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Die sowjetische Gesellschaft -ideologische Grundlagen und reale Struktur | APuZ 7/1969 | bpb.de

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APuZ 7/1969 Die sowjetische Gesellschaft -ideologische Grundlagen und reale Struktur Der sowjetische Staat und die Kirche Die Lage der Russisch-Orthodoxen Kirche seit dem Ende der fünfziger Jahre Schüler und Studenten in der Sowjetunion

Die sowjetische Gesellschaft -ideologische Grundlagen und reale Struktur

Karl-Heinz Ruffmann

Abweichungen des Sowjetkommunismus von der Marx’schen Sozial-und Wirtschaftslehre

Gerhard Simon: Der sowjetische Staat und die Kirche Borys Lewytzkyj: Schüler und Studenten in der Sowjetunion S. 11 31 S.

Im Juli 1956, wenige Monate nach dem XX. Parteikongreß der KPdSU, der durch Chruschtschows Verdammung Stalins so großes Aufsehen erregte, stellte das Zentralkomitee der Partei in einer offiziellen Verlautbarung fest: „Die sowjetische Gesellschaft ist in ihrer Entwicklung zwar durch den Stalinismus gehemmt, nicht aber verändert worden". Das ist ein wichtiges Zeugnis des modernen kommunistischen Selbstverständnisses. Es besagt, daß die nicht zuletzt von und unter Stalin geprägte sowjetische Gesellschaftsstruktur und-Ordnung ideologisch einwandfrei und ihre Entwicklung grundsätzlich und im wesentlichen entsprechend den Gesetzen des historischen Materialismus verlaufen sei. Die tiefgreifenden Veränderungen, die dabei im einzelnen stattgefunden haben, erscheinen nicht als Abweichungen von dem durch die Ideologie vorgezeichneten Weg, sondern als legitime Wandlungen, zu denen sich die Parteiführung auch in der Nach-Stalinzeit ausdrücklich bekennt.der gleichen Linie liegt eine Feststellung Mao Tsetungs in seiner bekannten Rede „Laßt hundert Blumen blühen" von 1957, wonach nicht das System der sowjetischen Gesellschaft schuld an der stalinistischen Entartung gewesen sei, sondern die falsche Interpretation, die Stalin dieser Gesellschaft gegeben habe.

Gemeint ist Stalins — angebliche oder tatsächliche — Fehldeutung jenes einst wie heute für alle Marxisten-Leninisten gültigen und unbedingt verbindlichen Leitbildes ihrer Ideologie, das auf die Errichtung einer klassenlosen, herrschaftsfreien und damit kommunistischen Sozial-und Wirtschaftsordnung einschließlich deren Verwirklichung im Weltmaßstab abzielt. Der Urheber des Leitbildes war Karl Marx. Ihm ging es um die „Selbstverwirklichung", d. h. um den Gewinn vollkommener Freiheit und Gleichheit, absoluter Gerechtigkeit und ewigen Friedens für den in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung „entfremdeten", d. h. in jeder Beziehung ausgebeuteten, unterjochten und unfreien Menschen. Ermöglichen sollte das neue menschliche Para-dies auf Erden eben die klassenlose Gesellschaft. Ihre Herstellung wiederum setzte voraus: 1. die proletarische Revolution, d. h. eine politische und soziale Umwälzung, die getragen und durchgeführt wird von dem aus eigener Kraft erstmalig zu einem völlig adäquaten Bewußtsein der Bedeutung und Tragweite seines Handelns gelangten Proletariat in seiner Gesamtheit; 2. die Aufhebung der aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden kapitalistischen Eigentumsordnung, d. h.seine Überführung in allgemeines, sozialistisches und kommunistisches Volkseigentum auf dem Wege der uneingeschränkten und bedingungslosen Vergesellschaftung; 3. die Beseitigung aller Formen der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der mit dieser Herrschaft verbundenen Klassenstruktur, gipfelnd im Absterben des Staates als des wichtigsten und stärksten Herrschaftsinstruments in der bisherigen Klassengesellschaft; 4. die Überwindung der Arbeitsteilung.

Lenin und seine Nachfolger bis hin zu den modernen sowjetrussischen Kommunisten fußen auf einigen nicht unwesentlichen Bestandteilen dieser Marx'schen Konzeption und Zukunftsvision. Besonders eng erscheint die Anlehnung im gegenwärtigen gültigen Parteiprogramm der KPdSU vom November 1961. Die dortige Definition der kommunistischen Endgesellschaft lautet: „Kommunismus ist eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen werden und wo das große Prinzip herrschen wird: . Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.'— Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewußtsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewußt gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem größten Nutzen für das Volk anwenden wird".

Den kritischen Betrachter können derartige Aussagen freilich keinen Augenblick lang darüber hinwegtäuschen, wie sehr Lenin und seine Anhänger das Marx’sche Konzept verändert, ja verwandelt haben — und das ganz unabhängig davon, daß sich die von Lenin zunächst sogar geteilte Auffassung von der Aufhebbarkeit der Arbeitsteilung im Zuge des unaufhaltsamen Technisierungs-und Spezialisierungsprozesses beim Entstehen der modernen Industrie-gesellschaften einfach als illusionär erwies. Die substantiell wichtigsten, bis heute unverändert erhaltenen Abweichungen des Sowjet-kommunismus von der ursprünglichen Marx'-schen Sozial-und Wirtschaftslehre lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:

1. Proletarische Revolution und klassenlose Gesellschaft sind — das ergibt sich beinahe zwangsläufig aus der Parteidoktrin Lenins — nur erreichbar mit Hilfe bzw. unter Anleitung einer proletarischen Elite, die allein alle Macht in Händen hält. Lenins Partei neuen Typs ist der eigentliche Träger, das Proletariat ausschließlich Objekt und Instrument des angestrebten sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses. 2. Nicht die innere Änderung des Menschen, die nach Marx ebenso spontan wie selbstverständlich beim Wegfall der Klassengesellschaft und der staatlichen Zwangsgewalt eintritt, sondern die — wiederum von der Partei hervorgerufene, gelenkte und kontrollierte — bewußte Umformung des menschlichen Bewußtseins mit dem Ziel der Schaffung eines neuen kollektivistischen Menschentyps, in Gestalt des „homo sovieticus", ist Grundvoraussetzung für und Hauptaufgabe bei der Errichtung der kommunistischen Endgesellschaft, und selbst dann bleibt, während der Staat in fernerer oder näherer Zukunft absterben mag, die Partei als oberste gesellschaftliche Entscheidungsund Weisungsinstanz, als Wächter über das richtige Bewußtsein des allseitig entwickelten Menschen und als Regulator seiner „gesunden, vernünftigen Bedürfnisse" unter allen Umständen weiter bestehen. Den ausdrücklichen Beleg dafür liefert einmal mehr das Parteiprogramm der KPdSU vom November 1961, das mit dieser Forderung sogar über Lenin und Stalin hinausgeht. 3. Hauptbestimmungsgrund und Motor auf dem Wege zum kommunistischen Endziel ist nicht der im Problem der Entfremdung und der Selbstverwirklichung des Menschen zum Ausdruck kommende humane Ansatz von Marx, sondern die Verwirklichung eines möglichst raschen Wirtschaftswachstums mit dem Ziel, „die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ökonomisch einzuholen und zu überholen". Hinter dieser 1917 von Lenin ausgegebenen und bis heute gültigen Parole stand und steht das eindeutige Bestreben, die politische Macht Sowjetrußlands durch wirtschaftliche Macht zu sichern und zu stützen. Charakter und Inhalt des angestrebten Wirtschaftspotentials aber sind durch den grundsätzlichen und bis heute absoluten Vorrang des Aufbaus der Schwerindustrie und der Produktion von Investitionsgütern vor der Bedarfs-anerkennung und der Erzeugung von Konsumgütern gekennzeichnet. Gewährleisten soll diese ambitiöse polit-ökonomische Zielsetzung das Lenkungssystem der zentralen staatlichen Planung aller Wirtschaftsvorgänge, einschließlich der staatlichen Festsetzung der Entlohnung sämtlicher Arbeitskräfte im Rahmen der Planungsordnung.

Entscheidende gesellschaftliche Strukturveränderungen erst unter Stalin

Die spezifische wirtschaftliche und soziale Lage Rußlands als eines ausgesprochenen Entwicklungslandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts (mit einer immer noch dominierenden agrarischen Grundstruktur einerseits und einer zahlenmäßig kleinen, jedoch recht dynamischen Industriearbeiterschaft andererseits) erlaubten bzw. erleichterten die Einführung eines so gearteten Wirtschaftssystems, das von Anfang an auf zwei Grundpfeilern ruhte und noch heute ruht: nämlich der Sozialisierung, meist Nationalisierung sämtlicher Produktionsmittel, angefangen vom agrarischen über den handwerklichen bis hin zum industriellen Bereich, und der zentralen Planung und Steuerung aller Wirtschaftsvorgänge. Was Sowjetrußland dabei geradlinig und konsequent auf den Weg des Aufbaus einer modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft wies, war die Marx'sche Auffassung vom industriellen Proletariat als dem künftigen Träger der Menschheitsgeschichte und der damit verknüpfte Industrie-Optimismus sowie Lenins bekannte Formel „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung".

Die entscheidenden gesellschaftlichen Strukturveränderungen sind indessen nicht schon unter Lenin, sondern erst unter Stalin vollzogen worden. Bis weit in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre unterschied sich die soziale Gliederung der jungen sowjetischen Gesellschaft nicht wesentlich von der des späteren Zarenreiches. Gegenüber 1913 hatte sich 1928 der Anteil der Arbeiter und Angestellten an der erwerbstätigen Bevölkerung von 16, 7% auf 17, 3% und der Einzelbauern und Heimarbeiter von 65, 1 % auf 72, 9 % erhöht, während der Anteil der „Kapitalisten" (d. h. im wesentlichen der alten Oberschicht) von 15, 9 % auf 4, 5 % gesunken war. Daß die soziale Verschiebung, soweit sie stattgefunden hatte, vornehmlich dem Bauerntum zugute gekommen war, äußerte sich auch in der beträchtlichen Zunahme an Bauernhöfen (von 16, 5 Mill. 1918 auf 25, 9 Mill. 1929), wobei ein Erstarken der groß-und mittelbäuerlichen Schicht (Kulaken) interessanterweise Hand in Hand ging mit einem ständigen Rückgang der durchschnittlichen Betriebsgröße. 1928 waren nur 1, 7 % der landwirtschaftlichen Betriebe genossenschaftlich organisiert.

Angesichts einer solchen Entwicklung ist unschwer erkennbar, was es für die gesellschaftliche Ordnung des Landes bedeuten mußte, als bei Stalin zwischen 1927 und 1929 auf Grund macht-und wirtschaftspolitischer wie auch ideologischer Erwägungen der Entschluß reifte, die grundsätzlich schon von Lenin gewollte Kollektivierung auf dem Agrarsektor zur Zwangskollektivierung zu steigern und zugleich eine forcierte Industrialisierung, die ebenfalls einer dauernden Forderung Lenins entsprach, in einem in der modernen Wirtschaftsgeschichte bisher nicht gekannten Tempo durchzuführen. Nachdem Stalin im Dezember 1929 öffentlich dazu aufgefordert hatte, das Kulakentum als Klasse zu liquidieren, spielte sich Anfang 1930 ein von der GPU mit Hilfe von bewaffneten „Arbeiterbrigaden" inszenierter Bauernkrieg ab, dessen Ziel und Ergebnis in der Vernichtung jener agrarischen Schicht bestand, deren Angehörige es zu einem etwas größeren — nach westeuropäischen Maßstäben durchaus bescheidenen — Eigenbesitz gebracht hatten. Mindestens eine halbe Million Kulaken wurden mitten im Winter nach Sibirien deportiert, wo ein Teil umkam; der Rest ging im Industrieproletariat unter. Die von der direkten physischen Ausrottung verschonten Bauern beantworteten die Aufforderung zum sofortigen Eintritt in die kollektiven Großbetriebe mit der Abschlachtung des Viehs (die Verluste betrugen bis 1933 50— 60% des Gesamtbestandes und waren 1941 noch nicht wettgemacht) und mit geringen Anbauleistungen und Ernteerträgen. In einer daraus resultierenden großen Hungerkatastrophe kamen schätzungsweise 10— 11 Millionen Menschen ums Leben. Erst 1932 war die Industrie imstande, den neuen Großbetrieben der genossenschaftlichen Kolchosen und der staatlichen Sovchosen das einfach notwendige Minimum an materiellem Gerät zu liefern. Im Endergebnis waren schon 1931 über 50 %, 1934 fast 75 % und 1937 nicht weniger als 93% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kollektivwirtschaften überführt, die Bauern ihres Eigenbesitzes beraubt und bewußt zu schollenpflichtigen Landarbeitern gemacht. Nach dem „Stalin'schen Musterstatut" von 1935 verblieb jeder Familie höchstens ein halber Hektar zur privaten Nutzung mit der Möglichkeit bescheidener Vieh-haltung.

Die bis nach 1953 miserabel entlohnten und versorgten Kolchosniki waren es auch, die mit ihren Leistungen und Produkten die kostenlosen Erstinvestitionen (und nicht nur diese) für die forcierte Industrialisierung liefern mußten, die der XV. Parteikongreß im Dezember 1927 mit „Direktiven für die Erstellung eines Fünfjahrplanes der Volkswirtschaft" einleitete. Der von Fünfjahrplan zu Fünfjahrplan vorwärtsgepeitschte Ausbau der Industrie forderte von der Arbeiterschaft — 1932 waren es (ohne Familien) bereits 6 Millionen, 1940 über 8 Millionen (davon 47 °/o Frauen) — ebenfalls enorme Anstrengungen und Entbehrungen. Nach Stalins Kampfansage von 1931 an die „unmarxistische, kleinbürgerliche Gleichmacherei" wurde das wiedereingeführte Akkord-prinzip zu einem raffinierten System der Leistungssteigerung und Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft ausgebaut. Die außerordentlich starke Differenzierung der Lohnskala (bis zu einem Verhältnis von 1 : 30), noch betont durch unterschiedliche Sozialleistungen, bewirkte das Entstehen einer Arbeiteraristokratie und verhinderte die Ausbildung eines i einheitlichen Klassenbewußtseins. Zum Verbot des Arbeitsplatzwechsels gesellten sich drakonische Maßnahmen zur Verstärkung der Arbeitsdisziplin; sie gipfelten 1938— 40 in (bis 1956 gültigen) berüchtigten Dekreten, die bei Arbeitsverspätung oder -Versäumnis, selbst wenn sie geringfügig waren, immer wieder anlj gewandte Repressalien vom Lohnentzug bis zum Straflager vorsehen. So war der Arbeiter beim Fehlen jeder eigenständigen gewerkschaftlichen Repräsentation wehrlos dem totalitären Staatskapitalismus preisgegeben.

Die Stalinschen Säuberungen als Abschluß der sozialen Umwälzung

Insgesamt stellte Stalins „Revolution von oben" einen Prozeß dar, der die gesellschaftliche Struktur Rußlands weitaus stärker umgestaltet hat als Lenins Oktoberrevolution von 1917. Zur politischen Umwälzung war die in ihrem Schoß angelegte, aber vor dem Ende der zwanziger Jahre noch nicht konsequent ausgeführte soziale Umwälzung getreten, deren Krönung und Abschluß die berüchtigte Säuberungswelle der dreißiger Jahre bildete. Sie war nicht nur die Endetappe auf Stalins Weg zur totalen Ein-Mann-Diktatur und seine Endabrechnung mit den Rivalen um die Macht aus den Jahren 1923— 1930. Immerhin verbrachten nach zuverlässigen Schätzungen wenigstens 8 Millionen Angehörige aller Berufsschichten und aller überhaupt noch möglichen politischen und geistigen Richtungen, mithin 5 0/0 der damaligen Gesamtbevölkerung, zwischen 1936 und 1938 in Untersuchungsgefängnissen und Lagern des NKWD, entstand zur gleichen Zeit in Nordrußland und Sibirien ein Netz von Straflagern mit 5— 6 Millionen Insassen (deren Zahl sich 1940— 42 nahezu verdoppelte).

Besonders schwer wurde das Offizierskorps der Roten Armee in Mitleidenschaft gezogen. In den Verfolgungen des Jahres 1937/38 wurden 1500 von 6000 höheren Offizieren sowie der überwiegende Teil der Generalität mit Tuchatschewskij, dem populären Bürgerkriegs-helden, Generalstabschef und Modernisator der Roten Armee an der Spitze, liquidiert. Unübertroffen blieb freilich das Ausmaß der Säuberungen innerhalb der Partei und deren leitender Kader. Seit 1930 war Stalin das einzige schon 1919 gewählte Mitglied des Politbüros, das diesem noch immer angehörte. Alle anderen waren entfernt und durch ihm ergebene Gefolgsleute ersetzt worden. Selbst von diesen wurden während der Säuberungen vier, d. h. ein Drittel des damaligen Gesamtbestandes dieses Gremiums, verhaftet, während das 1934 gewählte ZK durch die gleiche Prozedur von ursprünglich 140 Angehörigen auf 15 im Herbst 1937 zusammenschmolz. Innerhalb der übrigen Organe und Gliederungen der Partei, die Anfang 1933 rund 3, 6 Millionen Mitglieder zählten, verursachten die Säuberungen ein Absinken auf nur 1, 9 Millionen Mitglieder, ehe ab 1939 eine erneute sprunghafte Aufwärtsentwicklung einsetzte. Auf diese Weise vollzog Stalin einmal eine mit drastischen Methoden erzwungene „Wachablösung" der Eliten innerhalb des Bolschewismus, zum anderen eine nicht minder erzwungene Umformung eines sehr viel weiter reichenden Teils der sowjetischen Gesamtgesellschaft. In der Parteiführung war endgültig an die Stelle des gebildeten und beredten Intellektuellen, Publizisten und Literaten der zähe und wortkarge Organisator und Bürokrat getreten. Männer wie Molotow, Kaganowitsch, Berija und Shdanow verkörperten diesen Typ des „Apparatschik", der zugleich das Profil der ganz neuen Ober-und Mittelschicht prägte. Diese sog. „werktätige In-B telligenz", deren Anteil an der arbeitenden Bevölkerung 1937 rund 140/0 und 1939 etwa 17, 5 0/0 betrug, umfaßt seither die hauptamtlichen Parteifunktionäre, die leitenden Angestellten der Sowjetverwaltung, das Offizierkorps der Sowjetarmee, die Kolchosvorsitzenden, die Agronomen und Ingenieure, die Betriebsdirektoren und sonstigen staatlichen Wirtschaftsführer, die Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler. Stalin hat sie 1939 offiziell als Klasse anerkannt, während er sie kurz zuvor als „Zwischenschicht''bezeichnete, die, obwohl selbst keine Klasse, sich ständig aus den beiden proletarischen Klassen der Arbeiter und Bauern erneuere.

Zusammenfassend ist festzustellen: Die unmittelbare Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung im Zeichen der Fünfjahrpläne war der binnen weniger Jahrzehnte bewerkstelligte Aufstieg Sowjetrußlands zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt nach und neben den USA und das Entstehen einer modernen Industriegesellschaft, für die heute, nach 50 Jahren kommunistischer Herrschaft, folgende Merkmale kennzeichnend und bestimmend sind: Bei einer Gesamteinwohnerschaft der UdSSR, die nach der letzten amtlichen sowjetischen Volkszählung vom Januar 1959 knapp 209 Millionen betrug und sich gegenwärtig auf etwa 225— 230 Millionen belaufen dürfte, begann während der fünfjährigen Zeitspanne von 1959 bis 1964 zum erstenmal in der russischen Geschichte die Stadtbevölkerung die Landbevölkerung zahlenmäßig, und zwar um 4 %, zu überflügeln. Andererseits waren 1959 immer noch 39 Millionen Menschen, d. h. 39, 3 °/o aller Erwerbstätigen, in der Landwirtschaft tätig. Dieser für einen modernen Industriestaat außerordentlich hohe, ja einmalig dastehende Anteil von Beschäftigten auf dem Agrarsektor bei gleichzeitig wesentlich geringerer Arbeitsproduktivität als in den hochindustrialisierten Ländern des Westens ist zweifellos auf das starre Festhalten an den durch die marxistisch-leninistische Ideologie vorgegebenen Dogmen für den Bereich der Landwirtschaft und den daraus auch nach 1953 abgeleiteten, bis heute gültigen Prämissen für die sowjetische Agrarpolitik zurückzuführen. Solange derartige Dogmen und Prämissen unbedingt verbindlich bleiben, muß jeder Wandel der Verhältnisse in Richtung auf eine Annäherung an die entsprechenden Prozesse in den nichtkommunistischen Industriegesellschaften letztlich undenkbar erscheinen. Geht man von der wohl allgemein anerkannten Voraussetzung aus, daß Ausbildung und Bildung, berufliche Stellung, wirtschaftliche und politische Position zusammen wesentliche Kriterien für die Bestimmung der realen Zugehörigkeit und Rangordnung innerhalb eines modernen Sozialgefüges abgeben, dann gelangt man zu dem Ergebnis, daß die Sowjet-gesellschaft zu Beginn des letzten Drittels unseres 20. Jahrhunderts folgende Grundstruktur aufweist: An eine aus der bürokratischen Machtelite und den Spitzen der ökonomisch-technischen wie der wissenschaftlich-kulturellen Intelligenz gebildete Oberschicht (mit 6— 8 Millionen Angehörigen) ohne juristisch-erbliche Verfestigung ihrer Stellung schließt sich unmittelbar eine starke Bildungsund obere Mittelschicht der „Spezialisten" (mit mindestens 14 Millionen Angehörigen) an. Deutlich abgehoben von diesen beiden führenden Gruppen erscheinen die aus Angestellten und Facharbeitern zusammengesetzte untere Mittel-schicht (mit etwa 33 Millionen Angehörigen) sowie die aus kleinen Angestellten, angelernten Arbeitern und gualifizierten bzw. etwas besser situierten Kolchosniki bestehende obere Unterschicht (mit über 57 Millionen Angehörigen). An letzter Stelle, in der unteren Unterschicht, rangieren schließlich insgesamt 97 Millionen ungelernte Arbeiter und die Masse der Kolchosniki mit ihren Familien, die als Staatsbürger mit dem schlechtesten wirtschaftlichen und sozialen Status praktisch außerhalb des von Partei und Staat geformten gesellschaftlichen Lebens stehen.

Im Vergleich zur spätzaristischen, teilweise aber auch zur frühbolschewistischen Epoche ist im heutigen Rußland die soziale Pyramide niedriger und ausgeglichener; zugleich sind die Übergänge vor allem zwischen den unteren und mittleren Schichten fließender; außerdem zeichnet die moderne Sowjetgesellschaft eine größere soziologische Dichte und Differenzierung aus. Am wichtigsten und interessantesten sind indessen wohl die Merkmale, durch die sie sich von dem Zustand unterscheidet, der nach der zweiten tiefgehenden sozialen Umwälzung in Gestalt der Stalin’schen „Revolution von oben“ ab 1928 herbeigeführt und später mit allen Mitteln zu zementieren versucht wurde.

Die Entwicklung nach Stalin: Auflockerung, aber keine Liberalisierung

Maßnahmen wie die schon 1954 verfügte Aufhebung der meisten Rangordnungen im zivilen Bereich, die 1956 wiederhergestellte Schulgeld-freiheit im mittleren und höheren Bildungswesen und die Schul-und Bildungsreform vom Dezember 1958, ferner Chruschtschows freilich nicht recht geglückter Versuch, einerseits die Spitzengehälter bis auf 1. 200. — Rubel zu senken, andererseits die finanzielle und soziale Stellung der Arbeiter und der Kolchosbauern zu stärken, seine Reproletarisierungsabsichten in bezug auf die Partei sowie schließlich die Zulassung bzw. Duldung besserer, wenngleich immer noch stark eingeschränkter Kontakte mit der Außenwelt — alle diese Maßnahmen, Bestrebungen und Tendenzen haben die innere Erstarrung und quasi-ständische Abkapselung, die der Klassengesellschaft des Spätstalinismus das Gepräge gaben, nicht unerheblich aufgelockert bzw. gemildert und einen gewissen Pluralismus sozialer Kräfte ermöglicht.

Nach dem Willen des auch unter Chruschtschow und seinen Nachfolgern immer noch autokratischen seines Herrschaftssystems und Hauptträgers und Nutznießers, der hochbürokratischen Machtelite, sollte es sich dabei um einen von oben ausgelösten, gelenkten und kontrollierten Prozeß handeln. Es jedoch steht außer Frage, daß die Entwicklungsnotwendigkeiten in einer industriellen Leistungsgesellschaft, die inzwischen in Sowjetrußland entstanden ist, autonome eine soziale Kräfte und Eigendynamik freigesetzt haben. Das bedeutet: die Sowjetgesellschaft ist nicht mehr nur wie unter sie auch Stalin „an sich" da, will bei allem Konformismus, der sie unzweifelhaft ebenfalls kennzeichnet, „für sich" existieren. Daraus ist ein Spannungsverhältnis in Gestalt eines Interessengegensatzes zwischen „reaktionären" und „fortschrittlichen" Kräften, zwischen — wie Boris Meissner es zutreffend formuliert hat — der „herrschenden Machtelite, die durch die Hochbürokratie verkörpert wird", einerseits, den „Wirtschaftsmanagern und der aus Literaten, Künstlern und Wissenschaftlern gebildeten Prestigeelite" andererseits erwachsen, einer Elite, die als Repräsentanz der technisch-ökonomischen und der wissenschaftlich-kulturellen Intelligenz immer stärker im Sinne einer gewissen geistig-persönlichen Autonomie und gesellschaftlichen Spontaneität zu agieren begonnen hat. Mit Hilfe ihres absoluten Machtmonopols, mit Hilfe ihrer uneingeschränkten Verfügungsgewalt über sämtliche Produktionsmittel und mit Hilfe einer umfassenden Funktions-und Meinungskontrolle hat die insofern nach wie vor autokratische Partei-spitze dennoch den nach 1953 eingetretenen sozialen Wandel trotz zweier Entstalinisie-

rungswellen in den Grenzen eines letztlich von ihr gesteuerten Auflockerungsund Modernisierungsprozesses zu halten und autonome Regungen entweder zu unterdrücken oder einzudämmen vermocht. Mit anderen Worten: Das sowjetkommunistische System, das Rußland beherrscht, hat sich zwar seit 1953 aufgelockert und modernisiert, nicht aber liberalisiert. Ob und wann ein solcher Auflockerungs-und Modernisierungsprozeß, der immerhin einen begrenzten Elitenpluralismus zum Ergebnis hatte, in einen echten Liberalisierungsprozeß im Sinne einer Verselbständigung der Gesellschaft, d. h. ihrer Befreiung von der Bevormundung durch Partei und Staat umschlagen kann und wird, ist gegenwärtig — wohlgemerkt in bezug auf Sowjetrußland — noch eine völlig offene, von niemandem mit Sicherheit beantwortbare Frage.

Literaturhinweis

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl-Heinz Ruffmann, Dr. phil., o. Prof, für osteuropäische Geschichte u. z. Z. Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg; Mitglied des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung. Veröffentlichungen u. a.: Das Rußlandbild im England Shakespeares, Göttingen 1952; Ruß-land (Sowjetunion) seit 1905, in: Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. I, Bern—München 1962; Der Sowjetkommunismus, 2 Bd. (hrsg. zus. m. H. J. Lieber), Köln 1963/65; Kommunismus in Geschichte und Gegenwart. Ausgewähltes Bücherverzeichnis, in: Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, 2. wesentl. erw. Auflage, Bonn 1966; Der soziale Strukturwandel in Rußland bis zur Oktoberrevolution, in: Sowjetgesellschaft im Wandel, hrsg. v. Boris Meissner, Stuttgart 1966; Sowjetrußland. Struktur und Entfaltung der kommunistischen Vormacht, in: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1969 2.