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Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung | APuZ 26/1960 | bpb.de

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APuZ 26/1960 Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung Peking spielt mit hohem Einsatz Über den „linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus"

Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung

Stefan Yowev

Das wesentlichste Kennzeichen des Marxismus-Leninismus ist seine Dogmatik. Eine ideologische, starr-doktrinäre Bewegung braucht aber unbedingt eine zentrale oberste Autorität, die bindende Dogmen aufstellt und in letzter Instanz zu entscheiden hat, welche Prinzipien und Lehrsätze richtig und welche häretisch sind. Zu Stalins Lebzeiten war das gesamte weltkommunistische System „monolithisch". Der „große Bruder" im Kreml bestimmte die „Generallinie" und verdammte ohne Recht der Berufung jegliches „rechte" oder „linke"

„Abweichlertum" im kommunistischen Lager, welches als todeswürdiges Verbrechen gnadenlos ausgemerzt wurde.

Nach dem Tode Stalins aber, und insbesondere nach der von Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU (Februar 1956) eingeleiteten Destalinisierungskampagne brach die „monolithische Einheit" der internationalen kommunistischen Bewegung zusammen. Die ideologische Krise des Marxismus-Leninismus trat um diese Zeit in ein akutes Stadium ein. Eine direkte Folge dieser Gärung und der Lockerung der dogmatischen Fesseln waren die Ereignisse in Posen und Budapest. Der Kreml sah sich gezwungen, angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung, welche die Fundamente des weltkommunistischen Systems erschütterte, die ideologische Homogenität wiederherzustellen zu versuchen. Im November 1957 wurde in Moskau ein „Konzil" der internationalen kommunistischen Bewegung einberufen. Im Anschluß daran proklamierte man die bekannte „Erklärung der zwölf regierenden kommunistischen Parteien", welche die bedingungslose Führungsrolle der KPdSU bekräftigte. Gleichzeitig wurde in dieser Deklaration der Revisionismus zum „Feind Nr. 1 des Marxismus-Leninismus" erklärt

Während die Abgesandten Titos, Kardelj und Rankowitsch, sich weigerten, den Führungsanspruch und die ideologische Autorität des Kreml anzuerkennen, unterzeichneten die Vertreter Pekings diese Charta und ordneten sich in dogmatischer Hinsicht der KPdSU unter. Trotzdem konnte die Tatsache nicht aus der Welt geschafft werden, daß noch vor dieser gemeinsamen und offiziellen Verdammung des Revisionismus als eine tödliche Bedrohung der Lehre und der Bewegung die chinesischen Kommunisten die Versöhnung Chruschtschows mit» den jugoslawischen „Revisionisten" im Mai 195 5 mißbilligt hatten. Auch nach der Verbrüderung Chruschtschows mit Tito setzte Peking die antijugoslawi-sehe Kampagne mit unverminderter Schärfe fort. Die antirevisionistische „Erklärung" vom November 1957 gab auf alle Fälle Mao Tse-tung und nicht Chruschtschow recht.

In der Tat ist der sogenannte „Revisionismus" angesichts der nicht zu leugnenden ideologischen Krise des Marxismus-Leninismus eine Auflösungserscheinung, die den Fortbestand des seit Jahrzehnten in unüberbrückbare Widersprüche zwischen Theorie und Praxis verwickelten Weltkommunismus aufs Spiel setzt. Mit vollem Recht erklärte die sowjetische Zeitschrift „Moskwa" im Dezember 1958: „Entweder tragen wir den Revisionismus zu Grabe oder der Revisionismus bringt uns den Tod. Eine dritte Möglichkeit gibt es nidtt!“ Der konsequenteste Anti-Revisionist Mao Tse-tung gilt indessen nicht nur in den Augen der chinesischen Kommunisten, sondern auch im ganzen Ostblock als der maßgebende marxistisch-leninistische Theorethiker nach dem Ausscheiden des „Klassikers“ Stalin. Insbesondere seit September 1959 startete Peking eine nie dagewesene Kampagne zum Studium der Ideologie Mao Tse-tungs. Der „Maoismus" wird demnach in den Rang einer besonderen „Ideologie“ erhoben. Niemand käme dagegen auf den Gedanken, in diesem Sinne von einem „Chruschtschowismus“ zu sprechen. Der Personenkult, der dagegen mit dem chinesischen Kommunistenführer seit einigen Monaten getrieben wird, steht beispiellos im Ostblock da und könnte sich allenfalls mit der Vergötzung Stalins vergleichen.

Die erste ideologische Herausforderung des Kreml seitens Pekings

INHALT * Peking spielt mit hohem Einsatz * Stefan Yowev:

Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung über den „linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus"

Es waren erst einige Monate seit der Anerkennung der ideologischen Führung der KPdSU durch Peking vergangen, als es zu einer überraschenden Komplikation der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Rotchina kam. Auf dem August-Plenum (1958) des Zentralkomitees der KPCh wurde das Programm der „Volkskommunen“ bekannt-gegeben. Vom April bis Juli 1958 hatte das chinesische kommunistische Regime in aller Stille die radikalste ökonomische und soziale Reform in der Geschichte des Weltkommunismus durchgeführt. In diesem kurzen Zeitraum hatte Peking eine viertel Milliarde Menschen in „Volkskommunen“ hineingepreßt. Die Bedeutung dieser Umwälzung wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, daß der Unterschied zwischen den Kollektivwirtschaften nach sowjetischem Vorbild und den Volkskommunen viel größer ist als der zwischen dem Privatbesitz am Boden und dem Kolchossystem.

Als das Zentralkomitee der KPCh im August 1958 das Programm der Volkskommunen vorlegte, kündigte es an, ohne den Abschluß des „Aufbaus des Sozialismus“ (wie es in der UdSSR im Jahre 1936 geschah) gemeldet zu haben, daß der „Eintritt in den Kommunismus“ in China in greifbare Nähe gerückt sei: „Die Verwirklichung des Kommunismus in China scheintkeine Frage der fernen Zukunft mehr zu sein . . .“ (Peking Review, Peking, 16. 9. 1958).

Ein Zitat aus dem rotchinesischen Parteiorgan gibt Aufschluß darüber, wie man sich in Peking die unmittelbare Nähe des „vollständigen Kommunismus" vorstellte: „China bewegt sich blitzartig vorwärts. Nodt vor kurzem waren fünfzigjährige Bauern besorgt, sie könnten womöglich das herrlidte Zeitalter des Kommunismus nicht mehr erleben. Jetzt glauben aber sogar Achtzig-undNeunzigjährige beruhigt und fest daran, dafl sie das Glück des Kommunismus genieflen können . . .“ (Jen Min Jih Pao, Peking, 6. 8. 195 8).

Mit anderen Worten, die chinesischen Kommunisten waren im Sommer 1958 überzeugt, daß sie das kommunistische Endzeitalter in fünf oder höchstens zehn Jahren in ihrem Lande verwirklichen würden, während die Sowjets nach ihrer eigenen Darstellung, trotz des zeitlichen Vorsprungs von einem Vierteljahrhundert vor China, erst nach mehreren Jahrzehnten „in den Kommunismus eintreten" würden.

Nach Marx, auf den sich Peking bei der ideologischen Begründung der Volkskommunen-Reform beruft, setzt der Aufbau des „vollständigen Kommunismus" die Existenz einer hochentwickelten Industrie im ganzen Land voraus. Der Hauptfaktor im Produktionsprozeß im heutigen China ist aber immer noch die primitive Körperkraft des Menschen, und dieser Zustand wird sich noch nach vielen Jahren nicht wesentlich verändern. Unter diesen Umständen war es sowohl vom theoretischen als auch vom praktischen Standpunkt aus absurd, wenn die chinesischen Kommunisten den Anspruch erhoben, einen schnelleren Weg zum Aufbau des Kommunismus als die Sowjets gefunden zu haben, obwohl letztere nicht nur 20 Jahre früher mit der Industrialisierung begannen, sondern auch schon 1917 in dieser Hinsicht bessere Ausgangspositionen als die Chinesen im Jahre 1950 hatten.

Der „große Sprung nach vorn“, den die Rotchinesen in der ersten Phase der Volkskommunen-Reform durchzuführen gedachten, brachte tatsächlich praktische Umwandlungen mit sich, die der kommunistischen Ära vorbehalten sind. Nachdem Chruschtschow aber auf dem letzten Parteitag der KPdsu (Januar 1959) erklärte, daß die Sowjetgesellschaft sich noch auf Jahre hinaus erst in der „Übergangsphase vom Sozialismus zum Kommunismus" befinden würde, Peking dagegen diese Übergangsphase einfach überspringen und in allernächster Zeit „direkt in den Kommunismus springen“ wollte, war es offensichtlich, daß die chinesischen Kommunisten ihre sowjetischen Genossen in der Entwicklung zum „vollständigen Kommunismus“ überholen wollten.

Bezeichnend war die Haltung der Sowjetführung angesichts dieser ideologischen Herausforderung Pekings. Die Presse und die theoretischen Organe in der UdSSR enthielten sich zuerst jeglicher prinzipieller Stellungnahme zu den Ereignissen in Rotchina und begnügten sich lediglich damit, die Beschlüsse und Erfolgsmeldungen des chinesischen Regimes zu veröffentlichen. Erst im Oktober 1958 nahmen sowjetische Theoretiker — offenbar mit der Zustimmung des Zentralkomitees der KPdSU zur Frage des Zeitpunkts des Eintritts in den Kommunismus Stellung; so Prof. T. A. Stepanyan: „Es muß angenommen werden, daß die europäischen sozialistischen Länder, vereint in einer einzigen Gemeinschaft der gegenseitigen Hilfe, eine besondere ökonomische Zone bilden werden, und als erste in den Kommunismus eintreten werden. Die asiatischen sozialistischen Länder, die viel Gemeinsames haben in ihrer ökonomischen und kulturellen Entwicklung, werden eine andere regionale Zone bilden und werden auch gemeinsam in den Kommunismus eintreten .. .“ (Woprossi filosofii, Nr. 10, 1958, veröffentlicht am 16.

Oktober 1958, Moskau).

Diese sowjetische These mußte für die chinesischen Kommunisten besonders demütigend sein, da sie nichts anderes behauptet, als daß nicht nur die UdSSR, sondern auch die europäischen Satelliten, einschließlich Albaniens, vor Rotchina in das „herrliche Zeitalter des Kommunismus“ eintreten würden.

Nach dieser sowjetischen Zurückweisung der allzu kühnen chinesischen Zielsetzung, die trotz der Unterordnung unter die ideologische Führung der KPdSU den Vorrang der LIdSSR streitig machen wollte, kam der faktische Rückzug der chinesischen Kommunisten. Am 10. Dezember 1958 machte die Führung der KPCh in der Frage der Verwirklichung des Kommunismus eine Kehrtwendung um 180 Grad. An diesem Tag gab die offiziöse Telegrafenagentur Hsinhua bekannt, daß das Zentralkomitee der Partei eine Resolution gefaßt habe, die eine theoretische und praktische Verneinung der Richtlinien des August-Plenums (1958) bedeutete. Die Volkskommunen, heißt es in diesem Beschluß, würden erst die Bedingungen für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus schaffen. Es ist also nicht nur keine Rede davon, daß Rotchina direkt in den Kommunismus eintreten werde, indem das sozialistische Stadium übersprungen wird, sondern, das Regime in Peking müsse noch lange warten, bis es in die „Übergangsphase vom Sozialismus zum Kommunismus“ gelange, eine Etappe, die die LIdSSR schon 1952 erreicht hat. Dieser Prozeß werde 15, 20 oder noch mehr Jahre dauern, stellt die Dezember-Resolution ausdrücklich fest. Die achtzig-und neunzigjährigen chinesischen Bauern werden also doch nicht das „herrliche Zeitalter" erleben, wie das chinesische Parteiorgan im August 1958 im ersten Überschwang behauptet hatte.

Die erste Runde der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Peking und Moskau endete demnach mit einer klaren Niederlage und Kapitulation der Rotchinesen.

Die neueste ideologische Kontroverse

Die theoretischen Differenzen zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China, in der Frage der „friedlichen Koexistenz“ und der wahren Natur des sogenannten „Imperialismus“, begannen konkrete Formen anzunehmen und sich auf die außenpolitische Linie des ganzen Ostblocks auszuwirken in dem Moment, da es zu Zweier-Gesprächen zwischen Chruschtschow und Eisenhower kam.

Unmittelbar nach seiner Amerika-Reise eilte Chruschtschow im Oktober 1959 nach Peking, um die rotchinesischen Führer zu beschwichtigen und sie für seine Entspannungspolitik zu gewinnen. Obwohl Peking damals in offizieller Form den „Geist von Camp David“ begrüßte und Chruschtschows Rolle zur „Sicherung des Weltfriedens“ anerkannte, wurde es sehr bald klar, daß es Chruschtschow keineswegs gelungen war Mao Tse-tung, Liu Schao-tschi und Genossen zu einem betonten Koexistenzialismus zu bekehren. AIs die geplante Gipfelkonferenz in Paris näherrückte, entschloß sich Peking zu einer offenen Opposition zur Chruschtschowschen Außenpolitik. Auf der Tagung der Partei-und Regierungschefs der Warschauer-Pakt-Länder, die im Februar 1960 in Moskau stattfand, war die Volksrepublik China durch einen Beobachter — das Politbüromitglied Kang Sch eng — vertreten. Die Rede, die Scheng bei dieser Gelegenheit hielt, war äußerst aufschlußreich. Darin fand der rotchinesische Standpunkt zur Koexistenzpolitik, die keine ideologische Basis habe, Ausdruck. „Die Imperialisten werden immer Imperialisten bleiben“, hieß es in dieser Erklärung, und nur ihre physische Ausmerzung kann der Menschheit Frieden und Wohlstand bringen. Wir dürfen einen Atomkrieg nicht fürchten, fuhr Scheng fort. Der Kapitalismus kam. nämlich einen Atomkrieg nicht überleben, aber ein solcher Krieg würde die neue kommunistische Gesellschaft für die ganze Welt bringen. Die USA seien der Hauptfeind der sozialistischen Staaten, und aus diesem Grunde sei keine längere Friedensperiode in der Welt zu erwarten. Im übrigen würde die Volksrepublik China keine internationalen Abkommen, die ohne ihre Beteiligung abgeschlossen werden, anerkennen. Zum zweiten Mal setzte Peking alles daran, um eine von Chruschtschow angestrebte Gipfelkonferenz zu torpedieren. Bezeichnenderweise wurde die Rede Schengs nur im theoretischen Organ der KPCh „Rotes Banner“, aber weder in der sowjetischen noch in der Satelliten-presse veröffentlicht.

In einer spektakulären Weise durchbrach bei dieser Gelegenheit Peking das allgemein gültige Leninsche Prinzip des „demokratischen Zentralismus", welches besagt, daß wenn in einem kommunistischen Gremium ein Beschluß von der Mehrheit angenommen ist, die Minderheit verpflichtet ist. diesen Beschluß zu akzeptieren und zu befolgen.

Die Haltung des rotchinesischen Vertreters auf der Februar-Tagung des Warschauer Paktes manifestierte eine offene Opposition nicht nur gegen die Außenpolitik Chruschtschows, sondern auch gegenüber der zur Zeit noch gültigen sowjetischen These in der Frage der Koexistenz und des Imperialismus. Dies enthüllte eine ernst zu nehmende Krise in den gegenseitigen Beziehungen zwischen der UdSSR und Rotchina. Die Fehde zwischen den Parteiführungen im Kreml und in Peking wurde während der Feiern zum 90. Geburtstag Lenins fortgesetzt. Beide Parteien erheben den Anspruch, die alleinigen wahren Interpreten der Ideen des Begründers des neuzeitlichen Kommunismus zu sein. Nunmehr wurde die Sprache Pekings womöglich noch deutlicher. Die maßgebenden Organe der KPCh veröffentlichten parteiamtliche Stellungnahmen, die nichts anderes besagten, als daß Chruschtschow, der vorerst nicht namentlich genannt wird. Lenin zu Unrecht revidiert habe.

In seiner Ausgabe vom 1. April 1960 brachte das theoretische Organ der KPCh „Rotes Banner“ einen Artikel, in dem der „Imperialismus" als der einzige kriegstreibende Faktor der Gegenwart gebrandmarkt und die Kremlsche These von der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen den beiden verschiedenen sozialen und ökonomischen Systemen verurteilt wurde: „Im Charakter des Imperialismus ist es nach Beendigung des 2. Weltkriegs zu keinerlei Veränderungen gekommen. Für uns ist es absolut unzulässig, daß wir gewisse Veränderungen taktischen Charakters, welche die Imperialisten vorgenommen haben, als eine Veränderung der ganzen Natur des Imperialismus interpretieren. Solange der Imperialismus besteht, wird er immer alles tun, was in seiner Macht steht, um seine räuberischen Ziele zu verwirklichen . .

Das Parteiorgan „Volkszeitung", Peking, griff seinerseits in seiner Ausgabe vom 22. April 1960 in unverhüllter Form Chruschtschow an: „Der Leninismus hat immer den Standpunkt vertreten, daß der Imperialismus der Ursprungsquell des modernen Krieges ist . . . Lenin erklärte: , Der moderne Krieg ist ein Produkt des Imperialismus“ . . . Lenin sagte: . Der Krieg entsteht aus der Natur des Imperialismus“ . .. Daraus geht hervor, daß der Leninsche Grundsatz, daß der Imperialismus die Wurzel des Krieges ist, keineswegs überholt ist und es auch nie sein wird.“

Abschließend stellt die „Volkszeitung“ die rhetorische Frage:

„Kann es dem Frieden sdtaden, kann es die Spannungen vergrößern, wenn wir das chinesische Volk und die Weltöffentlichkeit über die wahre Sachlage informieren . . . ? Inwiefern wäre der internationalen Lage geholfen, wenn all das geheimgehalten oder sogar gerechtfertigt, beschönigt und gepriesen wird? . . . Wir wollen uns keinen 111 u s i o n e n darüber hingeben, daß dies das Schicksal der ganzen Menschheit berührt.“ „Wenn die friedliebenden Völker der Welt ihre Kraft nicht darauf konzentrieren, diese Kriegspolitik der amerikanischen Regierung zu entlarven, und nicht unentwegt gegen sie a n k ä m p f e n , dann wird das Ergebnis unweigerlich eine grauenhafte Katastrophe sein . .

schließt das chinesische Parteiorgan warnend seine Zurechtweisung an die Adresse Chruschtschows.

Niemand anders als der jetzige Sowjetführer wird nämlich in einer parteiamtlichen Erklärung Pekings beschuldigt, daß er die „wahre Sachlage verheimlicht“, sich „Illusionen“ hinsichtlich des Imperialismus hingibt und dadurch eine „grauenhafte Katastrophe für die ganze Menschheit heraufbesdtwört“.

Die chinesischen Kommunisten zeigten bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal ganz eindeutig die wesentlichste neue Theorie, mit der Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU den Marxismus-Leninismus „bereicherte“, nämlich, daß entgegen der Leninschen Auffassung „die Kriege in der Epoche des Imperialismus nicht mehr unvermeidlich“ seien, zurück. Chruschtschow hat in der Tat im Februar 1956 ex cathedra Lenin in seiner grundlegenden Revolutionsund Kriegstheorie revidiert, mit der Begründung, daß er den Marxismus-Leninismus „schöpferisch weiterentwickle“, da die Verhältnisse in der Welt sich im Vergleich zu den Zeiten Lenins von Grund auf verändert hätten. Lenin hatte sein Leben lang sich zur Ansicht bekannt, daß „solange der Imperialismus existiert, die zwischenstaatlichen Kriege unvermeidlich“ seien. Chruschtschows neue Theorie in dieser Frage lautet dagegen, daß infolge der veränderten Machtverhältnisse in der Welt, zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Kriege vermeidbar und der „Endsieg des Sozialismus“ ohne Kriege zu verwirklichen sei.

Die chinesischen Kommunisten verteten ihrerseits den Standpunkt, daß die Natur des Imperialismus unveränderlich sei und sich „nie ändern würde“. Chruschtschow ist demnach in den Augen der orthodoxen Marxisten-Leninisten in Peking ein „Revisionist“ im negativen Sinne der kommunistischen Terminologie, d. h. er mißdeutet und verfälscht die Dogmen der „heiligen Väter“ der Bewegung. Seit dem Abfall Titos ist jedoch kein schlimmeres Verbrechen, dessen ein Kommunistenführer sich schuldig machen kann, denkbar als Revisionismus, der ja über „Abweichungen“ von der „Generallinie“ weit hinausgeht.

Die Antwort des Kreml

Am 22. April 1960 veranstaltete man im Lenin-Stadion in Moskau eine große Zeremonie anläßlich des 90. Geburtstags Lenins. Präsidiums-mitglied Otto Kuusinen, einer der wenigen überlebenden Kampfgenossen Lenins, hielt die Gedenkrede, die aktuellste Probleme unter dem Motto „Die Bedeutung Lenins und seiner Lehre angesichts der gegenwärtigen Weltlage“ behandelte. Im Auftrage Chruschtschows wies Kuusinen Pekings ungeheuerliche Beschuldigungen zurück: „Um heute ein loyaler Marxist-Leninist zu sein, genügt es nicht, die alte Wahrheit zu wiederholen, daß der Imperialismus aggressiv ist“. Selbstverständlich galt diese Belehrung den chinesischen Genossen, da außer ihnen heute niemand im Ostblock diese „Wahrheit“ ins Gedächtnis zurückruft. „Man darf nicht nur dogmatisch (der „Dogmatismus“ ist der negative Gegenpol zum „Revisionismus“; Anm. d. V.) die eine Seite der Angelegenheit („Imperialismus“) betrachten", fuhr Kuusinen fort. „Man darf nicht daran vorbeisehen, daß sich mächtige Kräfte bemerkbar machen, die gegen den Krieg wirken.“

Damit berief sich Kuusinen auf Chruschtschows These, daß in der Gegenwart mächtige „friedliebende Faktoren“ in der ganzen Welt fest entschlossen seien, den Ausbruch eines globalen Krieges um jeden Preis zu verhindern, wobei die Handvoll „Kriegstreiber" ständig an Einfluß einbüßten.

Der Kremlsprecher versäumte natürlich nicht, Lenin als den Vater des Koexistenz-Gedankens hinzustellen. Diese sowjetische These steht allerdings auf sehr schwachen Füßen. Kein sowjetischer Kommentator war bisher imstande, ein einziges authentisches Zitat aus Lenins geheiligten Schriften anzuführen, aus dem eindeutig hervorginge, daß der Begründer der kommunistischen Bewegung für ein „friedliches Nebeneinanderstehen der beiden verschiedenen sozialen Systeme“ eingetreten sei. So versuchte z. B. die theoretische Zeitschrift „Kommunist" in einer ihrer letzten Ausgaben (Nr. 7, Mai 1960) mit folgendem Zitat Lenins angeblichen „Koexistenzialismus" zu begründen: „Unsere ganze Politik und Propaganda richtet sich dahin, nicht die Völker in den Krieg zu treiben, sondern dem Krieg ein Ende zu setzen.“ (W. I. Lenin, Ges. Werke, Bd. XXXI, S. 440).

Nach Lenins mehrfach geäußerter Ansicht werde aber ein dauernder Weltfriede, bei dem den Kriegen ein für allemal ein Ende gesetzt sein werde, nur dann verwirklicht werden, wenn der Sozialismus den Endsieg im Weltmaßstab errungen haben werde, d. h„ wenn der „Kapitalismus" restlos vernichtet sein würde.

Was aber Lenin von einer „friedlichen Koexistenz" in Wirklichkeit hielt, hat er in seinen Standardwerken, die für alle Kommunisten der Welt bindend sind, in unmißverständlicher Weise klargestellt: „Wir leben nicht in einem Staat, sondern in einem Staatensystem, und die Existenz der Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird entweder das eine oder das andere siegen. Aber bis dieses Ende eintritt, ist eine Reihe furchtlrarster Zusammenstöße zwischen den bürgerlidten Staaten und der Sowjetrepublik unvermeidlich.“ (W. I. Lenin, Ges Werke Bd. XXIV, S. 122).

Die chinesischen Kommunisten sind offenbar entschlossen — wenigstens vorläufig — sich gerade auf diese Auffassung Lenins in der Frage der Koexistenz zu stützen.

Nach den Leninfeiern veröffentlichte die Moskauer Prawda mehrere Wochen lang Artikel von den Führern fast aller kommunistischen Parteien der Welt, in welchen ausnahmslos die Leninsche Basis der Chruschtschowschen Politik der friedlichen Koexistenz hervorgehoben wurde. Peking schloß sich aber demonstrativ von dieser Kampagne aus.

Am 12. Juni 1960 veröffentlichte die Moskauer Prawda einen Artikel von M. Mathowskij anläßlich des 40. Jahrestags seit dem Erscheinen des bekannten Buchs von Lenin „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, der „falsche sektiererische Linkstendenzen“ in der internationalen kommunistischen Bewegung verurteilt ) *. Dies war die bisher schärfste Zurückweisung der rotchinesischen Kritik an der Chruschtschowschen Außenpolitik. Zwar werden noch immer nicht Peking und die chinesischen Genossen direkt erwähnt, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese sowjetische parteiamtliche Anklage Mao Tse-tung visiert. „Einige", heißt es im Prawda-Artikel, „beurteilen den auf friedliche Koexistenz gerichteten Kurs falsch, ebenso wie sie den Kampf gegen Rüstungswettlauf, Gespräche zwischen den Führern sozialistischer und kapitalistischer Länder falsch und als angebliche Abweichung vom Marxismus-Leninismus bewerten.“

Nunmehr sind die Würfel endgültig gefallen. Der Kreml beschuldigt, sich auf Lenin berufend, die chinesischen Kommunisten des Sektierertums und der „linken Abweichung“. Der Hauptfehler der linken Abweichler habe, stellt die Prawda fest, zu allen Zeiten in der Ablehnung möglicher Kompromisse bestanden. In der zitierten Leninschen Schrift wird zu dieser Frage folgendes ausgeführt: „Krieg führen zum Sturz der internationalen Bourgeosie, einen Krieg, der hundertmal schwieriger, langwieriger, komplizierter ist als der hartnäckigste der gewöhnlichen Kriege zwischen Staaten, und dabei im voraus auf Lavieren, auf die Ausnutzung der (wenn auch zeitweiligen) Interessengegensätze zwischen den Feinden, auf Verständigungen und Kompromisse mit möglichen (wenn auch zeitweiligen, unbeständigen schwankenden, bedingten) Verbündeten verzidtten — ist das nicht eine über alle Maßen lächerliche Sache?“ (W. I. Lenin, „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, Ausgew. Werke, Bd. II, S. 715, Moskau, 1947).

In diesem Zusammenhang hält der sowjetische Autor der KPCh auch andere „Fehleinschätzungen“ vor: „Diese Leute (die chinesischen Kommunisten) haben fälschlicherweise geglaubt, man könne die notwendigen Zwischenstationen zum Kommunismus überspringen“. Dies ist eine Anspielung auf das Fiasko Pekings bei seinem Vorhaben, im Rahmen der Volkskommunen-Reform, „direkt in den Kommunismus zu springen“, indem die sozialistische Phase und die Übergangsphase „vom Sozialismus zum Kommunismus" übersprungen werde. Konkret auf die „richtige Außenpolitik“ eingehend, belehrt die Prawda die chinesischen Genossen, daß es falsch sei, Verträge und Kompromisse in einigen Fragen und zeitliche Bündnisse mit der internationalen Bourgeoisie abzulehnen, die naheliegen, weil man zeitweilige Widersprüche der Feinde ausnützen könne. „Sektierertum“ und „linkes Abweichlertum" von der „Generallinie“ gilt in der leninistisch-stalinistischen Terminologie als eine Todsünde, dies sei nichts anderes als „Trotzkismus", ein Weg in den Abgrund. Die chinesischen Kommunisten beschuldigen ihrerseits die jetzige Führungsgarnitur im Kreml der „rechten Abweichung“ vom Leninschen Dogma, des „Kompromißlertums", des „Kapitulantentums“ vor der internationalen Bourgeoisie. Diese Politik beschwöre nach der Ansicht der chinesischen Kommunistenführer eine „grauenhafte Katastrophe für die ganze Menschheit“ herauf.

Es handelt sich in diesem Falle um die schwerwiegendsten Anklagen, die eine kommunistische Partei gegen eine andere überhaupt erheben kann. Wenn man die Bedeutung derartiger dogmatischer Auseinandersetzungen unter Marxisten-Leninisten kennt, weiß man, daß eine ideologische Aussöhnung zwischen Peking und Moskau unter den gegenwärtigen Umständen schwer vorstellbar ist.

Diskussionen über die Frage — Bedeutet ein neuer Weltkrieg die Vernichtung der ganzen Menschheit?

Es ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß einer der wichtigsten Beweggründe für die Aufstellung der Chruschtschowschen Theorie, der „Endsieg des Sozialismus" sei ohne zwischenstaatliche Kriege zu verwirklichen, in der Erkenntnis zu suchen ist, daß die moderne Kriegstechnik einen Atomweltkrieg zu einem Selbstmordakt für alle am militärischen Konflikt beteiligten Staaten machen muß. Das strategische Endziel des Weltkommunismus sei dafür auf anderen Wegen anzustreben: begrenzte kriegerische Konflikte, Bürgerkriege, Unterminierung des Gegners etc.

Am 22. April 1960 repetierte Kuusinen die Chruschtschowschen Argumente zur Begründung dieser These: „Im Westen setzen sich nüchtern denkende Staatsmänner durch, die sich klar darüber sind, daß jeder Krieg, der mit den neuen Mitteln der Massenvernichtung geführt wird, Wahnsinn wäre.“ Er führte auch Lenins Meinung an, daß „die Zeit kommen wird, da der Krieg so zerstörend sein wird, daß er vollkommen ausgeschlossen ist."

Im Leitartikel des Moskauer „Kommunist“ (Nr. 7, Mai 1960) wird genaue dieselbe Feststellung gemacht: „Dies wird auch vom Vorhandensein der thermonuklearen und Raketenwaffen bedingt, die den Krieg außerordentlich gefährlich für alle Völker der Erde machen und gebieterisch den gemeinsamen Kampf gegen die aggressiven und reaktionären Mächte fordern ..."

In der gleichen Ausgabe dieser Zeitschrift ist ein Artikel unter dem Titel „Die unwiderlegbare Lehre der Geschichte“ veröffentlicht, in dem die verheerende Wirkung eines Atomkrieges für die gesamte Menschheit in sehr realistischer Weise geschildert wird. Interessanterweise beruft sich der Autor N. Talenskij auf den amerikanischen politischen Denker Henry Kissinger, dessen Werk „Die Kernwaffen und die Außenpolitik" zitiert wird.

Nun, sicher ist es für Chruschtschow unangenehm, daran erinnert zu werden, daß sein Widersacher Malenkow schon Ende 1953 öffentlich erklärte, daß nach seiner Überzeugung ein neuer Weltkrieg zur totalen Vernichtung aller Völker führen werde.

Dieser Ausspruch wurde von den Gegnern Malenkows, an deren Spitze Chruschtschow selbst stand, als ein großer Fehlgriff angeprangert. Die Prawda korrigierte damals den Ministerpräsidenten in dem Sinne, daß ein künftiger Atomkrieg nur den Kapitalismus zerstören werde. Noch in der „Erklärung der zwölf regierenden kommunistischen Parteien“ vom November 1957 wurde diese These bestätigt, die sicherlich nur psychologisch-propagandistischen Wert hat. Kein Sowjetführer dürfte sich jemals Illusionen hingegeben haben, daß das Sowjetregime einen Atomweltkrieg überleben könnte. Ein jeder sowjetischer Staatsmann gibt sich Rechenschaft darüber, daß bereits am ersten Tag eines dritten Weltkriegs alle militärischen, administrativen, wirtschaftlichen Zentren der Sowjetunion vernichtet sein würden. Ohne Zweifel würde auch die USA schwerste Schläge hinnehmen müssen. Es wird dabei aber einen großen Unterschied geben. In den beiden führenden Staaten der Welt würde es schon in den ersten Tagen eines globalen Krieges zu einem Chaos kommen. In der Vereinigten Staaten würde es aber in einer solchen Lage zu keinem Bürgerkrieg kommen, da die überwältigende Mehrheit des amerikanischen Volkes die eigene freiheitliche Staatsordnung bejaht. Die Tatsache jedoch, daß die sowjetische Diktatur sich bis auf den heutigen Tag mit Polizeiterror an der Macht hält, läßt keinen Zweifel aufkommen, daß das Chaos, das einen totalen Krieg begleiten würde, einen Volksaufstand gegen die Diktatur auslösen würde.

Die chinesischen Kommunisten behaupten nun im Gegensatz zu Chruschtschow, daß erstens ein neuer Weltkrieg trotz der verheerenden Wirkungen der modernen Waffen unvermeidlich sei, zweitens daß ein solcher Krieg eine Katastrophe nur für die „Imperialisten“ bedeuten würde. Um diese Wahnsinnsthese Pekings zu widerlegen, die Koexistenzpolitik zu begründen und das Wettrüsten einzuschränken, sieht sich Chruschtschow gezwungen, sich der ehedem von ihm selbst verurteilten Argumente Malenkows zu . bedienen.

Ein ideologischer Rückzug Chruschtschows?

Erst nach der Vereitelung der Pariser Gipfelkonferenz bahnte sich eine neue Kehrtwendung des Kreml in der Frage der „wahren Natur des Imperialismus" an.

Mit der am 23. Mai 1960 erschienenen Nummer des Moskauer »Kommunist“ wurde eine neue, äußerst heftige Kampagne gegen den jugoslawischen „Revisionismus“ entfesselt. Obwohl Tito-Jugoslawien seit Jahren trotz der ideologischen Dissens seine Solidarität mit der sowjetischen Außenpolitik in fast allen strittigen internationalen Fragen manifestierte, und obwohl Tito auch nach der Provokation Chruschtschows in Paris den Westen beschwor, Vertrauen zu der sowjetischen Koexistenzpolitik zu haben, hielt es die Sowjetführung für angebracht, in der erwähnten Ausgabe ihres theoretischen Organs die Außen-, Innen-und Wirtschaftspolitik Jugoslawiens einer vernichtenden Kritik zu unterziehen.

Einmal kann die neue Phase der Anti-Tito-Kampagne als unvermeidliche Begleiterscheinung des verhärteten außenpolitischen Kurses des Ostblocks gedeutet werden. Die neuen Angriffe Moskaus gegen Belgrad gipfeln nämlich in der Beschuldigung, daß die „Bündnislosigkeit“ Jugoslawiens nur den „Imperialisten" dienen und dem sozialistischen Lager schaden könne. Der Sozialismus in Jugoslawien könne nur „im Bündnis mit dem sozialistischen Weltsystem", d. h. nach einer erneuten Eingliederung des Titoistischen Staates in den Ostblock siegen. Andererseits kann aber auch die neueste Verurteilung der unabhändigen Position des sozialistischen Jugoslawien als eine Bestätigung des Standpunkts des Chruschtschow-Gegners Molotow und der chinesischen Kommunisten ausgelegt werden, die nie ein Hehl daraus gemacht haben, daß sie Chruschtschows Aussöhnung mit Tito im Mai 195 5 ablehnten und die Titoisten bis auf den heutigen Tag als „Revisionisten" angesehen haben.

Der Kernsatz des betreffenden „Kommunist“ -Artikels besteht aber in der Behauptung, daß „Die Ursache der Spannungen in der Welt nicht in der Existenz zweier Blöcke, sondern im Fortbestand des Imperialismus mit seinen aggressiven Tendenzen“ läge.

Diese neue sowjetische These bedeutet letzten Endes eine Anlehnung an die Anti-Chruschtschow-Standpunkte, vertreten in den bereits zitierten Artikeln der rotchinesischen Parteiorgane „Rotes Banner" und „Volkszeitung" vom April 1960 — „Friedliche Koexistenz ist undenkbar“ und „Es wird Aggressionskriege geben, solange der Imperialismus besteht“.

Es hat fast den Anschein, als wenn Chruschtschow, der noch vor einem Monat von Peking des „Revisionismus“ beschuldigt wurde, in die Defensive gedrängt wurde, sich zu rechtfertigen suchte und sich der rotchinesischen Opposition beugte. In diesem Falle würde es sich um eine ideologische Kapitulation des derzeitigen Sowjetführers vor Peking handeln. Wenn wir die Frage stellen, welche Beweggründe Mao Tse-tung und Liu Schao-tschi veranlaßt haben könnten, Chruschtschow in so auffallender Weise herauszufordern, die ideologische Führungsrolle der KPdSU, die sie 1957 bereits akzeptiert hatten, zu bestreiten und dadurch die lebenswichtige „monolithische Einheit“ des sozialistischen Systems zu gefährden, so könnte nach unserer Ansicht die Antwort folgende sein:

Was die Außenpolitik betrifft, besteht eine fundamentale Inkongruenz der Interessen der UdSSR und Rotchinas. Moskau braucht dringend eine Entspannung der internationalen Politik und einen Stop des Wettrüstens, um den laufenden Siebenjahresplan nach dem Scheitern des letzten Fünfjahresplans zu erfüllen und den ökonomischen Wettbewerb mit dem Westen bestreiten zu können. Peking ist dagegen auf eine internationale Spannung und das Schreckgespenst des „Imperialismus“ angewiesen, um seiner innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten Herr zu werden. In derselben Weise hatte Stalin auch keine andere Wahl, während der ganzen jahrzehntelangen Periode der Umwandlung der Sowjetgesellschaft — Industrialisierung und Zwangskollektivierung des Bodens — die immense Anspannung und unvorstellbare Opfer verlangten, als immerfort die Gefahr der „kapitalistischen Einkreisung der UdSSR" und einer bevorstehenden „bewaffneten Intervention der ausländischen Imperialisten“ an die Wand zu malen.

Nur dank einer propagandistischen Ausschlachtung einer angeblichen Bedrohung der Volksrepublik China durch äußere Feinde hoffen die chinesischen Kommunistenführer alle Kräfte des Volkes mobilisieren und ein Ventil für die internen Spannungen öffnen zu können.

Während die gegenwärtige Sowjetführung die wahnwitzige Steigerung des Produktionstempos der Stalinschen Epoche nicht mehr nötig hat, sondern im Gegenteil der Sowjetbevölkerung eine Verkürzung der Arbeitszeit in Aussicht stellt und bemüht ist, eine reale Hebung des Lebensstandards der Sowjetmenschen zu erreichen, steht den Rotchinesen das Wasser bis an die Kehle. Das chinesische Volk hat die größten Anstrengungen, Mühsale und Opfer noch vor sich.

Ohne das „imperialistische“ Schreckgespenst könnte Peking sein höchstes Ziel, eine Industriemacht aufzubauen, nicht erreichen.

Was bringt die nahe Zukunft?

Seit dem Pariser Spektakel vom Mai 1960 haben die Sowjets einen härteren Ton im Kalten Krieg angeschlagen. Bedeutet aber dies und die Tatsache, daß der Kreml allem Anschein nach die rotchinesische Auffassung über den „Imperialismus" zu akzeptieren auf dem Wege ist, daß Moskau die Koexistenz-Politik aufgeben will? Wir sind überzeugt, daß die Sowjetführer nicht im Entferntesten daran denken, ihre Außenpolitik in diesem Sinne zu ändern.

Als Chruschtschow im Mai 1960 nach Moskau zurückkehrte, erklärte er in seinem Rechenschaftsbericht über die geplatzte Gipfelkonferenz, daß die sowjetische Politik auch künftighin auf der Idee der friedliehen Koexistenz beruhen werde. Das Parteiorgan „Kommunist" vom 23. Mai 1960 bekräftigte diese Feststellung mit den Worten: „Die sowjetische Außenpolitik ist bei aller Härte im Grundsätzlichen eine geschmeidige Außenpolitik, die im Interesse des Friedens nach vernünftigen Kompromissen strebt.“

Das sind insofern keine leeren Worte, weil die gegenwärtigen Interessen der UdSSR ein „friedliches Nebeneinanderbestehen" mit dem Westen erfordern. Diese Taktik dient heute am besten den kommunistischen Welteroberungsplänen. Die „Entspannungs-und Koexistenz" -Parolen des Kreml sind an sich für den Bestand der Freien Welt genau so gefährlich wie die sowjetischen nuklearen Waffen, denn sie lähmen den Widerstandsgeist und die Verteidigungsbereitschaft der freien Völker gegen den expansiven sowjetischen Imperialismus.

Dazu kommt, daß nur die magische Formel „friedliche Koexistenz" die westlichen Tore für einen verstärkten Osthandel, an dem die Sowjets brennend interessiert sind, öffnen kann und ihnen die ersehnte Atempause für die ökonomische „Überholung“ des Westens verschaffen kann.

Wie reimen sich aber die Haltung Chruschtschows in Paris und nach Paris und die Kriegsdrohungen Malinowskijs mit der Taktik der friedlichen Koexistenz, die im Interesse der UdSSR ist, zusammen?

Wir glauben, daß Chruschtschow mit der künstlichen Aufbauschung des Zwischenfalls mit dem amerikanischen Flugzeug U 2 zwei Ziele verfolgt.

Erstens wollte er die geplante Gipfelkonferenz sprengen, weil er nach der LInterredung mit de Gaulle und den Erklärungen Herters und Dillons sich überzeugt hatte, daß die Haltung der Westmächte in der Berlin-Frage am Vorabend der Pariser Konferenz im Gegensatz zum Genfer Außenministertreffen völlig unnachgiebig geworden war. Dies war zum großen Teil ein historisches Verdienst des Bundeskanzlers Adenauer, womit die letzten Wutausbrüche Chruschtschows gegen ihn zu erklären sind. Chruschtschow konnte es sich nicht leisten, mit leeren Händen aus Paris heimzukehren. Deshalb benützte er den Flugzeuginzident als Vorwand, um die Konferenz platzen zu lassen.

Warum setzt aber Chruschtschow seine Kampagne gegen Eisenhower und Adenauer auch nach Erreichung dieses Ziels fort und läßt Malinowskij die amerikanischen Verbündeten an den Grenzen der UdSSR mit Atomangriffen bedrohen?

Die Antwort auf diese Frage enthüllt den zweiten Beweggrund Chruschtschows für die Entfesselung eines nie dagewesenen Nervenkriegs wegen amerikanischer Flüge über sowjetischem Territorium, von denen er nach seinen eigenen Worten schon bei seinem Besuch in Camp David gewußt habe und sie damals nicht einmal der Erwähnung für wert hielt. In den sowjetischen Grenzstaaten Türkei, Persien, Pakistan, Japan befinden sich amerikanische Luftstützpunkte und Raketenbasen, die den USA enorme strategische Vorteile gegenüber der UdSSR verschaffen. Die Sowjets empfinden diese Stützpunkte seit jeher als Pfähle im eigenen Fleisch und fordern seit Jahren immer wieder ihre Abschaffung. Die Unruhen, die in letzter Zeit in Südkorea, der Türkei und Japan ausbrachen und zum Rücktritt zweier Regierungschefs, die zu den verläßlichsten amerikanischen Bundesgenossen zählten, erschienen den Sowjets wie Geschenke des Himmels. Endlich erblickten sie eine Chance, die gefährlichste Waffe ihres Hauptgegners zu schleifen.

Der angebliche Befehl Malinowskijs an das sowjetische Raketen-kommando, bei einem neuen Zwischenfall Atomangriffe gegen diese amerikanischen Stützpunkte auf verbündetem Boden zu starten, soll den „Volksmassen“ und Oppositionskräften in den fraglichen Ländern Auftrieb geben, um die Entfernung der amerikanischen Basen, deren Präsenz die betreffenden Völker angeblich mit einer totalen Vernichtung bedroht, durchzusetzen. Chruschtschow scheint entschlossen, den angelaufenen Nervenkrieg auf die Spitze zu treiben, denn der Preis, den er sich erhofft, ist für den Kreml von unschätzbarem Wert. Da er dabei die Initiative in der Hand hält, und davon überzeugt ist, daß Washington einfach nicht in der Lage ist, einen präventiven Angriff zu unternehmen, kann er in diesem Falle beliebig oft, bis „an den Rand des großen Krieges" gehen. Selbsverständlich sind seine und Malinowskijs Säbelrasseleien hundertprozentiger Bluff.

Im übrigen wird aber die „Generallinie“ der sowjetischen Außenpolitik in den nächsten Jahren auf der friedlichen Koexistenz basieren. Wie werden sich aber die Beziehungen zwischen der UdSSR und der Volksrepublik China gestalten?

Trotz der letzten ideologischen Konzession Chruschtschows an Peking in der Frage des „Imperialismus“ wird der Kreml auch in Zukunft sich aller Voraussicht nach zur These bekennen, daß die Kriege „in der Epoche des Imperialismus“ vermeidbar sind. In seiner Pressekonferenz am 3. Juni 1960 erklärte Chruschtschow auf die Frage eines Korrespondenten: Glauben Sie, daß der Krieg angesichts des Imperialismus unvermeidlich ist?“ — „Unser Standpunkt, den wir auf dem 20. Parteikongr^Ü ausgedrückt haben, hat sich nicht verändert.“ Wer aber im Westen glaubt, daß es in den nächsten Jahren zu einem offenen Bruch zwischen Moskau und Peking wie im Jahre 1948 zwischen der UdSSR und Jugoslawien kommen könnte, oder gar von einem möglichen Verteidigungsbündnis zwischen der kommunistischen UdSSR und dem demokratischen Westen gegen den kommunistischen Koloß China träumt, verrät lediglich seine Ignoranz gegenüber dem Programm der Welteroberung seitens des internationalen Kommunismus. Der orthodoxe Marxist-Leninist Tito fiel von Moskau nur aus dem Grunde ab, weil er keine Marionette Stalins sein wollte. Rotchina war aber und ist kein sowjetischer Satellit, sondern trotz seiner ökonomischen und militärischen Abhängigkeit von Moskau eine autonome kommunistische Weltmacht. Die chinesischen Kommunistenführer haben es nicht nötig, sich vom Kreml außenpolitisch und militärisch zu trennen, um in Peking selbständig zu residieren. Die beiden kommunistischen Weltmächte sind aber bis zum erhofften Augenblick eines „Endsiegs des Sozialismus" auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.

Trotz dieser Sachlage ist es für den Westen von größter Bedeutung, die bestehenden Divergenzen und sogar Gegensätzlichkeiten ideologischer Art zwischen Moskau und Peking, die in den letzten Monaten zutage getreten sind, zu registrieren und in ihrer ganzen Tragweite zu bewerten, denn diese Differenzen schwächen auf alle Fälle den sich seit Jahren in einer schweren ideologischen Krise befindlichen Weltkommunismus. Es ist eine allgemeine Erscheinung, daß im Westen führende Politiker, Publizisten und selbst viele Ostkenner die Bedeutung ideologischer Kontroversen zwischen Kommunistenführer über grundlegende theoretische Fragen unterschätzen. Man glaubt vielmehr, daß es sich hierbei um reine Machtkämpfe handle, die lediglich ideologisch verbrämt seien. Das ist ein großer Irrtum. Selbstverständlich toben in der Parteispitze eines jeden kommunistisch regierten Staates immer wieder persönliche Machtkämpfe, denn die einzig adäquate Form der kommunistischen Diktatur ist die Ein-Mann-Führung. Jegliche „kollektive Führung“ kann nur vorübergehenden Charakter haben. Bei den marxistisch-leninistischen Dogmatikern spielen jedoch die ideologischen Meinungsverschiedenheiten bei allen Machtkämpfen eine primäre Rolle.

So wäre z. B. Chruschtschows persönliches Schicksal entschieden, wenn es seinen Gegnern im kommunistischen Block und im Kreml gelingen sollte, nachzuweisen, daß er sich des „Abweichlertums" oder gar des „Revisionismus" schuldig gemacht hätte. Die realen Machtverhältnisse sind nicht allein entscheidend. Als es Stalin Mitte der zwanziger Jahre gelang, seinen Hauptrivalen Trotzki auszuschalten, so war sein Sieg keineswegs nur darauf zurückzuführen, daß er über Schlüsselpositionen im Parteiapparat verfügte, sondern vor allem darauf, daß er die Mehrheit der Zentralkomitee-Mitglieder überzeugen konnte, seine These „Aufbau des Sozialismus in einem Lande" sei die einzig richtige.

So mag Chruschtschow auch heute noch über mehr Vertrauensleute im Apparat verfügen als seine Widersacher. Dies allein kann ihm aber nicht auf die Dauer die Macht sichern. Er hat nun einmal mit einer Reihe von Reformen — Auflösungen der Maschinen-Traktoren-Stationen, Erschließungen der Neulandgebiete, Lösung des Getreideproblems — Fehlschläge erlitten. Dazu hat er mit seiner Reduzierung der Mannschaftsstärke der Sowjetstreitkräfte um 1 200 000 Mann und der Entlassung von 250 000 Berufsoffizieren die bedeutendste Machtsäule im Sowjetstaat herausgefordert. Um dieser Gefahr zu begegnen, hat er Anfang Mai 1960 über 200 ihm ergebene Offiziere zu Generälen befördern lassen. Ob ihm das helfen wird? Schließlich beschuldigt ihn auch noch der prominenteste gegenwärtige Theoretiker des Weltkommunismus, Mao Tse-tung, einer „Abweichung" von der Leninschen Theorie. Dies alles schafft sehr gefährliche Aspekte für Chruschtschows Zukunft.

Fussnoten

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