaft den Staat nach seinem Willen würde gestalten können, und viele nahmen an, daß er, wenn er überhaupt zur Regierungsbildung gelangen würde, notwendig in die Abhängigkeit, wenn schon nicht von den Parteien, so doch sicher der Verbände, des Militärs und der Bürokratie geraten würde.

Wie dem auch sein mochte, auf jeden Fall war keine Zeit zu verlieren und konnte nicht unentschieden abgewartet werden. Die „Zähmung“ der Sozialdemokraten hatte sich in einem jahrzehntelangen Prozeß und vor allem innerhalb einer dauerhafteren, festeren Verfassung im Lebensgefühl der aufsteigenden Linie einer optimistisch gestimmten Nation und wachsenden Wirtschaft vollzogen. Sowohl die Sozialdemokratie als auch ihre Gegner hatten sich, obwohl sie sich gegenseitig als Feinde betrachteten, praktisch abwartend verhalten. Nun aber stand alles im Zeichen der Krise und der Erwartung. Harte Entscheidungen waren unmittelbar fällig. Hitlers Partei aber zeigte auch im Ausgang des Jahres 1932, als sie nicht mehr eindeutig von der großen Welle nach oben getragen wurde, keineswegs zögernde Zurückhaltung, sondern wurde nicht müde in ihrem krampfhaft hervorgekehrten Aktivismus. In einer solchen Lage hätten die den Staat seit 1919 tragenden Parteien zu außerordentlichen Leistungen in starker Defensive oder in zusammengefaßten Gegenangriffen befähigt sein müssen. Versagten sich die Parteien dieser Aufgabe, so besiegelten sie damit noch einmal das Ende des Parteienstaates, und der Staat über den Parteien oder ohne die Parteien blieb allein übrig, um Hitler entweder abzuwehren oder einzulassen. Wie aussichtslos allerdings ein betont antiparlamentarischer Kurs ohne den Ersatz anderer Fundierung im Volk sein mußte, das zeigte sich in den Monaten der Regierung Papen. Welch großes Gewicht andererseits der Reichstag auch in einer auf den Präsidenten gestützten Notstandsregierung noch besitzen konnte, das war in der Ära Brüning deutlich geworden. Erst wenn die beiden Umsturzparteien die absolute Mehrheit gewannen, wie es im Juli 1932 geschah, konnte jede vernünftige parlamentarische Arbeit überhaupt lahmgelegt werden. Der Parlamentarismus war dann im Parlament selbst ad absurdum geführt.

Erreichte aber eine von den beiden Parteien für sich allein oder mit Hilfe einer zusätzlichen Gefolgschaft aus anderen Parteien die absolute Mehrheit, dann war der Erfolg der „legalen" Taktik eingetreten. Praktisch bedeutete das dann die Ersetzung der tatsächlich nicht mehr vor-handenen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch die vorgeblich im Mehrheitswillen des Volkes begründete Führerherrschaft nach den Vorbildern des Bonapartismus oder des Faschismus auf der einen, des Bolschewismus auf der andern Seite. Der 30. Januar und der 5. März 1933 waren die entscheidenden Stationen dieses Weges, der sich von den genannten Vorbildern durch die folgerichtig durchgehaltene Taktik der Pseudolegalität unterschied. Wenn es sich damals auch keineswegs darum gehandelt hat, daß eine Mehrheit sich für Hitler ausgesprochen hätte, oder daß die 44 ’/o Wählerstimmen für die NSDAP Tyrannei, Verlust der rechtsstaatlichen Grundlagen, Krieg und Juden-ausrottung gemeint hätten, so ist doch auf der andern Seite ebenso unzweifelhaft, daß sich in diesen Wahlen 64 % (Nationalsozialisten, Deutschnationale und Kommunisten) gegen die parlamentarische Demokratie erklärt haben und das übrigbleibende zersplitterte Drittel bis zuletzt nicht zu einheitlichem Handeln fähig war.

So hat das deutsche Volk im Reich in den Jahren 1932/33 in seiner Mehrheit den Parteienstaat abgelehnt. Daß dies in solchem Ausmaß möglich war, hatte z. T. weit zurückliegende Gründe, ging aber vor allem auf die enttäuschenden Erfahrungen mit einem politischen System zurück, das in der Vorstellung der Wähler Hitlers und Hugenbergs mit der Demokratie schlechthin gleichgesetzt wurde, obgleich es sich doch in Wirklichkeit nur um eine unzureichende demokratische Lösung unter einmaligen, außergewöhnlich widrigen Bedingungen gehandelt hat. Die führenden Politiker des scheiternden Parteienstaates, die in den Augen ihrer Gegner „versagt“ hatten, standen in vielfältiger Verstrickung, aus der sie trotz vieler kluger Einsichten und Bemühungen sich nicht wirksam zu lösen vermochten.

Diese Verstrickung kann nur durch eine Erinnerung an die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Parteiensystems in sich selbst und in seiner Beziehung zum Staat begriffen werden.

Als nach dem Ende des Deutschen Bundes sowohl im neuen Deutschen Reich wie in Österreich die verfassungsrechtliche Stellung des Berliner Reichstags und des Wiener Reichsrats für Jahrzehnte festgelegt wurde, da war das deutsche Parteiensystem in seinen Grundzügen bereits fertig ausgebildet, wenn es auch organisatorisch noch verhältnismäßig flüssig war. Zwar bedeuteten die Ereignisse zwischen Königgrätz und der deutschen Reichsgründung und mehr noch Bismarcks innenpolitische Schwenkung Ende der siebziger Jahre Zäsuren der deutschen Parteiengeschichte, vor allem deswegen, weil die Vorrangstellung der Liberalen verloren-ging. Doch blieb das Grundschema der (jeweils gespaltenen) liberalen und konservativen Parteien sowie der für die deutschen Verhältnisse besonders bezeichnenden katholischen Partei, der von Anfang an die christlich-konservative Neigung ebenso wie die christlich-demokratische Möglichkeit innewohnte, erhalten. Nur die Sozialdemokratische Partei trat, abgesehen von kleineren, meist regional bestimmten Parteien, hinzu; da ihr Aufstieg zur stärksten Partei mit schließlich nahezu einem Drittel aller abgegebenen Stimmen zwischen 1871 und 1912 etwa dem Rückgang der Nichtwähler in der gleichen Zeit entsprach, war damit in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwar eine erhebliche Gewichtsverschiebung zugunsten der Sozialisten auf Kosten der älteren Parteien eingetreten; doch setzte die Sozialdemokratie insofern die Richtung der deutschen Parteibildungen fort, als sie, wenn auch sozial weit einheitlicher festgelegt als alle andern Parteien, auf betont ideologischer Grundlage stand. In der durch die Zahl und die straffe organisatorische Erfassung ihrer Mitglieder starken Partei war die im Liberalismus verlorengegangene „Revolution" oder „Bewegung" lebendig aufgehoben, bei einer stets unruhigen Minderheit sogar immer von neuem virulent. „Bewegung" gab es vor 1914 freilich nicht nur links, sondern in zunehmendem Maße auch rechts. Im „bürgerlichen" Nationalismus, der sich selbst im scharfen Gegensatz zum „proletarischen" Sozialismus verstand, wurde das Lebensgefühl der Sicherheit und der Sättigung vielfältig durch die Unruhe unbefriedigter Wünsche oder auch schon „völkischer" und „rassischer“ Ideologien überwuchert, die in nuce durchaus nationalrevolutionär waren oder als neues Aufflackern der seit 1813 nie völlig zur Ruhe gekommenen deutschen Nationalrevolution aufgefaßt werden können. Doch war dies — von Randerscheinungen abgesehen — nur in nationalen Verbandsbildungen, noch nicht dagegen im Parteien-system abzulesen. Sowohl die konservativen als die liberalen Parteien wurden aber davon durchdrungen, wenn auch die alten Parteibezeichnungen der aus dem Vormärz stammenden Positionen noch erhalten blieben. Daß sie freilich schon überständig waren, zeigt die Tatsache, daß sie beide nach 1918 aufgegeben wurden. War in der Änderung von Parteinamen, für die der bezeichnende Begriff der „Volkspartei“ gewählt wurde, die Tendenz eines Beginns oder besser die Fortsetzung einer Entideologisierung von alten, seit den achtziger Jahren von Berufs-und Wirtschaftsinteressen durchsetzten Parteien angedeutet, so wurde dieser im Koalitionskompromiß von Zentrum und Sozialdemokratie auch links und in der Mitte bemerkbare Trend dadurch zugunsten der Bekenntnis-oder Weltanschauungspartei wieder ausgewogen, daß die Revolution von links und von rechts in neuen, wachsenden Parteiorganisationen formiert wurde. Das war ein Ausdruck dessen, daß im Moment zugespitzter revolutionärer Situation die Ideologieanfälligkeit von „Führern“ und „Massen“ stieg und dies zu militant gesteigerten Parteitypen innerhalb einer potentiellen Bürgerkriegslage führte. Das war eine zeitgemäße Ausprägung der Eigenart der deutschen Parteienbildung im Zeitalter der revolutionären Unruhe: Parteien als politische Bekenntnisgemeinschaften zu verstehen.

Starrheit in Prinzipien und Ideologie hemmen die Fähigkeit zum Kompromiß. Daher sind die deutschen Parteien von Anbeginn mehr oder weniger kompromißfeindlich und damit wirklichkeitsunsicher gewesen. Wohl wurden in der Praxis selbstverständlich stets Abstriche an den Prinzipien gemacht. Aber die Neigung, die Wirklichkeit an den politisch-ideologischen Grund-und Gegensätzen zu messen und dementsprechend die Vertreter anderer Parteien als Bekenner anderer, d. h. falscher Weltanschauungen gering zu schätzen, blieb trotz aller Abschleifung in der parlamentarischen Arbeit bis zu einem gewissen Grade bestehen. Darin lag eine der größten Gefahren für die Funktionsfähigkeit des deutschen Parteiwesens und eines der stärksten Argumente gegen eine rein parlamentarische Regierungsweise. Die Pluralität sich selbst genügender und andere ausschließender Parteien konnte allerdings im politischen Leben auf die Dauer nur dann erhalten bleiben, wenn sie entweder durch Einschränkung der Parteienkompetenz in der Verfassung oder durch eine Minderung der ideologischen Prinzipien im Interesse der praktischen Arbeit existenzfähig gemacht wurde. In der Tat ist das ältere deutsche Parteiwesen durch diese beiden Einschränkungen auf seinen Weg gebracht worden und dadurch für Jahrzehnte bis 1918 möglich gewesen.

Die deutschen konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts hatten ihre Parlamente einst zögernd aus „landständischen“ Vertretungen, in denen es keine politische Parteien gab oder geben sollte, zu gewählten Repräsentativversammlungen fortgebildet, in denen die Parteien als notwendiges Übel extrakonstitutionell hingenommen wurden. Wie aber auch Wahlrecht und Parlamentszuständigkeit im einzelnen geregelt waren, eines stand für alle Monarchien schon des Deutschen Bundes und dann seiner beiden Nachfolge-Reiche fest: Regierungsbildung und Exekutive der Monarchie waren der Einwirkung der Parlamente entzogen; die Volksvertretungen waren lediglich an der Legislative beteiligt. Eine Parlamentarisierung der Verfassung durfte es nicht geben.

Gerade dies aber war schon früh die Forderung der Liberalen gewesen, allerdings in Verbindung mit einem durch Zensus beschränkten Wahlrecht, bei dem gegenliberale Parteien mit möglicher Massengefolgschaft nicht gefährlich werden konnten. Nicht die norddeutsche Verfassungslösung Bismarcks mit dem allgemeinen Wahlrecht und der Beschränkung des Reichstags auf die Gesetzgebung und die nur mit dem Budgetbewilligungsrecht gegebene Kontrolle der Exekutive, sondern die italienische Entscheidung für den Parlamentarismus mit Zensuswahlrecht entsprach dem Ideal des klassischen Liberalismus. Bismarck setzte das Mittel des demokratischen Wahlrechts gegen den Liberalismus ein und enthielt zugleich diesem so breit fundierten Reichstag die Mitbestimmung über die Regierungsbildung vor, die von den auf diese Weise doppelt zurückgewiesenen Liberalen gefordert worden war. Es war ein Sieg Bismarcks und des monarchischen Staates oberhalb der Parteien, daß dem Wunsch der Liberalen nicht stattgegeben wurde und das neue Deutsche Reich ein konstitutionell verfaßter Bund konstitutioneller Monarchien unter dem Kaiser und dem Reichskanzler als dem allein „verantwortlichen“ Minister blieb.

Die Liberalen beider Richtungen betrachteten die Frage jedoch nicht als erledigt, sondern nahmen sie in das neue Reich als eine der politischen Forderungen für die Zukunft mit hinein. Doch blieben sie damit allein. Denn die traditionsbestimmten Gruppen lehnten Zugeständnisse an den Liberalismus oder an die Demokratie ab. Die junge Sozialdemokratie aber hatte andere Sorgen, als ausgerechnet den Kampf um die Parlamentarisierung zu führen, da sie auf lange Sicht keine Aussicht auf eine Mehrheit oder auf Mehrheitsbildung in Koalitionen haben konnte. Auch im Erfurter Programm war die Forderung noch nicht ausdrücklich ausgenommen. Engels sah darin allerdings einen schweren Fehler. Wenn man sich schon aus taktischen Gründen im Programm an der Republik vorbeidrücke, so schrieb er in seiner Kritik, so müßte doch wenigstens „die Forderung der Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“ ausgenommen werden; denn nur „unter der Form der demokratischen Republik“ könne die Arbeiterklasse mit der Sozialdemokratie „zur Herrsdtaft kommen Tatsächlich hat sich die Sozialdemokratische Partei dann, je stärker sie wurde, um so mehr dem parlamentarischen System angenähert und die Zweckmäßigkeit des Weges über die Parlamentarisierung mit oder ohne Monarchie eingesehen. So wurde sie gegen Ende des Kaiserreichs zur stärksten Kraft für die parlamentarische Regierungsweise — zu einer Zeit, als die Liberalen längst in der Verfolgung dieses Ziels erlahmt waren, ohne daß sie es auf der linken Seite aufgegeben und auf der rechten Seite einhellig abgelehnt hatten.

Diese Lähmung der liberalen Energie im Hinblick auf die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit war im Grunde schon im Kompromiß der Verfassung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches enthalten gewesen. Die Nationalliberalen hatten Bismarck nachgegeben, und die Fortschrittspartei war so weit in ihren Einflußmöglichkeiten beschränkt, daß sie zwar in ihren Wahlaufrufen noch daran festhielt, daß „erst nach Schaffung eines dem Reichstage politisch und rechtlich für den Gang der Gesetzgebung und Verwaltung verantwortlichen Reichsministeriums“ die „Vertretung des deutschen Volkes die ihr gebührende Stellung einnehmen“ werde daß sie aber praktisch dies Ziel vertagte, wie es den Verhältnissen und wohl auch der überwiegenden Volksstimmung entsprach. Bei den Nationalliberalen war die Frage schon in den sechziger Jahren nicht eindeutig beantwortet worden. Heinrich v. Sybel hatte in seiner Vorlesung über Politik im Winter 1864/65 die „unbegrenzte Ausdehnung“ der Ministerverantwortlichkeit, wie sie sich in England herausgebildet hatte, als „abnorme Entwicklung“, erklärbar nicht „aus den Prinzipien der konstitutionellen Staatsform“, sondern nur als „Ausbeugung aus derselben zur republikanischen hinüber“ bezeichnet Nachdem aber die parlamentarische Regierungsweise erst einmal abgewehrt worden war und die Eingewöhnung in die gegebenen Verhältnisse sich ausgewirkt hatte, da mehrten sich die Bedenken gegenüber dem alten Ziel eines dem Reichstag verantwortlichen Reichsministeriums, nicht zuletzt angesichts der Gefahren, die in der deutschen Parteienstruktur und in einem Reichstag sichtbar wurden, in dem der gespaltene Liberalismus nicht mehr auf eine Dominanz hoffen konnte, wie sie zur Zeit der Reichsgründung vorhanden gewesen war. Im nationalliberalen Programm von 1881 und in der Heidelberger Erklärung von 1884 wurde das Ziel nicht mehr erwähnt.

Wie weit die Einsicht in die Fragwürdigkeit der deutschen'Parteien-pluralität gerade bei manchen Nationalliberalen ging, zeigt beispielhaft die Schrift des badischen Staatsministers der Reichsgründungszeit Jolly, „Der Reichstag und die deutschen Parteien" (1880) die hier repräsentativ für eine aus bitterer Erfahrung kommende Selbstkritik nationalliberaler Politik und verfassungspolitischer Hoffnungen Stehen möge. , Jolly erklärte scharf, „daß für uns das sogenannte parlamentarische Regierungssystent eine Unmöglichkeit ist“. Dafür gab er vor allem vier Gründe an: 1. Der monarchische Staat habe seine feste Tradition und erprobte Praxis; er bedürfe der Unabhängigkeit von den Parteien, denen er durch die Konstitution so weit entgegengekommen sei, wie es der politischen Zweckmäßigkeit entspreche. Jolly sprach also damit die bis in den Weltkrieg hinein weithin vorherrschende Überzeugung aus, daß die konstitutionelle Monarchie eine weise und bewährte Verfassung sei, durch die die Extreme der Revolution und der Restauration vermieden würden. 2. Die Tatsache, „daß wir viel. zu viele Parteien haben“, sei „schon rein äußerlidt betrachtet“, ein Hindernis für die Parlamentarisierung, Keine Partei habe Aussicht, die absolute Mehrheit zu erlangen; zu einer Konzentration auf nur zwei große Parteien sei keine Aussicht vorhanden. „So wäre das parlamentarische Regierungssystem bei uns sofort zu Koalitionsministerien mit aller ihnen anhängenden Scltwäche und Korruption genötigt.“ Zudem seien über ein Drittel der Abgeordneten im Reichstag als „Ultramontane“, Sozialdemokraten, Elsässer und Polen dem Reiche grundsätzlich feindlich gesinnt. Wie aber sollte im übrigen Teil des Reichstags bei den Gegensätzen der liberalen und konservativen Parteien eine stabile Regierung auf parlamentarischer Basis möglich sein? 3. Diese Frage verschärfte sich für Jolly dadurch, daß er keine Partei für wirklich „regierungsfähig“ hielt. Die Fortschrittspartei sei wegen ihres „starren Prinzips“ zur Führung der Geschäfte ungeeignet. Aber auch die Nationalliberalen seien trotz ihrer'Neigung, praktische Kompromisse zu schließen, kaum in der Lage, eine kontinuierliche Regierungspolitik durchzuhalten, weil die Partei sehr locker gefügt und nur durch „Überzeugungen“ zusammengehalten würde. Ein parlamentarisches Regierungssystem, wie Jolly es in Großbritannien vorgebildet sah, brauche aber Disziplin und Fraktionszwang, wozu die Nationalliberalen nicht in der Lage seien. 4. Schließlich verbiete auch das Verhältnis der in Frage kommenden Parteien zueinander den vollen Parlamentarismus. „Die Gegensätze zwischen ihnen sind so scharf, die Grundlagen, auf welchen sie ruhen, so verschiedenartig, daß ein Wechsel des Regiments zwischen ihnen, die Leitung des Staates abwechselnd nach dieser oder jener Parteirichtung unvermeidlich zur Verwirrung führen müßte. Das parlamentarische Regierungssystem setzt Parteien voraus, weiche grundsätzlich nicht allzuweit auseinanderstehen und die einzelnen im Staatsleben auftretenden Probleme im wesentlichen nadt dem gleichen Maßstab beurteilen.“ In Deutschland greife die Unterschiedlichkeit der Parteien jedoch sehr viel tiefer. „Sie gehen von spezifisch verschiedenen Gesichtspunkten aus, und ihr eigentlicher Kampf gilt der Frage, welche allgemeine Norm das Staatsleben beherrschen soll. In dieser periodisch zu wechseln, ist aber ohne Auflösung des Staates unmöglich.“

Jolly hat damit gewiß die am schwersten wiegenden Einwände gegen ein parlamentarisches Regierungssystem in Deutschland ausgesprochen, und man wird sie schwerlich in ihrem Gewicht vermindern können. In dieser liberalen Kritik konnte eine starke Rechtfertigung für die Verfassungsentscheidung Bismarcks gesehen werden. Jollys Argumente ließen und lassen sich auch nachträglich kaum entkräften. Die einzige Frage, die seinen Thesen entgegenzustellen wäre, ist die nach der Dauerhaftigkeit eines solchen monarchischen Systems, dessen Regierung über den Parteien faktisch mehr und mehr zu einer nicht offiziellen Parteiregierung der Konservativen wurde. Wenn eine wachsende Mehrheit im Reichstag entsprechend dem allgemeinen Zug der Willensbildung im Volk sich gegen dies Regierungssystem mit seinen vielfältigen, nicht zuletzt sozialen Auswirkungen stellte, was blieb auf die Dauer für ein anderer Weg übrig als der zur Parlamentarisierung, sofern es nicht zu schweren inneren Spannungen und zu einem freiheitsbeugenden Gewaltregime kommen sollte, das dem Geist der konservativen Beamtenherrschaft mit ihren liberal-rechtsstaatlichen Gewohnheiten nicht entsprach? Von da aus kann mit Recht, im Einklang mit der liberalen Zeitkritik, gefragt werden, ob das Risiko einer parlamentarischen Verantwortlichkeit nicht von Anfang an hätte eingegangen werden können. Gewiß war das junge deutsche Parteiensystem dazu um 1870 noch nicht reif. Aber Reife wird durch praktische Bewährung erworben, und angesichts der Aufgabe hätte — ruhige und stabile Verhältnisse vorausgesetzt — die Prinzipienstarrheit einer dann unumgänglichen Kompromißbereitschaft in den Staatsgeschäften weichen können. Diese Probe ist nicht gemacht worden.

Die Jollyschen Argumente gegen das parlamentarische System blieben über die Nationalliberalen weit hinaus im Grunde maßgebend für die Zeit bis 1914, soweit überhaupt noch über diese Frage nachgedacht wurde. Die Eingewöhnung in die gegebenen Verhältnisse war stark, und es gab scheinbar vordringlichere Angriffsflächen der bestehenden Ordnung, in erster Linie die Wahlrechtsfragen in den Bundesstaaten, vor allem in Preußen. Selbst Friedrich Naumann ging nur zögernd an die Forderung der Parlamentarisierung heran; und im Reichstag wurde die Frage erst wieder während der Daily Telegraph-Affäre akut, ohne daß sie danach aber bis zum Ausbruch des Weltkrieges vordringlich auf der Tagesordnung gestanden hätte I 0). Erst während des Krieges, in einer Situation, als Max Weber seine großen Artikel in dieser Sache schrieb drängte die Parlamentarisierung nach vorn. Die lange kaum gespürte Spannung mußte nun gelöst werden. Aber es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß dem eine starke Willensströmung im Volk oder bei den Mehrheitsparteien zugrunde lag. Die Überzeugung war weit über die Rechtsparteien hinaus, mehr oder weniger bewußt und eingestanden, verbreitet, daß die konstitutionelle Monarchie für Deutschland bei der vorzüglichen Staats-und Verwaltungspraxis einerseits, der Vielzahl von Weltanschauungsparteien andererseits einem parlamentarischen Regierungssystem vorzuziehen sei. Zwar ist schon damals und dann in der nachträglichen Betrachtung oft darauf hingewiesen worden, daß trotz der von Max Weber festgestellten und bedauerten „negativen“ Rolle des Reichstags in der Verfassungswirklichkeit alle Parteien sich im parlamentarischen Leben und in Wahlbündnissen daran gewöhnt hatten, Abstriche von Prinzipien zu machen, wenn es sich um greifbare politische Ziele oder um sachlich begründete Notwendigkeiten handelte. Aber das war doch nur begrenzt für die Haltung der Parteien maßgebend geworden. Das konstitutionelle System erforderte keine klaren Regierungs-oder Oppositionsverbindungen, sondern konnte mit wechselnden Mehrheiten für die jeweils anstehenden Gesetzesvorlagen arbeiten. Ja, Bismarck hatte sogar die einzige große Partei, die einmal zu einer regierungsparteiähnlichen Stellung aufgerückt war und diese Stellung auch angestrebt hat, nämlich die Nationalliberalen der Reichsgründungszeit, absichtlich zur Seite gespielt, geschwächt und ihre Spaltung betrieben. Die deutsche Parteizersplitterung wurde nicht, wie z. B. in Frankreich, durch notwendige Verbindungen im parlamentarischen Betrieb zum Zwecke der Regierungsbildung bis zu einem gewissen Grade unschädlich gemacht, sondern blieb voll bestehen, weil jede Partei in ihrer relativ machtlosen Rolle immer wieder dazu verleitet wurde, die Unfehlbarkeit ihrer politischen Weltanschauung zu behaupten. Das blieb auch bestehen, als die Parteien allmählich stärker mit Wirtschaftsinteressen durchsetzt wurden, wenngleich dadurch die Peinlichkeit der Unterscheidung von „Real“ -und „Idealfaktoren“ zunehmend empfunden und angeprangert wurde. Darin lag eine wichtige Voraussetzung der nur allmählich wirksam werdenden und nur zögernd zugegebenen Tendenz zur Entideologisierung. Im Grunde litten alle Parteien vor 1914 mehr oder weniger an der Frage des Revisionismus, die nicht allein die Sozialdemokraten betraf. Das ergab sich, aus der allgemeinen Diskrepanz von Ideologie und Wirklichkeit, die überall dort am brennendsten war, wo weltanschauliche Prinzipien besonders hervortraten. Die Sozialisten waren am stärksten davon betroffen; denn ihre politische Ideologie war nicht nur die jüngste, sondern auch die systemvollendetste und am meisten zur orthodoxen Rechtgläubigkeit verpflichtende. Die Konservativen hätten an sich kaum weniger von der Not des Revisionismus erfaßt sein müssen. Doch wirkte dem die Tatsache entgegen, daß sie in der theoretisch „über den Parteien“ stehenden, tatsächlich aber immer reiner konservativ bestimmten „Beawtenberrsdtaft“ ihre Bestätigung in der Wirklichkeit fanden und dementsprechend meinten, gegenüber der Demokratie die Augen verschließen zu können; sie erschien ihnen vermeidbar und war doch unvermeidlich. Im Gegensatz zur konservativen Beharrung regte sich bei den Liberalen aller Richtungen um die Jahrhundertwende vielfach neues Leben mit ausgeprägt „revisionistischer“ Tendenz. Es mag dafür genügen an Friedrich Naumann oder an die Jungliberalen zu erinnern. Am meisten begründete Selbstsicherheit bewies inmitten dieser Unruhe das Zentrum, das längst seinen einträglichen Frieden mit Reich und Staat geschlossen hatte, so daß Friedrich Naumann 1910 von einem „konservativ-klerikalen Staat“ sprechen konnte Gleichwohl besaß das Zentrum eine so breite volkstümliche Basis, nicht zuletzt in der Arbeiterschaft, daß es schon vor dem Weltkrieg durchaus auch für eine mögliche demokratische Entwicklung prädisponiert war.

Eine entscheidende Wandlung des deutschen Parteiensystems wurde durch die revisionistische und reformerische Bewegtheit der Jahre nach der Jahrhundertwende nicht herbeigeführt, wenn wir von einer gewissen Konsolidierung und Zusammenfassung der Kräfte im linken Liberalismus absehen. Schlecht und recht schienen sich das Reich und die Staaten auf die Parteien und diese wiederum auf die Reidts-und Staatsverfassungen eingestellt zu haben. Darin war allerdings die Gefahr eingeschlossen, daß bei solcher Eingewöhnung allzusehr die notwendige Elastizität verlorenging und durch die Erstarrung der Verfassung neue „Bewegung“, auch außerhalb der Parteien, provoziert wurde.

Wenn sich trotz allem, was dagegen wirkte, der Gedanke der Parlamentarisierung im Jahrzehnt vor dem Weltkrieg mehr latent als offen vorbereitete, so daß er dann in der zweiten Hälfte des Krieges sich fast wie von selbst durchsetzen konnte, so waren dafür vor allem zwei Gründe maßgebend: 1. Die reine „Beamtenherrsdiaft“ war in der politischen Wirklichkeit nur noch z. T. Regierung und Verwaltung „über den Parteien“, da sie seit der Wende von 1878/79 und verstärkt seit dem Beginn Wilhelms II. durch das am schärfsten von Max Weber formulierte Axiom bestimmt war, „daß jede Regierung und ihre Vertreter natur-notwendig , konservativ'sein müßten, einige Konzessionen an die Patronage der preußischen Bourgeoisie und des Zentrums in den Kauf nehmend. Dies und gar nichts anderes bedeutet bei uns die . Überparteilichkeit'der Beamtenherrschaft.“ Je mehr nun in Preußen und im Reich dieses konservative System sich antidemokratisch und antiparlamentarisch verhärtete, um so mehr wurde eine Stimmung gegen diese unzeitgemäße Rüdewendung bei allen Parteien links von den beiden konservativen Parteien herausgefordert. Diese Stimmung war nicht nur bei den Abgeordneten, sondern auch im Volk weit verbreitet, mochte sie auch durch das gewohnte Treuebewußtsein gegenüber der Monarchie, in der es von altersher „sauber“ zugegangen war, weit bis in die Sozialdemokratie hinein immer wieder überdeckt werden. Doch dies traditionelle Bewußtsein, auf das sich Kaiser Wilhelm II. noch in den ersten Novembertagen 1918 allzu leichtfertig verließ, konnte auf die Dauer nicht mehr als wirksames Gegengewicht gegen die demokratische Strömung angesehen werden. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen gaben ein beredtes Zeugnis dafür ab. Härteren Belastungsproben konnte der monarchische Bundesstaat nur dann noch gewachsen sein, wenn er den politischen und sozialen Bewegungen gegenüber elastisch blieb, nicht aber, wenn er sich im Sinne der Konservativen prinzipiell und verächtlich der Demokratie gegenüber verschloß. In diesem Zusammenhang stand die Parlamentarisierung. 2. Die Sozialdemokraten, hatten sich seit 1890 immer mehr zu einer Partei entwickelt, die trotz offizieller Beibehaltung ihrer revolutionären Prinzipien faktisch Kompromisse oder taktisches Zusammengehen mit anderen Parteien, z. B. bei Wahlbündnissen oder in den kommunalen Vertretungskörperschaften, nicht mehr scheute und damit, eigene Hemmungen allmählich überwindend, der Arbeit in den Parlamenten praktisch und theoretisch ein immer größer werdendes Interesse entgegenbrachte. Damit wurde längst vor dem Weltkrieg die seit 1917 offene Bemühung um die Parlamentarisierung der Verfassung vorbereitet. So ist es verständlich, daß in der Krise des zu Ende gehenden Weltkrieges die Parlamentarisierung gewissermaßen „von selbst“ kam, wie es Friedrich v. Payer einmal ausgedrückt hat. Das alte Ziel der Liberalen ging nun seiner Verwirklichung entgegen, weil die starre Politik Preußens und des Reichs unter Wilhelm II. in eine Sackgasse geführt hatte, weil die sozialdemokratische Massenpartei sich der parlamentarischen Demokratie zuwendete, weil im Liberalismus beider Richtungen sich neue Kräfte regten und weil das Zentrum keineswegs, wie Naumann mit seiner Parole „Non Bebel bis Bassermann“ meinte, mit den Konservativen zurückzubleiben brauchte, sondern gute Voraussetzungen dazu entwickelt hatte, sich der demokratischen Strömung anzuschließen. Es muß aber noch einmal betont werden, daß Zentrum und Sozialdemokratie nach wie vor auch andere Tendenzen in sich trugen, konservative auf der einen, revolutionäre auf der anderen Seite, daß es also eigentlich nur die Linksliberalen waren, denen das Ziel vollkommen eignete; und selbst diese waren lange Zeit im Kampf darum erlahmt gewesen.

Gemessen an der Geschichte und Struktur des deutschen Parteien-systems war es ein Wagnis und eine zukunftsverheißende Leistung, daß sich im Jahre 1917 drei — oder vier, wenn die Nationalliberalen hinzugerechnet werden — große Parteien, deren ideologische Richtungen sich gegenseitig ausschlossen, zum großen verfassungspolitischen Kompromiß zusammenfanden indem sie schließlich in der Verfas-‘sung von Weimar alle ein wenig von ihren eigenen Wünschen durchsetzten, aber doch auch alle etwas von ihrer „Unfehlbarkeit“ aufgaben, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Das Ziel war der neue demokratische Staat, der von einer breiten Majorität getragene Parteienstaat. Die Wähler gaben dem Kompromiß der „Weimarer Koalition“ in den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 eine Dreiviertelmehrheit, die sich auf vier Fünftel erhöht, wenn Stresemanns Deutsche Volkspartei noch hinzugezählt wird. Darin lag viel Hoffnung für die Zukunft. Es konnte mit Recht gefragt werden, ob es nicht möglich sein würde, das abseits stehende Fünftel links und rechts der großen tragenden Mitte wenn nicht aufzusaugen, so doch in einflußloser Rand-lage zu belassen. Die Erwartung war nicht unbegründet, daß die plötzlich eingetretene volle Verantwortung der maßgebenden Parteien für den Staat würde durchgehalten werden können, nicht im Sinne der später viel berufenen Mediatisierung des Staates durch die Parteien, sondern durch Hineinwachsen der Parteien in die Staatspolitik. In der Tat war ein staatsbürgerliches Bewußtsein der drei oder vier Mehrheitsparteien im Jahre 1919 so lebendig, daß diese Hoffnung nahelag.

Schwung und Zuversicht haben den Gründern der deutschen Demokratie 1919 nicht gefehlt.

Aber dieser Schwung reichte doch nicht aus; er wurde sowohl durch die widrigen Umstände im Gefolge der Niederlage wie auch durch die traditionelle Belastung der Parteien selbst gehemmt; denn diese blieben doch trotz aller Einschränkungen Weltanschauungsparteien mit Über-zeugungen und Interessen, die sie voneinander trennten, und sie waren in ihrer bisherigen Geschichte und durch ihre bisherige Führerauslese nicht genügend auf den großen Umschwung vorbereitet, in dem sie den demokratischen Parteienstaat gewinnen, aber auch verspielen konnten. Vor allem aber standen außerhalb ihres großen Kompromisses drei wichtige, unter den schweren Belastungen der Niederlage kaum ein-schmelzbare Richtungen mit starkem Ausschließlichkeitsanspruch und dem Selbstbewußtsein der über die parlamentarische Demokratie hin-ausweisenden „Bewegung“. Dazu gehörten in erster Linie die revolutionären Sozialisten, die sich links von der Sozialdemokratie und z. T. auch schon links von den LInabhängigen Sozialdemokraten ihre neue Organisation suchten und sie schließlich im Anschluß an die Dritte Internationale zu finden meinten, soweit sie nicht zur Sozialdemokratie zufückkehrten und dort den linken Flügel verstärkten, in dem der Klassenkampf vor den staatspolitischen Kompromiß gesetzt wurde. Ferner zählten hierzu die restaurativ gesinnten Anhänger des gescheiterten, aber angeblich „verratenen“ und „unbesiegten“ Kaiserreichs. Nachdem der erste Schock überwunden war, besannen sie sich auf ihre überdauernden Werte und erklärten die alte Staatsform als der Demokratie ausdrücklich überlegen, so daß sie das vergangene Leitbild in die Zukunft projizierten. Der Übergang von dieser schwarz-weiß-roten Bekenntnisgemeinschaft zu der letzten Richtung, der nationalrevolutionären, war fließend. Doch müssen sie beide schon zu Beginn der Weimarer Republik unterschieden werden. Diejenigen, die Franz Schau-wecker aussprechen ließ: „Wir haben das Zutrauen zu früheren Zeiten verloren“ oder „Wir wußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen“ waren die sich politisch heimatlos fühlende national-revolutionäre Rechte, die die „Reaktion" ebenso verachtete wie sie die Demokraten und Sozialisten haßte. Bei ihr begann die „konservative Revolution“ zu gären. Sie sammelte sich unter allerlei völkischen Symbolen, um dann später entweder in hündischen Formen doch zum bestehenden Staat zu finden oder sich dem Nationalsozialismus zu verschreiben, ungerechnet die radikalen Einzelgänger, die stets abseits blieben.

Zwar entsprachen diese drei Richtungen nicht genau den Parteien, die sie vor allem zu vertreten schienen, den Kommunisten (bis 1920 auch z. T.den Unabhängigen Sozialdemokraten), den Deutschnationalen und den Nationalsozialisten, da sie auch in die staatstragenden Parteien hineinwirkten öder ihre Anhänger außerhalb der Parteien besaßen. Doch waren diese republikfeindlichen Ideologien oder Stimmungen immerhin in den drei genannten Parteien vorwiegend ausgeprägt und dort am wenigsten durch Zugeständnisse abgeschwächt. Diese drei Parteien erhielten bei den Wahlen in Prozent aller abgegebenen Stimmen (1919 und 1920 noch mit USPD und ohne NSDAP)

Dieser negativen, 1924— 1928 nur schwach unterbrochenen Kurve kann das Korrelat des Abstiegs der drei Parteien des parlamentarischen Kompromisses von 1917— 1919 entgegengestellt werden. SPD, Zentrum und Deutsch-Demokraten erhielten in Prozent der abgegebenen Stimmen (1919 noch einschließlich der bayerischen Zentrumsstimmen; von 1920 an war die Bayerische Volkspartei abgespalten; sie kann dem Zentrum nicht ohne weiteres zugezählt werden; ihr Anteil lag ziemlich gleichbleibend zwischen 3 und 4 Prozent)

Aus diesen Ziffern allein läßt sich ablesen, daß der große Versuch des staatspolitischen Parteienkompromisses bereits im Jahre 1920 gescheitert war. Die Weimarer Koalition war mit den Wahlen vom Juni 1920 zu Ende gegangen. Sie wurde unter Wirth nur kurze Zeit noch einmal wiederholt. Von 1920 an waren Regierungsbildungen mit sicherer parlamentarischer Mehrheit nur noch mit Hilfe von mindestens vier Parteien möglich. Es lag nahe, die zeitweise schon 1917 im Interfraktionellen Ausschuß des Reichtstags hergestellte Verbindung von den Sozialdemokraten bis zu den Nationalliberalen, nunmehr der Deutschen Volkspartei, zu wiederholen und damit in einer „Großen Koalition“ alles zusammenzufassen, was im staatsbejahenden Sinne gegen das demokratiefeindliche gute Drittel zuzüglich einiger wenig einfügungswilliger Splitterparteien einzusetzen war. Doch war das bereits eine Überspannung, die nicht durchgehalten werden konnte, weil der rechtsliberale und der sozialistische Flügel dieser Koalition sowohl aus ideologischen wie vor allem aus sozial-und wirtschaftspolitischen Gründen nicht zusammengehalten werden konnte. Die Republik von Weimar hat vom Juni 1920 an keine sicher tragfähige parlamentarische Mehrheit für eine stabile Regierung mehr besessen. Da es keinen verfassungsrechtlichen Schutz gegen den beliebig erzwingbaren Sturz der Regierung durch parlamentarisches Mißtrauensvotum gab, lebten die Kabinette stets nur kurze Zeit, und nach dem immer neuen „Kuhhandel" der Parteien folgte eine Regierungskrise auf die andere. Wenn es keine Ansätze zur Vereinfachung des Parteiensystems gab, dann bestand auch kaum Aussicht darauf, daß ein Verfassungswandel zugunsten eines besser funktionierenden Parteienstaates eintreten konnte. Die innere Krise des Kaiserreichs war in der Not des Weltkrieges offen zutage getreten. Damals hatte sich die Rettung durch das parlamentarische System angeboten. Doch geriet dies dann seinerseits bereits 1920 in seine mehr oder weniger offene Dauerkrise. War es nicht aus eigener Kraft zur Regeneration fähig, so konnte es einer ernsthaften Gefährdung ebensowenig gewachsen sein wie das monarchische Reich im Jahre 1917/18. Woher sollte dann die Rettung kommen? Die drei oben bezeichneten Richtungen der linken oder rechten Revolution sowie der konservativen Restauration boten sich dafür an. Aber auch in der Verfassung selbst lag die Möglichkeit der Hilfestellung durch eine vorübergehende Verlagerung des Schwergewichts von den Parteien auf den Reichspräsidenten. Die Entscheidungssituation war im März 1930 und deutlicher noch nach den Septemberwahlen von 1930 gekommen.

Das unter solchen Bedingungen im März 1930 eintretende Ende des Parteienstaates ist bekanntlich durch die Übertragung der Klassen-kampffront auf die Flügelparteien der die Reichsregierung bildenden Koalition in der fortschreitenden Wirtschaftskrise herbeigeführt worden. Die desintegrierenden Parteistandpunkte, vor allem bei der Deutschen Volkspartei und den Sozialdemokraten, hatten sich endgültig stärker gezeigt als die in der Stunde der Gefahr von vielen, besonders von Heinrich Brüning, beschworene Pflicht zum Zurückstellen des Trennenden um der Rettung des Staates willen. So wie die kaiserliche Innenpolitik 1917/18 im Zeichen der Vaterlandspartei auf eine schmale konservativ-rechtsliberale Basis reduziert worden war, so schrumpfte 1930 die sichere Plattform des Staates im wesentlichen auf die zwei Mittelparteien der ehemaligen Weimarer Koalition zusammen. In dieser Reduktion kam zum Ausdrude, daß endgültig nicht gelungen war, was 1919 auf der Tagesordnung gestanden hatte: die Sozialdemokratie zur bestimmenden, linksdemokratischen Staats-und Volkspartei zu machen. Weder hatten es die Führer und Funktionäre der Partei selbst vermocht, diese auf lange Sicht wahrscheinlich unaufhaltsame Entwicklung in die Hand zu nehmen, so daß sie zwischen „Staatspartei“ und „Klassenkampfpartei" hin-und hergerissen wurden, noch wurde den „Roten“'von der bürgerlichen Rechten, die in der Bürokratie und im Heer nach wie vor vorherrschte, zugestanden, daß sie als aufbauwillige politische Partner auf die Dauer in Betracht kommen durften. Wohl hatte die Eingliederung des Arbeiters in die Nation ebenso Fortschritte gemacht wie das Hineinwachsen der Sozialdemokratie in den Staat, aber die Feinde dieses Prozesses innerhalb und außerhalb der Partei waren zwN sehen 1920 und 1930 stets so stark, daß diese Entwicklung immer wieder verdächtigt und bekämpft wurde.

Nicht minder verhängnisvoll für die Parteiendemokratie war der Schwund derjenigen Partei, die allein von Haus aus ohne innere Vorbehalte stets die Parlamentarisierung der Reichsverfassung bejaht hatte: der Linksliberalen, die sich 1918 folgerichtig als Demokraten bezeichnet hatten und 1930 die Entscheidungsstunde der deutschen Demokratie dadurch zu deuten versuchten, daß sie sich „Staatspartei“ nannten. Von 1919 bis 1930 waren sie von 5, 6 auf 1, 3 Millionen Stimmen, von 18, 6 auf 3, 8 Prozent des Stimmenanteils und von 75 auf 20 Reichstagsmandate zurückgegangen. Außerdem war die Deutsche Volkspartei fast unmittelbar nach dem Tode Stresemanns im Herbst 1929 nach rechts abgeschwenkt, ohne sich freilich damit retten zu können. Denn auch sie lag 1930 nur noch unwesentlich über der Stärke der demokratischen „Staatspartei“. Das Absterben des Liberalismus, soweit er in politischen Parteien in Erscheinung trat, war während der zwanziger Jahre fortgesetzt im Gange und 1932 so gut wie vollendet. Denn beide Parteien konnten in diesem Jahr nur noch 2 bis 3 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen.

Da seit 1920 die Weimarer Koalition kaum noch möglich war und andere Mehrheitsbildungen, in denen die Sozialdemokraten eingeschlossen waren, bei dem nun einmal bestehenden Gegensatz zwischen „Marxisten“ und „Bürgerlichen“ rechts vom Zentrum Überdehnungen waren, gewann seit 1920 und mehr noch seit 1924 die große Rechts-partei der Deutschnationalen entscheidende Bedeutung. Sie verdoppelte ihren Anteil zwischen 1919 und der Dezemberwahl von 1924 von 10, 3 auf 20, 5 Prozent. Beharrte sie auf ihrer scharf antirepublikanischen Einstellung, so wurde sie damit zu einer schweren, auf die Dauer kaum erträglichen Belastung für den demokratischen Parteienstaat. Wurde sie aber koalitions-und damit kompromißwillig, dann war viel gewonnen, und sie konnte womöglich neben dem katholischen Zentrum zu einer großen demokratisch-konservativen Partei werden, mochten ihre älteren Anhänger und eine Weile auch ihr Programm noch so sehr an alten Leitbildern der konstitutionellen Monarchie orientiert bleiben. Ob es gelingen konnte, die vor 1918 staatstragende Rechte, die mehr war als nur die Nachfolgerin der alten Konservativen, auf den Boden des neuen Staates hinüberzuziehen, darin lag in der Mitte der zwanziger Jahre — neben dem Wandel der Sozialdemokratie zur „Staatspartei" — die innerpolitische Lebensfrage für die Weimarer Republik. In der Tat ist dieser Weg, freilich unter Hemmungen und Hindernissen, halbwillig oder gar widerwillig, zwischen 1924 und 1928 eingeschlagen worden. Als diese Entwicklung 1928 jedoch durch Hugenberg abgeschnitten wurde, da erwies sich die Parteispaltung als unvermeidlich. Die sich trennenden Volkskonservativen konnten sich zwar in den Wahlen von 1930 nur schwach und später überhaupt nicht mehr behaupten, aber auch Hugenberg vermochte seit 1930 die Stärke der alten Deutschnationalen Volkspartei vor der Spaltung nie wieder zu erreichen. Sie blieb bis zum Ende stets nur etwa halb so stark wie in der Mitte der zwanziger Jahre. Nur um den Preis dieser Halbierung rettete Hugenberg die Linientreue der „nationalen Opposition“ mit ihrer Feindschaft gegen die Demokratie, zu der fortan keine Brüche mehr führen sollte. Von 1930 an ist es daher wieder zulässig, die Deutschnationalen unter dem Gesichtspunkt der unbedingten Republik-feindschaft mit Nationalisten und Kommunisten zusammenzusehen, während die oben wiedergegebenen Ziffern dieser politischen Negation des Staates von Weimar für die zweiten Wahlen von 1924 und die von 1928 nur bedingt Gültigkeit haben.

Der März 1930 bedeutet nicht nur deswegen das eigentliche Ende des pluralistischen Parteienstaates, weil die Parteien, auf die es ankam, sich inmitten der wachsenden Krise der Wirtschaft und der Staatsfinanzen, in der schnell gehandelt werden mußte, selbst ausgeschaltet hatten. Der 30. März ist vielmehr auch deswegen als Endtermin des Parteien-staates der bisherigen Art anzusehen, weil mit dem Versuch einer Präsidentschaftsrepublik begonnen wurde, sei es nur im Sinne der Überbrückung einer Notlage, sei es mit der Absicht, die Verfassung zu gegebener Zeit zu revidieren. Derselbe Brüning, der im Februar und März offenbar ehrlich und unermüdlich bis zum Schluß darum bemüht gewesen ist, die Koalition am Leben zu erhalten und die auseinanderstrebenden Flügel zu einigen, verband sich nun als Kanzler mit denen, die die starke Stellung des Reichspräsidenten für die Bildung eines „Staates über den Parteien“ einzusetzen gedachten. Als Kanzler war Brüning von vornherein dazu entschlossen, diesen Weg zu beschreiten und keine Rücksicht auf die Parteien mehr zu nehmen, sofern sie sich seiner „sachlich“ begründeten Politik der „Sanierung“ widersetzten. Dabei wollte er gemäß dem Willen Hindenburgs seine Basis so weit nach rechts erweitern, wie es im Sinne einer „konservativen Demokratie" mit Parteien, aber unter verfassungsrechtlich zulässigen Sicherungen gegen parteipolitische Desintegration des Staates möglich war. Da Hugenberg versagte, blieb diese „volkskonservative“ Basis jedoch schmal. Und indem Brüning nach dem Willen Hindenburgs und seiner Umgebung einen Kompromiß mitdenSozialdemokraten nicht nur nicht suchte, sondern von vornherein ablehnte, schnitt er sich den Weg zur. Parteiendemokratie, die er nach seinen Erfahrungen vom Frühjahr 1930 in der fortschreitenden Krise nicht mehr für funktionsfähig hielt, bewußt ab. Er ließ es zum Konflikt mit dem Reichstag kommen und war dann, als dieser Reichstag die Notverordnung abgelehnt hatte, zur Auflösung gezwungen, wenn er seinerseits nicht nachgeben wollte. Sicherlich darf auch nachträglich der damals von der Sozialdemokratischen Partei vertretenen These zugestimmt werden, daß ein Eingehen auf ihre Sanierungsvorschläge möglich, daß Brünings Versuch also nicht der allein denkbare und darum mit dem Staatsnotstand zu begründende gewesen wäre. Aber Brüning war in reiner Sachlichkeit, wie er sie auffaßte, von der Notwendigkeit seiner Wirtschaftspolitik überzeugt und glaubte darüber hinaus auf Grund seiner Herkunft und seiner Erfahrungen, daß es nicht nur darum ging, die von ihm für unerläßlich gehaltene Notverordnung durchzusetzen, sondern die Grenzen des von den Parteien unabhängigen Staates wieder so weit vorzustecken, wie es ihm durch die Erfordernisse einer von den innerpolitischen Spannungen möglichst freien Regierungs-und Verwaltungspraxis geboten erschien. Brüning hatte sich wirtschafts-und verfassungspolitisch für einen Kurs entschieden, der, koste es, was es wolle, angenommen werden mußte, widrigenfalls aber erzwungen werden sollte. „Nicht um Parlatneutsrecht, sondern um Parlawentspflicht, nicht um Volksrecht gegen Diktatur, sondern um Volkswohl gegen rücksichtslose Parteiherrscl-iaft“ gehe der Kampf Brünings, so betonte Prälat Kaas auf der Schlußsitzung der Reichstagsfraktion des Zentrums nach der Auflösung des Hauses. Brüning selbst aber faßte seinen Kurs in dem Satz zusammen: „Eines nur ist notwendig: nicht die Parteien dürfen führend sein, sondern das Kabinett“

Die Reichstagswahlen vom 14. September 1930 setzten eindeutiger noch als der 27. März den Schlußstrich unter die Krise des Parteienstaates. Nun war erschreckend deutlich geworden, daß die Bewegung gegen das parlamentarisch-demokratische System im Volk rasch zunahm und daß wachsende Massen — wenn auch nicht einheitlich — antidemokratischen Verfassungsvorbildern anhingen. Wenn zwei Fünftel der Reichstagsabgeordneten zu den betont verfassungsfeindlichen Parteien gehörten und die übrigen drei Fünftel hoffnungslos zerrissen waren, weil Hindenburg und Brüning keine Koalition mit der Sozialdemokratie wünschten und eine Mehrheitsregierung mit dieser auch kaum noch möglich zu sein schien, so war der neue Reichstag noch weniger arbeitsfähig, als es der von 1928 mit seinen verhältnismäßig günstigen Proportionen immerhin noch gewesen war.

In dieser Lage gab es für die verfassungsfreundlichen Parteien im Grunde nur zwei Wege: entweder sich Brünings Notverordnungspolitik tolerierend zu fügen und damit für eine Übergangszeit wenigstens den Parteienstaat zugunsten der Präsidentschaftspolitik zurücktreten zu lassen oder im Parlament selbst zu einer Art interfraktioneller Notgemeinschaft vorzustoßen, die von den Volkskonservativen bis zu den Sozialdemokraten hätte reichen müssen, um das Gesetz des Handelns einem seiner staatspolitischen Verantwortung bewußten Reichstag zurüdezugewinnen. Brüning selbst deutete diesen zweiten Weg am 13. Oktober 1931 in seiner Regierungserklärung an, als er bedauerte, daß in der Krise, in der nur Ausweg dem Vaterland nützlich sein ein könne, sich nicht eine Regierung aller verantwortungsbewußten Parteien bilden lasse. Da dies nicht möglich sei, habe er sich dazu entschließen müssen, eine Regierung zu bilden, die noch unabhängiger von den Parteien sei als die bisherige. In der Tat war offenbar der Weg einer demokratischen Allparteienregierung unter den gegebenen Be-dingungen irreal, und er ist auch gar nicht ernsthaft versucht worden. Die vielfältigen Versuche aber zur „staatsbürgerlichen" Sammlung der Mitte und der gemäßigten Rechten, die angesichts des Schwundes und der Zersplitterung dieser Parteien sich aufdrängten, scheiterten alle. Prinzipientreue, Selbstüberschätzung und Beharrungsvermögen der Parteiapparate haben diese liberalen, konservativen und berufsständischen Kleinparteien im wörtlichen Sinne zu Tode gehetzt.

So blieb statt mutiger Selbstüberwindung zur Rettung des Parlamentarismus nur das Stillhalten gegenüber dem Kabinett Brüning übrig. Dabei war völlig offen, wohin dies Stillhalten führen sollte. Eine Wiederkehr des parlamentarischen Systems Wurde zwar von vielen erhofft, doch bestand dazu in Wirklichkeit nur geringe Aussicht inmitten der fortschreitenden Vertrauenskrise. Wahrscheinlicher war, daß der tatsächliche Verfassungswandel eines Tages auch zu einer Änderung des Verfassungsrechts würde führen müssen. Brünings Neigung ging gewiß in eine solche Richtung, wenn auch derartige Erwägungen noch ganz hinter den unmittelbar vordringlichen Aufgaben zurücktraten.

Sicherlich stand hinter seinen Maßnahmen, die der Not des Augenblicks entsprachen, auf längere Sicht mehr als nur die auf die unmittelbar drängende Lage reagierende Sanierungsabsicht. Grundsätzlich lag Brünings Vorgehen das noch nicht konkretisierte Ziel, den Gegensatz zwischen dem altgewohnten „Staat über den Parteien und dem bisher schlecht eingeführten Staat durch die Parteien in einer neuen Verfassungslösung aufzuheben und damit ohne Beseitigung der demokratischen Grundlagen die verlorene Stabilität und Autorität wieder zu erringen. Doch gewann dies noch keine Gestalt, und warum hätte Brüning auch seine Schwierigkeiten noch vergrößern sollen, in denen er sich ohnehin befand. Es konnte ihm nichts daran liegen, Verfassungskonflikte heraufzubeschwören in einer Lage, in der er froh sein mußte, mit seiner „parlamentarisch tolerierten Präsidialregierung“ schlecht und recht die Krise zu bestehen. Diese Absicht des einfachen Durchhaltens und erst recht die vielleicht später sich ergebenden verfassungspolitischen Möglichkeiten wurden durch seinen Sturz abgeschnitten.

Die Rolle der Parteien des demokratischen Parteienstaates war nach diesem verhängnisvollen Ereignis noch stärker als vorher herabgemindert, nicht nur deswegen, weil sie in der nun beginnenden „Präsidialregierung“ tatsächlich fast völlig ausgeschaltet waren, sondern weil aufs ganze gesehen inmitten eines vielstimmigen Sirenengesanges vom Ende oder von der Dämmerung der Parteien keinerlei große Politik mehr von den Parteien des zu Ende gehenden Weimarer Staates versucht worden ist. Eine Rückkehr zur parteienstaatlichen Normalität der Jahre zwischen 1919 und 1930 war auf keinen Fall zu erwarten. Sollte die Auslieferung des Staates an Hitler vermieden werden, dann bedurfte es auf längere Sicht grundlegender Verfassungsreformen und einer Wandlung der deutschen Parteienstruktur. Zu dieser Problematik ist damals viel und z. T. Vorwärtsweisendes vor allem in den Kreisen gesagt worden, denen es um die „Existenz großer, gesunder Staatsparteien“ oder — beides deckte sich weitgehend — um „Sammlung“ ging. Von einer solchen „staatsbürgerlichen" Gesinnung her, die an die Weimarer Verfassung anknüpfen, sie aber reformieren wollte, mußten eigentlich ältere liberale und konservative Prinzipien einer neuen, gewandelten Wirklichkeit zum Opfer fallen. Das wurde weithin eingesehen, und es war ein verheißungsvolles Zeichen, daß nicht nur eine militärähnliche, aus der Freikorpszeit stammende und politisch geformte Organisation wie der Jungdeutsche Orden, dessen Führer Mahraun gegen den „Parteiismus“ gekämpft hatte sondern auch Bünde der Jugendbewegung aus bisher geübter Distanz oder „konservativ revolutionärer“ Abneigung gegenüber der Demokratie zum „Staatsbürgertum" eines deutschen Staates strebten, der weder durch „Parteienpluralismus" und „Parlamentsabsolutismus“ zersetzt, noch durch eine Nationalrevolution zum Terror einer Führerherrschaft mit Einparteiorganisation gebracht werden sollte.

Wenn Hans Zehrer in dem erwähnten Aufsatz über das Ende der Parteien 1932 das hündische Prinzip der Zukunft den vergehenden Parteien des sterbenden „liberalistischen" Zeitalters entgegensetzte, so war das nicht zuletzt deswegen eine fragwürdige Behauptung, weil gerade aus den Bünden vielfältig, wenn auch oft mit gewisser Reserve, dem Staat und seinen Parteien neue Bereitschaft entgegengebracht wurde. Bezeichnenderweise handelt es sich allerdings dabei kaum noch um das Einschwenken in die alten, in den Augen der hündischen Jugend abgenutzten Parteien, sondern um Neu-oder Umbildungen wie die Staatspartei oder die Volkskonservativen von 1930.

Diese Parteien gewannen jedoch keine Massengefolgschaft; sie konnten das Ende der liberalen Mitte nicht verhindern, und im konservativen Lager zeigte es sich, daß trotz der bündisch-volkskonservativen Bemühungen die Masse des rechtsstehenden „Bürgertums“, soweit es nicht dem Nationalsozialismus anheimfiel, dem alten Leitbild der deutschen Verfassung vor 1918 anhing und den Schritt zu einer „konstitutionellen Demokratie“ nicht tun wollte. So waren zwar die Bewegungen kleiner Kreise, besonders in der Intelligenz und der Jugend, symptomatisch für staatsbürgerliche Ernüchterung und. eine Hinwendung zum Staat, den die Masse der radikalisierten und arbeitslos „ausgesperrten“ Jugend noch ablehnte, ja z. T. fanatisiert verabscheute, und darin mochten hoffnungsvolle Anzeichen für eine reformierte Demokratie weniger großer „Staatsparteien“ in einer besseren Zukunft nach dem Durchhalten in der Krise gesehen werden. Aber für den kritischen Moment, auf den es ankam, fehlten die Durchschlagskraft und die reale Aussicht auf praktische Erfolge. Sie wären übrigens vermutlich auch bei etwa nachlassender Unruhe nicht eingetreten. Denn diese Parteineugründungen oder -Umbildungen gehören in eine Reihe idealistischer Erneuerungsversuche in der deutschen Parteigeschichte, die über elitäre Gruppenbildungen stets nur unwesentlich hinausgekommen und alle an der Aufgabe der Technik und Finanzierung von Massenorganisationen gescheitert sind. Darin lag ein Erbe aus der Entstehungszeit der organisationsscheuen deutschen Parteien, die abgesehen von der Sozialdemokratie jahrzehntelang kaum organisatorische Folgerungen aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gezogen hatten. In dieser Hinsicht waren die liberalen und konservativen Neubildungen des Jahres 1930 Nachfolger von Naumanns gescheitertem Versuch, seinen Nationalsozialen Verein zur politischen Partei werden zu lassen.

Die Lage der Sozialdemokratie spiegelt diese Diskrepanz zwischen politischer Bewegung und Einsicht einerseits, Ohnmacht des Willens in der Entscheidungssituation andererseits. Auch im Lager des Sozialismus gab es geistige Unruhe und fruchtbare neue Ideen, wie sie etwa in den „Neuen Blättern für den Sozialismus" zum Ausdruck kamen. Sie blieben jedoch wirkungslos, wenn wir auf den unmittelbaren Effekt sehen. Im Unterschied zu den parteipolitischen Vorgängen rechts und in der Mitte allerdings gab es bis zuletzt eine starke, wenn auch in ihrem Anteil an der Gesamtwählerschaft langsam abnehmende Sozialdemokratische Partei. Zwar konnte darüber gestritten werden, ob dem sterbenden Liberalismus nicht ein sterbender Sozialismus auf dem Fuße folgte; nur an der Festigkeit altbewährter sozialdemokratischer Organisation konnte kein Zweifel bestehen. Die große Partei blieb von der jungen Bewegung in den eigenen Reihen ziemlich unberührt. Sie hielt ihre alte Linie hartnäckig durch und war daher weder zu grundsätzlichem Umdenken noch zu politisch aktivem Reagieren auf die sich ändernden Konstellationen in der großen Staatskrise von 1930 bis 1933 fähig. Sie verpaßte eine Chance nach der anderen und hat die Entwicklung seit dem Ende der Regierung Müller im März 1930, im allgemeinen nur durch Negieren, Warnen, Tolerieren und Hinhalten beeinflußt. Damit konnte sie aber weder einen Weg aus dem eigenen Dilemma noch aus der allgemeinen Krise weisen.

Das Zentrum paßt in dies allgemeine Bild der in der Gefahr verkümmernden oder zurückbleibenden Parteien am wenigstens hinein. Bis zum 31. Mai 1932 stützte diese Partei Brünings Regierung. Darin lag eine klare politische Stellungnahme. Nach dessen Sturz verfolgte sie zunächst die Parole „Zurück zu Brüning“ und zog nach der Wahl vom 31. Juli die parlamentarisch-demokratische Konsequenz, mit den Nationalsozialisten wegen einer etwa möglichen Koalition in Verhandlungen einzutreten, nachdem sie noch kurz vorher mit allen Mitteln und im Bund mit der Kirche die NSDAP aufs schärfste bekämpft hatte. Zwar spielte bei dieser taktischen Schwenkung des Zentrums auch Verärgerung gegenüber Papen mit; doch ist damit die Bedeutung dieses Schrittes der an politische Verantwortlichkeit gewöhnten Partei, die zum ersten Mal seit 1919 in der Opposition stand, nicht erklärt. Die politische Eventualität einer Regierungsbildung mit Beteiligung Hitlers mußte erprobt werden, wie auch immer die Erfolgsaussichten beurteilt werden mochten. Sie wurde schließlich programmatisch erweitert zur Forderung einer noch andere Parteien umfassenden „deutschen Not-und Mehrheitsgemeinschaft“.

Die damals und nachträglich bis heute geübte Kritik liegt bei dem Charakter Hitlers und seiner Kampfpartei auf der Hand. Und doch wird gesagt werden dürfen, daß das Zentrum zu diesen Sondierungen in der damaligen Situation geradezu verpflichtet gewesen ist. Kam es, wie kaum erwartet werden konnte, wirklich zu einem Kompromiß mit Hitler, der nur unter Sicherungsbedingungen geschlossen worden wäre, die den Deutschnationalen am 30. Januar 1933 nicht gegeben worden waren, dann konnte das Risiko einer voraussichtlich nur kurzfristigen Koalition eingegangen werden, die mit der Hoffnung einer Abnutzung und Schwächung der NSDAP verbunden gewesen wäre. Da der aufs Ganze gehende Hitler jedoch eine Koalition scheute, die ihm nicht die Alleinherrschaft zu erringen versprach, konnten die Verhandlungen nicht zur Verbindung führen. Kam es demgemäß zum Abbruch der Gespräche, dann waren aus eigener Erfahrung stammende Erkenntnisse über den politischen Hauptgegner — nicht zuletzt für den nächsten Wahlkampf — gewonnen.

Sehr viel fragwürdiger war vorher Schleichers Taktik gegenüber den Nationalsozialisten gewesen. Denn er hatte schon zur Regierungszeit Brünings den Plan verfolgt, die NSDAP zur Regierungsverantwortung heranzuziehen, und die Erweiterung des Kabinetts nach rechts bei Zustimmung oder Beteiligung der Partei Hitlers hatte ja als eigentliche Ursache hinter dem von Schleicher vorbereiteten Sturz Brünings gestanden. Nur durch diese Taktik Schleichers, die den Kanzler des Zentrums zu Fall gebracht hatte, war diese Partei, besonders nach den Wahlen vom 31. Juli 1932, überhaupt zur veränderten Taktik gegenüber Hiter veranlaßt worden.

Erst nach den Wahlen vom 6. November spielte bei den Bemühungen um eine neue Regierungsbildung die von Prälat Kaas geforderte „Notgemeinschaft“ eine wohl mehr als nur taktische Rolle. Und nach der Betrauung Schleichers mit dem Reichskanzleramt verstärkte sich das Gewicht des Zentrums wieder, da Schleicher, wenn er auch zunächst formell die „Präsidialregierung“ kaum veränderte, unter allen Umständen eine breitere Fundierung seiner Regierung im Reichstag und im Volk (Gewerkschaften) anstrebte. Er hatte schon 1918 ein den meisten Offizieren noch fremdes Verständnis für die Unausweichlichkeit der modernen Demokratie und die daraus sich ergebenden Folgen für die deutsche Politik gezeigt. Gerade deswegen stand er vermutlich zeitweise, d. h. 1931 und bis zum Hochsommer 1932, so stark unter dem Eindruck der aufsteigenden nationalsozialistischen Welle, daß er Brünings Dammbau gegen diese Welle für brüchig hielt und durch den Versuch, Hitler in irgendeiner Weise an den Staat heranzuziehen, der Eroberung des Staates durch Hitler zuvorkommen wollte. Ehe er Kanzler wurde, hatte er diese Auffassung bereits aufgegeben. Seine Ideologen im Tat-Kreis unterstellten oder suggerierten ihm den „Angriff auf den heutigen Pluralismus der Parteien“ sowie die weitere Stärkung „autoritärer“ Staatsmacht gegen die Parteien mit Hilfe von Bünden und Verbänden. Doch war Schleicher wohl zu realistisch, um einem solchen Rat zu entsprechen. Es dürfte vielmehr Brachers Auffassung zuzustimmen sein, daß sich Schleichers taktische Vorstellungen auf „Annäherung und Zusammenarbeit aller Parteien und Gruppen gerichtet“ und daß er „auf eine grundsätzliche Reformpropaganda Papenschen Stils verzichtet“ hätte. Das lief, wie Bracher betont, im Grund auf eine Rückkehr zum Kurs Brünings und damit auf eine Revision von Schleichers eigener Politik hinaus, die zum Sturz Brünings geführt hatte. Selbstverständlich war keine verbunden, dem Parteienstaat der Zeit damit Neigung vor Brüning wieder näher zu kommen. Dafür waren, ganz abgesehen von Schleichers politischer Grundhaltung, die Bedingungen nicht gegeben. Denn die NSDAP hatte Schleicher nunmehr, abgesehen von seiner vorübergehenden Hoffnung auf die Abspaltung eines Straßer-Flügels, als etwa möglichen Partner vollständig ausgeschlossen; die Sozialdemokratie versagte sich seinem Angebot auf Zusammenarbeit im Sinne einer Staatsnotgemeinschaft; und das Zentrum lehnte den Rückweg zum reinen Parlamentarismus ab. Aber der Kanzler nahm Rücksicht auf die Parteien, und diese wiederum scheuten begreiflicherweise in der Lage nach dem 6. November eine riskante, kostspielige und voraussichtlich ergebnislose Oppositionspolitik, die zu einer neuen Reichstagsauflösung geführt hätte. Die allgemeine Lage um die Jahreswende war durch eine gewisse vorsichtige und abwartende Zurückhaltung gekennzeichnet. Nicht in einer sich zuspitzenden, sondern in einer auf kommende Entspannung deutenden Situation erfolgte also die Wendung durch Papen und deutschnationale Politiker im Jahre 1933. Sie allein waren noch in der Lage, auf den nicht mehr urteilsfähigen und instinktiv widerstrebenden Reichspräsidenten gegen Schleicher einzuwirken. Sie fürchteten, daß es Schleicher gelingen könnte, seinem Kabinett eine breitere, womöglich nach links ausgeweitete Fundierung zu schaffen und wählten das ihnen geringer scheinende Übel einer Koalition mit Hitler. Sie meinten, ihn auf die Dauer überspielen und gleichzeitig den vergangenen Weimarer Parteienstaat weit hinter sich lassen zu können. Sehr schnell stellte sich all das als Illusion heraus. Das endgültige Ende der Parteien war gekommen, sowohl der antidemokratischen wie der demokratischen, die unter Schleicher noch eine letzte Aussicht gehabt hatten, in Verbindung mit einer primär auf den Reichspräsidenten gestützten Regierung so stark gegen den unmittelbar drohenden Nationalsozialismus und seine politischen Helfer aktiv zu werden, wie es ihrer Fähigkeit und ihrem Willen zur Staatsverantwortung entsprach. Denn im Gegensatz zu Papen, der die Parteien der Demokratie verletzend abgewiesen hatte, war Schleicher, nachdem er sich gegen Hitler entschieden hatte, an ihrer Hilfe gelegen. Er bedurfte nicht nur der „Front der Gewerkschaften" und der Reichswehr, sondern auch der staatszugewandten Parteien, ebenso wie diese im Grunde auf ihn allein in jenen entscheidungsoffenen Wochen angewiesen waren. Doch kam es auf ihrer Seite nicht zur befreienden Tat. Vor allem die Sozialdemokratie hat damals wohl ihre letzte Gelegenheit versäumt, ihr Gewicht in die Waagschale Schleichers und damit gegen Hitlers „Machtergreifung" zu werfen. Denn nach dem 30. Januar oder gar nach dem 28. Februar und 5. März war dazu kaum noch eine Möglichkeit gegeben. Was darauf bis zum Sommer 1933 folgte, ist in den folgenden Beiträgen zum ersten Mal zusammenfassend und quellennah geschildert und dokumentiert. Es bedarf wohl kaum eines Kommentars. Hitler gab einem Parteiensystem den Todesstoß, dessen Gebrechen jahrzehntelang offenbar gewesen waren, dessen Beziehungen zum Staat — vor und nach 1918 — nie durch einen verfassungspolitischen Consensus aller Richtungen geklärt worden war und das weder in der Krise noch in der Agonie zu wirkungsvoller Reform aus sich selbst heraus fähig gewesen war, so interessant auch die selbstkritischen Äußerungen dieser Jahre im einzelnen sein mögen. Das Wagnis einer entschlossenen Kooperation demokratischer „Staatsparteien“, das den Preis der Aufgabe so mancher Prinzipien und Gewohnheiten, ja vielleicht der parteipolitischen Selbständigkeit gekostet hätte, und das dem verfassungspolitischen Kompromiß von 1917 bis 1919 in seiner Bedeutung gleich gekommen wäre, ist ausgeblieben. So fehlte zuerst Brüning und in letzter Stunde Schleicher — sicherlich nicht ohne daß sie selbst Mißtrauen herausgefordert hätten — die mächtige Resonanz, die die einseitige und, wie sich am 31. Mai 1932 und 30. Januar 1933 herausstellte, gefährliche Verlagerung der Führung auf den alten Reichspräsidenten verhindert hätte, Im Scheitern und in der vergeblichen Bemühung mancher Politiker, die sich gegen Hitlers Kommen stemmten, vor allem wohl bei Hermann Müller, Brüning und zuletzt auch Schleicher, liegt tiefe persönliche Tragik im eigentlichen Sinne dieses heute so abgenutzten Wortes.

Das historische Problem aber, das sich mit dem Ende des alten Parteiensystems in Deutschland stellt, ist nicht primär im Handeln und Versagen der Personen zu sehen, sondern weist auf die vom Vormärz bis zu Hitler ungelöste Frage der deutschen Verfassung, in der die zahlreichen und weithin kompromißfeindlichen Parteien eine Rolle gespielt haben, die auf Grund der gegebenen Bedingungen oft genug unglücklich oder gar verhängnisvoll gewesen ist. Der Einschnitt der Erschütterung und der Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 ist so tief gewesen, daß trotz vieler, 1945 sich gewissermaßen von selbst einstellender Anknüpfungen an die Zeit des Weimarer Parteienstaates, das alte deutsche Parteiensystem nicht wiedergekommen ist. Vielmehr sind neue Entwicklungstendenzen im westlichen Teil Deutschlands sichtbar, die nicht allein auf das Grundgesetz von 1949, sondern besonders auch auf eine gewandelte Mentalität der Wähler zurückzuführen sind. Die Erfahrungen der offenbar letzten Phase des deutschen Revolutionszeitalters, die durch die Jahre 1918 bis 1945 bezeichnet ist, liegen dieser Wandlung zugrunde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Heinrich Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien. Berlin 1927, S. 24 f. Zit. bei Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: HZ 178, 1954, S. 48. Auch für das folgende sei auf diesen Aufsatz verwiesen, dessen Ergebnisse hier zugrunde liegen und weitergeführt werden. Zur Problematik allgemein vgl. besonders den historischen Abschnitt im Bericht der Parteienrechtskommission: Rechtliche Ordnung des Parteiwesens. Probleme eines Parteiengesetzes. Frankfurt a. M. 1957. Zur Geschichte der ausgehenden Weimarer Republik in erster Linie Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft 4). 2. Ausl. Stuttgart und Düsseldorf 1957. Dazu ergänzend aus der Perspektive des Verhältnisses von Reich und Ländern neuerdings Waldemar Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928— 1933. Stuttgart 1959.

  2. Nach Karl Kautsky, „Sozialdemokratischer Katechismus'von 1893 zit. bei Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus, in: Marxismusstudien, 2. Folge, hrsg. von Iring Fetscher. Tübingen 1957, S. 163.

  3. Hans Zehrer, Das Ende der Parteien, in: Die Tat 24, 1932, S. 73.

  4. Graf Westarp, Am Grabe der Parteienherrschaft. Bilanz des deutschen Parlamentarismus von 1918— 1932. Berlin 1933, S. 105.

  5. Friedrich Engels, Zur Kritik des Sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: Neue Zeit 20, 1901/02.

  6. Aus dem Aufruf der Fortschrittspartei zur Reichstagswahl vom 23. Dezember 1876 nach der Wiedergabe bei Eugen Richter, Im alten Reichstag, Erinnerungen. Berlin 1894, S. 163.

  7. Zit. nach Hellmut Seier, Sybels Vorlesung über Politik und die Kontinuität des „staatsbildenden“ Liberalismus, in: HZ 187, 1959, S. 109. Vgl. grundlegend zu den Fragen des Verhältnisses von Liberalismus und Partei-wesen mehrere Beiträge von Theodor Schieder in seiner Aufsatzsammlung . Staat und Gesellschaft in unserer Zeit“. München 1958.

  8. Dr. Jolly, Der Reichstag und die Parteien. Berlin 1880, S. 155 ff.

  9. Zur Kategorie der „Überzeugung" im deutschen Liberalismus vgl. Walter Bußmann, Treitschke. Sein Welt-und Geschichtsbild. Göttingen 1952, S. 23 ff.

  10. Dazu vgl. Werner Frauendienst, Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 113, 1957, S. 721 ff.

  11. Neueste Ausgabe: Max Weber, Gesammelte politische Schriften. 2. erweiterte Auflage. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss neu hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1958.

  12. Friedrich Naumann, Die politischen Parteien. Berlin 1910, S. 76.

  13. Max Weber, a. a. O., S. 351.

  14. Aus dem Schrifttum der letzten Zeit sei vor allem hingewiesen auf Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890— 1900. Berlin 1959.

  15. Vgl. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 1). Bearbeitet von Erich Matthias und Rudolf Morsey, 2 Bde. Düsseldorf 1959.

  16. Franz Schauwedcer, Aufbruch der Nation. Berlin 1929, S. 380, 382.

  17. Kölnische Volkszeitung Nr. 365, 20. Juli 1930 und Nr. 384 B, 30. Juli 1930.

  18. Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 21, 1933/34, S. 159.

  19. Friedrich Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik. Offenbach 1947, S. 580.

  20. Friedrich Meinecke, Politische Schriften und Reden, hrsg. und eingeleitet von Georg Kotowski. Darmstadt 1958, S. 437. Vgl. hierzu Waldemar Besson, Friedrich Meinecke und die Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte f. Zeitgesch. 7, 1959, S. 113 ff.

  21. Vgl. Klaus Hornung, Der Jungdeutsche Orden (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 14). Düsseldorf 1958.

  22. Meinecke, a. a. O., S. 442.

  23. Die Tat 24, 1932, S. 828.

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