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über den Polyzentrismus | APuZ 9/1966 | bpb.de

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APuZ 9/1966 Das Ende der Nachkriegszeit über den Polyzentrismus Amerikas globales Engagement

über den Polyzentrismus

Raymond Aron

Das Wort „Polyzentrismus" ist nun in unsere Sprache eingegangen. Es ist ein nützliches, aber ein nicht völlig unzweideutiges Wort. Es bezeichnet ungefähr den Verlust der nahezu absoluten Autorität, die die Sowjetunion von 1945 bis 1953 innerhalb der kommunistischen Welt genoß oder die sie zumindest in den Augen westlicher Kommentatoren und Staatsmänner zu genießen schien. Rückblickend erscheint es zweifelhaft, ob Stalin nach 1949 jemals in der Lage war, Mao Tse-tung Befehle erteilen zu können, oder ob er sich jemals selbst dieser Illusion hingab. Vom Jahre 1950 an jedenfalls behandelte Stalin China als Großmacht, als etwas von den kommunistischen Ländern in Osteuropa grundsätzlich Verschiedenes. Seit 15 Jahren hat der sogenannte monolithische kommunistische Block zwei Häupter.

Zwei Zentren in der kommunistischen Welt

Mit dem Ausdruck Polyzentrismus werden zwei verschiedene Phänomene bezeichnet, die beide miteinander Zusammenhängen: der chinesisch-sowjetische Konflikt und die wachsende Selbständigkeit der osteuropäischen Länder gegenüber Rußland. Den Beginn des chinesisch-sowjetischen Konflikts genau zu bestimmen ist schwer; das zweite Phänomen trat zum erstenmal im Jahre 1956 auf, im Jahr des Aufstands in Polen und Ungarn.

Für die osteuropäischen Länder und für den Westen wurde der chinesisch-sowjetische Konflikt erst dann wirklich bedeutungsvoll, als er offen ausbrach und die Sprecher der beiden kommunistischen Großmächte sich gegenseitig Verrat an der kommunistischen Lehre vorzuwerfen begannen. Die ersten Schwierigkeiten zwischen Moskau und Peking sind vielleicht schon vor Stalins Tod aufgetreten. Im Jahre 1960 wurden sowjetische Techniker aus China zurückgezogen, aber der beleidigende Briefwechsel zwischen den beiden Zentralkomitees wurde im Jahre 1963 -— im Jahre des Vertrags über das Verbot der Kernwaffenversuche (5. August 1963) — veröffentlicht.

Ob sich der Polyzentrismus aus den ersten Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Peking oder erst aus der Auflösung der internationalen kommunistischen Bewegung entwickelte, ist im Grunde eine Frage der Definition. Wichtig ist nur die Tatsache als solche: Zwar gab es schon seit 1950 in der kommunistischen Welt zwei Zentren, aber der Polyzentrismus war erst von dem Tage an nicht mehr rückgängig zu machen, an dem jedes der beiden behauptete, im Besitz der einzigen gültigen Auslegung einer allgemeinen Wahrheit zu sein. Die Übertragung des Konflikts auf das ideologische Gebiet ver-wickelte die beiden Rivalen in eine Reihe von Widersprüchen. Wenn eine allgemeine Wahrheit widersprechende und miteinander unvereinbare Auslegungen zuläßt, hört sie auf, allgemein zu sein. Nimmt eine Partei das Recht in Anspruch, der anderen ihre Auslegung aufzuzwingen, spaltet sie diese unter dem Vorwand, sie zu einen. Die chinesischen Proteste gegen die Auflösung des Blocks fördern weitere Zersetzungserscheinungen. Die Sowjetunion bemüht sich — allerdings ohne Erfolg —, die Auflösung aufzuhalten, indem sie sie akzeptiert. Das wäre nur möglich, wenn die Chinesen sich damit einverstanden erklärten; das tun sie aber nicht. Vielleicht würden sich die Männer in Moskau weniger dagegen sträuben, eine Internationale zu akzeptieren, die lediglich eine Art Sammelstelle für den gegenseitigen Austausch wäre, wenn die Chinesen ihnen nicht Revisionismus vorwürfen. Die Ursprünge des Streites, der die Welt, in der der Marxismus-Leninismus die offizielle Staatslehre ist, gespalten hat, liegen nicht in den Aufständen in Polen und Ungarn im Jahre 1956. Sie waren nur eine Episode der Entstalinisierung. Die Nachfolger Stalins wollten oder konnten den Despotismus eines einzelnen nicht aufrechterhalten, der — um Montesquieus Ausdruck zu gebrauchen — keinem Gesetz gehorchte und durch Furcht herrschte. Sie waren bereit, die Beziehungen zwischen der UdSSR und den osteuropäischen Ländern umzugestalten, weigerten sich aber, die ungarische Revolution, ein Mehrparteiensystem oder Neutralitätserklärungen hinzunehmen. Die Niederschlagung der ungarischen Revolution hielt jedoch die Entwicklung zur Autonomie in Osteuropa nicht auf.

Nationale Selbstbehauptung in Osteuropa

Hier ergeben sich mehrere Fragen. Hat diese größere Autonomie in Osteuropa zu einer größeren Verschiedenheit der Innen-oder Außenpolitik der verschiedenen Regime geführt? In welchem Verhältnis stehen diese beiden Gebiete zueinander? Mit anderen Worten, ist die Außenpolitik dieser Staaten ein Ergebnis der Form, die der Sozialismus oder der sowjetische Kommunismus in den Ländern Osteuropas angenommen hat?

Wenden wir uns der letzten Frage zuerst zu. Es besteht kein sichtbarer Zusammenhang zwischen dem Grad der inneren Liberalisierung und der außenpolitischen Selbständigkeit. Rumänien, das als einziger Staat territoriale Ansprüche gegenüber der Sowjetunion anzudeuten wagte und das sich den Comecon-Plänen mit größerer Entschlossenheit widersetzt hat als alle anderen Länder, hat von allen Volksdemokratien weitaus am längsten gezögert, eine innenpolitische Liberalisierung durchzuführen.

Wenn die Entwicklung dieser Länder in den letzten Jahren überhaupt ein gemeinsames Merkmal aufgewiesen hat, so war es die nationale Selbstbehauptung. Ich gebrauche diesen vagen Ausdruck absichtlich, weil er eine Vielzahl heterogener Handlungen und Gefühle umfaßt. Alle diese Länder haben auf die eigene Kultur und die eigene Geschichte Gewicht gelegt. Sie haben den Versuch der Russifizierung zurückgewiesen und — mit unterschiedlicher Verve — auf intellektueller Ebene Beziehungen zum Westen ausgenommen. Sie haben alle den besonderen Charakter ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Probleme betont und die Möglichkeit gegensätzlicher Meinungen innerhalb der kommunistischen Länder durchaus anerkannt. Sie haben sich untereinander über die Bedingungen von Handelsabkommen gestritten.

Je schwächer Moskaus Autorität wurde, desto nationaler wurde der Sozialismus in diesen Ländern. Die Machthaber wollten trotz ihrer Bindung an eine universale Lehre als Vertreter einer bestimmten Nation handeln, die sich ihrer einzigartigen Vergangenheit bewußt ist, ihre Interessen sorgfältig wahrt und einen möglichst hohen Grad von Selbständigkeit gegenüber ihrem Beschützer anstrebt. Man könnte sogar auf dialektische Weise sagen, gerade die Verschiedenheit zwischen den kommunistischen Ländern sei der Ausdruck ihres gemeinsamen Schicksals, da sie die gleiche Nationalisierung des Sozialismus widerspiegele, die sie zusammenbringt, indem sie sie trennt (oder sie trennt, indem sie sie zusammenbringt). Aber, so wird man fragen, wie weit geht diese Verschiedenheit? Um diese Frage genau zu beantworten, müßte man über unmittelbare und detaillierte Kenntnisse der verschiedenen Länder verfügen. Einige allgemeine Beobachtungen können hier ausgezeichnet werden.

Unterschiede zwischen den Ländern Osteuropas

Eine Form der Verschiedenheit beruht auf den verschiedenen Entwicklungsstadien, die diese Länder durchschreiten. Rumänien und die Tschechoslowakei stellen zwei Extreme dar: Das eine Land befindet sich auf einer Industrialisierungsstufe, auf der einfache und autoritäre Planungsmethoden genügen, während das andere offenbar vor den gleichen Schwierigkeiten steht wie die Sowjetunion. Eine komplizierte Industriewirtschaft kann auf gewisse Preis-und Marktmechanismen einfach nicht verzichten, die die Doktrinäre zwar als untrennbaren Bestandteil des Kapitalismus abgelehnt haben, deren Notwendigkeit sie aber vielleicht bald einsehen, wenn sie auch ihre ideologische Bedeutung leugnen werden. Sozialistische Volkswirtschaftler wie der kürzlich verstorbene Oskar Lange behaupten seit langem, eine intelligente Planung müsse sich den Preismechanismus zunutze machen. In Ru-mänien hat sich die Liberman-Frage noch nicht erhoben, hingegen schon in Ungarn und in der Tschechoslowakei.

Eine zweite Art von Verschiedenheit — ebenfalls auf wirtschaftlichem Gebiet — betrifft die Bauern. Im Polen Gomulkas hat man dem Privateigentum an Grund und Boden noch eine lange Auslaufzeit gewährt. Die Wirkung dieser Toleranz mag sich statistisch nicht niederschlagen, aber es ist dennoch so, daß jede Regierung sich das Recht vorbehält, ihre Probleme — auch die des Grundeigentums — je nach den Verhältnissen und den eigenen Wünschen zu regeln.

Eine dritte Form der Verschiedenheit betrifft das politisch-geistige Gebiet. Was kann der Intellektuelle in diesen Ländern schreiben oder sagen, ohne sich selbst zu gefährden? Welches Risiko geht er ein, wenn er die auf jeden Fall ungenau gezogenen Grenzen der ihm gewährten Freiheit überschreitet? Zwar wird nirgendwo das Regime offen in Frage gestellt, aber die stalinistische Disziplin, die jeden zwang, in die Wahnsinnstiraden des Despoten im Kreml begeistert einzustimmen, hat sich nirgendwo gehalten.

Schlußfolgerungen

Hieraus lassen sich drei Schlüsse ziehen: Erstens, daß die wirtschaftlidi-politischen Regimes der osteuropäischen Länder noch immer der gleichen Gattung angehören und daß die Verschiedenheiten, die in den vom Regime untrennbaren Institutionen (Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln, Planwirtschaft, Einparteisystem) auftreten, den Kern noch nicht berühren. Das politische Leben konzentriert sich nach wie vor auf eine Partei, die nicht den wahren Geist der Gesellschaft repräsentiert. Die Planer fangen erst an, Konzessionen an den Verbraucher zu machen, und wissen noch nicht, wie die Marktmechanismen, deren Notwendigkeit sie zu ahnen beginnen, einzusetzen sind. Die osteuropäischen Länder sind einander ähnlicher als die westeuropäischen, die ebenfalls ein gemeinsames wirtschaftliches und politisches System haben.

Der zweite Schluß geht dahin, daß das ursprüngliche nationale Eigenwesen der verschiedenen Länder durch die vorübergehende Herrschaft der Sowjetunion nicht zerstört worden ist. Warschau und Prag haben ihre ausgeprägte Eigenart behalten. Was das kulturelle Klima betrifft, fällt es mir schwer zu sagen, worin es eigentlich besteht. In Warschau habe ich das Gefühl, im gleichen kulturellen Klima zu leben wie in Paris, während die Luft, die ich in Moskau atme, anders ist. Bauten, reli-giöse Traditionen, der Stil der persönlichen Beziehungen, manche gewichtige Tatsachen ebenso wie scheinbar unbedeutende Einzelheiten tragen alle dazu bei, einen undefinierbaren, aber nachhaltigen Eindruck hervorzurufen. In dieser Hinsicht kann man sagen, Nationalitäten bleiben bestehen, politische Regimes vergehen.

Die dritte Folgerung betrifft das radikale Mißlingen der Pläne der Sowjetunion in Osteuropa. Es ist ihr nicht gelungen, das Gebiet zu russifizieren oder die Völker zum Marxismus-Leninismus zu bekehren oder sie von den Vorteilen der Institutionen zu überzeugen, die in Rußland seit 1917 aufgebaut worden sind. Gewiß, keine der kommunistischen Parteien in Osteuropa kritisiert diese Institutionen als solche, denen sie ihre ganze Macht verdanken; aber sie alle, die sie im Troß fremder Armeen in ihr Land zurückgekehrt sind (mit Ausnahme der Minderheit, die im eigenen Land gegen die Nationalsozialisten gekämpft hat), haben in den letzten zehn Jahren versucht, ihre Selbständigkeit zu beweisen, um ihren moralischen Einfluß auf ihre Völker zu stärken. Die Anerkennung, die ihnen im eigenen Lande zuteil wird, richtet sich danach, wie weit sie national, bewußt national sind oder erscheinen, und nicht danach, wie weit sie ihren Marxismus-Leninismus unter Beweis stellen.

Es geht um die Herrschaft im Weltkommunismus

Während des Kalten Krieges der Jahre 1949 bis 1953 glaubte der Westen, in Europa einem einzigen Feind — bestehend aus einem Staat und seinen Satelliten — gegenüberzustehen. In Asien wußte er seit dem Krieg in Korea, daß China kein Satellit, sondern ein Verbündeter der Sowjetunion ist. Dennoch verhielt sich der Westen lange Zeit so, als hätten diese Verbündeten, die sich in der Grundfrage — nämlich der Feindschaft gegen den Westen — einig sind, eine gemeinsame Strategie. Diese Annahme ist im Augenblick offensichtlich falsch. Nicht nur verfolgen China und die Sowjetunion in allen Teilen der Welt eine eigene Politik, sondern jede der beiden kommunistischen Großmächte legt der Rivalität, die zwischen ihnen aufgetreten ist, größte Bedeutung bei — eine Bedeutung, die zur Zeit sogar größer sein mag als die, die der grundsätzlichen oder ideologischen Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten oder dem „Imperialismus" beigemessen wird.

Es ist zwar richtig, daß es bei dem chinesisch-

sowjetischen Konflikt ursprünglich um die Wahl der richtigen Strategie gegenüber nationalen Befreiungskriegen, gegenüber der Dritten Welt und gegenüber dem Westen ging. Jedenfalls gehörte diese Frage zu denen, über die sich die Russen und Chinesen stritten. Aber selbst wenn dies ursprünglich eine der Hauptfragen gewesen sein sollte, so haben sich ihr Charakter und ihre Bedeutung geändert. Jetzt geht es um die Beherrschung der kommunistischen Bewegung. Hier hat sich die Sowjetunion in einen Widerspruch verwik-kelt. Sie will und kann von der ideokratischen Natur ihres Staatswesens nicht abrücken und will nicht zugeben, ein Staat „wie jeder andere Staat" mit nationalen Interessen zu sein, denn ein solches Zugeständnis würde die Grundlagen des Regimes untergraben. Da die Sowjetunion marxistisch-leninistisch ist, muß sie der Feind der Vereinigten Staaten und aller kapitalistischen Länder sein, auch wenn sie eine friedliche Koexistenz anerkennt. Sie fürchtet, daß China allmählich ein Monopol auf den revolutionären Gedanken erwerben wird.

Theoretisch stehen den Moskauer Führern zwei Wege aus diesem Dilemma offen: Sie können entweder versuchen, sich — zumindest in Worten — ebenso gewaltig zu gebärden wie Peking, oder sie können trotz chinesischer Beleidigungen weiterhin eine Außenpolitik der friedlichen Koexistenz betreiben und Peking ausmanövrieren, indem sie alles auf die Karte der Mäßigung setzen. Das heißt, die Männer in Moskau können sich revolutionärer gebärden als die Männer in der Verbotenen Stadt oder sie können versuchen, diese in den Augen der Welt als gefährliche Unruhestifter zu diskreditieren.

Chruschtschows Nachfolger haben sich ebenso wie dieser selbst offensichtlich zu dem zweiten Weg entschlossen. Sie haben trotz der Ereignisse in Vietnam an dieser Politik festgehalten, und alles deutet darauf hin, daß die innere Logik der Rivalität mit den Dogmatikern in Peking stärker ist als die Feindschaft gegen die kapitalistische Welt. Wahrscheinlich ist ihnen eine nicht-marxistisch-leninistische Regierung lieber als eine marxistisch-leninistische Regierung chinesischer Prägung.

Es ist möglich, daß die Chinesen diese Dinge ebenso sehen. Im Augenblick haben sie nicht die nötige materielle Stärke, um offen gegen die Vereinigten Staaten zu kämpfen. Wahrscheinlich treiben sie die Nordvietnamesen an, den Kampf zu Ende zu führen, der eine Annäherung zwischen UdSSR und den USA behindert. Sie prangern die unzureichende Unterstützung an, die die Sowjetunion einem sozialistischen Staat zukommen läßt, der das Opfer einer imperialistischen Aggression geworden ist. (Sie selbst unterstützen Nordvietnam auch nicht mehr als Moskau, aber darauf können sie mit dem Hinweis entgegnen, daß sie keine einsatzbereiten Atombomben haben.) Wahrscheinlich glauben sie, daß die Vereinigten Staaten, die sich in einem Landkrieg in Asien festgefahren haben, dadurch materiell und mehr noch moralisch geschwächt werden. Der Sowjetunion wäre eine Kompromißlösung wahrscheinlich am liebsten, wenn sie damit in den Augen der Welt an Ansehen gewönne.

Trümpfe der beiden Rivalen

In dieser Rivalitätssituation hält jede der beiden kommunistischen Großmächte Trümpfe in der Hand. China ist den „proletarischen“ Nationen näher. Es spricht eine Sprache, die von Parteien, die gewaltsame Maßnahmen anstreben, besser verstanden wird. In den meisten Parteien der Länder der Dritten Welt — vor allem in Asien und in Parteien, die noch in der Opposition sind — gibt es „chinesische" oder „castristische" Gruppen (teils verbündete, teils miteinander rivalisierende) oder es wird sie bald geben. Praktisch hat die Mehrheit der Länder der Dritten Welt, die ihre Treue zum Sozialismus, aber nicht zum Marxismus-Leninismus proklamieren, sich stets für eine friedliche Koexistenz ausgesprochen; sie haben die beiden Großmächte gebeten, zusammenzuarbeiten und nicht gegeneinander zu kämpfen. Bei den nichtgebundenen Ländern ist Moskaus Linie nicht unbedingt unbeliebt. Alles deutet darauf hin, daß der Konkurrenzkampf zwischen Moskau und Peking noch lange andauern wird. Die westlichen Länder, die weniger denn je eine gemeinsame Politik betreiben, stehen nicht einem kommunistischen Block, sondern zwei strategischen Konzeptionen gegenüber, von denen die eine in Moskau, die andere in Peking ausgearbeitet wird, von den zahlreichen Konzeptionen der europäischen und asiatischen Länder ganz zu schweigen, die mehr oder weniger den Anspruch erheben, marxistisch-leninistisch zu sein.

Die kommunistischen Parteien in Asien würden sicher gern dem Beispiel der osteuropäischen Länder folgen und die chinesisch-sowjetische Spaltung dazu benutzen, sich eine gewisse Bewegungsfreiheit zu verschaffen. (Bei den Nordkoreanern gibt es bereits Anzeichen für diese Entwicklung.)

Wie echt ist diese Bewegungsfreiheit in Osteuropa? Die beiden Blocks haben sich stets vorwiegend mit europäischen Angelegenheiten befaßt. Sie wurden geschaffen durch die symbolische Begegnung russischer und amerikanischer Soldaten im Herzen des alten Kontinents. Sie sind nicht verschwunden; zu der Teilung Deutschlands und Europas kam 1961 die Mauer, die Berlin teilt, hinzu. Noch immer stehen sich russische und westliche Soldaten am Potsdamer Platz gegenüber. In der alten Hauptstadt des Reiches hat die Bezeichnung „der Westen" noch die frühere Bedeutung. Wie auch immer die Beziehungen zwischen Paris und Washington sind, Franzosen und Amerikaner handeln gemeinsam und erörtern gemeinsam ihre Pläne, wenn es um das geht, was die Russen „die Folgen des zweiten Weltkrieges" nennen — das heißt letztlich um die deutsche Frage. Stehen sie dem sowjetischen Block oder lediglich der Sowjetunion gegenüber?

Differenzierte außenpolitische Handlungsfreiheit der osteuropäischen Länder

Es mag zunächst nützlich sein, im Falle der osteuropäischen Länder drei Bereiche der Außenpolitik zu unterscheiden: erstens den Handel und den Kulturaustausch mit dem Westen, zweitens die Politik in bezug auf die Dritte Welt und die Vereinten Nationen und drittens die deutsche oder europäische Frage. Die hier benutzte Rangordnung ist absichtlich — es ist die Rangordnung abnehmender Bewegungsfreiheit für die Länder Osteuropas. Rumänien betreibt seine eigene Handelspolitik und seine eigene Politik des kulturellen Austausches. Es hat die Direktiven des Comecon nicht akzeptiert, und seine Partner — Brüder im Sozialismus — haben sich nicht besonders bemüht, es dazu zu zwingen. Die Regierungen in Osteuropa entscheiden je nach den Umständen und ihren eigenen Bedürfnissen, wie ihre Handelsbeziehungen und kulturellen Beziehungen zum Westen aussehen sollen. Zugegeben, die Regierungen bzw. die kommunistischen Parteien sind weder hinsichtlich des Handels noch der kulturellen Beziehungen wirklich frei, denn ein Minimum an ideologischer Disziplin muß stets gewährleistet sein. Außerdem sind diese Länder wirtschaftlich in vieler Hinsicht miteinander verflochten, so daß die Sowjetunion es nicht nötig hat, Zwang oder Drohungen zu benutzen, um das so geschaffene System zu sichern. Für die Staaten Osteuropas wäre es ebenso schwierig, sich aus diesem System zu lösen, wie für die westeuropäischen Länder, aus dem Gemeinsamen Markt oder der Freihandelszone auszuscheiden. Jedem Land wird eine echte, wenn auch geringe Autonomie gewährt.

Es ist nicht einfach, zwischen den beiden Formulierungen „Auflösung des Sowjetblocks in Europa" oder „Stabilisierung des Blocks auf Grund der Duldung der nationalen Autonomie" zu wählen. An Argumenten zugunsten der Auflösungstheorie fehlt es nicht. Seit zwanzig Jahren unterdrückte Territorialansprüche werden wieder laut. Rumänien hat Bessarabien und Ungarn Transsylvanien nicht vergessen. Innerhalb des Comecon und anderer kommunistischer Gremien setzt jeder Staat seinen Stolz darein, seine nationalen Interessen zu verteidigen. Die Sowjetunion läßt rumänische Anspielungen auf Bessarabien ebenso stillschweigend hingehen wie chinesische Erklärungen über die Fernostgebiete. Die Nachfolger von Stalins Nachfolger rufen keine Angst mehr hervor. Haben die Männern im Kreml die für die Herrscher eines imperialistischen Staates unerläßliche Eigenschaft, den Willen zu herrschen, verloren?

Andererseits kann man sagen, daß diese Duldung des Nationalismus das Wesentliche — zumindest in Europa — nicht gefährdet. Stalinistische Methoden konnten einen Stalin nicht überleben. Wenn nun schon dem russischen Imperialismus dadurch Halt geboten wurde, daß die osteuropäischen Völker der Unterwerfung unter die russische Herrschaft Widerstand entgegensetzten, so mag vielleicht das Regime der lizensierten Freiheit, wie es jetzt provisorisch errichtet worden ist, den sowjetischen Interessen und auch der kommunistischen Bewegung am besten dienen. Gerade wegen der Auflösung des Sowjetblocks werden sich den beiden größten kommunistischen Parteien Westeuropas, besonders der italienischen, in den kommenden Jahren neue Möglichkeiten eröffnen. Bisher haben sie die Übernahme des in der Sowjetunion herrschenden Regimes und die Unterwerfung unter die UdSSR vertreten. Jetzt können ihre Propagandisten in Italien ebenso wie in Frankreich (vorausgesetzt, daß die französische KP wieder zum Leben erwacht) behaupten, daß weder das eine noch das andere mehr in Frage kommt. Die marxistisch-leninistischen Kirchen werden allmählich „autokephal", so wie einst die orthodoxen Landeskirchen „autokephal", das heißt von ihrem Oberhaupt, dem Patriarchen von Konstantinopel, unabhängig wurden.

Es sieht nicht so aus, als verfolge irgendein osteuropäisches Land bei den Vereinten Nationen oder in der Dritten Welt eine Außenpolitik, die sich wesentlich von der der Sowjetunion unterscheidet, wenn auch das eine oder das andere Land gelegentlich anders stimmt als die UdSSR. Soweit man es beurteilen kann, geht die tschechoslowakische oder ostdeutsche Entwicklungshilfe weniger auf eigene Initiative als auf eine gemeinsame oder zumindest aufeinander abgestimmte Politik zurück. Jedenfalls ist keines dieser Länder stark genug, um eine beherrschende Rolle auf der Weltbühne zu spielen, und wäre es auch dann nicht, wenn es größere Handlungsfreiheit hätte. Die osteuropäischen Länder werden also alle gebunden bleiben und sich nicht wie Jugoslawien zu den nichtgebundenen Ländern gesellen. Solange sich die jetzige internationale Konstellation hält, sitzen dort die kommunistischen Parteien fest im Sattel, um so mehr als die Sowjetunion ihnen räumlich so nahe ist und sie ihr ein wenig spektakulären Widerstand leisten. Es geht ihnen sowohl um die Aufrechterhaltung dieses Systems wie um ein Maximum an Autonomie innerhalb des Systems. Die meisten dieser Länder oder sogar alle fürchten Deutschland und die deutsche Wiedervereinigung, über diese eine weltpolitische Frage, die sie alle unmittelbar angeht, sind sie sich spontan einig. Wenn die Moskauer Führer den Westen bitten, die DDR „anzuerkennen", haben sie keine Schwierigkeit, die Unterstützung Warschaus und Prags zu bekommen. Die Teilung Deutschland, der territoriale Status quo, ist keine Lösung auf lange Sicht. Aber den Polen und Tschechen scheint jede Änderung des Status quo große Gefahr in sich zu bergen.

Wir kommen also zu der Folgerung, daß die chinesisch-sowjetische Spaltung bei den beiden Weltmächten, die sich marxistisch-leninistisch nennen, zu zwei verschiedenen politischen Haltungen geführt hat. Die Autonomie der osteuropäischen Staaten — an sich schon eine Widerspiegelung des Polyzentrismus — eröffnet neue Perspektiven für die Zunkunft, hat aber noch keine entscheidende Änderung der politischen Konstellation hervorgerufen und wird das auch nicht tun, solange es keine allgemeine europäische Lösung gibt. Ob sie es will oder nicht: die Sowjetunion läßt jedem dieser Länder eine gewisse Handlungsfreiheit — nicht nur hinsichtlich ihrer innenpolitischen Angelegenheiten, sondern auch in bezug auf ihre Handels-und Kulturbeziehungen zum Westen. Diese Freiheit kann ohne Gefahr gewährt werden, denn solange sich Russen und Amerikaner in Berlin und Europa gegenüberstehen, kann niemand im Osten oder im Westen subversive Gedanken oder aufsehenerregende Vorschläge in die Tat umsetzen.

Autorität der Führungsmächte in Frage gestellt

Seit 1947 finden internationale Beziehungen ganz natürlich in drei getrennten Sphären statt: Diplomatie innerhalb der Blocks, Diplomatie zwischen den Blocks und Diplomatie zwischen den Blocks und den nichtgebundenen Ländern. Am Schluß dieses Aufsatzes mag es nützlich sein, kurz auf einige der ins Auge fallenden Folgen des Polyzentrismus in jeder dieser drei Sphären einzugehen.

Innerhalb des sowjetischen Blocks hat der Konflikt mit China allmählich eine Gestalt angenommen, die man mit einem Streit zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb einer einzelnen kommunistischen Partei vergleichen kann. Die „Chinesen" und die „Russen" tun wie einst die Bolschewiki und die Menschewiki ihr möglichstes, um die Zögernden für sich zu gewinnen. An der Oberfläche sieht alles so aus, als gehe es darum, wie man bei den Kongressen die Mehrheit gewinnen kann. In Wirklichkeit aber geht es um anderes. Die kommunistischen Parteien, die heute in Polen oder Albanien die Macht haben, sind nicht dasselbe wie Gruppen innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im Jahre 1900 oder der italienischen KP im Jahre 1965. Die Spaltung ist von ganz anderer Art. Die russischen Führer sind bestrebt, so viele kommunistische Parteien wie möglich auf ihre Seite zu ziehen. Diese Parteien, die in ihren Ländern an der Regierung sind, nehmen an einem gewaltigen Wettkampf teil, bei dem der Preis die Führung innerhalb der kommunistischen Bewegung —• gleichgültig, ob sie in Moskau oder in Peking liegt — und der Einfluß auf diese Bewegung ist. Diese Freiheit, gebunden oder nicht gebunden zu sein, mag für die Völker dieser Länder wenig interessant sein, verleiht aber den Führern das Gefühl, selbständig und wichtig zu sein.

Innerhalb des westlichen Blocks wird die Autorität Washingtons genauso in Frage gestellt; aber die im wesentlichen von Frankreich stammende Herausforderung wurde zwar durch den Polyzentrismus im sowjetischen Block gestärkt, hatte aber nicht in diesem Phänomen ihren Ursprung. General de Gaulle ist immer gegen die „amerikanische Hegemonie" und gegen eine militärische Integration in der NATO gewesen, hat stets Verpflichtungen auf Dauer abgelehnt und immer eine möglichst große Handlungsfreiheit in bezug auf alle anderen Länder, seien es verbündete oder feindliche, angestrebt. Vor dem offenen Bruch zwischen Moskau und Peking hat er häufig von einem Europa „vom Atlantik bis zum Ural" gespro-dien. Die Teilung Europas in zwei Einflußbereiche, von denen jeder durch das innenpolitische Regime der Länder, die er umfaßt, bestimmt wird, ist für de Gaulle ein Vermächtnis von Jalta und außerdem widernatürlich und damit aus beiden Gründen abzulehnen. Es ist widernatürlich, das Bündnisse vom Charakter des Regimes und nicht vom nationalen Interesse bestimmt werden. Wenn Frankreich in einen „Einflußbereich" eingeschlossen wird, kann es seine Mission in der Welt nicht erfüllen. Es erhebt sich also die Frage, ob die gaullistische Außenpolitik mit der der osteuropäischen Staaten übereinstimmt oder nicht. Wird nicht der Versuch, das Europa der Sechs oder alle Staaten Westeuropas zu einigen, durch die Einigung des ganzen Europa zum Anachronismus? Kurzum, hat nicht das gaullistische Schlagwort „vom Atlantik bis zum Ural" einen echten Wahrheitsgehalt in dem Sinne, daß es tatsächlich realisierbar ist? Oder wird es noch einige Jahre eine philosophische These oder eine historische Prophezeiung bleiben?

Seit Chruschtschows Sturz ist das Interesse des Kremls für Frankreich gewachsen. Die Regierungschefs von Rumänien, Ungarn und Polen sind in Paris gewesen. Dennoch geht das alles nicht über Besuche und Gespräche hinaus. Nähert sich die Stunde echter Verhandlungen? Ich glaube nicht. Werden die osteuropäischen Staaten in der Lage sein, vereint zu bleiben und eine gemeinsame Front aufrechtzuerhalten, wenn die Zeit für Verhandlungen über die Deutsche Frage und den Abzug sowjetischer und amerikanischer Streitkräfte kommt? Ich bezweifle es. Seit zwanzig Jahren haben alle Europäer die Wahrheit eines echt französischen Ausspruch begriffen —„Nichts ist dauerhafter als das Provisorium“. Der französische Skeptiker würde noch hinzufügen, auch das Provisorium ist nur dann dauerhaft, wenn Tag für Tag behauptet wird, es könne nicht dauern.

Polyzentrismus hat Spannungen in Europa vermindert

Wie dem auch sei, der Polyzentrismus in Europa hat immer dazu beigetragen, die Spannungen der Gegenwart zu mindern und die Hoffnung auf eine echte Befriedung zu wecken. Seit der Kuba-Krise im Herbst 1962 und der sowjetischen Akzeptierung des Status quo in Berlin tun die Westeuropäer nicht einmal mehr so, als fürchteten sie eine sowjetische Aggression. Auseinandersetzungen über nukleare Strategie haben ihre Bösartigkeit verloren und füllen nicht mehr die erste Seite der Zeitungen. Jedermann glaubt sozusagen intuitiv, daß die Sowjetunion, in Asien durch die territorialen Ansprüche und ideologischen Prätentionen der Chinesen bedroht, kein anderes Ziel hat, als die Sicherheit ihrer westlichen Grenzen aufrechtzuerhalten.

In der Dritten Welt, besonders in Asien, hat der Polyzentrismus genau die entgegengesetzte Wirkung gehabt. Weder der Krieg in Vietnam noch der Krieg zwischen Indien und Pakistan ist von China provoziert worden. Kein chinesischer Soldat hat daran teilgenommen. Aber der erste dieser Kriege würde nicht so lange dauern und der zweite wäre nicht ausgebrochen, wenn die chinesische Außenpolitik anders gewesen wäre, als sie ist — heftig, wenn sie vom „amerikanischen Imperialismus" spricht, geschickt, wenn sie sich der diplomatischen Mittel und nicht der Gewalt bedient, sich auf die Seite Pakistans stellt und Indien demütigt, um den Streit um Kaschmir zu verschärfen.

Ganz Südost-Asien droht das Chaos, weil an die Stelle der von den Großmächten garantierten Ordnung von gestern keine neue stabile Ordnung getreten ist. Dort wo die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten sich unmittelbar gegenüberstehen, hat diese „zweigleisige Hegemonie" wenigstens eine scheinbare Ordnung hergestellt. Die Rivalität zwischen China und der Sowjetunion schürt örtliche Konflikte, ohne die kommunistisch-anti-kommunistische Konfrontation auszuschließen. Die beiden Großmächte stehen einander nicht mehr feindlich genug gegenüber, um ihren jeweiligen Verbündeten eine Art von Disziplin aufzuzwingen, aber ihre Interessen gehen auf vielen Gebieten immer noch zu weit auseinander, als daß sie in Südostasien oder sonstwo gemeinsam herrschen könnten. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen ist das außen-politische System immer noch bipolar, aber die militärischen Möglichkeiten der beiden Weltmächte sind bedeutend größer als ihre Fähigkeit, etwas mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Je mehr die Zahl der kleinen Kriege wächst, um so mehr nimmt die Angst vor einem großen Krieg ab. Diese Welt von wachsender Kompliziertheit verspricht für den analysierenden Theoretiker ein Paradies und für den Staatsmann eine Hölle zu werden. In ihr wird der Theoretiker seinen Einfallsreichtum zur Schau stellen und der Staatsmann die Grenzen seiner Macht erkennen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Raymond Aron, Professor für Soziologie an der Sorbonne und Journalist; geb. 14. März 1905 in Paris. Veröffentlichungen u, a.: Introduction ä la Philosophie de l'histoire; La Sociologie allemande contemporaine (deutsch: Deutsche Soziologie der Gegenwart, Stuttgart 1953); Les guerres en chaine, 1951 (deutsch: Der permanente Krieg, Frankfurt 1953); Espoir et peur du siecle, 1957; L'opium des intellectuelles (deutsch: Opium für Intellektuelle, Köln 1957); Frankreich in der modernen Welt, Ebenhausen 1960; Paix et guerres entre les nations, 1962 (deutsch: Frieden und Krieg, Frankfurt 1962); Le grand debat, Paris 1963 (deutsch: Einführung in die Atomstrategie — Die atlantische Kontroverse, Köln 1964); Die industrielle Gesellschaft, Frankfurt 1964.