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Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands | APuZ 23/1960 | bpb.de

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APuZ 23/1960 Das Ende der Parteien 1933 Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Die Deutsche Staatspartei

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands

ERICH MATTHIAS

Einleitung

„Berlin ist nickt Row. Hitler ist nicht Mussolini. Berlin wird niemals die Hauptstadt eines Faschistenreiches werden. Berlin bleibt rot!“ „Vorwärts“, 8. Februar 1933. „Wir waren getrieben durch den Zwang der Verhältnisse in stärkerem Maße als die Parteien irgendeines anderen Landes. Wir waren wirklich nur Objekt der Entwiddung.“ Otto Wels am 22. August 1933 auf dem Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale in Paris.

Die strukturelle Dauerkrise der Weimarer Demokratie, die Resignation der Demokraten und ihre Unfähigkeit, sich eine realistische Vorstellung von der drohenden Gefahr und den Methoden des totalitären Gegners zu machen, zählen zu den wichtigsten Voraussetzungen, die den Sieg der dynamischen Massenbewegung des Nationalsozialismus ermöglicht haben. Von den Parteien der Republik verharrte allein die sozialdemokratische in eindeutiger und kompromißloser Gegnerschaft zum aufsteigenden Nationalsozialismus Doch für die Schwäche der Demokratie, die im Bruch der Großen Koalition offen zutage trat, ist sie nicht minder verantwortlich als die Gegner des Weimarer Staates Wenn auch die Aufgabe, die sich der deutschen Sozialdemokratie im November 191 8 aufgedrängt hatte, schwer, vielleicht sogar angesichts der außenpolitischen und wirtschaftlichen Misere unlösbar war, die Passivität ihrer Revolutionspolitik und ihre mangelnde Gestaltungskraft sind nicht ausschließlich die Folge äußerer Faktoren gewesen Läßt es sich doch erweisen, daß die führenden sozialdemokratischen Vertreter in der veränderten Welt noch immer die Maßstäbe ihres Handelns dem engen Kreis der Anschauungen und Erfahrungen der Vorkriegs-Sozialdemokratie entnahmen -Daß das erstarrte sozialdemokratische Selbstbewußtsein die Aktionsmöglichkeiten der Partei weit wirksamer begrenzte als die Ungunst der vielberufenen „Verhältnisse“, ist das entscheidende Kriterium, ohne das ein wissenschaftlich gerechtfertigtes Urteil über die sozialdemokratische Politik während der Novemberrevolution und in den Anfängen des Staates von Weimar nicht zu gewinnen ist Nur von diesem Ausgangspunkt öffnet sich auch der Weg zum Verständnis der politischen Hilflosigkeit der SPD, die sich trotz mancher fruchtbarer Ansätze aufs Ganze gesehen nicht aus ihrer traditionalistischen Lähmung hatte lösen können in der Periode der Auflösung der Republik. Durch ihre verantwortungsbewußte Opferbereitschaft, die sie zur Tolerierung des Kabinetts Brüning bestimmte, erwarb sie sich kaum neue Sympathien. Ihre passive Resignation aber, die den Sturz der Regierung Hermann Müller ermöglichte und sich deutlicher noch in der Reaktion auf Papens Staatsstreich in Preußen ausprägte, trug wesentlich zur Beseitigung der Schranken bei, die einer Machtübernahme der Nationalsozialisten entgegenstanden. . Ein isolierter sozialdemokratischer Widerstand nach dem 30. Januar 193 3 schien von vornherein aussichtslos. Doch die folgenden Monate bis zum offiziellen Verbot der Partei machen mit besonderer Eindringlichkeit die Symptome sichtbar, die das tragische Versagen der stärksten und konsequentesten Kraft der parlamentarischen Demokratie in Deutschland bedingt haben. Dabei verbinden sich die spezifischen, nur parteigeschichtlich zu erklärenden Momente der sozialdemokratischen Verhaltensweise mit den typischen Zügen der Reaktion einer liberal-demokratischen Massenpartei auf den Ansturm einer totalitären Bewegung, die, einmal an die Regierung gelangt, sich anschickt, das ganze Leben der Nation unter ihre Kontrolle zu bringen .

Die Politik der Tolerierung

Am Tage nach den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, die mit einem Schlage die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei werden ließen und gleichzeitig den Kommunisten bemerkenswerte Gewinne einbrachten, erklärte der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der profilierteste unter den sozialdemokratischen Politikern der Weimarer Zeit, daß er trotz dieses besorgniserweckenden Ergebnisses weder die Verfassung noch die öffentliche Sicherheit und ebensowenig den Kurs der deutschen Außenpolitik auch nur einen Augenblick für bedroht halte. Den rechts-und linksradikalen Siegern der Wahlen werde kaum Gelegenheit geboten werden, ihre bedenklichen Rezepte praktisch zu erproben, wenn sich, was mit Sicherheit zu erwarten sei, über alles Trennende hinweg „eine große Koalition aller Vernünftigen“ zusammenfinde, „um mit einer zweifellos ausreichenden Regierungsmajorität zunächst alle Kräfte auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und auf die Verbesserung der wirtschaftlidten Existenzbedingungen der breiten Massen zu konzentrieren“

Die Bedrohung des Staates durch die gefährlich angewachsenen totalitären Bewegungen hatte nach der Überzeugung Brauns eine völlig neue politische und parlamentarische Situation geschaffen, in der der wirtschafts-und sozialpolitische Antagonismus der Flügelparteien, durch den das Kabinett Hermann Müllers auseinandergesprengt worden war, sich einem übergeordneten gemeinsamen Interesse unterzuordnen hatte und auf keinen Fall ausschlaggebend für die politische Fronten-bild September 1930, die mit einem Schlage die Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei werden ließen und gleichzeitig den Kommunisten bemerkenswerte Gewinne einbrachten, erklärte der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der profilierteste unter den sozialdemokratischen Politikern der Weimarer Zeit, daß er trotz dieses besorgniserweckenden Ergebnisses weder die Verfassung noch die öffentliche Sicherheit und ebensowenig den Kurs der deutschen Außenpolitik auch nur einen Augenblick für bedroht halte. Den rechts-und linksradikalen Siegern der Wahlen werde kaum Gelegenheit geboten werden, ihre bedenklichen Rezepte praktisch zu erproben, wenn sich, was mit Sicherheit zu erwarten sei, über alles Trennende hinweg „eine große Koalition aller Vernünftigen“ zusammenfinde, „um mit einer zweifellos ausreichenden Regierungsmajorität zunächst alle Kräfte auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und auf die Verbesserung der wirtschaftlidten Existenzbedingungen der breiten Massen zu konzentrieren“ 9).

Die Bedrohung des Staates durch die gefährlich angewachsenen totalitären Bewegungen hatte nach der Überzeugung Brauns eine völlig neue politische und parlamentarische Situation geschaffen, in der der wirtschafts-und sozialpolitische Antagonismus der Flügelparteien, durch den das Kabinett Hermann Müllers auseinandergesprengt worden war, sich einem übergeordneten gemeinsamen Interesse unterzuordnen hatte und auf keinen Fall ausschlaggebend für die politische Fronten-bildung werden durfte. Auf allen Seiten waren Fehler gemacht worden, und Braun war der letzte, der die seiner eigenen Partei geleugnet hätte. Die mangelnde Kompromißbereitschaft der Sozialdemokratie in der Frage der Arbeitslosenversicherung, die im März den unmittelbaren Anlaß zum Bruch gegeben hatte, war von ihm ebensowenig gebilligt worden wie der Mißtrauensantrag, mit dem die Reichstagsfraktion dem neuen Kabinett Brüning ihre grundsätzliche Opposition ankündigte 10). Ungeachtet dessen bot die von den Parteien des Reichstags bewiesene „Verantwortungsscheu" in den Augen Brauns keinen hinreichenden Grund für den „offenbaren Mißbrauch“ des Artikels 48 durch Brüning und für den „großen politischen Fehler" der Reichstagsauflösung, die der Kanzler am 18. Juli herbeigeführt hatte, ohne zuvor die angekündigte Verhandlungsbereitschaft der Sozialdemokraten zu erproben 11). Nachdem der Wahlausgang Brünings Hoffnung auf eine bürgerliche Mehrheit, die es ihm erlauben so Juli herbeigeführt hatte, ohne zuvor die angekündigte Verhandlungsbereitschaft der Sozialdemokraten zu erproben 11). Nachdem der Wahlausgang Brünings Hoffnung auf eine bürgerliche Mehrheit, die es ihm erlauben sollte, ohne sozialdemokratische Unterstützung zu regieren, zunichte gemacht hatte, war keine parlamentarische Regierung ohne die Sozialdemokratie denkbar; es sei denn, daß Zentrum und Mittelparteien den Entschluß gefaßt hätten, die Nationalsozialisten in die Regierungsverantwortung mit einzubeziehen. So mußte die Stellungnahme Brauns nicht zuletzt als Appell an den Reichs-kanzler aufgefaßt werden, auch seinerseits nüchtern die Konsequenz aus dem Scheitern seiner irrealen Erwartungen zu ziehen und mit möglichst festem parlamentarischen Rückhalt einen Ausweg aus der Sackgasse des Notverordnungsregimes zu suchen.

Obgleich Brüning den Wahlkampf in scharfer Frontstellung gegen die Sozialdemokraten geführt hatte, war seine erste Reaktion auf das Wahlergebnis nicht viel anders als die des preußischen Ministerpräsidenten. Als er am 15. September vom Reichspräsidenten zum Vortrag empfangen wurde, gab dieser ihm allerdings zu verstehen, daß er keine Wiederherstellung der Großen Koalition wünsche 12).

Eine Demission des Kabinetts infolge der Wahlniederlage wurde von Fündenburg abgelehnt und vermutlich von Brüning auch gar nicht angeboten. Nach seinen Ausführungen in der Kabinettssitzung vom 16. September hatte er dem Präsidenten geraten, „die Frage der Umbildung oder Neubildung der Regierung mit größter Ruhe zu behandeln“. Dem Kabinett gegenüber betonte der Kanzler, daß die jetzige Regierung nach seiner Ansicht im Amte bleiben müsse und daß man Deutschland „nur durch Ruhe und sachliche Arbeit“ helfen könne 13). Damit drückte er seinen Willen aus, an den Grundlinien des in Angriff genommenen Sanierungsprogramms festzuhalten, was jedoch nicht hieß, daß er dem neuen Reichstag gleich wieder mit der Parole: „Friß Vogel, oder stirb!“ — mit diesen Worten hat Friedrich Stampfer nachträglich das Vorgehen Brünings im Juli charakterisiert 14) — entgegenzutreten beabsichtigte.

Da dem Kanzler eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten und der Deutschnationalen Hugenbergs „aus staatspolitischen Gründen" 15) nicht tragbar schien, hoffte er zunächst darauf, die Widerstände bei Hindenburg und den in der Regierung vertretenen Gruppen der gemäßigten Rechten gegen eine Linkserweiterung des Kabinetts überwinden zu können, falls er diese Frage bis zum Beginn der sachlichen Erörterungen über das Sanierungsprogramm im Reichstag zurückstelle, wobei sich dann die Lösung des Koalitionsproblems aufdrängen werde 16). Am 17. September berieten die Staatssekretäre Pünder (Reichskanzlei), Weismann (preußisches Ministerium) und Meißner (Präsidialkanzlei) über die Lage 17), und zumindest bei Pünder und Weismann bestand Einigkeit über das anzustrebende Ziel der Großen Koalition. Brüning selbst traf am 23. September mit dem sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden und ehemaligen Reichskanzler Hermann Müller bei Hilferding zusammen, um die Voraussetzungen für eine eventuelle Erweiterung zu klären. Nach einer Tagebucheintragung Pünders 18) gewann der Kanzler bei dieser unverbindlichen Unterredung den Eindruck, daß die Bereitwilligkeit der Sozialdemokraten nur sehr gering zu veranschlagen sei. Müller wiederum konnte sich, wie er in den letzten Septembertagen an Braun schrieb, auf Grund dieser „losen Fühlung“ keine rechte Vorstellung davon machen, was der Kanzler eigentlich wolle. Es scheine ihm jedoch sicher, „daß Brüning zunächst seine Regierung nicht nadt redtts und — ich mödtte fast sagen — erst recht nicht nadt links erweitern will“ Die Zeugnisse Pünders und Müllers, die sich nur scheinbar gegenseitig ausschließen, belegen, wie vorsichtig beide Parteien sondierten, um jeweils die Auffassung der anderen Seite kennenzulernen. So konnte von einem offenen Gespräch kaum die Rede sein. Müller mußte mit der Verwirrung rechnen, die der Wahlausgang in den Reihen der Sozialdemokratie hervorgerufen hatte. Da innerhalb der Parteiorganisation, „mehr als man annehmen sollte“, die von ihm selbst scharf abgelehnte Meinung vertreten wurde, „man müsse die Rechte zur Regierung kommen lassen, damit sie sich einschließlich der Nationalsozialisten abwirtsdtafte" erschien ihm die Stellungnahme der erst für Anfang Oktober einberufenen Reichstagsfraktion noch völlig offen. Brüning hingegen fühlte sich dadurch gehemmt, daß er als Preis einer Einigung mit den Sozialdemokraten Absplitterungen auf der Rechten der bestehenden Koalition hätte in Kauf nehmen müssen Die Sondierungen wurden zwar noch nicht abgebrochen, aber bereits am 30. September, also nur gut zwei Wochen nach den Wahlen und noch bevor der Kanzler die offiziellen Gespräche mit den Fraktionsführern aufnahm, stand endgültig fest, daß keine Erweiterung des Kabinetts durch Vertreter der SPD erfolgen würde, da es, wie Pünder bedauernd notierte, „von rechts nicht geduldet und von links nidtt erbeten wird". An diesem 30. September, der als der eigentliche Geburtstag der Tolerierungspolitik und damit als ein Tag von besonderem zeitgeschichtlichen Rang anzusehen ist, hatte Staatssekretär Pünder d September, also nur gut zwei Wochen nach den Wahlen und noch bevor der Kanzler die offiziellen Gespräche mit den Fraktionsführern aufnahm, stand endgültig fest, daß keine Erweiterung des Kabinetts durch Vertreter der SPD erfolgen würde, da es, wie Pünder 22) bedauernd notierte, „von rechts nicht geduldet und von links nidtt erbeten wird". An diesem 30. September, der als der eigentliche Geburtstag der Tolerierungspolitik und damit als ein Tag von besonderem zeitgeschichtlichen Rang anzusehen ist, hatte Staatssekretär Pünder den sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Hermann Müller und Otto Wels, den Parteivorsitzenden der SPD, zusammen mit Reichskanzler Brüning in seine Privatwohnung eingeladen. In seinem Tagebuch 23) hielt Pünder fest, es habe sich seinem Gefühl nach um „historische Augenblicke“ gehandelt; erscheine es doch nach dem Ergebnis dieser Aussprache nicht unmöglich, daß die Sozialdemokraten sich auch ohne Beteiligung an der Regierung dazu entschließe, Brüning zu unterstützen, um eine diktatorische Regierung im Reich zu vermeiden.

Auch Otto Braun, der sehr feste Vorstellungen über eine parlamentarische Lösung der Krise gehabt hatte, von denen an anderer Stelle noch zu sprechen sein wird, gab fürs erste den Gedanken an die Einbeziehung der SPD in das Kabinett auf. In einer Unterredung mit Pünder am Abend des 2. Oktober äußerte er: wer A gesagt habe, müsse auch B sagen, und wer wie Brüning einmal angefangen habe, mit Notverordnungen zu regieren, müsse, wie die Dinge lägen, auch damit fortfahren. Es komme jedoch darauf an, daß es in stillschweigendem Einverständnis mit dem Reichstag geschehe 24). Diese Stellungnahme erscheint um so bemerkenswerter, als Braun seit den Tagen Eberts ein Gegner der Anwendung des Artikels 48 gewesen war. Braun und Müller 25) setzten sich in der Reichstagsfraktion, die am 3. Oktober zusammentrat, energisch für die Unterstützung Brünings ein, und wenn auch der von der Fraktion gefaßte Beschluß, in dem die Erhaltung der Demokratie, die Sicherung der Verfassung und der Schutz des Parlamentarismus als erste Aufgabe bezeichnet wurden 26), die Entscheidung nach außen hin noch offenließ, so waren doch die Weichen gestellt. Einen plastischen Einblick in das Dilemma der SPD vermitteln die Memoiren des damaligen württembergischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Keil, der Ende September 1930 auf einer Sonderkonferenz der sozialdemokratischen Delegierten zum Deutschen Städtetag in Dresden das Wort nahm und bei vielen der Anwesenden mit seiner Auffassung Erstaunen hervorrief, „daß uns bei der gegebenen politischen Lage gar nichts anderes übrig bleibe als die Regierung Brüning zu stützen, wenn wir verhindern wollten, daß die Nationalsozialisten die Führung an sich rissen. Die Verblüfften hatten sich noch keine ernsten Gedanken darüber gemacht, was nun werden solle, und konnten sich schwer darein finden, daß wir an die Seite desselben Kanzlers treten sollten, der uns bisher von sich gestoßen hatte. Es gab aber auch in diesem Kreis schon einige Männer mit nüchternem politisdten Blick, die mir lebhaft zustimmten. Der Zusammentritt des Reichstages am 11. Oktober 27) gab mir wieder Anlaß zu Betrachtungen über das Schicksal des Kabinetts Brünings. Von den fünfhundertsechsundsiebzig Mitgliedern des Reichstags gehörten, die Sozialdemokraten eingeschlossen, dreihundertadttundsechzig der Opposition an. Nichts leichter also, als Brüning zu stürzen. Wer aber konnte an seine Stelle treten? Stand nicht die Sozialdemokratie den anderen Oppositionsparteien viel feindlicher gegenüber als dem Kabinett Brüning? Sollten wir Brüning zwingen, sich mit den Nationalsozialisten zu verbinden? Das hätte zur Hitlerdiktatur geführt und zur völligen Zerstörung des Parlamentarismus. Davor warnte ich in einem großen Zeitungsaufsatz . . . Dieser , Tagwacht'-Aufsatz wurde von den Telegraphenbüros weiterverbreitet und rief in Berlin Aufsehen hervor. Mancher Parteifreund dachte wie ich, aber keiner hatte sich bis dahin so offen ausgesprochen. Mit bissiger Freundlichkeit meinte Breitscheid, als wir uns in Berlin sahen, nun werde wohl die Reichspolitik von Stuttgart aus gemacht. Ihm selbst blieb aber in der Fraktion, die nun zu beraten hatte, nidtts anderes übrig, als mit mir in der gleichen Richtung zu steuern." 28) Die Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion machte es Brüning möglich, für anderthalb Jahre seinen Sanierungskurs fortzusetzen, der allein davon abhing, daß sich eine parlamentarische Mehrheit dazu bereit fand, auf die Aufhebung der nach Artikel 48 erlassenen Notverordnungen zu verzichten 29). So entwickelte sich, um mit Friedrich Stampfer zu sprechen, „ein eigentümlidier Schwebezustand, ein System, das man als Parlamentarismus mit Artikel 48 oder als parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung bezeichnen kann". 30) Die Frage, ob dieses semiparlamentarische System den einzig möglichen Ausweg aus dem Dilemma darstellte, oder ob es — trotz der unstreitig sehr stark divergierenden Tendenzen innerhalb der von den Parteien der früheren Großen Koalition und Gruppen der gemäßigten Rechten gebildeten negativen Tolerierungsmehrheit — hätte gelingen können, die von Otto Braun geforderte aktive „große Koalition aller Vernünftigen“ zu schaffen, läßt sich kaum eindeutig beantworten. Auf keinen Fall darf der Grund dafür, daß eine solche Lösung nicht zustande kam, allein in den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen gesucht werden, wenn sich auch die Voraussetzungen gegenüber dem von Brüning leichtfertig zerschlagenen alten Reichstag verschlechtert hatten. Die passive Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit der Regierung Brünings wurde von allen beteiligten Gruppen — vielleicht mit Ausnahme der demokratischen Staatspartei — als äußerst unbequeme Vernunftehe betrachtet. Aber um etwas anderes hätte es auch bei dem Versuch, zu einer arbeitsfähigen Mehrheit zu gelangen, nicht gehen können. So stand in einer vermutlich von einem Mann der bürgerlichen Mitte verfaßten Denkschrift die dem Kanzler nach den Wahlen unterbreitet wurde, der Gedanke im Mittelpunkt, daß „das gemeinsame Interesse an der Aufredtterhaltung der Wirtschaft durch SPD und Kapital . . . die Basis für die Schaffung einer parlamentarischen Mehrheit“ bilde. Sei das Kapital bisher nur von dem einen Gedanken des Kampfes gegen den Sozialismus beherrscht worden, so sehe es zur Zeit „die Sicherheit seines Besitzes in der Zusammenarbeit mit der SPD mehr gewährleistet als in einer nationalsozialistischen Regierung“. Die Denkschrift forderte die Regierung auf, nicht den „psychologischen Augenblidt“ zu verpassen und die auseinanderstrebenden parlamentarischen Vertreter der Sozialpartner über ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zusammenzuführen, das mit dem „auf längere Zeit kaum parlamentarisch tragfähigen und viel zu nüdtternen“ Sanierungsprogramm gekoppelt werden müsse. Abgesehen davon, daß man dem „nur psydiologisch erklärbaren Wahlausfall" kaum auf andere Weise gerecht werden könne, bedeute es für die Sozialpartner einen entscheidenden Unterschied, wenn man ihnen „nicht mehr beiderseitige Opfer für die Arbeitslosigkeit, sondern für die Schaffung von Arbeit“ abverlange. Sollte diese Denkschrift auch nicht überbewertet werden, so lenkt sie doch den Blick auf die Frage, ob nicht schon durch eine Modifizierung des Regierungsprogramms eine Lage hätte geschaffen werden können, in der es den Parteien, besonders der Deutschen Volkspartei und der Sozialdemokratie, schwer gefallen wäre, sich der Forderung nach praktischer, konstruktiver Zusammenarbeit zu entziehen. Das hätte allerdings vorausgesetzt, daß der Reichskanzler nicht davor zurückscheute, die DVP sowie die übrigen bürgerlichen Splitterparteien links von den Deutschnationalen und damit auch die von ihnen repräsentierten wirtschaftlichen Interessentengruppen ebenso wie die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften zu einer definitiven politischen Entscheidung zu zwingen. In Brünings stark fiskalischen und gouvernementalen Denken behauptete jedoch der deflationistische Sanierungskurs, den er ohne Rücksicht auf die akuten innenpolitischen Gefahren unverändert fortzuführen gedachte, eine verhängnisvolle Priorität. Von den Parteien erwartete er weniger Mitarbeit, als daß sie in der Not der Krise durchhalten und ihn nicht bei der Fortsetzung seiner „sachlichen“ Politik stören sollten. Auch die zunächst in Aussicht genommene Linkserweiterung sollte nur der parlamentarischen Absicherung dieses bürokratischen und mit fachmännischer Akkuratesse geplanten Kurses dienen.

Ließ sich das gleiche ohne sozialdemokratische Regierungsbeteiligung erreichen, so wurde er dadurch nur der Verlegenheit enthoben, sich zwischen der SPD und den Kräften der gemäßigten Rechten innerhalb der Regierung, die sich einer Einbeziehung der Sozialdemokraten widersetzten, entscheiden zu müssen. Der gewissenhafte und von seiner sachlichen Aufgabe besessene Regierungschef, dessen Vorzüge als Fachmann zugleich seine Schwäche als Politiker bezeichneten, verkannte dabei, daß gerade das Fehlen einer festen Regierungskoalition, die für die heterogenen Partner einen ständigen Zwang zur Zusammenarbeit bedingt hätte, eine wirksame Durchpolitisierung der wirtschaftlichen Interessen verhindern mußte. Die Interessentengruppen, deren störender Einfluß eingedämmt werden sollte, konnten auf diese Weise viel ungehemmter und unvermittelter einen erpresserischen Drude auf die Spitze ausüben, durch den die von Brüning erstrebte „Sachlichkeit“ einer Regierung über den miteinander zerfallenen Parteien der negativen Tolerierungsmehrheit in vielen Fällen mehr als fragwürdig wurde.

Das mangelnde, nicht allein auf den voraufgegangenen bösen Erfahrungen beruhende Verständnis des Kanzlers für die integrierende Bedeutung des parlamentarischen Kompromisses — die sich allerdings, wie nicht zuletzt Otto Brauns preußisches Beispiel zeigt, nur beim Vorhandensein einer ebenso starken wie elastischen Führung hätte voll auswirken können — erklärt zu einem güten Teil, daß sich Brüning nicht ernsthafter um die Schaffung einer arbeitsfähigen Mehrheit unter Einschluß der Sozialdemokraten bemühte, soviel andere Faktoren — seine eigenen konservativen Neigungen, Rücksichten auf Hindenburg, Schleicher und die Reichswehr usw. — auch dabei im Spiel sein mochten.

Ist der Übergang zur Tolerierung im Oktober 1930 einerseits als Selbstausschaltung des Reichstags von der aktiven Mitgestaltung der Politik zu begreifen, so darf andererseits nicht verkannt werden, daß die Haltung des Reichskanzlers diese Entwicklung begünstigen mußte. Das mindert allerdings nicht die Verantwortlichkeit der Parteien, und am wenigsten die der SPD als der stärksten Kraft der parlamentarischen Demokratie. Es bleibt festzuhalten, daß die Parteiführung sich nach den Wahlen nicht mit der Stellungnahme des preußischen Ministerprä-, sidenten identifizierte, sondern von Anfang an darauf verzichtete, das Gewicht ihrer 143 Mandate für eine aktive Regierungsbeteiligung in die Waagschale zu werfen. Nichts erhellt die Situation so sehr, als daß Brüning und die sozialdemokratischen Führer sich auf halbem Wege in dem Bestreben entgegenkamen, einer wirklichen politischen Entscheidung auszuweichen. Das heißt nichts anderes, als daß die sozialdemokratische Standardbegründung, die Tolerierung sei das „kleinere Übel“ gegenüber einer offenen Diktatur oder einer ausgesprochenen Rechts-regierung gewesen, zwar nicht falsch, aber doch ergänzungsbedürftig k . Hinzuzufügen wäre, daß die Partei diese Lösung, die weder Koalition noch Opposition bedeutete, nicht nur den Konsequenzen eines leichtfertigen Sturzes der Regierung Brüning, sondern auch einer festen Koalitionsbindung an diese Regierung, der sie das Weiteramtieren ermöglichte, vorzog. Das gilt unabhängig davon, ob eine Regierungsbeteiligung erreichbar gewesen wäre. Es kann allerdings nicht unbeachtet bleiben, daß die Reichstagsfraktion schon bei ihrem ersten Zusammentritt nur noch vor die Alternative Opposition oder Tolerierung gestellt wurde und sich schon der Tolerierungsbeschluß in Anbetracht der starken, in die Opposition drängenden Strömungen nur unter großen Schwierigkeiten durchsetzen ließ.

Die Duldung des Kabinetts Brünings verurteilte die Sozialdemokratie zur völligen Bewegungslosigkeit. Sie sah sich dazu gezwungen, die unpopulärsten Not-und Sparmaßnahmen, die von ihren Anhängern leidenschaftlich abgelehnt wurden, hinzunehmen, und mußte sogar die einseitig den Interessen der Landwirtschaft dienenden Gesetze passieren lassen. Die führenden Männer der Partei redeten sich in den Versammlungen im Lande die Köpfe heiß, um zu beweisen, daß das alles nur geschehe, um Schlimmeres zu verhüten, „fanden aber nur Mitleid statt Verständnis“ Auch als die „nationale Opposition“ im Februar 1931 aus dem Reichstag auszog, um erst bei der Herbsttagung wieder-zukehren, nutzte die Sozialdemokratie ihre vorübergehend beträchtlich verstärkte Stellung nicht aus. Sogar dem Bauprogramm des Panzer-schiffs B verhalf sie durch Stimmenthaltung zur Annahme, obgleich es jetzt ohne weiteres durch eine sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit hätte zu Fall gebracht werden können

Sozialdemokraten Dieser Entschluß verlangte von den wohl das größte Maß an Selbstverleugnung, zumal die erregten Debatten um das 1928 von der Reichstagsfraktion gegenüber einer sozialdemokratisch geführten Regierung abgelehnte Panzerschiff A noch nicht verklungen waren. Auch diesmal wurde das Panzerschiff zum Hauptanklagepunkt der Opposition, die sich auf dem Leipziger Parteitag Anfang Juni 1931 zum Angriff gegen die Parteiführung formierte Daß sich diese in Leipzig mit imponierender Mehrheit zu behaupten vermochte erscheint um so bemerkenswerter, als die Regierung kaum etwas getan hatte, um die schwierige Stellung der Sozialdemokratie zu erleichtern, die nicht nur durch die Opposition in den eigenen Reihen, sondern auch durch die kommunistische Konkurrenz immer härter bedrängt wurde. Obgleich sich das auch in Zukunft nicht änderte, hielt die SPD mehr denn je am Tolerierungskurs fest.

So führte auch die Kabinettsumbildung im Oktober 1931, mit der sich die Präsidialregierung noch weiter von der parlamentarischen Basis löste, zu keiner Revision der sozialdemokratischen Haltung. Der „Vorwärts“ versuchte seinen Lesern klarzumachen, welche bedenklichen Personalveränderungen vermieden worden seien („Weder Neurath, noch Voegler, noch Gessler“) und Breitscheid begründete am 14. Oktober im Reichstagsplenum die Ablehnung des Mißtrauensvotums durch die Sozialdemokraten mit der Floskel, daß dadurch lediglich das schärfste Mißtrauen gegen das, was nach Brüning käme, bekundet werden solle. Im Frühjahr 1932 schließlich blieb es der SPD nicht erspart, sich trotz ihres inneren Widerstrebens mit aller Kraft für die Wiederwahl Hindenburgs einzusetzen, da sie keine andere Alternative zu einer Präsidentschaft Hitlers und zu einer Machtübernahme der Nationalsozialisten zu erkennen vermochte

Der Bogen, der sich von den Septemberwahlen 1930 bis zum Sturz Brünings spannt, macht deutlich, wie sehr der Sozialdemokratie das Gesetz des Handelns aus den Händen geglitten war. Sie bewährte sich in dieser ganzen Zeit, abgesehen von den katholischen Parteien und der kleinen Staatspartei, als zuverlässigste parlamentarische Stütze des Kabinetts, ohne dafür mehr als kleine Zugeständnisse, besonders auf sozialpolitischem Gebiet, einhandeln zu können. Wenn eine oppositionelle sozialdemokratische Zeitung im Frühjahr 1931 boshaft feststellte, daß Brüning wisse, „wie man eine grollende Sozialdemokratie kirre madten“ könne, und nur mit seinem oder Hindenburgs Rücktritt zu drohen brauche, um den Vorstand der Reichstagsfraktion wieder „sanft wie eine Taube“ einlenken zu lassen so wurde diese Charakteristik gerade darum als verletzend und diffamierend empfunden, weil sie der Wahrheit recht nahe kam. Protokolle über die seltenen Unterredungen von Fraktionsvertretern der SPD mit dem Reichskanzler zeigen die Sozialdemokraten, die bei solchen Gelegenheiten ein erstaunliches Maß an Bescheidenheit bewiesen, weniger in der Rolle von politischen Verhandlungspartnern als von Bittstellern bei einer Behörde

Obgleich dieser Zustand als bedrückend und lähmend empfunden werden mußte, unterblieb jeder aktive politische Vorstoß, der das parlamentarische Potential der Sozialdemokratie wirkungsvoller hätte zur Geltung bringen können. Auch wenn sich die Partei wiederholt bemühte, die Regierung für häufigere Tagungen des Reichstags zu gewinnen, ging es ihr im wesentlichen nur darum, die Anwesenheit des Parlaments nach außen hin zu demonstrieren. Brüning, der solche Forderungen strikt zurückwies, reagierte im Juni 1931 schon auf den Kompromißvorschlag, mindestens die Einberufung des Hauptausschusses zuzulassen, mit der Androhung seiner Demission. Die Sozialdemokraten aber fanden sich damit ab, mochte ihnen noch soviel daran liegen, auf diese Weise ein „Ventil“ für die Stimmung der Unzufriedenen und eine „Kulisse“ für die Arbeit der Regierung zu schaffen: „Man könne den Leuten im Lande dann wenigstens verständlich madten, daß Verhandlungen im Gange seien“ Zwar trug die SPD schwer an der Mitverantwortung für die Maßnahmen des Kabinetts Brüning. Aber bei der steigenden Arbeitslosigkeit, der Zerrüttung der öffentlichen Finanzen und der wachsenden Verschlechterung der Wirtschaftslage fand sie sogar noch in der Vorstellung, daß keine sozialdemokratischen Minister n der Regierung beteiligt waren, einen bescheidenen Trost

Alle Anstrengungen, aus der Partei heraus ein zugkräftiges Programm zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit zu entwickeln, scheiterten schon daran, daß auch die führenden Männer und die Wirtschaftstheoretiker der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften das Gespenst der Inflation viel zu sehr fürchteten Nach sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung der Umstände kamen sie zu dem Schluß, daß es kein „Generalrezept“ für die Überwindung der Krise gebe. Wie in den Jahren nach 1918 wurden auch jetzt alle „Experimente" und jedes Abweichen vom Weg demokratischer Legalität prinzipiell abgelehnt So hatte die führende sozialdemokratische Richtung der Deflationspolitik der Regierung keine eigene Alternative entgegenzustellen, ganz abgesehen davon, daß nach ihrer Auffassung auch die machtpolitischen Voraussetzungen für eine sozialistische Lösung gefehlt hätten. In dieser Lage schien ihr nichts anderes übrig zu bleiben, als den Lebensstandard der Arbeiterschaft, so gut oder schlecht es eben ging, zu verteidigen und auf das Abflauen der Wirtschaftskrise zu hoffen; die sozialdemokratischen Erwartungen konzentrierten sich paradoxerweise auf die Wiedergesundung der kapitalistischen Wirtschaft. Wenn erst die Wirtschaft wieder normal funktionierte, würde sich auch die verfassungsmäßige Ordnung der deutschen Republik wieder befestigen und das Parlament seine Macht zurückgewinnen. So etwa lautete das Konzept der sozialdemokratischen 1 olerierungspolitik, in der sich Verantwortungsbewußtsein und Opferbereitschaft mit tiefer Ratlosigkeit und mangelnder politischer Initiative vereinigten.

Hinter der negativen Linie dieser Politik, der es darauf ankam, das Zentrum und die bürgerlichen Mittelparteien zu binden und die Nationalsozialisten von der Macht fernzuhalten, verbarg sich ein ungebrochener Abwehrwille, der in der starken sozialdemokratischen Organisation und in den der Partei noch verbliebenen Machtpositionen, vor allem ihrer Stellung in Preußen, seinen Rückhalt fand. Wenn es gelang, Preußen zu behaupten, so schien auch die Sache der Republik nicht verloren. Die Rücksicht auf dieses „letzte große Bollwerk, die Zitadelle der Demokratie und der Republik in Deutschland“ lieferte auch den gewichtigsten Rechtfertigungsgrund für die Tolerierung da jede Verschärfung der Gegensätze zwischen Sozialdemokratie und Zentrum im Reich auch den preußischen Koalitionsverband zu erschüttern drohte.

Braun und Brüning

Der Bruch der Großen Koalition im Frühjahr 1930 hatte auch die Weimarer Koalition in Preußen akut gefährdet. Die preußische Landtagsfraktion des Zentrums verstand sich jedoch trotz starken Drängens aus den Reihen der eigenen Partei nicht dazu, die über lange Jahre bewährte Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten in der preußischen Regierung aufzugeben. So blieb ungeachtet der Erbitterung, mit der sich Zentrum und Sozialdemokratie im Reichstagswahlkampf gegenüberstanden, eine Brücke zwischen den beiden Parteien erhalten, die es nach den Septemberwahlen erleichterte, die Tolerierungsmehrheit zu begründen. Hier hätte nach Auffassung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun auch der mögliche Ausgangspunkt für die Rückkehr zu einer Regierung der Großen Koalition im Reich liegen können. Dabei unterschätzte er keineswegs die Schwierigkeiten, denen der Versuch, zu einer parlamentarischen Lösung der Krise zu gelangen, begegnen mußte. Er glaubte jedoch, einen gangbaren Weg zu sehen, der es den beteiligten Parteien erlaubt hätte, über alle sachlichen Gegensätze und gefühlsmäßigen Hemmungen hinweg die Konsequenzen aus der verfahrenen Lage zu ziehen, ohne dabei in der erhitzten und psychologisch belasteten innenpolitischen Atmosphäre ihren Anhängern im Land gegenüber das Gesicht zu verlieren.

Die von Braun ins Auge gefaßte Lösung, die den gordischen Knoten mit einem kühnen Streich durchhauen sollte, sah eine Personalunion zwischen den Ämtern des preußischen Ministerpräsidenten und des Vizekanzlers im Reich vor Da ein wirksames Vorgehen gegen die extremen verfassungsfeindlichen Kräfte ohnehin eine enge Zusammenarbeit der Reichsregierung mit der preußischen Staatsregierung erfor-derte, lag der Gedanke an eine derartige technische Verbindung zwischen den beiden Zentralregierungen, die eine bessere Koordinierung der beiderseitigen Maßnahmen ermöglicht und den gemeinsamen Abwehrwillen demonstriert hätte, in der Luft Die Berufung Brauns hätte sich als notwendige — von parteipolitischen Erwägungen weitgehend unabhängige — staatspolitische Maßnahme und als erster Schritt zur Verwirklichung der angekündigten Reichsreform begründen lassen, die in erster Linie den Dualismus beseitigen sollte und nach den Beschlüssen des Verfassungausschusses der Länderkonferenz vom Sommer 1930 in ein akutes Stadium getreten zu sein schien. Im Endergebnis aber brauchte es keinen Unterschied zu machen, ob Braun als Vertreter des preußischen Staates oder der sozialdemokratischen Partei der Reichsregierung angehörte, nur daß im ersten Falle die Große Koalition unter Einschluß der Sozialdemokraten gleichsam beiläufig und als Nebenresultat eines Aktes der Staatsraison wiederhergestellt worden wäre. Dabei dürfte für Braun auch die Überlegung eine Rolle gespielt haben, daß die Abneigung des Reichspräsidenten gegen eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung auf diese Weise am ehesten zu überwinden sein würde, zumal sich zwischen Hindenburg und ihm im Laufe der Jahre eine Art von Vertrauensverhältnis herausgebildet hatte, das nicht zuletzt auf ihrer gemeinsamen ostpreußischen Landsmannschaft beruhte.

Zur Würdigung des geschilderten Lösungsvorschlages scheint erforderlich, etwas näher auf die Stellung des preußischen Ministerpräsidenten zur Frage der Reichsreform einzugehen. Wenn Braun in seinen Memoiren betont, er habe „die Mission des neuen Preußen“ darin gesehen, „die Demokratie in Deutschland zu sichern und zu vertiefen“ liefert er damit den Schlüssel zum Verständnis seiner gesamten Politik. Gegenüber den labilen parlamentarischen Verhältnissen im Reich, wo eine Krise die andere ablöste und die Regierungen — an denen die Sozialdemokratie meist überhaupt nicht beteiligt war — häufig wechselten, bedeutete die Aufrechterhaltung einer selbständigen, auf einer festen demokratischen Plattform fußenden preußischen Regierung der Weimarer Koalition sowohl nach Auffassung Brauns als auch seiner Partei ein unentbehrliches Gegengewicht. Durch diese Haltung wurde das prinzipielle Bekenntnis zum „dezentralisierten Einheitsstaat“, das für die Sozialdemokratie niemals in Frage stand, in der politischen Praxis so stark abgewandelt, daß das Festhalten an der preußischen Machtstellung für weite Teile der Partei ein starres Dogma sozialdemokratischer Politik bedeutete Den unvermeidlichen Spannungen zwischen den Bürgerblockregierungen im Reich und der sozialdemokratisch geführten Preußenregierung versuchte Braun „als wahrer Staatsmann“ dadurch entgegenzuwirken, daß er in vielen Fällen „seine Macht nicht ausnutzte, wo er es im Interesse seiner eigenen Politik oder dem seiner Partei hätte tun können“ Nichtsdestoweniger sah gerade er in dem zu immer neuen Reibereien führenden Nebeneinanderbestehen zweier Zentralregierungen keine Dauerlösung. Der sozialdemokratische Wahlieg des Jahres 1928 erschien ihm als der geeignete Auftakt, um die Reichsreform auf dem von ihm „als allein gangbar und aussichtsreich“ erkannten Weg über eine „Personalunion der leitenden Regierungsstellen im Reich und in Preußen“ und „Verwaltungsgemeinschaften auf allen wichtigen Gebieten“ praktisch in Gang zu setzen. Daß die Partei damals Hermann Müller und nicht ihn als Kanzlerkandidaten nominierte, bedeutete für Braun eine nachhaltige und nie ganz überwundene Enttäuschung Hätte sich der Parteivorstand der SPD 1928 für ihn erklärt, wäre er nach seinem eigenen Zeugnis entschlossen gewesen, an die Spitze des Reichskabinetts zu treten, ohne seine „Machtposition in Preußen“ aufzugeben Diese Haltung zeugt von einem starken Vertrauen in die eigenen, unter schwierigen Umständen bewährten staatsmännischen Fähigkeiten, darf jedoch nicht mit persönlichem Ehrgeiz verwechselt werden. Dagegen spricht schon, daß er so schnell resignierte und darauf verzichtete, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit für die von ihm sachlich für richtig gehaltene Lösung zu kämpfen Ähnlich ist auch sein Verhalten nach den Septemberwahlen von 1930 zu beurteilen, hinter dem wiederum eine starke sachliche Leidenschaft stand, die jedoch gerade dadurch gehemmt wurde, daß die Personalunion ihn selbst zur politischen Schlüsselfigur gemacht hätte. So sehr er davon überzeugt war, daß die Stunde nicht nur eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung, sondern auch eine effektive Stärkung der zersplitterten Staatsgewalt und einen Mann von Tat-und Entschlußkraft forderte, so unerträglich wäre es ihm gewesen, dem Verdacht ausgesetzt zu sein, er dränge sich selbst in den Vordergrund.

Die Bedeutung, die Braun dem auch von dem preußischen Zentrums-minister Hirtsiefer unterstützten Personalunionsplan beimaß, steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den schwachen Bemühungen, mit denen er diese Lösung zu fördern versuchte. Vermutlich erfolgte von seiner Seite kaum mehr als ein Vorstoß in der Reichskanzlei über einen Mittelsmann. Nachdem er mehrere Tage vergeblich darauf gewartet hatte, daß der Reichskanzler auf diese Anregung hin an ihn herantreten würde, floh er, von schweren Sorgen bedrückt, aus dem politischen Getriebe Berlins in die Stille seines Jagdreviers in der Schorfheide Schon jetzt, kaum länger als eine Woche nach den Wahlen, gewann das resignierende Gefühl bei ihm die Oberhand, daß eine entscheidende politische Chance verpaßt worden sei. Ob Brüning, der zunächst mit dem Gedanken an eine Linkserweiterung spielte, in diesem Zusammenhang auch den Gedanken an eine Berufung Brauns erwogen hat, läßt sich nach unserer bisherigen Kenntnis nicht sagen. Sicher erscheint nur, daß es nicht einmal zu einer Aussprache zwischen den beiden Regierungschefs über dieses Thema gekommen ist. Als Braun Anfang Oktober nach Berlin zurückkehrte, war von einer möglichen Personalunion keine Rede mehr, und er setzte jetzt seinen Einfluß für die Tolerierung ein die zwar keinen konstruktiven parlamentarischen Ausweg öffnete, aber es nicht nur Brüning möglich machte, mit Notverordnungen weiterzuregieren, sondern auch die Weimarer Koalition in Preußen absicherte.

Der Weg, den Braun vor sich sah, als er nach den Septemberwahlen eine „große Koalition aller Vernünftigen“ forderte, ist hier nur deshalb so ausführlich behandelt worden, weil er ein charakteristisches Licht auf die Politik des preußischen Ministerpräsidenten wirft und knapp ein Jahr später, im August 1931, noch einmal aktuell wurde Im Hintergrund standen die Verschärfung der Wirtschaftskrise, die mit dem Bankenkrach einen Höhepunkt erreichte, und der durch den Stahlhelm inszenierte — aber nicht nur von der gesamten Rechten einschließ-lich der Deutschen Volkspartei, sondern auch von den Kommunisten unterstützte — Volksentscheid über die Auflösung des preußischen Landtags, der sich indirekt auch gegen die Reichsregierung richtete. Die Finanznot war so drückend geworden, daß eine großzügige Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung und damit die Inangriffnahme der Reichsreform und der Reichsverwaltungsreform dringend geboten schien. Das wurde sowohl in der Reichsregierung als auch in der preußischen Staatsregierung empfunden, zumal die unerträglich gewordene finanzielle Abhängigkeit Preußens vom Reich der preußischen Politik auch den letzten Rest von Selbständigkeit zu nehmen drohte. Die von preußischer Seite empfohlenen Sofortmaßnahmen sahen u. a. die Ernennung des preußischen Ministerpräsidenten zum Vizekanzler und des preußischen Innenministers Severing zum Reichsinnenminister vor; und vorübergehend hatte es den Anschein, daß Brüning, der auch mit der sozialdemokratischen Parteiführung Fühlung nahm, darauf einzugehen geneigt sei. Die aktuelle politische Bedeutung der preußischen Pläne lag darin, daß sie de facto die notwendige administrative Stärkung der Reichsgewalt und die Beseitigung des Dualismus mit der Festigung der parlamentarischen Basis des Kabinetts Brüning verkoppelten. Auf dem Umwege über die Reichsreform sollte eine feste Koalition unter Einschluß der Sozialdemokraten geschaffen und damit die Grundlage für eine nicht ausschließlich auf den Artikel 48 angewiesene Reichsregierung zurückgewonnen werden.

Nach einer kurzen Zeit des Schwankens entschied sich jedoch Brüning, die schwierige Frage der Reichsreform, seinem ursprünglichen Vorsatz entsprechend, bis zum Abschluß der Reparationsverhandlungen zurückzustellen. Die durch einen voreiligen Zeitschriftenartikel des preußischen Finanzministers Höpker-Aschoff mobilisierten Widerstände, die Intervention Schleichers, eine vorübergehende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Braun und Brüning und nicht zuletzt die Unentschlossenheit des Kanzlers, der mit seinen Vorzügen und Schwächen so etwas wie eine Bethmann-Hollweg-Natur war, dürften zusammengewirkt haben, um dieses negative Ergebnis herbeizuführen.

Der schon in den Vorerörterungen steckenbleibende Versuch hatte allerdings noch ein Nachspiel; und zwar nahm Brüning den Rücktritt Höpker-Aschoffs zum Anlaß, Braun den Vorschlag zu machen, dem Reichsfinanzminister Dietrich auch das preußische Finanzministerium zu übertragen. Braun, der diesen Vorschlag nicht für weitgehend genug hielt, knüpfte seine Zustimmung an die Bedingung, daß Brüning gleichzeitig das preußische Ministerpräsidium übernehmen müsse. Er bot an, dieser Lösung durch seinen Rücktritt den Weg zu ebnen und sich in der SPD für sie einzusetzen Auch hier ging es Braun also um den politischen Effekt der Personalunion, die auch in dieser Form eine festere parlamentarische Bindung zwischen der Reichsregierung und der SPD bedingt hätte. Abgesehen davon hätte Brüning, der durch die Umbildung des Reichskabinetts im Oktober in noch größerer Abhängigkeit vom Reichspräsidenten geraten war, durch seine Wahl zum Chef einer preußischen Mehrheitsregierung der Weimarer Koalition auch Hindenburg gegenüber wieder mehr Bewegungsfreiheit gewinnen können.

Die geschilderten drei Stationen September 1930, August und Herbst 1931 belegen die Kontinuität in den politischen Zielvorstellungen des preußischen Ministerpräsidenten, der ein bemerkenswertes Maß an politischem Weitblick besaß, und lenken gleichzeitig den Blick auf die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Braun und Brüning für die Endphase der Weimarer Republik. Braun war weder Freund einer uni-. tarischen Reichsreform um jeden Preis, noch hielt er es für der Weisheit letzten Schluß, starr an der preußischen Machtstellung festzuhalten. Daß es gerade ihm nicht leicht gefallen wäre, die ersten Schritte auf einem Wege zu tun, der zum Abbau des selbständigen preußischen Staatswesens führen mußte, kann dabei keinem Zweifel unterliegen.

Aber das hätte ihn nicht davon abgehalten, die Hand zu einer konstruktiven Lösung zu reichen, durch die der Republik bessere Aussichten eröffnet worden wären, sich gegenüber dem Ansturm der Gegner der Demokratie zu behaupten. Wenn wir seine Intentionen richtig interpretieren, so hätte am Anfang ein Schutz-und Trutzbündnis der Chefs der beiden Zentralregierungen stehen müssen, ein Pakt, der in sich schon eine politische Tatsache darstellte, auch dem Reichspräsidenten und den Parteien gegenüber. Der Versuch, das gestörte parlamentarische Zusammenspiel wieder zu beleben, bot nach seiner Auffassung nur dann Aussicht, wenn von der Spitze ein starker Zwang zur Integration auf die durch Interessenkonflikte zerrissenen antitotalitären Parteien ausgeübt wurde. Dazu sollte der durch seinen Eintritt als Vizekanzler in die Reichsregierung besiegelte Pakt mit Brüning den Auftakt geben. Dabei glaubte er, nicht mehr tun zu dürfen, als vorsichtig anzuregen. Die Initiative aber konnte nur vom Reichskanzler ausgehen, dessen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit Braun ebenso respektierte, wie er selbst in seinem eigenen Amtsbereich als preußischer Ministerpräsident keine Eingriffe von nicht zuständiger Seite hinzunehmen bereit war. Hier zeigt sich klar, daß ein solcher Pakt nicht zuletzt ein psychologisches Problem bedeutete Der zaudernde, vorsichtige, asketische Westfale Brüning und der im Bereich seiner Zuständigkeiten entschlußkräftigere und elastischere, aber bei aller äußerer Robustheit nicht minder leicht verletzbare Ostpreuße Braun waren beide, jeder auf seine eigene Weise, verschlossen und gehemmt.

Trotzdem fanden Braun und Brüning ein Verhältnis zueinander, das man vielleicht am besten als ein begrenztes Bündnis charakterisiert Preußen war nicht nur auf die Reichsregierung, sondern diese auch auf die preußische Staatsregierung der Weimarer Koalition angewiesen. Braun bemühte sich schon wegen des Bündnisses mit dem preußischen Zentrum kontinuierlich, den Bedürfnissen der Reichspolitik gerecht zu werden, auch in den Ansprüchen seiner eigenen Partei gegenüber Aber wenn die preußische Regierung bis zum Frühjahr 1932 die zuverlässige Stütze Brünings blieb, so zeigt der untrennbare Zusammenhang zwischen der Wahlniederlage der preußischen Koalition bei den Landtagswahlen vom April 1932, die den Erfolg der Präsidentenwahlen wieder zunichte machten, und dem Sturz des allein noch vom Vertrauen Hindenburgs abhängigen Reichskanzlers Brüning am besten, wie wenig dieses begrenzte Bündnis ausreichte

Niemand vermag zu sagen, ob eine Reichspolitik im Sinne Brauns das Schicksal hätte abwenden können und ob es gelungen wäre, auf diesem Wege zu einer starken Regierung mit einer ausreichenden parlamentarischen Grundlage zu kommen. Allein eine große Chance hätte auch ein großes Risiko gerechtfertigt. Es hätte schon viel bedeutet, wenn eine einheitliche rücksichtslose Abwehr der nationalsozialistischen und kommunistischen Provokationen gewährleistet worden wäre Mehr noch hing davon ab, ob es hätte gelingen können, die Länder-wahlen, insbesondere die Preußenwahlen, durch schnelles Vorantreiben der Reichsreform als Störungsquelle der Politik des Reiches auszuschalten. Aber auch die Frage einer Ergänzung des Spar-und Sanierungskurses durch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm wäre bei einer Berufung Brauns in die Reichsregierung unweigerlich zur Debatte gekommen

Durchbrach Braun einerseits mit seinen Intentionen den Horizont der gelähmten und passiven sozialdemokratischen Politik, so erscheint es andererseits charakteristisch für ihn, daß er kaum etwas dazu tat, seine Partei zu einer selbständigen politischen Aktivität zu bewegen und den Ansatz zu einer Lösung der Probleme der Krise aus der Sphäre des Staatlichen erwartete. Aber wenn die Sozialdemokratie auch nicht von sich aus zur Regierungsverantwortung drängte und sogar glaubte, durch die halbe Lösung der Tolerierung die Konkurrenz der Kommunisten und den Druck ihres eigenen linken Flügels besser abfangen zu können, als wenn sie direkte Regierungspartei gewesen wäre, so hätte sie sich, von Brüning und Braun ernstlich vor die Wahl gestellt, kaum der Zustimmung zu den Personalunionsplänen entzogen. Insofern dürfte die Kalkulation Brauns richtig gewesen sein. Die größten Hindernisse lagen zweifellos an anderer Stelle. Doch alle Spekulationen sind müßig, da weder im September 1930 noch im August des folgenden Jahres der Pakt der Regierungschefs zustande kam.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Den Grundstock dieses Beitrages bilden eine Abhandlung und eine Dokumentation, die 1956 unter dem Titel „Der Untergang der alten Sozialdemokratie 1933“ in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ (Jg. 4, S.

  2. Zur Frage der strukturellen Schwäche der Weimarer Demokratie vgl. u. a. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 2. Ausl. Düsseldorf und Stuttgart 1957; Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 178, 1954, S. 47 ff; ferner den Beitrag Conzes in dieser Ausgabe.

  3. Zur Kritik der These von Karl Dietrich Erdmann, daß es 1918/19 nur die „Wahl zwischen einem konkreten Entweder-Oder“ gegeben habe (so in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3, 1955, S. 7) vgl. Erich Matthias, Zur Geschichte der Weimarer Republik, in: Die Neue Gesellschaft 3, 1956, S. 312 ff.

  4. Als besonders wichtige Quellen für diese Zusammenhänge sind die Protokolle des Rats der Volksbeauftragten, des Zentralrats der deutschen Republik und der sozialdemokratischen Fraktion in der Nationalversamm-lung anzusehen, deren Veröffentlichung im Rahmen der Quellen zur Ge-schichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien vorbereitet

  5. Für die sozialdemokratische Politik in der Revolutionsperiode vgl. neuerdings die beiden maschinenschriftlichen phil. Dissertationen von Eber-hard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik, Göttingen 1959, und Wolfgang Elben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revo-lution, Hamburg 1959; ferner Peter von Oertzen, Die großen Streiks der Ruhr-bergarbeiterschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6, 1958, S. 231 ff..

  6. Dazu besonders Arthur Rosenberg, Geschichte der deutschen Republik., Karlsbad 1935; Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien. Berlin 1932, S. 22 ff.

  7. Vgl. Helga Timm, Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der Großen Koalition 1930 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 1). Düsseldorf 1952.

  8. In dieser Fragestellung berührt sich meine Studie mit der Abhandlung von Lewis J. Edinger, German Social Democracy and Hitler’s „National Revolution of 1933": A Study in Democratic Leadership, in: World Politics 1953, S. 330 ff.

  9. Braun gegenüber einem Vertreter der United Press am 15. September 1930; zitiert nach Horkenbach 1930, S. 319.

  10. Stampfer, a. a. O. S. 574.

  11. Vom 25. September.

  12. Braun a. a. O. S. 308 f.

  13. A. a. O.

  14. Dazu die Tagebuchaufzeichnung Pünders vow * 5 September.

  15. Tagebuchaufzeichnung vom 30. September.

  16. Stampfer a. a. O. S. 580.

  17. Vgl. Dokument Nr. 1. — Die Übereinstimmung in der Grundtendenz mit den eingangs zitierten Ausführungen Otto Brauns ist nicht zu verkennen.

  18. Wilhelm Hoegner, Der schwierige Außenseiter. München 1959, S. 61.

  19. Bei der Abstimmung am 20. März 1931 enthielten sich 108 sozialdemokratische Abgeordnete der Stimme, während 9 entgegen dem Fraktionsbeschluß mit den Kommunisten votierten; die übrigen hatten während der Abstimmung den Plenarsaal verlassen. Entsprechend verhielt sich die Fraktion auch zu dem kommunistischen Antrag auf Streichung der letzten Baurate für das Panzerschiff A.

  20. Dazu die Spezialuntersuchung von Wolfgang Wacker, Der Bau des Panzerschiffes „A“ und der Reichstag (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik 11). Tübingen 1959.

  21. Sozialdemokratischer Parteitag in Leipzig 1931, vom 31. Mai bis 5. Juni. Protokoll. Berlin 1931.

  22. Der wichtigste Antrag, der einen verschärften Fraktionszwang forderte, wurde in namentlicher Abstimmung mit 324 gegen 62 Stimmen angenommen.

  23. Vgl. Schulthess 1931, S. 223 f.

  24. Dazu Dokument Nr. 5.

  25. „Plauener Volkszeitung" vom 21. April 1931, zitiert von Westphal auf dem Leipziger Parteitag; Protokoll a. a. O. S. 237 f. Vgl. Kurt Koszyk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914 bis 1933 (Deutsche Presseforschung 1). Heidelberg 1958, S. 191.

  26. Vgl. Dokument Nr. 2, 3 und 4. Dazu Schulthess 1931, S. 67 und 198, über die Verhandlungen Brünings mit Vertretern der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Anfang März und am 1. September 1931.

  27. Dokument Nr. 4; vgl. auch Dokument Nr. 2.

  28. Sollmann erklärte als Berichterstatter der Reichstagsfraktion auf dem Leipziger Parteitag nach dem Protokoll, a. a. O. S. 112: „Die Erwerbslosigkeit ist auf 5 Millionen gestiegen, flaut nur langsam ab und steigt immer wieder im Zickzack empor. Die öffentlichen Finanzen sind zerrüttet. Unsere Wirtschaftslage verschlechtert sich noch immer. Ich bin nicht so unehrlich und auch nicht ungeschult genug, um der jetzigen Regierung alle Schuld daran zuzuweisen. Aber ich frage den Parteitag und die deutsche Öffentlichkeit: Welch ein verlogenes Geheul gegen die Minister würde täglich in allen bürgerlichen Zeitungen erhoben werden, wenn der Reichskanzler jetzt Hermann Müller und der Reichsfinanzminister Hilferding wäre! (Sehr richtig!)

  29. Vgl. Stampfer, Die vierzehn Jahre, S. 609 f., 638 f.; ders., Erfahrungen und Erkenntnisse. Köln 1957, S. 258 f. — Stampfer behandelt auch den nach seinen Urhebern Woytinsky, Tarnow und Baade bezeichneten WTB-Plan.

  30. So Tarnow in seinem Referat auf dem Leipziger Parteitag; Protokoll a. a. O. S. 47.

  31. Eine erhebliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Diskussion über den ersten russischen Fünfjahrplan. Vgl. Erich Matthias, Die deutsche Sozialdemokratie und der Osten (Arbeitsgemeinschaft für Osteuropa-forschung, Forschungsberichte und Untersuchungen zur Zeitgeschichte 11). Tübingen 1954, S. 77 ff.

  32. So in dem Aufruf der preußischen Staatsregierung zum Volksentscheid über die Auflösung des preußischen Landtages vom 6. August 1931. Vgl. Schulthess 1931, S. 176.

  33. Bereits in dem oben zitierten Brief Hermann Müllers an Otto Braun von Ende September 1930 heißt es: „Ich bin der Überzeugung, daß ein mit Hilfe der Sozialdemokratie zum zweiten Male herbeigeführter Sturz der Regierung Brüning Konsequenzen für die preußische Regierung auslösen wird.'Vgl. Braun a. a. O. S. 308.

  34. Mündliche Mitteilung von Dr. Herbert Weichmann, Finanzsenator der Hansestadt Hamburg, damals persönlicher Referent Brauns.

  35. Vgl. Carl Severing, Mein Lebensweg, Bd. 2. Köln 1950, S. 303.

  36. Braun a. a. O. S. 438.

  37. Vgl. Bracher a. a. O. S. 567 f.

  38. Arnold Brecht, Vorspiel zum Schweigen. Wien 1948, S. 83.

  39. Braun a. a. O. S. 359.

  40. Siehe Anm. 1.

  41. Braun a. a. O. S. 245 f.

  42. A. a. O. S. 246. Auf S. 358 klagt Braun darüber, daß „die Berufensten, der sozialdemokratische Kanzler Müller, wie Severing als zuständiger Reichsinnenminister jede klare Stellungnahme" zur Reichsreform hätten vermissen lassen.

  43. Vgl. Severing a. a. O. S. 303.

  44. Nach mündlichen Mitteilungen Weichmanns; siehe Anm. 48. Der Aufenthalt in der Schorfheide wird durch Braun a. a. O. S. 308 f. bestätigt. Der dort abgedruckte Brief Hermann Müllers betont, es sei „absolut notwendig", daß Braun bei der Sitzung der Reichstagsfraktion am 3. Oktober 1930 anwesend sei. Hinzu komme, „daß in Versammlungen und in der Presse, wenn von Regierungsbeteiligung die Rede ist, immer wieder Dein Name genannt wird. Man sieht in Dir von sozialdemokratischer Seite die stärkste unverbrauchte Kraft, wie man von bürgerlich-wirtschaftlicher Seite in Dir den deutschen Mussolini — mit Pilsudski will ich Dich nicht vergleichen—• glaubt erwachsen zu sehen." — Dieser Passus war offensichtlich psychologisch auf den Empfänger zugeschnitten. — Braun teilt a. a. O. weiter mit, der Brief Müllers sei ihm durch Staatssekretär Weismann mit der Bemerkung übermittelt worden, daß Brüning dringend eine Unterredung mit ihm wünsche. — Das im vorigen Kapitel zitierte stenographische Tagebuch Pünders gibt über diese Frage keinen Aufschluß, braucht jedoch der Version Weichmanns nicht zu widersprechen. Unter dem 17. September berichtet es über Beratungen zwischen den drei Staatssekretären Weismann (der für die Vermittlungsaktion in Frage gekommen wäre), Pünder und Meißner und weist dabei nachdrücklich auf eine wichtige vertrauliche Aufzeichnung über diese Unterredung hin, die jedoch trotz sorgfältiger Nachforschungen in den Akten der Reichskanzlei bisher nicht aufgefunden werden konnte. Unter dem 25. findet sich die — ebenfalls als Indiz nicht ausreichende — Wendung, selbst wenn man mit „Braun und Genossen* einig werde, würden Teile der bisherigen Koalition auf der Rechten abspringen.

  45. Vgl. oben

  46. Siehe 'Anm. 9.

  47. Für das Folgende vgl. Erich Matthias und Rudolf Morsey, Die Deutsche Staatspartei, in dieser Ausgabe. Dort auch alle einschlägigen Quellen-und Literaturangaben.

  48. Am 12. Oktober 1931; dazu Braun a. a. O. S. 352 ff.

  49. A. a. O. S. 354 f. Dazu auch Waldemar Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928— 1933. Stuttgart, S. 165.

  50. Es ist bezeichnend, daß Braun sowohl im September 1930 als auch im August 1931 mit Hilfe von Mittelsleuten vorging. Auch im zweiten Falle scheint es in den entscheidenden Tagen nicht zu einem persönlichen Kontakt mit Brüning gekommen zu sein.

  51. Pünder spricht in einem Brief vom 8. Oktober 1959 an den Verfasser von einem „sehr engen und vertrauensvollen und laufenden Gedankenaustausch zwischen den damaligen beiden Seiten der . Wilhelmstraße', und zwar vor allem zwischen Herrn Reichskanzler Brüning persönlich und dem Herrn Ministerpräsidenten Braun".

  52. Dazu auch Dokument Nr. 4.

  53. Vgl.den Kommentar Stampfers, Die vierzehn Jahre, S. 624, zum Sturz Brünings: „So endete Brüning wie ein kaiserlicher Kanzler, von Hof-intrigen gestürzt. Das parlamentarische System funktionierte nicht mehr, er hatte sich auch nicht bemüht, es wieder in Gang zu bringen. Es gab nur noch eine passive Mehrheit, die sich den Kanzler gefallen ließ, keine aktive, die ihn vor den Kabalen des Palastes schützte.

  54. Der Wille Preußens, sich „auf die entschiedene Bekämpfung der Nationalsozialisten" einzustellen (Braun a. a. O. S. 309), wurde durch Ernennung Severings zum Innenminister am 21. Oktober und Grzesinskis zum Polizeipräsidenten von Berlin am 4. November 1930 demonstriert (vgl. a. a. O. S. 312), während die „Ein-Schritt-vor-und-zwei-Schritte-zurück-Taktik der Reichsregierung“ den Kampf gegen die republikfeindlichen Elemente nach Braun (a. a. O. S. 326) um jede Wirkung brachte. Dazu auch die entsprechenden Partien in den Erinnerungen Severings.

  55. Vgl. die zu Anfang des vorigen Kapitels zitierte Stellungnahme Brauns vom 15. September 1930. Ferner Arnold Brecht, Die Auflösung der Weimarer Republik und die politische Wissenschaft, in: Zeitschrift für Politik 2, 1955, S. 306.

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