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War Eichmann ein Dämon? | APuZ 45/1964 | bpb.de

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APuZ 45/1964 Artikel 1 War Eichmann ein Dämon? Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat Vorrede zur deutschen Ausgabe

War Eichmann ein Dämon?

Paul Arnsberg

Kaum ein politisches Buch der Nachkriegszeit hat eine so leidenschaftliche Diskussion ausgelöst wie Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem". So konnte gleichzeitig mit dem Erscheinen der deutschen Ausgabe ein Buch mit zwei Dutzend umfangreichen Stellungnahmen herausgebracht werden. Unter diesen Umständen ist es schwer, noch neue Gesichtspunkte zu finden. Wir glauben, daß sich die Autoren der beiden folgenden Beiträge nicht ohne Erfolg darum bemüht haben. Um auch die Verfasserin selbst zu Wort kommen zu lassen, drucken wir schließlich ihre Vorrede zur deutschen Ausgabe ab, in der sie sich mit den Argumenten einiger ihrer Kritiker auseinandersetzt.

Von Bismarck stammt das maliziöse Wort, daß auch unsere moderne Zeit ihre Hofnarren brauche, damit sie als „kritische Stachel" einer sich verlierenden öffentlichen Meinung zum Wegweiser dienen können.

Solche modernen „Narren“ sind die Intellektuellen, welche allgemein anerkannte Auffassungen in Frage stellen und dafür in der Öffentlichkeit geschmäht werden. Es gehört also Mut dazu, „etwas" oder gar gelegentlich „nein" zu sagen. Diesen Mut hat die Philosophin und Soziologin Hannah Arendt durch ihren „Bericht von der Banalität des Bösen“ — so nennt sie den Untertitel ihres Buches „Eichmann in Jerusalem" — manifestiert.

Bei diesem Buch, das in New York herausgebracht worden ist, handelt es sich um den ergänzten Abdruck einer fünfteiligen Artikel-serie, welche im Frühjahr 1963 in der führenden amerikanischen Wochenzeitschrift " The New Yorker" erschienen ist. Inzwischen wurde eine englische Edition in London verlegt; ein auszugsweiser Abdruck hieraus im Londoner “ Sunday Observer" hat eine geradezu sensationelle Reaktion — ähnlich wie in den Staaten — hervorgerufen. Die deutsche Ausgabe ist nach Überwindung von Schwierigkeiten „ganz spezifischer Art" im September dieses Jahres in München erschienen. Zu dem „Phänomen" dieser Reaktion gehört es, daß viele dabei engagierte Akteure — wie Gei-ster in der Atmosphäre — erbittert gegen ein Phantom kämpfen. Dabei wird den grundlegenden Gedankengängen des Buches — also dem eigentlichen Substrat — kaum wesentliche Beachtung geschenkt.

Hannah Arendt analysiert den Totalitarismus

Hannah Arendt und der Mensch im totalitären Staat...................................................... S. 19 Vorrede zur deutschen Ausgabe . . . S. 39 Wolfgang Scheffler Hannah Arendt

Bei manchen dieser „Facharbeiter einer vorfabrizierten Meinung“ — es sind routinierte Profis — hat man den Eindruck, daß sie etwas „über" das Buch der Hannah Arendt, kaum aber den „Bericht von der Banalität des Bösen" selbst gelesen haben. Die Stellungnahme zu dem „Eichmann in Jerusalem" ist aber nur möglich, wenn man ihn in seiner Gänze liest und sich bewußt ist, daß hierin Hannah Arendt die Erkenntnis ihrer „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" einem praktischen Anwendungstest unterzieht. Quod erat demonstranduml

Hannah Arendt — im Jahre 1906 in Hannover geboren — hat ihre Kindheit in Königsberg (Ostpreußen) verlebt. Dort begann ihr Kontakt mit dem deutsch-jüdischen Zionistenkreis um Kurt Blumenfeld, dem sie bis zu dessen Tod im vergangenen Jahre persönlich nahestand. Sie studierte Philosophie unter anderem bei Heidegger, Husserl und Karl Jaspers, und man kann sie wohl als dessen Schülerin bezeichnen. Im Jahre 1933 verließ sie Deutschland — nachdem sie von der Gestapo verhaftet worden war — und siedelte nach Paris über. Dort widmete sie sich — neben ihrer beamteten Berufstätigkeit in der zionistischen Jugendarbeit — dem Studium der europäischen Geschichte, bis sie im Jahre 1941 — erneut auf der Flucht vor den Nazis — ihr Domizil nach den USA verlegte, wo sie seither lebt. Zuerst war sie dort Chefredakteur des Schocken-Verlages. Sie ist seit 1951 freie Schriftstellerin mit gelegentlichen Gastprofessuren und Vorlesungen an amerikanischen Universitäten. Von ihren sehr zahlreichen und bedeutenden Publikationen hat das Standardwerk " The Origins of Totalitarism" — in glänzendem Stil in englischer Sprache geschrieben —, das im Frühjahr 1951 erschienen ist, weltweite Anerkennung gefunden. Die von ihr selbst übersetzte neue deutsche Fassung ist in der ersten Auflage als „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" im September 1955 in Frankfurt am Main erschienen (weiterhin als „Elemente" zitiert). Dazu schrieb damals Karl Jaspers ein „Geleitwort", obgleich er sich ein wenig dieser-halb schäme, „denn dieses Buch vertritt sich selber geistig so großartig, daß es keiner Empfehlung bedarf". „Nur die Tatsache, daß die Verfasserin in Deutschland noch wenig bekannt ist, mag mich (Jaspers) entschuldigen."

Der erste Teil der „Elemente": „Antisemitismus" — bezeichnend für die Autorin — wurde von ihr dem inzwischen verstorbenen Zionistenführer Kurt Blumenfeld zu dessen 70. Geburtstag gewidmet. Der dritte Teil — „Die totalitäre Bewegung und totalitäre Herrschaft" analysierend — aber war es, der dem Buche und der Autorin die internationale Reputation brachte. Ihre Denkungsart, schrieb damals Karl Jaspers, „sei von herrlicher Offenheit". So blieb es, und Hannah Arendt ist heute nicht mehr eine Unbekannte, die einer „Empfehlung“ bedarf.

Was Hannah Arendt in ihrem Buch jetzt über den Eichmann-Prozeß schreibt, ist also in seinem inneren Gewicht bedeutsam durch das Prestige und die Autorität ihres klassischen Werkes, der „Elemente", verstärkt worden. Norman Podhoretz, Redakteur des amerikanisch-jüdischen “ Commentary”, hat in diesem Magazin im September 1963 zu dem neuen Arendt-Buche Stellung genommen. Sein Artikel hat den Titel " A Study in the Perversity of Brilliance" („Eine Studie über das Perverse der Brillanz“). Darin wird Hannah Arendt — darauf kommt es vorerst an — attestiert: „Sie (die Darstellung über die Ermordung von 6 Millionen Juden durch die Nazis) ist mit unbarmherziger Ehrlichkeit geschrieben und ist eine weit bessere Story als die üblichen melodramatischen Versionen, auf die man bisher bei den Berichten über den Eichmann-Prozeß angewiesen war. Was Hannah Arendt sagt, voller Gescheitheit, ohne Rhetorik, ist interessant und unsentimental."

Dieses faire Urteil kann akzeptiert werden mit dem Zusatz, daß dieses „Eichmann" -Buch von Hannah Arendt — trotz gewisser Mängel — das Beste ist, was bisher über die Ausrottung der Juden durch die Nazis geschrieben worden ist. Eine wirkliche geistige Auseinandersetzung mit dessen Grunderkenntnissen — sine ira et Studio allerdings — ist imperativ. Sie ist bisher nicht erfolgt.

Die tierische Spezies: Mensch

Menschen mit Überzeugung und Gesinnung — das hat Professor Arendt in ihren „Elementen" festgestellt — sind für ein totalitäres Regime schlechterdings überflüssig. Was für ein derartiges System erforderlich ist, sind Marionetten, aller menschlichen Spontaneität beraubt, mit rein tierischer Reaktionsbereitschaft. Das totalitäre System ist nur dann gewährleistet, wenn Menschen zur absolut kontrollierbaren tierischen Spezies „Mensch" geworden sind. Die Entrechtung des Menschen, die Tötung der juristischen Person „in ihm", ist Vorbedingung zur Ermordung der moralischen Person — der Präpararierung „lebender Leichname". Es entstehen — das ist der größte Triumph des totalitären Systems — „jene unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten, Marionetten. Sie benehmen sich alle wie Pawlowsehe Hunde, die bis in den Tod vollkommen verläßlich reagieren und nur reagieren. Das gilt nicht nur von den politischen Gegnern, sondern von jedem Einwohner eines totalitären Staates".

Die Konzentrationslager dienen nicht nur der Ausrottung von Menschen und der Erniedrigung von Individuen, sondern auch dem Ziele, den Menschen in ein „Ding" zu verwandeln. Ein „Ding", das unter gleichen Bedingungen — ohne menschliche Verhaltungsweise — sich immer gleich verhalten wird. Also ein Verhalten, das selbst bei Tieren nicht normal ist. Dieser Typ wird zu einem „pervertierten" Tier der Spezies „Mensch". Das Leben und sogar der Tod wird in dem KZ des totalitären Systems „dehumanisiert" und „anonym". Sogar der Mord geschieht ohne Ansehen der Person — es gibt nur noch „Nummern" —, er kommt in seiner Zufälligkeit dem Zerdrükken einer Mücke gleich. So ist es, wenn überflüssiges Menschen-„Material" liquidiert werden muß, aber auch dann, wenn der Befehl herauskommt, die „Todesrate" mit allen Mitteln „herunterzudrücken".

Die Verfolger werden „dehumanisiert", aber es sind keine „Bestien in Menschengestalt“, denn diese würden in Gefängnisse oder Irren-4 häuser gehören. Es handelt sich um normale Menschen, denen als vollgültigen Mitgliedern der SS die Mechanisierung des Mordes doktrinär vorexerziert worden ist. Der totalitäre Glaube zentriert um die Entdeckung, daß es ein „radikales Böses“ gibt, mit dem es möglich ist, alles zu verändern — auch das Wesen des Menschen. Dieses „radikal Böse" besteht in dem, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können, da es durch kein noch so böses Motiv aus der humanen Skala der menschlichen Werte und Schwächen erklärt und verstanden werden kann. Diese neuesten Verbrecher sind nicht mehr „Menschen" und daher jenseits dessen, womit jeder von uns bereit sein muß, sich im Bewußtsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren.

Insoweit haben sich diese totalitären „Inkarnationen des Bösen" außerhalb jeder Solidarität von Menschen gestellt. Mit diesem grandiosen Gedanken stellt Hannah Arendt die Vernichtungsexzesse des Naziregimes außerhalb der Moralkategorie, wie sie seit Jahrtausenden durch den Satz „Du sollst nicht töten" als Kodex des humanen Zusammenlebens allen Menschen immanent geworden ist. Dieser Satz versagt hier, da die „Bestrafung" des Verbrechens noch ein Akt der Verantwortung und der menschlichen Solidarität ist. Insoweit — und nur insoweit — wird die Todesstrafe „absurd", wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen, was Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionenmord so organisieren, daß alle Beteiligten subjektiv sich unschuldig fühlen und erklären, keineswegs aus „mörderischen" Motiven gehandelt zu haben.

Diese „Mörder", nur so sind die Gedanken der „Elemente“ Hannah Arendts zu verstehen, haben sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt. Die Todesstrafe wird insoweit als „Strafe" absurd, aber die „Eliminierung" der de-humanisierten Mörder aus der menschlichen Gemeinschaft wird zu einer Konsequenz der Humanität. Nur mit diesem ideologischen Code kann der „Eichmann in Jerusalem" verstanden werden und dazu noch manches andere von dem bisher nicht Begriffenen. Einige dieser Gedanken erinnern an das Buch von David Rousset, das im Jahre 1947 in Paris mit dem Titel «Les Jours de Notre Mort» herausgekommen ist. Eine klassische Stelle hieraus mag für unsere weiteren Überlegungen bedeutsam sein und soll daher als Zitat zur Kenntnis genommen werden. „Der Triumph der SS geht soweit, daß das gequälte Opfer sich ohne Proteste zur Schlinge des Schafotts begibt und sich selbst bis zur Aufgabe seiner Persönlichkeit aufgibt. Die SS verlangt nicht mutwillig aus schierem Sadismus diese Selbstvernichtung des Opfers. Sie weiß, daß ein System, welches die Zerstörung des Opfers als „Menschen" erzwingt, bevor er das Schafott besteigt, hervorragend geeignet ist, ein ganzes Volk zu versklaven ... Nichts ist fürchterlicher als diese Prozessionen menschlicher Wesen, die wie Attrappen in ihren Tod gehen."

Stärker richtungsweisend als diese soziologischen Aperqus des David Rousset sind für das philosophische System des „Bösen" die psychoanalytischen Studien, welche Bruno Bettelheim in Buchform unter dem Titel " The Informed Heart" (London 1960) niedergeschrieben hat, auf welche Prof. Arendt wiederholt verweist. Bettelheim, der selbst ein KZ-Häftling war, sieht in dem Massenstaat eine Organisation von depersonalisierten Managern mit Millionen dehumanisierter Sklaven. Unter dem Zwang des totalitären Staates — einer extremen Situation — vollzieht sich ein Prozeß der Desintegration der Persönlichkeit bei Verfolgern und Opfern gleichsam bis zum „geistigen" Tod bei noch physischer Existenz. Nicht nur die Opfer, auch die SS-Verfolger werden zu „lebenden Leichnamen", ohne autonome Persönlichkeits-Existenz. Wohlgenährte „Muselmänner", die so zu „tierischen" Exekutoren und Puppen ihres Führers wurden. Der Prozeß der Depersonalisation griff tief in die Millionenmasse des deutschen Volkes ein, bei vielen mit nur unbedeutenden Opfern des Kompromisses zu Lasten der „persönlichen Autonomie". Mit diesem „Brechen" der Individualität entstand immer mehr eine Impotenz zur Revolte, und so kam die SS auf die Idee, die Dehumanisation bis zu dem Punkte treiben zu können, daß ihre Opfer — als „Pawlowsche Hunde" — sich zwar nicht „freiwillig", aber willenlos mechanisch zur Gaskammer bewegen würden.

Nach Ansicht Bettelheims sei nur durch die Errichtung einer seelischen „Zone der Freiheit" — eines Cordon sanitaire gegen die „Entpersönlichung" — für den Verfolgten eine Überlebens-Chance vorhanden gewesen.

Als Beispiel erwähnt er die Revolte einer Tänzerin, die vor der Gaskammer von einem SS-Offizier zu einem Nackttanz aufgefordert wurde. Sie tanzte, näherte sich dem Offizier, ergriff dessen Revolver und schoß ihn nieder. Sie wurde sofort darauf erschossen, aber sie horte auf, eine „Nummer“, eine namenlose depersonalisierte Gefangene zu sein. In der „Perspektive der Geborgenheit" diese Feststellung zu treffen, ist nicht jedermanns Geschmack. Soziologisch sollte damit wohl ein mögliches Beispiel dargetan werden, daß trotz weitgehender Zerstörung der humanen Persönlichkeit ein letzter Rückstand eigenen Willens zum Wiedergewinn der „Personalität" führen kann. In Ausübung dieser letzten Freiheit konnte diese Tänzerin ihre alte autonome Persönlichkeit wiedergewinnen. Daraus leitet Bettelheim die Sentenz ab: Wenn wir das tun, das heißt, wenn wir schon nicht leben können, dann sterben wir wenigstens als Männer. Bettelheim selbst stellt andererseits immer wieder fest, daß es das effektive Mittel eines autoritären Regimes ist, zuerst das Individuum unterwürfig zu machen und es dann als Individuum zu „zerstören“. Bettelheim hat darauf hingewiesen, daß unter den „extremen“ Bedingungen des Zwanges in dem Massenstaat eine typologische Angleichung des Opfers an den Unterdrücker erfolgt und bei beiden sich die Folgen der Depersonalisierung sichtbar machen. Das ist verschieden von der Identifikation mit dem Feind oder gar einer opportunistischen Kooperation, sondern es ist die personale Desintegration des humanen Wesens in beiden Typen — dem „Subjekt" und „Objekt" gleichsam.

Auch Hannah Arendt hat in ihren „Elementen“ mehrfach darauf verwiesen, wie der Unterschied zwischen den Henkern und deren Opfern verwischt worden ist. Die Reduktion des Menschen auf ein Reaktionsbündel „ohne Seele" löst bei dem Verfolger und den Opfern die Unterschiede auf, da die „humanen Kategorien", welche den Unterschied ausmachen, mit Gewalt eliminiert worden sind. Das sind soziologische Fakten und keineswegs moralische Werturteile, wie das manchmal nicht ganz gutmeinend mißverstanden wird. Diese typologische Gleichartigkeit, sich auswirkend in einer faktischen Wechselwirkung zwischen Unterdrückern und Verfolgten, hat Raul Hilberg in seinem Standardwerk " The Destruction of the European Jews" (Chicago 1960) als Schicksal statuiert und kasuistisch belegt. Dieses Schicksal hat Hilberg analysiert mit den Varianten der verschiedenen Reaktionskategorien der jüdischen Gemeinschaft, und er hat dabei auch die Rolle der Juden bei ihrer eigenen Vernichtung behandelt. Auch die Rolle der Kapos und der Judenräte wird erstmalig von Raul Hilberg erwähnt. Hilberg erkannte als erster, daß der perfekte Zerstörungs-Prozeß der Nazis etwas in der Welt Neuartiges war, ideologisch in seiner Amoralität völlig verschieden von den bisher bekannten Methoden der antisemitischen Judenverfolgung. Darauf hatten sich — in ihren Akten der Kooperation — die jüdischen Führer eingestellt, bis diese in den Jahren 1941/1942/1943 erkannten, daß die Vernichtungsmaschinerie der „vertierten Bestien" von den „humanen" Pogromen der letzten Jahrtausende in ihrem Wesen kontrastierte. Es war zu spät, um sich anders zu orientieren; man war hilflos.

Diese Literatur-Basis ist als „Arendt-Kommentar" zur Erkenntnis des Problems unverzichtbar, wenn man ernsthaft Stellung beziehen will.

Lebende Leichname als Endprodukte des „Bösen”

Der „Bericht von der Banalität des Bösen" ist nicht ein melodramatischer Bericht, der die phänomenologische Emanation des Bösen kasuistisch in seiner unsagbaren Grausamkeit registriert; er ist weit mehr, da eine Verarbeitung der Fakten zu einem soziologischen Endprodukt versucht wird. Hannah Arendt sah ursprünglich in dem radikal Bösen das konstituierende Element des totalitären Systems, also darin die Wurzel des Übels. In dem Briefwechsel, den sie nach dem Erscheinen ihres neuen Buches mit Professor Dr. Gerhard Scholem geführt hat, klassifiziert sie dieses „Böse" nicht mehr als „radikal", sondern nur noch als „extrem". Die Wurzel des Menschlichen mag also gut bleiben. Ob und inwieweit das extrem Böse konstitutiv in dem totalitären System sich als „persönlichkeitsvernichtend" oder „-verändernd" erwiesen hat, ist die Frage, die sich im „Eichmann in Jerusalem" stellt. In dem Rahmen von gesellschaftswissenschaftlichen Studien über die „Dehumanisierung der menschlichen Individualität“ ist die Faktizität nur insoweit von Interesse, als sie eine abstrakt erkannte Theorie praktisch im Wirklichen zementiert. Die Grundthese Hannah Arendts von dem „lebenden Leichnam“ als dem idealen Endprodukt des Extrem-Bösen erscheint überzeugend; sie hält offenbar dem Erfahrungstest bei Verfolgern und Verfolgten stand.

Aus Zeugenaussagen im Auschwitz-Prozeß wurde bekannt, daß an die sechzig Juden eines Tötungskommandos in dem Vernichtungslager Chelmo bis zu ihrem Tode in einem Keller hausen mußten und dort mit Eisen-ketten an den Beinen dauernd gefesselt waren. So wurden jüdische Opfer auf das tiefste degradiert und erniedrigt. Die „Entmenschung" war das Ziel der Nazis, und ihre Be6 Ziehung zu diesen menschlichen „Kettenhunden" war so motiviert. Aber man wird die soziologische Wechselwirkung akzeptieren, daß die SS-Verfolger dabei selbst zu dehumanisierten „Bestien“ der Spezies „Mensch" geworden sind, die jenseits von Schuld und Strafe als Menschen zu „degradieren“ sind mit allen Konsequenzen. Eine überlebende aus Auschwitz, Frau O. Lengyel, hat ein anderes Erlebnis („Five Chimneys", Bettelheim, S. 259) mitzuteilen; sie berichtet über die „Business as usual" = Haltung des heute noch in Südamerika lebenden SS-Arztes Dr. Mengele. Sie beschreibt, wie Mengele bei einer Geburt peinlichst alle medizinischen Maßnahmen sorgfältigst durchführte, bis zum Durchschneiden der Nabelschnur; aber eine halbe Stunde darauf sandte er Mutter und Kind in die Gaskammer. Ist diese Haltung strafrechtlich zu subsumieren, oder handelt es sich hier nicht um die Reaktion eines „dehumanisierten“ indoktrinierten Roboters, gelenkt durch das Böse?

Auch die Aufzeichnungen des einstmaligen Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß sind aufschlußreich für das Verstehen unserer Problematik (München 1958, S. 106). Höß berichtet über russische Kriegsgefangene, die in Birkenau im Jahre 1941 völlig ausgehungert wurden. „Die Verpflegung war völlig unzureichend ..., die meisten (Russen) fraßen, denn essen konnte man es ja nicht nennen, ihre Zuteilung gleich roh auf. .. Die ausgemergelten Körper konnten nichts mehr verarbeiten .... sie starben wie die Fliegen ... Ich sah Unzählige sterben, während sie Rüben, Kartoffeln schluckten; die Russen konnten einfach nicht mehr ... Aufeinander nahmen sie keine Rücksicht mehr, die Fälle von Kannibalismus waren in Birkenau nicht selten. Ich selbst fand einen Russen, dem der Leib aufgerissen war und dem die Leber fehlte ...“ Zweifelt jemand, daß die dehumanisierte SS-Bestialität hier den totalen Erfolg hatte, ihre Opfer zu Kannibalen zu „entmenschen"? Prinzipiell so gesehen ist dies eine Bestätigung einer tragischen Gleichartigkeit in der personalen Desintegration bei Verfolgern und Opfern.

Höß bestätigt das auch im Theoretischen: „Nur durch Fanatiker, die gewillt sind, ihr , Ich'ganz aufzugeben, kann das totalitäre System gehalten werden“ (S. 78). An anderer Stelle bestätigt er, so wie es Bettelheim psychoanalysiert hat, daß der psychische Druck das „Ich"

vernichtet und so den physischen Exitus beschleunigt. Das waren dann die „Muselmanen"

— man dachte dabei vulgär an den Fatalismus des Islams —, welche sich selbst aufgaben, fatalistisch wurden und so zu „entseelten", aber noch lebendigen „Leichen" wurden. Das Verhalten der Sonderkommandos, welche alle wußten, daß sie bei Beendigung der Aktion selbst auch das gleiche Schicksal treffen würde, war für Höß nicht erklärlich; „sie verfuhren mit einer Selbstverständlichkeit, als ob sie selbst zu den Vernichtern gehörten", sagt er.

Wir wissen aber, daß das „Böse" den Menschen entmenschen und reaktionslos machen kann, und auch hier „jenseits von Schuld". Diesen leidend (passiv) Dehumanisierten wird selbstverständlich niemand die Gemeinschaft der menschlichen Solidarität vorenthalten, aus der sich die (aktiv) dehumanisierten Verfolger ausgeschlossen haben und daher allerdings nur technisch „exkulpiert" sind. Denn Schuld und Absicht gibt es rechtsphilosophisch nur bei Menschen im Rahmen der humanen Solidarität. Was aber schreibt Höß: „Kalt und herzlos mußte ich scheinen bei Vorgängen, die jedem noch menschlich Empfindenden das Herz im Leibe umdrehen ließen; ich durfte nicht die geringste Rührung zeigen.“ (S. 132) Es paßt zu dieser paranoiden „Ex-lex" -Situation, daß Höß erklären konnte: „Ich selbst habe persönlich nie Juden gehaßt". Er ist sogar gegen den „Stürmer", dessen Wirkung auf die niedrigsten Instikte berechnet war, schreibt aber weiter: „Kein Wunder, wenn man nach dem Zusammenbruch erfuhr, daß ein Jude (!) die Zeitung redigierte“ (was nicht wahr ist). Für solche Attrappen aus Fleisch und Blut gibt es keine Gefühle; Höß sagt ja: „Im übrigen ist mir das Gefühl Haß nicht eigen". Wie bei den Verfolgten zeigten auch die Verfolger die Symptome einer psychischen Zerstörung, die allerdings bei ihnen zu keinem physischen Zusammenbruch führte. Durch die totalitäre „Banalität des Bösen“ entstanden, jenseits von Schuld oder Absicht, Erfolgs„Handlungen", die in ihrer In-Humanität das Ehrenprädikat Erfolgs-„Delikt“ im Sinne eines Straf-„Rechtes“ nicht einmal verdienen. Es sind „Akte", die man zwar nicht „entschuldigen" oder „sühnen" kann, die aber für die Menschheit intolerabel sind und deren Träger daher als Feinde der Menschheit eliminiert werden müssen. Für Höß war die Judenvernichtung sogar noch unmittelbar vor seiner Exekution nicht unrecht, sondern falsch, „da sich Deutschland durch diese Massenvernichtung den Haß der ganzen Welt zugezogen hat". Höß war „unbewußt“ ein Rad in der Vernichtungsmaschine und kann daher totalitär dehumanisiert „guten Gewissens“ im Februar 1947 sagen: „Mag die Öffentlichkeit ruhig weiter in mir die blutrünstige Bestie, den grausamen Sadisten, den Millionenmörder sehen. Sie würde doch nie verstehen, daß der auch ein Herz hatte, daß er nicht schlecht war." Also noch nicht einmal der Kommandant von Auschwitz sieht sich als ein „Dämon" des Bösen. Es paßt in dieses Denksystem, wenn jetzt im Frankfurter Auschwitz-Prozeß der Angeklagte Stark, ein landwirtschaftlicher Assessor, seinen geistigen Status in der damaligen Zeit so präzisiert: „Uns wurde das Denken abgenommen. Das taten ja andere für uns." Das sagt ein Mann, der unzählige Menschen in den Gaskammern von Auschwitz, kreuz und quer übereinanderliegend, in ihrem Todeskampf hat beobachten können. „Es war ein furchtbarer Anblick!" Darauf der Vorsitzende des Gerichtes: „Hielten Sie es für Unrecht?" Der Angeklagte antwortet: „Nein, durchaus nicht, aber die Anwendung von Gas war eben unmännlich und feige.“ Ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer, der schon früher zu lebenslangem Zuchthaus wegen der zugegebenen Teilnahme an Vergasungen und Erschießungen verurteilt worden ist, kann als Angeklagter mit aller Ruhe aussagen: „sch habe in meinem Leben stets jedes Lebewesen geachtet — ich war ein Mensch, und mit mir konnte man schon ein Wort reden." „Und das war", so berichtet die Zeitung, „ein Typ, wie er an tausend Skat-Tischen zu finden ist."

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" fragte vor einiger Zeit in einer Glosse (24. Januar 1964) „Auschwitz 1964": „Sind diese 22 (Angeklagten) Bestien, Sadisten oder gar Abschaum des Menschenwesens?", und antwortet: „Aber sie sind es nicht." Der Glossator spricht von einer „seelischen Hornhaut“, mit der man sich umgab. Damit der Bruch „in einem selbst“ nicht gar zu deutlich wurde, klammerte man sich an das „Verordnete". Man schloß die Augen und machte die Drecksarbeit. Und nach dem Kriege waren sie Lehrer, Akademiker, Angestellte, Arbeiter, gewissenhaft wie jeder von uns, wie jeder, der damals Gelegenheiten, Bedrängten zu helfen, vorübergehen ließ. Wer ist da besser, wer ist schlechter?" „Sie sind keine Bestien. Sie sind Durchschnitt." Damit sind wir mitten in der Problematik, in die uns Hannah Arendt mit ihrem Bericht über den Prozeß „Eichmann in Jerusalem" hineinführt, bei dem sich nämlich die Frage stellt: Ist Eichmann ein Dämon, eine Bestie oder nur ein Durchschnitt von vielen, für welche das Böse zwangsläufig zur Banalität geworden ist?

Nachdem wir also das für eine Kritik erforderliche Handwerkszeug präpariert haben, wird uns nun die ernsthafte Analyse dieses Berichtes möglich sein. Wir werden jetzt genug wissen, um zu fragen und auch manches zu beantworten. Wir sind so auf Umwegen — den Anschein erzeugend, als ob das alles nichts mit der Sache zu tun habe — mitten zum Problem vorgestoßen. Auch Eichmann gab im Jerusalemer Prozeß auf Befragen der Richter zu jedem der (insgesamt fünfzehn) Anklagepunkte, für welche dem Schuldigen die Todesstrafe angedroht war, jeweils die gleiche stereotype Antwort: „Unschuldig im Sinne der Anklage." Niemand, weder Staatsanwalt, Verteidiger noch die drei Richter, habe während des Kreuzverhörs an Eichmann die nahe-liegende Frage gerichtet, in welchem anderen Sinne er denn glaube, sich für schuldig zu halten. Das beanstandet Hannah Arendt.

Ist Eichmann ein „gewöhnlicher" Verbrecher?

Wenn man der Meinung ist, daß „Verbrecher" ä la Eichmann keine Normaldelikte begangen haben, die technisch im Sinne eines Schuldstrafrechtes unter die üblichen Strafrechtsnormen zu subsumieren sind, sondern „Erfolgs" -akteure eines inhumanen Systems sind, so hat man die „Elementarthese“ von Hannah Arendt konzipiert. Jetzt erscheint es geboten, in der kürzesten Essenz darzustellen, was Hannah Arendt in ihrem „Eichmann in Jerusalem" gesagt hat oder sagen wollte, auf das „wie" kann erst später eingegangen werden. Der „Bericht" ist der erste kritische Bericht über den Eichmann-Prozeß. Er ist geistreich und mit Sachkunde geschrieben, ist in vollendetem Stile informativ und reizvoll durch seine souveräne Unabhängigkeit der Diktion, die das Nonkonforme beinahe kokett pointiert. Eine sublime Überlegenheit in der Ausdrucksweise mag manchmal als zynisch, also dem makraben Stoff nicht immer zuträglich empfunden werden, erklärt sich aber wohl durch die Persönlichkeit der Autorin und das von ihr gezielte Wollen der Betonung einer Wahrheit. Es kam der Autorin offenbar darauf an, mit dem Klischee ihrer bisherigen Erkenntnisse den Prozeß-Stoff zu sehen und den Beweis dafür zu erbringen, daß ihr Schema auch für diesen „Testfall" passend ist. So kommt es, durch eine etwas gezwungen empfundene „Vorordnung" des Prozeß-Stoffes, zu manchen " overstatements", welche anscheinend die zweckgebotene Klischierung vor dem Zerbrechen absichern sollen.

Hannah Arendt sieht in der „Anklage" gegen Eichmann das einzige Kriterium des Prozesses. Da man die „Tat" niemals von dem „Täter" separieren darf, geht sie dem Wesen des Angeklagten auf den Grund, zergliedert seine Motive, prüft seine Funktionen und reduziert seine eigentliche Rolle in dem NS-Mechanismus auf eine nachweisbare Dimension. Dabei ergeben sich interessante Analysen, die kriminalpsychologisch und soziologisch durchaus überzeugend wirken, welche aber, wegen der — bei vielen zu verstehenden — Emotionsaffekte in diesem Komplex, der Autorin zu Unrecht als „verräterische“ Parteinahme zugunsten des Angeklagten übelgenommen werden. Sie sieht die einzige Aufgabe des Gerichtes darin, die Anklagepunkte gegen Eichmann zu prüfen und zu einem Urteil zu kommen, wenngleich Ben Gurion an dem Urteil „als solchem" gar nicht so sehr interessiert war. Dieser Aufgabe der Anklage habe sich der Staatsanwalt Gideon Hausner nicht gewachsen gezeigt und sie überhaupt nicht verstanden. Als Exekutor des politischen Willens von Ben Gurion habe Hausner der Welt eine Geschichtslektion erteilen wollen, Juden und Nichtjuden zugleich. Nur Historie sei Gegenstand des Prozesses gewesen; die Völker der Welt sollten sich durch diesen Proze ihrer schamvollen Mitschuld bei der Vernichtung der Juden bewußt werden und die Juden ihrer Rolle auch.

Zweitausend Jahre hätten sie in einer feindlichen Welt gelebt und seien so zu einem passiven Nichts in einem solchen Maße degeneriert worden, daß sie wie Schafe in den Tod gegangen seien, ohne sich zu wehren. So sei alles auf den „ewigen Antisemitismus" und die „Judenfrage" abgestellt worden, mit der Gleichheit all'dessen, was „nichtjüdisches Antlitz" trägt. Man hätte dartun wollen, daß nur durch die Lösung der Judenfrage in einem jüdischen Staate die Wiederholung der Juden-vernichtung künftighin durch den wehrhaften Heroismus der Israelis unmöglich sein wird. Das war nationaler Anschauungsunterricht, erteilt von dem Ankläger, dessen „grandiose" Rhetorik kulminierte mit einem Anruf und Fingerzeig auf die Glaszelle des Angeklagten:

„Und dort sitzt das Monstrum, verantwortlich für all das!“ Eichmann blieb aber dabei ohne Bewegung und ähnelte einem Gespenst (I). Die haarsträubendsten Greueltaten seien evident geworden, ohne Kontext allerdings mit der Prozedur, in der es doch nur zu klären gab, was er getan hat und wie es geschah. Die Richter, für die Hannah Arendt immer nur Lob hat, taten ihr möglichstes, um diese „Ausweitung" zu verhindern. Als 38 Dokumentarbände von der Anklage dem Gericht vorgelegt wurden, hatte der Verteidiger, der bei Hannah Arendt sonst durchaus schlecht abschneidet, nur eine Frage: „Ist der Name Adolf Eichmann in den Bänden erwähnt?" Die Antwort hierauf war: „Nein."

Es ist natürlich nicht jedermanns Geschmack, von dem Hang des Anklägers zum Schauspielerischen zu lesen, der nur an ein „Theater“ dachte, mit Ben Gurion „in der Rolle eines Regisseurs". Aber in der Sache hat Hannah Arendt recht, wenngleich ihr jedes instikthafte Verständnis für die Entschuldbarkeit der Ausweitung des Prozesses mit einem “ background" -Kolorit abgeht. Auch in dem Prozeß gegen Höß hatte man seinerzeit in Polen das Verfahren ausgeweitet, „um bei der unheilvoll historischen Bedeutung von Auschwitz eine möglichst umfassende Dokumentation zustandezubringen". Etwas Ähnliches geschah auch in Jerusalem in der Bezugnahme auf den Gesamtkomplex der Judenverfolgung.

Das Charakterbild des Angeklagten, nicht nur wie es sich aus der Vernehmung zur Person ergibt, sondern durch die detaillierte Schilderung der Deportationen in dem europäischen Raum bei Mitverwendung der Zeugenaussagen, wird synthetisch rekonstruiert. Das gibt so der Autorin ihre Arbeitsthese, die aber mehr eine nicht ganz bewiesene „Hypo" -These darstellt.

Die Anklage summierte nicht nur Fakten, welche Eichmann ja gar nicht bestritt, sondern sie wollte dem Angeklagten die verbrecherische Natur dieser Taten nachweisen, welche dieser aus niedrigen Motiven begangen habe. Dies aber bestreitet Eichmann, dem von mehr als einem halben Dutzend Psychiatern „Normalität" bescheinigt wurde, und er sagt emphatisch: „Er sei in der Tiefe seines Herzens nicht der . innere Schweinehund’, für den man ihn halte." Er hätte ganz im Gegenteil ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn er die Todestransporte der Millionen Männer, Frauen und Kinder nicht „befehlsgemäß" ausgeführt hätte. Nach Hannah Arendts These ist Eichmann kein gewöhnlicher Verbrecher, sondern eher ein Clown in dem Dilemma zwischen dem unsagbaren Schrecken seiner Taten und der Lächerlichkeit seiner Persönlichkeit. Es war kein Ausweg aus diesem Dilemma, ihn einen kaltberechnenden Lügner zu nennen, der er nicht war. In Wirklichkeit war Eichmann ein kleiner Mann, der sich immer in „gehobener Stimmung" fand, wenn man ihn wichtig nahm. Er war ein Prahler und Großsprecher und letzten Endes ein langweiliger Roboter, der keinesfalls so groß war, wie Gideon Hausner, der Ankläger, ihn aufbaute". Verglichen mit Leuten der ersten NS-Kategorie, den Müller, Heydrich oder Himmler, war er unbedeutend, wenn auch nicht so „klein", wie ihn sich die Verteidigung wünschte. Er brachte es nur zu einem Obersturmbannführer (Oberstleutnant), und als Typ, der nie „führerlos“ leben konnte, wurde er zu einem Gied des SS-Mechanismus, der für ihn unabänderlich wurde und immer blieb. Die Anklage versuchte zweifach Unmögliches zu erreichen. Eichmann sollte als „gewöhnlicher Verbrecher" vieler Delikte technisch überführt werden, die er nicht beging, für die er nicht „schuldig" war. Die strafrechtliche Technik der Tatbestandsfixierung konnte sich hier nicht als adäquat erweisen. Andererseits wurde er als dämonische Zentralfigur „aufgebaut" mit einer diabolischen Grandeur, die ihn für alles verantwortlich erscheinen ließ. Eichmann sollte im Sinne der Anklage die letzte „Causa" des Übels sein, Eichmann, über den es keine Superiors gab und der von niemand — mit der möglichen Ausnahme Hitlers — Order erhielt. Ein „Sündenbock" der Judenvernichtung, für den Inlands-und Auslandsgebrauch zweckdienlich, je nach Bedarf verwendbar. So übertrieben sah ihn Mr. Musmano, früher Richter bei dem Internationalen Gericht in Nürnberg, Zeuge im Eichmann-Prozeß und kürzlich scharf, aber nicht gerade geschickt, Hannah Arendt in der „New York Times" angreifend, und so sah ihn im Gegensatz zum Gericht der ersten Instanz auch das Appellationsgericht in Jerusalem.

Um Eichmann jedoch als „gewöhnlichen" Verbrecher zu überführen, suchte man ihm — fast durchweg ohne Ergebnis — Delikte nachzuweisen, mit denen er im Sinne des geltenden „Schuld-Tat“ -Strafrechtes nichts zu tun hatte. Es wiederholte sich hier die Kalamität, einen technisch zu eng gefaßten Deliktbestand juristisch nachweisen zu müssen, wie sich dies immer wieder bei Kriegsverbrecherprozessen zeigt, auch jetzt bei dem Auschwitz-Prozeß in Frankfurt. Es handelt sich übrigens, worauf Prof. Arendt erstmalig hinweist, gar nicht um „Kriegs“ -verbrechen, da diese Greueltaten außerhalb des militärisch Notwendigen lagen. Wörtlich schreibt die Autorin: „Die Berichte über unerhörte Scheußlichkeiten, das Ausrotten ganzer Völkerschaften, die Säuberung ganzer Landstriche von ihrer Bevölkerung, beziehen sich auf Verbrechen, für die nach keiner Konzeption militärische Notwendigkeit geltend gemacht werden kann (im Sinne der Haager und Genfer Konvention), sondern es sind Verbrechen, die tatsächlich nichts mit dem Krieg zu tun hatten, aufzeigend eine Politik des systematischen Mordes, der auch im Frieden fortgesetzt werden sollte" (und auch im Frieden begann — P. A.).

Das Verbrechen gegen den „humanen“ Status

Diese Akte waren „Verbrechen gegen die Menschlichkeit", oder besser, wie es der französische Ankläger in Nürnberg formulierte:

„Verbrechen gegen den menschlichen (humanen) Status", weit über den Tatbestand der „Kriegsverbrechen" hinausgehend. So sieht es Hannah Arendt, und sie wünscht in diesem Lichte auch Eichmann zu sehen, ihn keineswegs verteidigend, aber auch nicht „dämonisierend". „Entsetzlich waren Eichmanns Verdrehungen der Wirklichkeit", und an anderer Stelle wird gezeigt, daß er ganz einfach lügt, wenn er dem Gericht einreden will, daß er „Juden gerettet" habe, wenn er irgendwie konnte. Aber nichtsdestoweniger hatte Eichmann tatsächlich mit vielem nichts zu tun, was man ihm vorwarf. Er war sicher über alles informiert, was sich im Osten abspielte, aber er hat wohl nie die Tätigkeit der „Einsatzgruppen überwacht oder kontrolliert", ebensowenig wie er mit der Evakuation des Ghettos in Warschau und vielen anderen Aktionen in Verbindung zu bringen war. Die Anklage, wenn sie Eichmann „beinahe als Himmler vorgesetzt" dämonisch darstellen wollte, war insoweit verfehlt, und dies hat auch das Gericht in Jerusalem akzeptiert. Er fing als „Experte der Zwangsemigration" an, wurde dann der Experte der „Evakuierung“ und war eigentlich „nur“ der „Beauftragte für das Transportwesen" bei der Vernichtung der Juden.

Sein Hauptverbrechen war — und dies hat er gestanden —, daß er Menschen in ihren Tod transportiert hat, in voller Kenntnis dessen, was er tat. Eichmann habe immer darauf verwiesen, daß — wenn überhaupt — er nur der Beihilfe und Begünstigung bei den kasuistisch ihm vorgeworfenen Einzelverbrechen „schuldig“ sei. Wie das Jerusalemer Gericht in seinem Urteil feststellt, hat die Anklage insoweit nicht das Gericht überzeugt, daß Eichmann mit seinen kasuistischen Einwendungen Unrecht habe. Es stimmt, daß Rudolf Höß in seiner „Autobiographie" Adolf Eichmann anders gesehen hat und ihn als den sinistren Zentral-dämon der Judenvernichtung erscheinen ließ; auch Hannah Arendt „erhöht" einmal selbst im Widerspruch zu ihrer Grundthese Eichmann zu einem Status, „für den (Admiral) Horthy nicht eine so große Persönlichkeit war". In Jerusalem ist aber der Beweis für eine Dämonisierung des Eichmann von der Anklage nicht geführt worden, und das Gericht hat die eigentliche Essenz seines Verbrechens erfaßt. Es war nicht ein „gewöhnliches" Verbrechen, ebensowenig wie der „Verbrecher" nicht als „gewöhnlicher Verbrecher" anzusehen sei. Es sei sinnlos, sagt das Gericht, bei diesen Taten gewöhnliche Konzepte von Tat, Anstiftung und Beihilfe anzuwenden, denn dazu sei die Zahl der Opfer zu groß und dazu seien sie «en mässe» von vielen begangen worden. Die naheliegende Frage, wie es mit der Strafbarkeit der vielen Eisenbahnbeamten — nicht nur des „Transportchefs“ — und der vielen anderen menschlichen Teile der Todes-maschine steht, welche irgendwie wissend in der Vernichtungsfabrik mittätig waren, hat von dem Jerusalemer Gericht eine interessante Antwort gefunden: Der Umstand, ob irgendeiner der vielen Verbrecher sich nahe oder entfernt von dem eigentlichen „Töter" befand, ist für seine Verantwortlichkeit irrelevant. „Im Gegenteil, im allgemeinen steigert sich das Ausmaß der Verantwortlichkeit, je mehr wir uns von der Person entfernen, die das tödliche Instrument mit ihren eigenen Händen benützt.“ Diese lapidare Sentenz ratifiziert die umwälzende These unserer Autorin, wonach die „totalitären" Morde nicht als normale Verbrechen klassifiziert werden dürfen und das Bose «en mässe» auf eine „Banalität des Bösen hinweist“.

Vor kurzem hat in Ausführungen zur „Typologie einer totalitären Führerschicht" („Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 37— 38/63 vom 18. September 1963) Joachim C. Fest über die „Ausführungen des Hitlerschen Willens" das bestätigt, was Hannah Arendt, Bruno Bettelheim, David Rousset und Raul Hilberg schon vorher erkannt haben. „Sie waren eine ausgelöste, gesichtslose Herde von Unpersönlichkeiten, die nie mehr als Protuberanzen ihres Führers waien — total verfügbare Menschen, keineswegs groß und grausam” (siel). Also Inkarnationen des „Bosen“, das für sie banal geworden ist. So banal, daß jetzt im Auschwitz-Prozeß der Angeklagte Joseph Klehr, der mindestens 250 mörderische Phenol-Injektionen zugegeben hat, sich über die „schmutzige Sache" nur einmal Gedanken gemacht hat, und zwar als er das erste Mal dte Häftlinge zu toten hatte. Aber dabei blieb es.

„Ich war damals in einer derart eisernen Zwangsjacke, daß ich keinen Schritt nach rechts oder links machen konnte."

Die totale Herrschaft des „Bösen" war alltäglich geworden, eine Massenpsychose mit einem nahezu kompletten moralischen Kollaps. Der Versuch, Eichmann zu einem „Dämon" zu verfälschen, ist in der Auffassung der Autorin bei diesem Prozeß gescheitert und „damit auch die Theorie der gegenwärtigen deutschen Regierung, Eichmann als . Sündenbock'zu praktizieren, den man zur eigenen . Entsühnung'entgegen der internationalen Gesetzlichkeit seinem Schicksal überläßt und verläßt". Eichmann spielte als alltäglicher Exponent des Bösen rein zufällig, wie er sagte, eine Rolle bei der „Endlösung", die an seiner Steile fast jeder andere hätte einnehmen können, so daß potentiell nahezu alle Deutschen schuldig sind (S. 225; Zitierungen nach der amerikanischen Ausgabe).

Eichmann war ein banaler Repräsentant des Bösen, das zu dem Kriterium einer Masse von totalitär indoktrinierten „enthumanisierten“ Barbaren geworden war. Das Böse des Systems war so banal geworden, daß man „von der Banalität des Bösen" sprechen kann, welches mit dem gewöhnlichen Maß des Strafrechts nicht zu erfassen ist.

Dieses „banal Böse“ der Hannah Arendt bedeutet nicht eine verniedlichende Bagatellisierung, sondern ist in schärfstem Kontrast hierzu die strukturelle Diagnose einer „Massenerkrankung der A-Humanität“ durch den Virus des Bösen, der gründlich eine ganze Gemeinschaft infiziert hat. Der Prozeß „Eichmann in Jerusalem" muß so und insoweit als „Bericht von der Banalität des Bösen" verstanden werden.

über die Konseguenzen ihres Standpunktes läßt Hannah Arendt in dem „Epilog" ihres Buches keinen Zweitel. Dabei soll auf die ermüdend wirkenden juristischen Haarspaltereien und Spitzfindigkeiten über „territoriale" Zuständigkeit, Legalität und rechtliche Normierung von Verfahren und Tat nicht eingegangen werden; sie beweisen, daß Philosophie und Geschichte die starke, Und Jurisprudenz die sehr schwache Position in der Skala der intellektuellen Eigenschaften unserer Autorin sind. Diese Argumentationen sind irrelevant, unexakt und grenzen an Rechthaberei. Ihre Behauptung, daß „Völkerausrottung" („genocide") durch isrealisches Gesetz, das sie übrigens wiederholt als „municipal" bezeichnet, strafrechtlich nicht erfaßt sei, ist falsch. Wie Jacob Robinson in den " Facts" der Anti-Defamation League (Juli-August 1963) nachweist, ist Israel der " Genocide Convention" beigetreten. Im übrigen verwechselt Frau Arendt „Genocide" mit dem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit", welches in Israel durch internationales Recht ebenso strafbar ist wie die „Verbrechen gegen das jüdische Volk". Wesentlich ist aber, daß auch Hannah Arendt im Endergebnis das Urteil in Jeru-B salem für richtig hält und auch das Verfahren akzeptiert. Sie schreibt ausdrücklich: „Die Rechtserkenntnisse des Gerichtes in Jerusalem sind unvergleichlich besser als die gleichen in Nürnberg, denn es wurde klar erkannt, daß bei den Verbrechen gegen das jüdische Volk, bei der Flut von einzelnen Grausamkeiten es sich um inhumane Akte, also um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehandelt hat.“ Aber sie meint auch, daß kein modernes Rechtssystem, welches auf Schuld, Vorsatz oder Absichten als Motiv einer Tat basiert, für derartige Handlungen angemessen sein kann. (An sich genüge die Funktion eines Leiters der Abteilung IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt für die Bestrafung.) Eichmann sei ein Feind des Menschengeschlechts (hostis generis humanis), kein Monster, kein Sadist, jemand, der gar kein Gefühl mehr für Recht und Unrecht hatte, und wie so viele „furchtbar und furchterregend normal“.

Diese ihre Gedanken ergeben sich aus ihrer fiktiven Urteilsmotivierung, die sie bei den Richtern gerne gehört hätte: „Es interessiert uns hier nur, was der Angeklagte tat, nicht aber die möglicherweise nicht-kriminelle Natur seines inneren Lebens. Der Angeklagte hat eine Politik unterstützt und durchgeführt, wonach er nicht wünschte, diese Erde mit dem jüdischen Volke und Angehörigen anderer Nationen zu bewohnen. Weder der Angeklagte noch dessen Vorgesetzte haben jedoch irgendein Recht zu entscheiden, wer auf dieser Erde leben darf. Daher sind wir der Ansicht, daß von keinem Angehörigen der menschlichen Rasse erwartet werden kann, auf dieser Erde mit ihm zu weilen. Das ist der Grund, und zwar der einzige, warum er hängen muß.“

Damit hat die Autorin ihren Zirkelkreis geschlossen. Von der Erkenntnis des totalitären „dehumanisierten" Normal-Typs bis zu dem willenlosen Akt eines „nicht gewöhnlichen Verbrechers" sui generis kommt sie dazu, diese nicht durch „Schuld" motivierte „Erfolgsakte" als „Verbrechen gegen die Menschheit“ anzusehen. Im Falle Eichmann ist das mit der physischen Eliminierung aus den Reihen der Menschheit zu „bestrafen", und sie bleibt dabei absolut konsequent. Sie distanziert sich ironisch von der weltfremd „göttlichen Höhe"

derjenigen New Yorker Kreise, die im Stile der " Madison Avenue" gegen die Vollstrekkung der Todesstrafe an Eichmann protestieren. Mit dem Standpunkt Martin Bubers, der die Exekution Eichmanns einen „Fehler von historischem Ausmaße" deshalb genannt hat, weil diese geeignet sei, bei vielen jungen Deutschen die gefühlte Schuld zu sühnen, setzt sich Hannah Arendt in der für sie typischen Art auseinander. Diese so sehr publizierten Schuldgefühle seien zwangsläufig unecht, da es zu „nobel" sei, sich schuldig für etwas zu fühlen, was man nicht begangen hat.

Es seien das hysterische Ausbrüche „rund um den Anne-Frank-Tam-Tam“ und ein Eskapismus von den aktuellen Problemen weg in eine billige Sentimentalität, überall gäbe es in Deutschland Schuldige, sogar in den höchsten Ämtern, und diese zögern, ihre Schuld zu gestehen und zu bereuen, und gegen diesen Zustand hätte die Jugend mit Entrüstung aufzustehen. Das geschähe aber nicht, denn so ein Nonkonformismus wäre riskant und ein Hindernis für die Karriere.

Diese beachtlichen Thesen und Meinungen entsprechen den Erkenntnissen der „Elemente“ und dem Temperament der Hannah Arendt. Sie werden auf den „Eichmann in Jerusalem“ projiziert, wobei der Prozeß-Stoff in Inhalt und Kommentar, etwas zu sehr klischiert, der Projektionslinse angepaßt worden ist. Das alles kann man ablehnen oder anerkennen. Wo ist bei diesen „Verbrechen gegen die Menschheit“ die personelle Grenzlinie sichtbar, bei welcher „der A-Humane" für die menschliche Gesellschaft noch physisch tragbar bleibt, und wo sind die Kriterien für ein „Strafmaß“? Allein diese Andeutung zeigt schon, daß philosophisch, soziologisch, psychoanalytisch und politisch richtige Erkenntnisse nicht immer juristisch praktikabel oder auf dieser Erde durchführbar sind.

Eine „Kontroverse", welche keine ist

Eine ernsthafte und wirklich geistige Auseinandersetzung mit dem Buche „Eichmann in Jerusalem" ist erforderlich und wäre der Problematik adäquat. Aber sie ist bisher von der Kritik nicht versucht worden; wohl aber hat sich eine „Affäre Hannah Arendt" entwickelt. Warum? Weil Frau Arendt nicht mit der gebotenen Delikatesse — das ist richtig — und nicht ganz geschickt Tabus angerührt hat.

Es handelt sich um das Thema der „jüdischen Kooperation" mit den Nazis. Dafür hat sie den Vorwurf bekommen, eine „jüdische Dolchstoßlegende" (Robert M. W. Kempner) geschaffen zu haben, als ob die Juden an ihrer eigenen „Vernichtung" mitschuldig seien (" Facts", Juli-August 1963, S. 267). „Dem Judentum hat sie einen schlechten Dienst erwiesen!" (Dr. Max Nußbaum im „Aufbau" vom 7. Mai 1963.) Was ist nun der wirkliche Wahrheitsgehalt, welcher dieser „Kriegserklärung" zugrunde liegt? Da heißt es in dem „Yad Washem-Bulletin" vom Oktober 1963 in einer Polemik gegen Hannah Arendt mit dem bezeichnenden Untertitel: „Bettelheim (eilt) zu Arendts Rettung", daß diese beiden dem „Klima des Schuldgefühls großen Schaden zugefügt" haben in ihrem Bemühen, durch Trübung des Prinzips der persönlichen Verantwortlichkeit den Abstand zwischen den Totschlägel n und ihren Opfern zu verengen. Als ob beide Angegriffenen je die Verfolgten mit den Mördern identifiziert oder Sympathien zu den Mördern gezeigt oder Bestialitäten verteidigt hätten, wird in dieser Art die Generalattacke gegen Hannah Arendt fundiert. Wie wir wissen, haben Bettelheim und Arendt die Auswirkungen der totalitären Systeme auf Menschen untersucht und festgestellt, daß diese Systeme sowohl auf Verfolgte als auch auf Verfolger depersonalisierend gewirkt und sie damit zu eigentlich nicht mehr funktionsfähigen menschlichen Wesen gemacht haben (Rottenstreich, " Jewish Observer“ vom 11. Oktober 1963) — nicht mehr! Aber dazu kommt ein Satz, der sich im „Eichmann in Jerusalem" in dem Bericht über die Wannsee-Konferenz findet: Für einen Juden ist diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung des eigenen Volkes unzweifelhaft das „schwärzeste Kapitel" einer an sich „schon schwarzen Geschichte".

Aus diesem Urteil, ausgesprochen nahezu 20 Jahre nach der Katastrophe aus der „Perspektive der Geborgenheit", hat sich eine vi-tirol-getränkte, unsachliche, haßerfüllte Kampagne gegen Hannah Arendt entwickelt. Frau Arendt weist auf die administrative und polizeiliche Mithilfe von „Judenräten" hin, auch in Berlin, die den Nazis ihre Deportationspläne erleichtert hätte. Alles, was sie vorträgt, ist aus dem Buche von Raul Hilberg übernommen, auch die Sentenz, daß Dr. Leo Baeck, früher „Oberrabbiner" von Berlin (es gab dort nie einen „Oberrabbiner"), der bei Juden und Nichtjuden als „The Jewish Führer" galt, bei dieser Kooperation eine Rolle gespielt habe (vgl. Hilberg, S. 292). Nirgends wird die Integrität von Leo Baeck in Frage gestellt, wenngleich in diesem Zusammenhang die Verwendung des deutschen Wortes „Führer" als taktlos und deplaciert gelten muß, besonders dann, wenn es von einer jüdischen Autorin geschrieben wird. (So nannte ihn Wisliceny!)

Hilberg zitiert Baeck: „Ich tat nie etwas, was geeignet war, den Nazis zu helfen; wenn ich später jüdische Ordner bei der Deportation einsetzte, so tat ich es, um das Los der Juden zu erleichtern." Von den Faktoren der Kooperation, über die Hannah Arendt schreibt, ist immerhin die Rolle Rudolf Kastners von den israelischen Gerichten ähnlich negativ beurteilt worden („er hat seine Seele dem Teufel verkauft").

Einzelheiten derartiger Kooperation werden aus Hilbergs Buch berichtet, von der Hilfe jüdischer Funktionäre bei der Aufstellung der Deportations-und Vermögenslisten bis zur Verteilung der gelben „Judenabzeichen". Wörtlich heißt es bei Hannah Arendt (S. 105): „Man kann direkt bei den von den Nazis inspirierten, aber nicht diktierten Manifesten (der Judenräte) spüren, wie die (jüdischen) Funktionäre in ihren neuen Machtbefugnissen geschwelgt haben.“ Kurz darauf gibt unsere Autorin selbst zu, daß es wenig wirkliche Verräter gab. Stellen wir aber diesen kontroversen Komplex etwas zurück.

An einer Stelle verweist Hannah Arendt auf die „unheimliche" Tatsache, daß in den Todes-lagern die Insassen, also die Opfer, zu Werkzeugen der eigenen Vernichtung dehumanisiert wurden. Was im Sinne ihrer These nicht als Kollaboration, sondern als totalitär erzwungene „Vertierung" klassifiziert werden muß, „denn das Opfer wurde vernichtet, bevor es das Schafott bestieg". Sie zitiert des öfteren immer wieder die Herzlosigkeit von Gideon Hausner, wenn er Zeugen fragte: „Warum gab es keinen Widerstand? Warum protestiertet ihr nicht?" Dazu sagt sie: Dies sei „grausam und dumm gewesen, denn keine nicht-jüdische Gruppe hätte sich anders verhalten". Aber Hannah Arendt beanstandet: Wenn man schon nach Widerstand fragt, warum hat man nicht die Frage der jüdischen „Kooperation" aufgeklärt?

Denn worauf es Hannah Arendt bei der Klischierung ihres „Berichtes" ankommt, ist der Nachweis, daß die Totalität des nationalsozialistischen moralischen Kollapses auch einen moralischen Zusammenbruch in der respektablen europäischen Gesellschaft, überall in Europa, nicht nur bei den Unterdrückten, sondern auch bei den Opfern, herbeigeführt hat. Dies in seinem klaren Ausmaß zu klären, habe das Jerusalemer Gericht in dem Eichmann-Prozeß versäumt. Und hier kommt die auf die Spitze getriebene Logik der Hannah Arendt zu ihrem Klimax: „Die ganze Wahrheit ist, daß überall, wo Juden lebten, die anerkannten Führer in dieser oder jener Weise mit den Nazis, aus welchem Grunde auch immer, kooperierten. Wäre das jüdische Volk unorganisiert und führerlos gewesen, dann hätte es wohl Chaos und viel Elend gegeben, aber die Gesamtzahl der Opfer würde wohl kaum zwischen 41/2 und 6 Millionen betragen haben."

Diese „ganze Wahrheit" ist aber weniger als eine Halbwahrheit und hat leidenschaftliche Reaktionen ausgelöst. Auf der einen Seite sieht man darin ein Beispiel jüdischen Selbst-hasses, aber in der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 19. Oktober 1963 sieht man insoweit richtig dies als Symptom dafür, daß man in gewissen Kreisen es verlernt hat, Meinungen auch nur zu hören.

Den Kern der Sache trifft es wohl, was Philip Roth im " Commentary” (Dezember 1963) über " Writing about Jews" geschrieben hat: „Es gibt nichts in unserem Leben (dem jüdischen), über das man den anderen etwas erzählen sollte, bis auf das, was uns in gutem Lichte erscheinen läßt."

Gehen wir nun zu unserem kontroversen Komplex zurück, denn es gibt hier nichts zu vertuschen. Nicht ergibt sich aus den Tatsachen, daß bei einem „Chaos" die Zahl der jüdischen Opfer geringer gewesen wäre: aber ebenso-wenig weist irgend etwas darauf hin, daß durch die Arbeit der jüdischen Funktionäre und der Judenräte seit 1941 — nur von diesem Zeitraum spricht Hannah Arendt — sich die Zahl der jüdischen Opfer verringert hat.

Die Formulierung der Hannah Arendt ist also leichtfertig und falsch. Hätte sie nur auf den letzten Punkt verwiesen, wäre die Frage kontrovers geworden. Gerade aus dem Bericht der Hannah Arendt ergibt es sich aber, daß die Rettungs-Chance im wesentlichen von der Haltung der „Wirtsvölker" abhängig war und bis zu einem gewissen Grade von der psychisch-demographischen Struktur der Judenheiten (zum Beispiel Belgien oder Holland), worauf hier aber nicht eingegangen werden soll.

Haben die Juden kollaboriert?

Der Mangel der Arendt'schen Konzeption ist es, zwischen Kooperation und Kollaboration zu unterscheiden. Technischer Kontakt bei der Auswanderung zwischen Nazis und jüdischen Organisationen war bis 1939 möglich und geboten. Das hat nichts mit einer Kollaboration aus enthusiastischer Überzeugung, auch nichts mit grundsatzlosem Opportunismus zu tun.

Einen moralischen Rigorismus auf die Spitze zu treiben wäre wirklichkeitsfremd. Es geht nicht an, einzelne Verletzungen von Gesetzen mit unsittlichen Geboten mit einer Absage an Recht und Moral überhaupt gleichzusetzen. Man kann nicht die geringste Berührung mit dem totalitären System oder das geringste Entgegenkommen ihm gegenüber schon als Komplicenschaft bezeichnen. In der politischen Wirklichkeit eines totalitären Systems ist es praktisch täglich notwendig, Stellung zu beziehen und unter seinen Bedingungen Entscheidungen zu treffen (vgl. Hans Buchheim, „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 14. August 1963, „Die Kritik aus Unlust“).

Es ist intellektueller Snobismus, nur um eine Erkenntnis geistig zu zementieren, in der Simplifizierung zu weit zu gehen. Dazu gehört es zum Beispiel, für das Jahr 1935 festzustellen (S. 34), daß das NS-Regime „noch nicht zu dem System der Verfolgung der Juden durch Juden" übergegangen war. Das ist bösartig. Dasselbe gilt, wenn von einer „unerklärlichen Bereitschaft" der deutsch-jüdischen Gemeinschaft gesprochen wird, „nach der Machtergreifung mit den Nazibehörden zu verhandeln". Was hätte man tun sollen? Nur um die „Selektion" historisch parallelisieren zu können, sollte auch Hannah Arendt darauf verzichten, zynisch und geistreich zu werden. „Jüdische Emissäre aus Palästina hätten ähnlich wie Eichmann gesprochen. Sie seien nicht an der Rettung interessiert gewesen, sondern nur daran, für ihre Kibbutzim geeignetes Material" (es fehlt nur noch „biologisch") auszusuchen (" so select", S. 54). Das ist eine kleine Blütenlese aus dem Stile intellektualistischer Übertreibungen, motiviert offenbar durch die Sucht, „recht zu haben", auch dann, wenn es gar nicht erforderlich ist.

Es hätte genügt, auf gewisse — nicht vermeidbare — Degenerations-Ausnahme-Symptome im jüdischen Sektor hinzuweisen. Das hätte vielleicht nicht in das Klischee der Hannah Arendt formgerecht gepaßt, und so nicht stark der Theorie „gedient", es wäre aber wirkungsvoller gewesen. Es hat einzelne gegeben, die, „berauscht von einer ihnen durch die Nazis übertragenen , Macht‘funktion, dies . genossen’ und so verwerflich gehandelt haben". Diese Arroganz der Bürokraten eines Funktionär-Apparates ist und war überall und zu allen Zeiten spürbar gewesen, nicht nur bei den Juden. Das hat mit menschlicher Schwäche zu tun, gehört auf den „Jahrmarkt der Eitelkeiten", dürfte aber nicht von Hannah Arendt als typologisch für die „Jüdischen Führer" verallgemeinert werden. Gewiß gibt es den Fall des Chaim I. in Lodz; und die Brutalität der Ghetto-Polizisten mit dem perversen Selbstbewußtsein, das häufig eine Uniform bei den Subalternsten kreiert, ist bekannt. Wir kennen auch den Typ der Quislings aus der „Mila 18“ von Leon Uris; er lähmte häufig den Widerstandswillen. Aber niemand kann heute — rückschauend — es wagen, die Psyche dieser Personen mit absoluter Kompetenz zu analysieren. Es ist ein trauriges Kapitel, das auch auf dem Schuldkonto der Nazis zu belasten ist, aber keineswegs Verallgemeimeinerungen zuläßt. Was wissen wir schon von dem, was im Innersten eines Mannes wie Adam Czerniakow, des Vorsitzenden des Warschauer Judenrates, vorging, bevor er Selbstmord beging? Gewiß gab es verwerfliche Kreaturen auch bei den Judenräten, aber wie komplex das alles ist, zeigt der Bericht des letzten Judenältesten aus Theresienstadt — des einzig überlebenden dieser Kategorie — B. Murmelstein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 17. Dezember 1963. „Rabbi" Murmelstein wird von Hannah Arendt als verantwortlich für die Zusammenstellung der Deportations-Transportlisten in Theresienstadt genannt (S. 106). Das ist schon für Professor Dr. Gerhard Scholem ausreichend, um in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 19. Oktober 1963 in einem Brief an Hannah Arendt zu urteilen: „Gewiß, ... Murmelstein in Theresienstadt hätte ... verdient, von den Juden gehängt zu werden." Derselbe Scholem, der in dem gleichen Briefe der Hannah Arendt „den herzlosen, ja oft geradezu hämischen Ton“

vorwirft, mit dem „diese uns angehende Sache bei Ihnen abgehandelt wird". Wenn man den Murmelstein-Bericht liest, muß man mit diesem beinahe sympathisieren, und man genießt es, daß Hannah Arendt mit der Bemerkung:

„Ob diese Leute in allen Fällen verdient haben, gehenkt zu werden, ist eine andere Frage“ ihren Kritiker Scholem desavouiert.

Obwohl Scholem schreibt: „Ich maße mir kein Urteil an", tut er es aber doch und irrt. So haben sich hier die Fronten verschoben.

Hannah Arendt meint, daß in den nicht ganz extremen Umständen, bei denen es noch immer einen Raum des freien Entschlusses und des freien Handelns gab, wenn es schon keine Möglichkeit zum Widerstand gab, es geboten war: Nichts zu tun! Das ist ein Standpunkt, den man durchaus akzeptieren kann.

Man hat jedes Wort der Hannah Arendt in dem „Eichmann in Jerusalem" auf die Waagschale gelegt und mit dem falschen Gewicht der vorgefaßten Emotion gewogen und so den Balkenausschlag bei der gewichtlichen Wortbeurteilung manipuliert. Man will aus Hannah Arendt eine ressentiment-beladene Antizionistin machen, und es ist noch milde, wenn ihr Buch als ein „Hohn auf den Zionismus" bezeichnet wird („Neue Zürcher Zeitung“ vom 19. Oktober 1963, Gerhard Scholem).

Es ist richtig, daß mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus bei den Juden ein ideologischer Durchbruch zum Zionismus erfolgte, und man sollte das fairerweise zugeben, auch dann, wenn es Hannah Arendt sagt. „Die Zionisten" wurden politisch federführend, und man sollte nicht das gekünstelte Argument von der zahlenmäßigen Zusammensetzung der jüdischen Zentralinstanzen mit einer nicht-zionistischen Mehrheit verwenden. Die Mehrheit war nicht antizionistisch, sondern „nichtzionistisch" und palästinophil. Bis zum Jahre 1939 gab es zwangsläufig einen gewissen technischen Kontakt zwischen den „Zionisten" und Eichmann; beide hatten ihren gemeinsamen Denominator in dem Ziele der „Entwurzelung“ und „Auswanderung“. Man sollte daher die Ausdrücke „Idealisten“ und „Zionisten“ richtig verstehen und wohlwollend interpretieren. Wir wissen, was gemeint ist. Eichmann war kein Zionist und kein Idealist; alles ist von Hannah Arendt, mit Anführungszeichen versehen, genannt worden. Der „ProZionismus" taugte dem Eichmann für seine „Auswanderungs" -Pläne, das ist alles. Vielleicht hätte Hannah Arendt von einem „Pseudozionisten" etwas weniger ironisch und präziser im Ausdruck sprechen sollen. Für den Gutmeinenden, der das Buch in dem Geiste liest, in dem es geschrieben ist, besteht kein Grund, aus der „Zionistenphobie“ so viel Aufhebens zu machen, wie es geschieht. Das deutet beinahe auf einen Minderwertigkeitskomplex hin, der, wie Hannah Arendt meint, zeigt, bis zu welchem Maße man es in zionistischen Kreisen „verlernt hat, Meinungen auch nur zu hören, die nicht von vornherein abgestempelt sind". Bei dem, was Hannah Arendt geschrieben hat, war bei dem herausfordernden Inhalt und dem Stile ihres Buches eine leidenschaftliche Reaktion zu erwarten. So etwas zeigte sich „zur Sache" bisher kaum, sondern nahezu gleichgeschaltet reagiert das jüdische Establishment auf den Ton, die Übertreibungen, die Fehler und gewisse Aspekte des „Eichmann in Jerusalem", also auf selbst-fabrizierte Zerrbilder. Als ob es das Buch mit der eigentlichen These nicht gäbe. Man hat manchmal den Eindruck, daß viele der Kritiker das Buch nicht verstanden haben, für den Fall, daß sie es gelesen haben — was zweifelhaft scheint! Es ist das besondere Verdienst von Professor Dr. Joseph Maier, Leiter des Departments of Sociology an der Rutgers University, darauf hingewiesen zu haben („Aufbau", vom 20. 12. 1963).

Die „Affäre"

Es ist eine „Affäre" konstruiert worden mit allen dazu gehörigen Essentialen, dem „lädierten Gewissen des Funktionär-Apparates" und der „Ehre der Nation", welche auf dem Spiel steht und bei der alles verziehen wird, nur das nicht, daß ein Autor „unabhängig" ist und das schreibt, was offiziell nicht vorgesehen ist.

Das geht soweit, daß man ihr Sympathie für die mißverstandenen Mörder vorwirft (Kubowy, „Yad Washem“, vom 13. 10. 1963). Von der Schreibweise wird gesagt, daß sie gefühllos und „dickfällig" ist und mit masochistischer Leidenschaft die 6 Millionen Ankläger „degradiert". Man macht ihr zum Vorwurf, das Böse als banal anzusehen und dreht dabei den wirklichen Sinn des Gesagten in das Gegenteil um, als ob das Böse bagatellisiert worden wäre. Es gehört zum Standardmißbrauch der Kritik das " to narrow the distance between killers and victims" in eine moralische Gleichwertung umzufälschen, als ob dies nicht in den „Elementen" geklärt worden wäre. Was bei einer soziologischen Untersuchung der Typologie des Bösen das „Herz“ (Scholem) zu tun hat, ist bisher noch nicht geklärt worden, auch nicht, was ein „Meisterwerk ohne Seele" ist. In den " Facts" der A. D. L.des B'nai Brith erhält das Buch das Prädikat: glatt, platt, banal und übel; was aber nicht begründet wird. Es wird nur beanstandet, daß „Eichmanns Bild nicht mit Säure geätzt“ worden ist, so daß er eigentlich als irgendwie sympathisch erscheint, was eine Umdrehung des Wahren ist; aber offenbar ist wahr nur, was dem „Volke dient". Hannah Arendt habe der wirklichen Geschichte der Juden einen „schlechten Dienst erwiesen", es wird die „Gelehrsamkeit“ der Hannah Arendt (sic) in einem ganzen Kapitel in Frage gestellt, was, wenn nicht komisch, immerhin ungewöhnlich ist. In einer hebräischen Zeitung („Haboker" vom 18. 10. 1963) wird der Autorin die „Idealisierung“ von Eichmann vorgeworfen und ihr der Versuch unterschoben, die jüdischen Führer als schuldig, Ptain, Mussolini und die englische Regierung aber als unschuldig hinzustellen. In der „Jerusalem-Post" vom 20. 12. 1963 wird das Buch mit Hitlers „Mein Kampf“ verglichen und als Studie zur Psycho-Pathologie einer ernüchterten Zionistin bezeichnet. Es wird Hannah Arendt besonders zum Vorwurf gemacht, von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu sprechen und das Verfahren in Jerusalem als eine Art „Stammes-Justiz“ zu diskreditieren. „Die nationaljüdische Identität, das Verbrechen gegen das jüdische Volk" habe Hannah Arendt in Frage stellen wollen. Als ob es hier sich um eine nationaljüdische Selbstkonfirmation handeln würde und nicht das Verbrechen gegen Menschheit noch viel schärfer das radikal Kriminelle pointieren würde. Daß Hannah Arendt in diesem Zusammenhänge als „Intellektuelle, die aus der .deutschen Linken'hervorgegangen ist", klassifiziert wird, gehört zu der Routine dieser Kampagne. Was aber falsch ist und von Hannah Arendt bestritten wird, die sich als Angehörige des jüdischen Volkes bekennt.

In den Rahmen dieser Affäre gehört ein Sammelheft, das „nach dem Eichmann-Prozeß" zu einer „Kontroverse über die Haltung der Juden" in Tel-Aviv von dem Council of German Jews herausgegeben worden ist. Ton und Inhalt entsprechen der gleichgeschalteten Apologetik und Kritik. Zur eigentlichen Grundthese der Hannah Arendt wird auch hier nichts Wesentliches gesagt. Ein Artikel von Ernst Simon, dessen Titel „Hannah Arendt — eine Analyse" an sich schon eine Inhaltsangabe andeutet, soll erwähnt werden. Da ist die Rede von der ironischen „Sprachregelung" und von einem „post-zionistischen Ressentiment". Es wird Hannah Arendt auch hier Mangel an „wissenschaftlicher Ausbildung“ vorgeworfen, verbunden mit einer „antiseptischen Ausdrucksweise". Es ist viel von innerjüdischen Differenzen die Rede, wobei der Hannah Arendt, als „assimiliert“ beschriebener Jüdin, der Vorwurf gemacht wird, daß sie es an „wissenschaftlicher Objektivität" habe fehlen lassen und gegen „die Methode und Ethik" bei ihrer Arbeit verstoßen habe. Anstatt sich mit dem Buch als solchem auseinanderzusetzen, versucht der Rezensent, Widersprüche zwischen den Erkenntnissen des „Eichmann in Jerusalem" und den Hannah Arendtschen „Elementen" aufzuzeigen, ohne zu überzeugen. Ebensowenig überzeugend ist es, gewisse erzieherische und kulturelle Bemühungen in dem jüdischen Leben in Deutschland nach 1933 als „geistigen Widerstand" zu bezeichnen. Es ist auch das eine Kritik, die an dem Wesentlichen des Systems der Hannah Arendt vorübergeht. Wenn Ernst Simon der Hannah Arendt vorwirft, voller Ressentiments zu sein, so kann man seiner „Analyse" den Vorwurf nicht ersparen, voller Sentiments zu sein.

Ein Artikel, den A. L. Easterman, Direktor des Jüdischen Weltkongresses, in der Zeitschrift " World Jewry" vom November-Dezember 1963 ebenfalls in der Sache Hannah Arendt veröffentlicht, entspricht dem gleichen Niveau. Hier spricht man von der „teutonischen Philosophie" der Hannah Arendt, wiederholt einige Male, daß es sich um eine „deutsche" Jüdin handelt und rührt damit an „antideutsche" Ressentiments an, von denen man sich etwas verspricht. Auch hier werden Dinge widerlegt, die Hannah Arendt gar nicht behauptet hat, und zur Sache selbst wird nichts Wesentliches gesagt.

Golo Mann geht in seiner Kritik „Hannah Arendt und der Eichmann-Prozeß" (erschienen in der „Neuen Rundschau", Heft 4, 1963) auch nicht an das Wesen der Dinge heran. Es entspricht nicht dem angemessenen Niveau, zu schreiben, daß sich Hannah Arendt „dem Ton der Metropolitanen-Witzbolde anzupassen verstanden" hat, um dann zu sagen, daß sie nichts Neues zutage brachte. Es ist hier viel die Rede von dem „lukrativen Artikel" und den „Honoraren", und auch Golo Mann wiederholt die phantastische Bemerkung, wonach Hannah Arendts These sei, die Juden hätten sich selbst verfolgt. Es wird Hannah Arendt „Originalitätssucht" und „Arroganz" bestätigt; aber in dem Artikel von Golo Mann ist Arroganz auch nicht völlig ausgeschaltet, wenn er von einer „überklugen“ Dialektik der Autorin spricht, die alles zu einer Nacht macht, in der alle Katzen grau sind. Gewiß hat Hannah Arendt das behauptet; aber niemand wird bestreiten, daß es „Nacht" war und daß „viele“ Katzen grau waren. Für Golo Mann ist es völlig unangebracht, zu schreiben: „Noch einen Schritt, und die Juden haben sich selber verfolgt und selber ausgemordet, und nur zufällig waren auch ein paar Nazis mit dabei.“

Weit über diesem Niveau und eine wohltuende Ausnahme ist die Stellungnahme, welche in dem “ Commentary“ vom September 1963 von Norman Podhoretz erschienen ist und auf die schon hingewiesen wurde. Es ist wohl der einzige Artikel, der sich ernsthaft mit der Grundthese von Hannah Arendt auseinander-setzt; dort wird beanstandet, was zu beanstanden ist, aber auch festgestellt, was richtig ist. Podhoretz hat den Mut, auszusprechen, daß es stupide sei, der Hannah Arendt vorzuwerfen, Eichmann verteidigt zu haben. Sie hat nirgends in ihrem Buche irgend etwas dieser Art getan. Sie sagt in ihrem Schlußkapitel, daß Eichmann des Massenmordes schuldig war und verdient, gehenkt zu werden. Was sie allerdings als wahr akzeptiert, ist Eichmanns Darstellung seiner Person und seiner Rolle bei der „Endlösung“. Durch den „Aufbau" Eichmanns als eines teuflischen Judenhassers und einer „großen“ Nazipersönlichkeit habe die Anklage das Wesentliche dieser Verbrechen übersehen, die durch das System erst möglich geworden sind.

Die Fairneß dieser vielleicht einzigen Darstellung von überzeugender Sachlichkeit zeigt sich auch in der Feststellung, daß es sich bei Hannah Arendt um den bisher massivsten Angriff gegen das Deutschland Adenauers handelt. Was auch immer die Deutschen von diesem Buch anerkennen werden, es wird sie, wenn sie es lesen werden, wütend machen.

Der massive Angriff gegen Deutschland

Hier sind wir eigentlich bei der zweiten Essenz dieses Buches. In der Literaturkritik ist dieser Aspekt bemerkenswerterweise gar nicht behandelt worden, was darauf hindeutet, daß viele nicht ernsthaft sich der Mühe unterzogen haben, auf dieses Buch einzugehen. Es werden immer wieder nur die Aspekte der jüdischen Kollaboration verzerrt in den Vordergrund geschoben, aber nichts wird über das gesagt, was in diesem Buche über die Rolle der Deutschen geschrieben ist. Da findet sich ein massiver Angriff auf die deutsche Justiz mit ihren noch „ 5000 ehemaligen Nazirichtern", da wird schärfstens die Passivität der deutschen Behörden beanstandet, kein deutsches Auslieferungsbegehren gestellt zu haben. Man habe mit Absicht Globke aus diesem Eichmann-Prozeß herausgehalten, obwohl Globke in der Geschichte eine größere Verantwortung für das, was den Juden geschehen ist, werde übernehmen müssen als das, was man dem Ex-Mufti von Jerusalem zuschiebt. Die Beziehungen der deutschen Großindustrie zur Lagerverwaltung in Auschwitz seien herzlich gewesen, und die Alltäglichkeit des Bösen wird als typisch für alle Deutschen angesehen. Die deutsche Gesellschaft habe sich mit der Selbsttäuschung, mit den gleichen Lügen von der Wirklichkeit und den Tatsachen abgeschirmt, wie es bei der Mentalität des Eichmann offenbar geworden sei (S. 47). Die deutsche Widerstandsbewegung sei nur durch die kommende deutsche Niederlage motiviert gewesen. Die Deutschen hätten kein Gefühl mehr dafür gehabt, was als Sünde erkennbar war; der Instinkt für die Versuchung (die Sünden zu erkennen) sei ihnen verloren gegangen. Sie hätten gelernt, der „Versuchung (nicht zu sündigen)“ zu widerstehen (S. 134). Es sei ganz einfach wahr, daß es in Deutschland während der Kriegsjahre nicht eine Organisation oder eine öffentliche Institution gegeben habe, welche nicht verbunden gewesen wäre mit verbrecherischen Handlungen und Transaktionen. Man könnte derartige Zitate noch fortsetzen; sie liegen alle in der gleichen Linie. Bei Krupp seien die Bedingungen für die Häftlinge schlechter gewesen als in den Todes-lagern. Was in Deutschland heute geboten wäre, sei mehr Zivilcourage und weniger Willfährigkeit. Dieser Angriff der Hannah Arendt ist frontal und ist die Konsequenz ihrer Grundthese. Dabei muß erneut die Frage gestellt werden, die oben schon gestellt wurde, wo hier die personelle Grenzlinie ist zwischen „Schuld" und „Unschuld" oder wo und wann und bei wem die Verfolgung wegen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ihre Grenze hat.

Das Buch wird in Deutschland sicher nicht gut ausgenommen werden. Ganz im Gegenteil. Die Ent-Dämonisierung Eichmanns bedeutet die Vernichtung der „Sündenbodc-Theorie" und eine Anklage gegen das deutsche Volk. Es würde den Rahmen dieser Betrachtungen überschreiten, sich mit diesen Angriffen auseinanderzusetzen, wozu vordringlich auch die Hannah Arendtsche These über den deutschen Widerstand gehören würde. Das Buch von Hannah Arendt ist alles weniger als pro-deutsch. Wenn es in Amerika und England und auch im jüdischen Sektor zu einer „Affäre" geführt hat, so wird sich, nachdem nunmehr die deutsche Übersetzung erschienen ist, der leichte Wellenschlag, der heute von Amerika zu uns herüberkommt, hier zu einer Sturmflut verwandeln.

Ein „Anti-Stellvertreter''-Buch

Diese Betrachtung mit einer Aufzählung von Fehlern zu belasten, deren es einige in diesem Buch gibt, ist uninteressant; sie betreffen nur das Unwesentliche. Es ist für uns bei diesem Buch bedeutungslos. Zum Beispiel darauf hinzuweisen, daß es falsch ist, wenn von dem „Trianon-Ungarn" die Rede ist (S. 177), zu sagen, daß es wie die anderen Nachfolgestaaten durch den Vertrag von Trianon geschaffen sei. Friedensverträge mit den anderen Nachfolge-Staaten wurden nicht in Trianon, sondern in anderen Pariser Vororten abgeschlossen. Aus derartigen Fehlern macht die Kritik ein großes Wesen. Wesentlicher schon ist die Feststellung der Hannah Arendt, daß das Naziregime erst am 1. September 1939 offen totalitär wurde. Das ist falsch. Ebenso problematisch ist es in dem Buche, auf die jüdische Abstammung von Milch und Hans Frank hinzuweisen. Es handelt sich dabei um Gerüchte und nicht mehr, denn zu dieser Frage liegen keine Forschungen vor. In dem Falle Heydrich gibt es allerdings nach englischen Feststellungen aus dem Jahre 1962 eine ganze Reihe ziemlich eindeutiger Indizienbeweise, die „kaum mehr einen Zweifel daran erlauben, daß Heydrichs Großmutter mütterlicherseits Jüdin gewesen sein oder jüdisches Blut gehabt haben muß“. Aber wie es bei einem Redner darauf ankommt, was er eigentlich sagt und nicht darauf, ob er dabei eine Hand in seine Hosentasche steckt — also auf technische Formfehler —, so ist alles das für das Verstehen dieses Buches und der Auseinandersetzung mit ihm ohne Bedeutung.

Der „Eichmann in Jerusalem" der Hannah Arendt zeigt, daß die Vergangenheit auch bei den Juden nicht bewältigt ist. Es zeigt außerdem, daß der Mut, etwas zu sagen, nirgends ohne Gefahr ist, denn die Affäre Arendt ist mit Drohungen verbunden. Für das deutsche Publikum liegt hier eine ernste Erinnerung an die Zeitgeschichte vor, der man sich nicht wird entziehen können. Man sollte dieses „Anti-Stellvertreter" -Buch unbeeinflußt lesen, bevor eine Entstellungskampagne einsetzt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Mitarbeiter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", des „Rheinischen Merkur" und der verschiedensten Rundfunkanstalten. Träger des Theodor-Wolff-Preises für 1963 „für hervorragende journalistische Leistung". Mitglied der Gemeindevertretung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.