Der frühere Göttinger Ordinarius für Neuere Geschichte, Professor Siegfried Kaehler, pflegte seinen Studenten, wenn diese sich für sein Seminar über die Bismarck-Zeit und das Wilhelminische Deutschland anmeldeten, den Rat zu geben: „Lesen Sie Fontane." — Er meinte damit jenen Fontane, der vornehmlich in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens — er starb gleich Bismarck im Jahre 1898 — zu einem der schärfsten Kritiker deutscher Zustände geworden war.
Diese Zeit-und Gesellschaftskritik steht hinter allen Romanen des erst spät zu schriftstellerischer Reife und drängender Schaffensintensität gelangenden Fontane. Noch unverhüllter indessen als im Romancier tritt uns diese Kritik im Briefschreiber Fontane entgegen; und der zeitkritische Briefschreiber wiederum nirgends so klar und geschlossen wie in den im Jahre 1954 veröffentlichten „Briefen an Georg Friedländer". Diese Briefe, im Aussiedlungsgepäck der Tochter Friedländers — eines mit Fontane befreundeten schlesischen Amtsgerichtsrats — in den Westen gelangt, waren mit ein Anstoß für eine neue Ära der Fontane-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie stellen nicht nur für den Fontane-Forscher, sondern auch für den Neuhistoriker eine erstrangige Quelle dar und übertreffen an Aussagewert wahrlich manches mehrbändige Werk der kleindeutschen Geschichtsschreibung/indem sie die Staats-und Hofhistoriographie der Generation eines Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitsch-ke auf das ihnen zukommende Maß relativieren. Dagegen erweisen sich diese Briefe Fontanes nach über siebzig Jahren mit ihrer Kritik am Bismarck-Reich und am Wilhelminischen Deutschland, mit der Aufdeckung der Gefährdung jener vermeintlich „großen, herrlichen Zeit" als geniale Prophetie.
Eine literarische Renaissance Fontane im Literaturgeschäft unserer Tage: Die Zahl der Einzelausgaben seiner Romane, seiner Briefbände, seiner autobiographischen Schriften — einschließlich der Taschenbücher — ist Legion; dazu treten kritische Gesamtausgaben und sorgfältige mehrbändige Editionen. Der Adaption Fontanes durch den Spielfilm (Effi Briest mit mehreren Verfilmungen, Frau Jenny Treibei, Irrungen Wirrungen und andere) ist das Medium Fernsehen mit einer Reihe bedeutender Inszenierungen gefolgt (Unterm Birnbaum, Schach von Wuthenow, Unwiederbringlich, Mathilde Möhring).
An weiteren filmischen Umsetzungen Fontanescher Vorlagen wird gearbeitet.
Diese Fontane-Renaissance ist in ihrer Breite und Intensität in der deutschen Literaturgeschichte bislang ohne Beispiel. Sie nimmt dem Gedenken zum 150. Geburtstag des Dichters — Fontane wurde am 30. Dezember 1819 in Neuruppin in der Mark Brandenburg geboren — den Anstrich bloßer historisierender Courtoisie und bemühter Aktualitätsbeschwörung.
Die Geburt des modernen Gesellschaftsromans in Deutschland Diese posthume Erfolgswelle — zu Lebzeiten blieb der verdiente Durchbruch beim breiteren Publikum aus — verdankt der Dichter sicher keiner „Mode“, sondern einer zeitlosen litera3 rischen Qualität und einer eigenartigen Affinität seiner Erzählkunst für das Fernsehspiel, worüber sich eine eindringliche dramaturgische Untersuchung sicherlich lohnen würde. Entscheidend ist wohl die Lebenskraft seiner Figuren, die glaubhafte psychologische Motivierung ihres Verhaltens und ihr überzeugen-des Eindringen in das gesellschaftliche Geschehen und die soziale Problematik. Durch die Verbindung von individuellem Schicksal mit gesellschaftskritischer Zustandsschilderung erreicht Fontane eine gleichsam metahistorische Sublimierung seiner Aussage. Das macht im Grunde seinen unverwechselbaren schriftstellerischen Rang aus und ist sicher eine Wurzel für seine Modernität — 150 Jahre nach seiner Geburt, 70 Jahre nach seinem Tode. Ein freundliches Licht fällt dabei auch auf den guten Geschmack des Lesers unserer Tage.
Thomas Mann, der größte deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts, hat sich immer mit Verehrung und Liebe als literarischer Nachfahre Fontanes begriffen und diesem seiner Meinung nach größten deutschen Erzähler des 19. Jahrhunderts (trotz Stifter, Keller und Raabe) das historische Verdienst zugeschrieben, mit seinem Werk die Ebenbürtigkeit des Romans neben dem Drama und der Lyrik erwiesen zu haben. Neben aller Wertung ist allerdings die Tatsache unbestritten, daß mit Theodor Fontane die Gattung des modernen Gesellschaftsromans als späte Frucht auch in die deutsche Literatur eintritt, nachdem dieser die außer-deutsche literarische Landschaft längst belebte.
Gespräch und Symbol In der ästhetischen Grundlegung des modernen Gesellschaftsromans kommt es nicht mehr in erster Linie auf das faktische Geschehen an sich an, sondern vielmehr auf die vollkommene Durchdringung der Handlung mit dem Denken, Fühlen und den Reflexen der Haupt-und Nebenfiguren. Das Einzelschicksal fesselt nur und ist nur dann der Gestaltung würdig, sofern es gesellschaftlich etwas bedeutet. (Die literarische Mitte zwischen den klassischen Modellen des Abenteuerromans und des Erziehungsund Bildungsromans ist evident.) Zum adäquaten Ausdrucksmittel werden für den modernen Gesellschaftsroman die kommunikativen Formen Unterhaltung, Gespräch und Brief. Eins der wichtigsten Stilmittel wird dabei das Symbol.
Fontane hat in der deutschen Erzählkunst nur mit Thomas Mann in der Anwendung und im Erfindungsreichtum des Symbols einen ebenbürtigen Nachfolger gefunden. — Kunst und Technik seines symbolhaften Erzählens bleiben nicht im psychologischen Detail und im beziehungsreichen Versatzstück haften, sondern das Symbol erfaßt auch das große historisch-politische Geschehen. Die beiden politischsten Romane Fontanes machen das deutlich: Im „Schach von Wuthenow" nimmt das moralische Versagen und der Untergang seines Helden den Untergang des preußischen Staates von 1806 vorweg; in seinem letzten Werk „Der Stechlin" geht es unter dem Symbol des unruhevollen Stechlin-Sees in einem unaufhörlichen politischen und sozialen Diskurs um nicht mehr und nicht weniger als die schwankenden Grundlagen des Wilhelminischen Deutschland und um Perspektiven der politischen Zukunft. In seinem letzten Roman ist die Individuation seiner Figuren zur Funktion der politischen und sozialen Krisendeutung geworden. Fontanes Symbolkunst wird hier total: Das Symbol wird zum Inhalt — der Inhalt verdichtet sich zum Symbol.
Voraussetzungen und Wurzeln Die schriftstellerische Kunst des reifen Fontane erwächst organisch aus seiner Biographie: Aus seinen Anlagen und seiner Begabung; aus dem beruflichen Herumgestoßenwerden und dem Schinden der frühen und mittleren Jahre; schließlich aus dem Bemühen, mit diszipliniertem Fleiß und schwer errungenem Selbstvertrauen den Durchbruch zum freien Schriftstellertum zu schaffen. Diese Entwicklung nachzuzeichnen ist hier nicht der Ort. Aber die geistigen Wurzeln seines Schaffens müssen wir uns vergegenwärtigen. Das ursprüngliche Erzählertalent, die Eleganz seiner Prosa, die Leichtigkeit seiner Verse allein hätten nicht ausgereicht, Fontane seinen Platz in der deutschen Literatur zuzuweisen. Seiner Causerie, der echter Humor ebenso eigen ist wie überlegene Ironie — hierin ist Fontane gewiß dem Erbe seiner französischen Vorfahren aus der gemütlichen Gascogne und den temperamentgeladenen Cevennen verpflichtet —, mußte sich das einfühlende Begreifen der Geschichte und eine differenzierte psychologische Beobachtungsgabe zugesellen, um ein dichterisches Gesamtwerk zu ermöglichen, das von der erzählenden Historie seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg" bis zur analytischen Kunst seiner späten Romane reicht.
Fontanes dem Menschen geltende Beobachtungsgabe, seine Liebe zur Geschichte und sein auf die Umwelt gerichtetes sozialkritisches Vermögen haben zwei Wurzeln: die Achtung des Persönlichen und die Wertschätzung der Erfahrung. Individualitätsgedanke und Empirie spielen im Denken Fontanes eine entscheidende Rolle und rücken ihn an die Ahnenreihe des deutschen Historismus heran, ohne daß ihm das bewußt gewesen wäre. Ein historisches und zeitkritisches Urteil abgebend, das vorsichtig vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt — und nicht umgekehrt: das ist Geist vom Geiste der Publizistik Justus Mösers und der Geschichtsschreibung Leopold von Rankes. Hierhin gehört Fontane methodisch. Die Suche nach historischer Gesetzmäßigkeit hat ihn nie beschäftigt, systematisches philosophisches Denken und das Einordnen seiner Zeit-und Gesellschaftskritik in endgeschichtliche Zielvorstellungen bleiben ihm Zeit seines Lebens fremd.
Die Dimension der Briefe Mit seinen Gesellschaftsromanen, deren Klassizität allerdings nur wenige seiner Zeitgenossen erkannten, wird Fontane für die deutsche Literatur zu einem Phänotyp, der in die Höhen der Weltliteratur aufsteigt.
Dieser Durchbruch auch in das Bewußtsein einer breiteren Lesergemeinde und das Werk-verständnis der internationalen Germanistik hat sich erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Eine Voraussetzung dafür war der bereits erwähnte Fund der Briefe an Georg Friedländer. Für die Interpretation seines Romanwerks erschloß sich durch diese Briefe eine wenn auch nicht neue, so doch durchsichtigere und entschiedene Dimension. Fontane ist in seinen Romanen ein Meister der nicht ohne weiteres zu verstehenden dialektischen Entfaltung des Gesprächs, ferner der Anspielung, des Verschlüsselns und der Camouflage. Ganz anders in seinen Briefen. Er ist nicht nur der fleißigste Briefschreiber von allen zeitgenössischen Dichtern, sondern er legt in seinen Briefen in größter Offenheit persönliche Bekenntnisse ab und äußert hier — nun ganz und gar unverschlüsselt — Meinungen, deren Entschiedenheit und Härte die Empfänger häufig schockierten.
Notwendige Abgrenzungen Fontanes dichterische Mentalität und schriftstellerische Eigenart haben ihn Zeit seines Lebens wenig vom romantisch-genialen Poeten-typ halten lassen — eines Typus, der seiner Herkunft entsprechend in Analyse und Kritik der Gesellschaft poesiewidrige Elemente schlechthin erblickt. Diese Abneigung war gegenseitig: Zwanzig Jahre nach Fontanes Tod hat ein Spätzeuge dieser Tradition — der dem Jüngerkreis Stefan Georges angehörende Friedrich Gundolf — ihn und Thomas Mann als „ephemere Jahrzehntemänner" abgetan, die große, „schicksalhafte Poesie" nicht hervorgebracht hätten. — Der späte Realismus Fontanes setzt sich auch von anderen Inhalten und Stilen ab. So hat er in seinem Selbstverständnis nichts gemein mit dem politischen Aktivismus eines Georg Herwegh und dem Pathos und Pamphletismus anderer Vertreter des „Jungen Deutschland"; und nichts verbindet ihn auch mit den kontemplativen und lyrischen Gehalten der Dichtkunst Mörikes oder des Grafen Platen. Fontane und die Weltliteratur Neben dem eingeborenen Talent und der persönlichen Entwicklung beruht Fontanes Spät-werk, das mit „Schach von Wuthenow" (1882), „Irrungen Wirrungen" (1888) und vor allem „Effi Briest" (1895) weltliterarischen Rang erreicht, auf der Rezeption des großen europäischen Gesellschaftsromans. Dieser Prozeß wird sicher durch die bereits erwähnte inhärente Distanz zum poetischen Romantizismus und zur politischen Kampf-und Bekenntnis-dichtung, als typisch deutschen literarischen Erscheinungsformen, erleichtert.
Der Einfluß der Historienmalerei Walter Scotts auf Fontane wird nun aufgehoben durch die bewußte Rezeption Balzacs, Flauberts, Tolstois und der beiden Schriftsteller, denen der späte Fontane nach eigenem Zeugnis das meiste verdankt: Thackerays und Turgenjews. An Thak-keray ziehen ihn dessen Humor und gesellschaftskritischer Realismus an. „Vanity fair" (Jahrmarkt der Eitelkeit) wird zu seinem Lieblingsroman. Dieses Vorbild läßt ihn nicht mehr los. Als Fontane über seinem großartigen Roman „Irrungen Wirrungen" saß, schrieb er (an Ludwig Pietsch am 23. Dezember 1885): „Es fehlt uns noch ein großer Berliner Roman, der die Gesamtheit unseres Lebens schildert, etwa wie Thackeray in dem besten seiner Romane, in , vanity fair', in einer alle Klassen umfassenden Weise das Londoner Leben geschildert hat." — An seinem „Meister und Vorbild" Turgenjew fesselte ihn dessen Kunst der psychologischen Schilderung und die geniale Eingliederung von dessen Figuren in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß.
Der zeitkritische Ansatz Wir haben die geistigen Voraussetzungen des Zeitkritikers und die ästhetischen Grundlagen des Romanciers untersucht, wir haben in einem ersten Entwurf diese beiden Elemente in die originäre literarische Leistung Fontanes — die Verwirklichung des modernen deutschen Gesellschaftsromans — einfließen lassen. Wir haben auch die Stellung des Dichters in der deutschen Literatur und seinen Standort im Zusammenhang mit der Weltdichtung zu bestimmen versucht.
Die wahre Größe eines Dichters ist an die Wirkung gebunden, die er über sein irdisches Leben, über seine Zeit hinaus entfaltet. Die Fontane-Renaissance unserer Tage zeugt von dieser fortdauernden Wirkung. Ihr wollen wir nachgehen und fragen, worin das lebendige Vermächtnis im Eigentlichen besteht. Die ästhetische Betrachtung umfaßt immer nur einen Teilbereich dichterischer Nachwirkung, wobei sicher Fontanes rein literarische Qualitäten nach Stil und Form ihm einen hohen Stellenwert in der deutschen Literaturgeschichte verschaffen. Aber die unverwechselbare Leistung, das „eigentliche" Vermächtnis im Sinne unserer Frage reicht in andere, tiefere Bereiche; in jene nämlich, die Fontane durch die Auseinandersetzung mit seiner Zeit und den Zeitgenossen, mit Staat und Gesellschaft freilegt. Darum geht es uns nun.
Preußen und sein Adel Nichts hat Theodor Fontane Zeit seines Lebens so sehr beschäftigt wie das alte Preußen und dessen Führungsschicht, der preußische Adel.
Dieses Thema weitet sich nach der Reichsgründung auf Preußen-Deutschland hin aus. Neben den Adel treten nun im aufkommenden Massenzeitalter das Bürgertum und die Arbeiterschaft als soziale Schichten, die eine engagierte sozialkritische Dichtung in die Auseinandersetzung einbeziehen muß. Aber auch jetzt noch bleibt das Adelsmotiv das wichtigste Element von Fontanes Gesellschaftskritik. Ja, es will scheinen, als habe er seine größten Romane aus einer merkwürdigen inneren Verfallenheit heraus auf diesen preußischen Adel hin geschrieben — im Guten wie im Bösen.
Wer wollte bezweifeln, daß sich dem kritischen Fontane hier ein weites Feld öffnete. Nachdem die schöpferischen Ansätze der Roformzeit nach 1806 für eine Erneuerung des preußischen Staates an Haupt und Gliedern in Restauration und Reaktion erstickt waren und nachdem die freiheitlichen Kräfte in Preußen und im übrigen Deutschland mit dem Scheitern der Revolution von 1848 resigniert hatten, mußten dem kritischen Bürgersinn die preußischen Zustände als zurückgeblieben, als weithin anachronistisch erscheinen. Eines der frühesten Zeugnisse des zeitkritischen Fontane ist ein Aufsatz, den er — ergriffen vom Revolutionsgeschehen — am 3. August 1848 unter vollem Namen in der „Zeitungshalle" mit dem Titel „Preußens Zukunft" veröffentlichte und in dem es heißt: „Jeder andere Staat kann und mag in Deutschland aufgehen; gerade Preußen muß darin untergehen . . . Bayern, Sachsen, Schwaben, die werden in Deutschland aufgehen; der großen deutschen Republik werden diese Namen nicht fehlen. Aber eine preußische Republik ist eine Unmöglichkeit, Preußen muß zerfallen."
Pseudokonservatismus Man hat dem späteren Fontane vorgeworfen, von diesem republikanischen Pathos sehr rasch abgerückt zu sein und diese Gesinnung im Solde der reaktionären preußischen Regierung von Manteuffel verraten zu haben. Gewiß — der politische Rigorismus der obigen Äußerung wich bald einer an den neuen Realitäten orientierten Betrachtung. Das Herz sprach dabei sicher nicht mit, sondern die blanke Notwendigkeit, das tägliche Brot zu verdienen und eine Familie notdürftig zu ernähren. Aber die Kritik an Preußen hat Fontane zu keiner Zeit mehr verlassen, wenn auch die Zielrichtung eine andere wird. Sein zunehmender Un-und Widerwillen richtet sich nun nicht mehr gegen den preußischen Staat, kaum gegen die Person des Monarchen und die Monarchie als Institution; auch findet sich keine detaillierte staatsrechtliche Kritik der Verfassungsverhältnisse. Front macht er jedoch gegen den Adel, wobei er dessen unverdiente Privilegien als „Borussismus“ bezeichnet und gegen das „wahre Preußentum" abzusetzen versucht. Im Schlußwort seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg", die die literarische und geistige Rampe für Fontanes Spätwerk sind, hat er 1881 seine Ansicht vom preußischen Adel vorläufig zusammengefaßt: „Wirklich, es lebt in unserem Adel nach wie vor ein naives Überzeugtsein von seiner Herrscherfähigkeit und seiner Herrscherberechtigung fort... Es wird aber nur wenige bürgerliche . Honoratioren'geben, die nicht — auch bei konservativster Schulung und Naturanlage — durch den Pseudokonservativismus unseres Adels, der schließlich nichts will als sich selbst und das, was ihm dient, in peinlichste Verlegenheit und höchste Verzweiflung gebracht worden wären."
Ein anderer Unterbau In bestürzender Weise offenbart sich diese fast zur Feindseligkeit werdende Kritik in den Briefen an Georg Friedländer aus seinem letzten Lebensjahrzehnt, wenn er die alte Adels-institution in ihren menschlichen, politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen als endgültig überholt verwirft. Jenen Adel, den Fontane ehedem geliebt und dessen Wandlung und Offensein für das Neue er so sehr ersehnt hat:
„Preußen — und mittelbar ganz Deutschland — krankt an unseren Ostelbiern. Uber unseren Adel muß hinweggegangen werden ... Das Land ihm zu Liebe regieren, in dem Wahn: Dieser Adel sei das Land — das ist unser Unglück und solange dieser Zustand fortbesteht, ist an eine Fortentwicklung deutscher Macht und deutschen Ansehens nach außen hin gar nicht zu denken. Worin unser Kaiser die Säule sieht, das sind nur tönerne Füße. Wir brauchen einen ganz anderen Unterbau. Vor diesem erschrickt man; aber wer nicht wagt, nicht gewinnt. Daß Staaten an einer kühnen Umformung, die die Zeit forderte, zugrunde gegangen wären — dieser Fall ist sehr selten. Ich wüßte keinen zu nennen. Aber das Umgekehrte zeigt sich hundertfältig." (An Friedländer am 4. April 1897.)
Ein Adel der Zukunft Neben den Briefaussagen belegt auch das erzählerische Spätwerk Fontanes Adelskritik. Im „Stechlin" zieht er nicht lange vor seinem Tode die Summe einer lebenslangen Enttäuschung. An Stelle der hergebrachten Adelsmacht er-7 hofft er einen „Adel der Zukunft", eine sich den politischen und sozialen Aufgaben der Zeit gewachsen zeigende Führerschaft, die aus dem Herzen, nicht aus Berechnung, sozial und politisch tätig wird. Den klugen Pastor Lorenzen läßt er im „Stechlin" sagen, daß das Zeitalter, das von den Normen dieser exklusiven Adelswelt bestimmt wurde, unwiederbringlich zu Ende gehe. Effi Briest, die Heldin seines größten Romans, mußte noch an dieser in Konventionen und Paragraphen erstarrten Ordnung zerbrechen, die im Fontaneschen Sinne keine wahre „Ordnung" ist, weil ihr Offenheit und menschliche Güte fehlt, weil eine inhaltslose Scheinehre die Verhaltensnormen dieser antiquierten Adelswelt bestimmt. Wie sagt doch Effi Briest: „Mich ekelt, was ich getan, aber was mich noch mehr ekelt, das ist Eure Tugend." überholtes Ordnungsdenken Fontane protestiert gegen eine Ordnung, die den exklusiven Führungsanspruch einer privilegierten Klasse kennt, und setzt ihr eine von Nächstenliebe, Gleichberechtigung und Zukunftsoffenheit bestimmte neue Ordnung entgegen. — Für ihn ist es kein „Verhältnis" mehr, das sich „Mann allenfalls von Stande"
leisten konnte, wenn in seinem menschlich wärmsten Roman „Irrungen Wirrungen" der adlige Gardeoffizier das Mädchen aus dem vierten Stande liebt. Die wahre Liebe zwischen den beiden Menschen „ungleichen Standes" überwindet bei Fontane jede ständisch normierte Ordnung. Die Gemeinsamkeit zweier Liebender steht in diesem Sinne außerhalb der „Gesellschaft", auch wenn diese Liebe an ihr zerbricht.
Diesen Roman schrieb keiner der Jungen, sondern der reife Fontane, der durchaus konservative Bewußtseinselemente in sich trug. Der Adel Preußens brach nun endgültig mit ihm und hat ihm nie verziehen. — Fontane ließ sich auch dadurch nicht davon abbringen, bis zu seinem Tode um das Menschenbild des preußischen Adels zu ringen. Seinem Ideal gibt er in der Grabrede des Pastors Lorenzen für den alten Stechlin Ausdruck, die auch ein Nachruf auf Fontane selbst sein könnte: „Er war kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz. Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste umschließenden Etwas, das Gesinnung heißt."
Umstrittener Bismarck Diese Gesinnung und Herzensbildung, die den konservativen alten Stechlin auszeichnet, vermißt Fontane bei Bismarck, der als Staatsmann und Mensch notwendig in den innersten Kreis der Fontaneschen Zeitkritik rückt. — Der gleich seinem Bruder zu den Verehrern Fontanes zählende Heinrich Mann schrieb in diesem Zusammenhang: „Wer aber in Werken, Briefen, Gedichten Fontanes immer wiederkehrt, ist sein Altersgenosse Bismarck — er sieht ihn groß und klein, er weiß über ihn mehr, als seither jemand wissen kann."
An Bismarcks Reichsgründung, am politischen Genie dieses Mannes, seiner vorsichtig überlegenden außenpolitischen Taktik gibt es für Fontane nichts zu deuteln. Aber die unglückliche innenpolitische Hand des Junkers, seine Verständnislosigkeit den Fragen und Problemen des Industriezeitalters gegenüber erkennt der Dichter klar. Die eigentliche Kritik entzündet sich jedoch an der Kleinlichkeit und Selbst-gerechtigkeit, die er im Charakter des Reichs-gründers erkennt. Dessen verblassendes Charisma und menschliche Schwächen bringt Fontane eher mit Sorge als mit Befriedigung in einem Gespräch mit dem Grafen Eulenburg zum Ausdruck (1881): „Gegen Bismarck braut sich allmählich im Volk ein Wetter zusammen.
. . . Nicht seine Maßregeln sind es, die ihn geradezu ruinieren, sondern seine Verdächtigungen. Er täuscht sich über das Maß seiner Popularität. Sie war einmal kolossal, aber sie ist es nicht mehr. Es fallen täglich Hunderte, mitunter Tausende ab. Vor seinem Genie hat jeder nach wie vor einen ungeheuren Respekt. ... Was ihn einst so populär machte, war das in jedem lebende Gefühl: , Ah, ein großer Mann'. Aber von diesem Gefühl ist nicht mehr viel übrig, und die Menschen sagen: Er ist ein großes Genie, aber ein kleiner Mann'."
Noch stärker auf die menschlichen Schwächen abgehoben ist eine Briefstelle an seine Tochter Mete — seines neben Georg Friedländer vertrautesten Korrespondenzpartners — vier Jahre nach des Kanzlers Entlassung: „Immer ich, ich, und wenn die Geschichte nicht mehr weitergeht, Klage über Undank und norddeutsche Sentimentalitätsträne. Wo ich Bismarck als Werkzeug der göttlichen Vorsehung empfinde, beuge ich mich vor ihm; wo er einfach er selbst ist, Junker und Deichhauptmann und Vorteils-jäger, ist er mir gänzlich unsympathisch." Die Entlassung des „Eisernen Kanzlers" hatte Fontane völlig ungerührt hingenommen: „Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind . . . Seine Größe lag. hinter ihm; sie bleibt ihm in der Geschichte und in den Herzen des deutschen Volkes." (An Friedländer 1890.)
Die Wilhelmische Scheinwelt Fontane hatte der Übernahme der Regentschaft durch Kaiser Wilhelm II. durchaus optimistisch entgegengesehen. Der junge Monarch segelte unter der Flagge eines „neuen jungen Deutschland", sich selbst als ersten dynamischen Repräsentanten begreifend. Aber sehr bald wird offenbar, daß dem letzten Jahrzehnt der Ära Bismarck gegenüber sich nichts, aber auch gar nichts ändert. Lauthals verkündeter Reform-wille versandet immer mehr in großsprecherischer Demagogie. Als Fontane das hohle Pathos des jungen Kaisers bemerkt, schlägt sein politisches Urteil um. Er durchschaut die Schein-modernität des Kaisers und erkennt nun in der Ära Wilhelms I. und Bismarcks gegenüber dieser Hohlheit der Wilhelminischen Ära das kleinere Übel. In zwei Briefen an Friedländer aus dem Jahre 1897 schreibt er: „Er (Wilhelm II.) will, wenn nicht das Unmögliche, so doch das Höchstgefährliche mit falscher Ausrüstung, mit unausreichenden Mitteln. Es glaubt das Neue mit ganz Altem besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen ...". Und wenig später begegnen wir Fontanes ständiger Frage nach menschlicher Anständigkeit: „Ich bin kein Bismarckianer, das Letzte und Beste in mir wendet sich von ihm ab, er ist keine edle Natur. ... Aber die Ho-henzollern sollten sich nicht von ihm abwenden, denn die ganze neue Glorie des Hauses verdankt das Hohenzollerntum dem genialen Kraftmeier aus dem Sachsenwald . .. Wie kann man die Geschichte so fälschen wollen. Es ist der sprichwörtliche Undank der Hohenzollern, der einen hier anstarrt."
Wir sahen bereits, daß die Fontanesche Gesellschaftskritik von vornherein im Wesen und in der Entwicklung des Dichters angelegt ist. Und doch gewinnt diese Kritik ihre letzte Sicherheit erst in der Auseinandersetzung mit der politischen Scheinwelt des persönlichen Regiments Wilhelms II. Jetzt begreift Fontane im letzten die Dynamik des historischen Entwicklungsprozesses und die Notwendigkeit einer politischen Führung, die sich mit den leitenden Ideen der Zeit im Einklang befindet.
Abtreten des Bürgers Der preußische Adel und das Wilhelminische Kaisertum versagen der modernen Zeit gegenüber. Wäre es nicht am deutschen Bürgertum gewesen, in die Bresche zu springen? Aber dieses Bürgertum, der dritte Stand, dem auch der kritische Dichter entstammt, enttäuscht ihn schwer. Fontane erblickte hier kein verheißungsvolles Land, wie intensiv und einfühlsam er auch den bescheidensten Hoffnungsschimmern eigenständigen bürgerlichen Selbstverständnisses nachgeht. Er beklagt, daß es dem deutschen Bürgertum sowohl unter Bismarck wie auch in der Wilhelminischen Ära insgesamt an Charakter und Selbstbewußtsein mangele, daß es zuwenig Zivilcourage in den öffentlichen Angelegenheiten beweise und sich resignativ oder gar feige mit der dritten und vierten Rolle im Staate begnüge.
Mit beißender Ironie bedenkt Fontane in einigen Briefen an Friedländer die Kapitulation vor dem „preußischen Hauptidol, dem Vitzliputzli des preußischen Kultus, dem Reserve-offizier". Die vergiftende Wirkung des in der Wilhelminischen Ära weithin zu beobachtenden Byzantinismus erfüllt ihn mit Sorge. Mit Bitterheit vermerkt er, wie sich so mancher Bürger bluffen läßt und klein beigibt, wenn militärisches oder militaristisches Denken und Handeln auf zivile Bereiche übergreifen. Immer seltener werden ihm die Beispiele eines echten, auf Gesinnung, Menschenbildung und solider Kenntnis beruhenden bürgerlichen Selbstbewußtseins.
Heraufkommen des Bourgeois Als Konsequenz dieses bürgerlichen Versagens konstatiert Fontane die Ausbreitung des Bourgeois — und diesen Typ hat der bei allem Temperament in seinen Wertungen vorsichtige und in seinen Gefühlen sparsame Fontane verspottet und verachtet. In „Frau Jenny Treibei", seinem heitersten Roman, konfrontiert er die Welt des echten Bürgertums mit der des Bourgeois und Spießers; des Bourgeois mit dem unüberbrückbaren Mißverhältnis zwischen Menschenbildung und Geldsackgesinnung, mit seinem Streben nach Äußerlichkeiten, nach Titeln und Orden. Im „Stechlin" sagt er einmal, nun nicht mehr mit der heiter-ironischen Distanz, die wir aus „Frau Jenny Treibei" kennen: „Er (Gundermann) ist ein Bourgeois und ein Parvenu, also so ziemlich das Schlechteste, was einer sein kann." .
Trotzdem wäre es verfehlt, diese Kritik Fontanes am geistigen und sozialen Habitus der unorganisch wachsenden bourgeoisen Gründergeneration mit der Verachtung Wilhelm Raabes oder dem Abscheu Friedrich Nietzsches dieser betriebsam-neureichen Zwischenklasse gegenüber zu vergleichen, die seither nicht wieder aus der deutschen Sozialstruktur verschwunden ist. Kritik ist für Fontane auch bei diesem peinlichen Thema nicht vornehme Zurückgezogenheit oder elitäre Abkehr, sondern sein unübersehbarer persönlicher Widerwille bleibt mit dem echt Fontaneschen Element des Interesses kombiniert. Die Werkverantwortung des gesellschaftskritischen Schriftstellers überwindet die persönliche Animosität.
Freilich, die hellwache Suche nach der menschlichen Substanz, nach der humanen Gesinnung bleibt als normatives Korrektiv immer gegenwärtig — um so unverständlicher ist gerade in diesem Zusammenhang der gegen Fontane häufig erhobene Vorwurf der grundsatzlosen Opportunität und eines knieweichen Relativismus, der Gesinnung des „alles verstehen heißt alles verzeihen". Eine solche Kritik, die ehedem aus dem Lager der völkischen Literatur-kritik erging und die heute, wenn auch unter dem diametralen Vorzeichen des Klassenstandpunktes , von Vertretern der marxistischen Literaturkritik behauptet wird (in gewissem Sinne auch von Georg Lukäcs), geht am geistigen Wesenskern des Dichters und seines Werkes vorbei. — Ein Schlaglicht auf Fontanes Entwicklung wirft im Zusammenhang mit seiner Kritik an Bürgertum und Bourgeoisie eine Briefstelle an seine Tochter aus seinen letzten Lebensjahren: „Ich werde immer demokratischer und lasse höchstens noch einen , richtigen'Adel gelten. Was dazwischen liegt — Spießbürger, Bourgeois, Beamter und schlecht-weg . Gebildeter'kann mich wenig erquicken."
Der Vierte Stand Nicht so sehr die Enttäuschung über den Adel und die Verachtung für den Bourgeois haben Fontanes Blick auf den vierten Stand und dessen Probleme gelenkt. Vielmehr stellt sich ihm die Arbeiterfrage von seinem Sinn für die geschichtliche Entwicklung, seinem politischen Nerv und seinem christlichen Humanismus her.
Nach dem Nobiling-Attentat auf Kaiser Wilhelm L, am Vorabend des Sozialistengesetzes, schreibt Fontane an seine Frau (5. Juni 1878): „Alle diese Leute (gemeint sind die Angehörigen des vierten Standes) sind uns vollkommen ebenbürtig, und deshalb ist ihnen weder der Beweis zu führen, daß es mit ihnen nichts sei, noch ist ihnen mit der Waffe in der Hand beizukommen. Sie vertreten nicht bloß Unordnung und Aufstand, sie vertreten auch Ideen, die zum Teil ihre Berechtigung haben und die man nicht totschlagen oder durch Einkerkerung aus der Welt schaffen kann. Man muß sie geistig bekämpfen, und das ist, wie die Dinge liegen, sehr sehr schwer." Es versteht sich am Rande, daß Fontane die Sozialistengesetze Bismarcks verurteilt. Fontane setzt sich im Laufe der Jahre immer stärker für die volle Anerkennung des vierten Standes und den gleichberechtigten Einbau der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft ein. In einem Brief an seinen englischen Freund James Morris liefert er dafür gleichsam die innere Legitimitation:
„Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken, immer dasselbe. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an . . . Das, was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben hat das Denken, Sprechen, Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege."
(22. Februar 1896.) Zur gleichen Zeit läßt der Dichter dem sich durch ein abgewogenes Urteil auszeichnenden Grafen Barby im „Stechlin" seinen politischen tour d’horizon so abschließen: „Ob der vierte Stand sich etabliert und stabiliert — darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze Sache hinaus."
Die Summe: „Der Stechlin"
Dieses Wort des Grafen Barby ist im Grunde auch das Thema von Fontanes letztem Roman. Er zieht darin die Summe seines dichterischen Lebens — und das heißt, daß nun zeit-und gesellschaftskritische Schlußbilanz aufgemacht wird. Dem Dichter des „Stechlin" ist häufig vorgeworfen worden, daß dieser Roman ob seiner „Handlungslosigkeit" im traditionellen literarischen Sinne deutliche formale und inhaltliche Schwächen aufweise und die Merkmale des typischen Alterswerkes trage.
Bei näherer Betrachtung erweist sich ein solches Urteil als zu eng, ja als literarisches Mißverständnis, als Unverständnis der Absicht des Dichters gegenüber. Dieser Roman bezieht seine Spannung und seine Handlung aus der in ihm entfalteten Dialektik — aus der Auseinandersetzung zwischen „dem Alten" und „dem Neuen" — im politischen und sozialen Sinne. Die mit diesem polaren Ringen umschriebene universale Spannung kann auf Handlung im herkömmlichen Sinne verzichten, ja dieser Verzicht wird — getragen von der Stilistik Fontanes — zu einer Voraussetzung dieses politischsten Romans der deutschen Literatur bis auf den heutigen Tag — trotz Heinrich Manns „Der Untertan", Anna Seghers „Das Siebte Kreuz" und Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob", um nur drei klassische vergleichswürdige Titel dieser Romangattung zu nennen.
Zum Inhalt des „Stechlin" wird damit der Entwicklungsprozeß der Gesellschaft schlechthin. Die Menschen und deren Gespräche, die sozialen und politischen Gruppierungen, die Situationen und Episoden sind nur funktionelle Statisterie — was keineswegs abwertend zu verstehen ist — im Dienste der Romanidee, und diese heißt: Wie verläuft politische und soziale Entwicklung? Als Antwort auf diese Frage steht im „Stechlin" der totale politische Roman vor uns.
Für das Neue leben Wir wissen es nun bereits: das eigentliche Vermächtnis Fontanes liegt in seiner Zeit-und Gesellschaftskritik. Fontane selbst spricht in einer ganzen Reihe von Figuren des „Stechlin" zu uns: im alten Dubslav von Stechlin, im Grafen Barby, im jungen Stechlin und vor allem auch in Melusine — einer der Frauengestalten, die in den Romanen Fontanes nach seinem eigenen Ausspruch „so vieles bestimmen". Aber durch keine Figur spricht das Vermächtnis des greisen Fontane so unverschlüsselt und unmittelbar zu uns wie im Pastor Lorenzen. In dessen Worte legt Fontane sein letztes Resümee: „Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben-dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben ... Ob ein Neues sein soll oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreht sich alles."
Und dann faßt der Dichter seine Sozialkritik, sein Ringen um den preußischen Adel und sein Eintreten für eine offene Gesellschaft in einem Wort des progressiven Pastors Lorenzen, den man sich politisch zwischen August Bebel und Friedrich Naumann stehend vorstellen könnte, zusammen: „In unserer Obersphäre herrscht eine naive Neigung, alles Preußische’ für eine höhere Kulturform zu halten . . . Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiet zu betätigen."
Tradition und Neuordnung Ausgehend von den Briefstellen Fontanes über den vierten Stand und unter Bezug auf die politischen Aussagen des Pastors Lorenzen im „Stechlin" wird versucht, Theodor Fontane zumindest als unbewußten Vorläufer dem Lager des historischen Materialismus und der marxistischen Krisendeutung zuzuordnen. Eine unvoreingenommene Werkanalyse jedoch ergibt, daß Fontanes humane Gesellschaftskritik und seine von geschichtlichem Sinn getragene politische Zeitkritik frei von parteipolitischer Stellungnahme und von ideologischer Bindung ist. Sie entzieht sich der engeren politischen Einordnung.
Man hat dies neben der erwähnten marxistischen Deutung versucht und ihn als Altkonservativen beginnen lassend später in den politischen Bezirken der Freikonservativen oder der Nationalliberalen ansiedeln wollen. Die politischen Stellen des „Stechlin" in Betracht ziehend, wollten manche einen Linksliberalen oder einen gemäßigten Sozialdemokraten aus ihm machen. Alle diese Versuche gehen fehl und sind interpretatorisch uninteressant, weil der Persönlichkeit und der Aussage des Dichters schlicht unangemessen.
Die Zeit-und Gesellschaftskritik Fontanes ist nur dann zu verstehen, wenn man den Dichter von seinem unbestechlichen Sinn für Geschichte, von seinem eingeborenen historischen Bewußtsein und von seiner Fähigkeit her, diese Elemente kritisch auf die Erkenntnis sozialer und politische Phänomene und Vorgänge anzuwenden, begreift.
Der im neunzehnten Jahrhundert neben der Generation des „Jungen Deutschland" politischste unter den deutschen Dichtern bezieht sein politisches und soziales Urteil aus der Einsicht in den geschichtlichen Entwicklungsprozeß und dessen Kontinuität. Nur von hier aus läßt sich so etwas wie eine einheitliche politische Anschauung Theodor Fontanes herleiten.
Diese Einsicht führt ihn zu jener Mitte, in der Tradition und Neuordnung zum Einklang gekommen sind; jener realistischen Mitte, die die romantisch-reaktionäre Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie und einer von dieser abgeleiteten politischen Ideologie genauso vermeidet wie deren aufklärerisch-optimistische Gegenposition und ihre materialistische Weiterführung.
Dieses Bewußtsein der guten Mitte verbindet sich bei Theodor Fontane mit der Kraft des Herzens zur Kritik an einer Zeit und einer Gesellschaft, die nicht in „Ordnung" war. Mit ihrem Anruf an den zivilen Mut, das soziale Gewissen und die politische Vernunft ist sie immerwährend lebendig — auch heute.
Kleine Bibliographie
Gesammelte Werke:
Sämtliche Werke. Hrsg. v. Walter Keitel. München 1962 ff.
Abt. I. Romane, Erzählungen, Gedichte. 6 Bde.
Abt. II. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 3 Bde.
Abt. III. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. 4 Bde.
Sämtliche Werke. Ungek. Texte u. unter Zugrundelegung d. Erstausgabe.
Hrsg. u. m. Nachw. u. Anmerk. vers. v. Edgar Gross. München 1959 ff.
Abt. I. Romane, Erzählungen. Bd. 1— 8.
Abt. II. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 9— 13.
Abt. III. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Gedichte. Bd. 14— 24.
Werke. In 3 Bdn. Hrsg. v. Kurt Schreinert. Ausw. u. Komment, d. „Wanderungen durch die Mark Brandenburg" v. Hans-Ulrich Engel.
Jubiläumsausgabe. München 1968.
Taschenbuch-Ausgabe. 15 Bde. Komment, v. Kurt Schreinert, zu Ende gef. v. Annemarie Schreinert. München 1969.
Werke. In 2 Bdn. Hrsg. v. Werner Lincke. 2. Ausl, mit zahlr. Abb. Salzburg 1968.
Werke. In 2 Bdn. Hrsg. v. Hannsludwig Geiger. Berlin 1958.
Gesammelte Werke. In 2 Bdn. Mit einer Eins. v. Rudolf Pechei. München 1948.
Briefe:
Briefe. Hrsg, von Kurt Schreinert. Zu Ende geführt u. mit einem Nachw. versehen von Charlotte Jolies. 1. wort-u. buchstabengetreue Ed. nach den Handschriften. Bd. 1. Berlin 1968.
1. Briefe an den Vater, die Mutter und die Frau. 353 S.
Briefe an Georg Friedländer. Hrsg. u. erl. v. Kurt Schreinert. Heidelberg 1954. XXIII, 400 S., 2 S. Bibliographie.
Briefe an Hermann Kletke. Hrsg. v. Helmut Nürnberger. München 1969; ca 112 S. m. 2 Abb. u.
1 Faks.
Biographien:
Fontane oder die Kunst zu leben. Ein Brevier. Hrsg, von Ludwig Reiners. Mit 4 Bildnissen.
Leipzig 1939. 276 S. Sammlung Dietrich. Bd 57.
Fricke, Hermann Theodor Fontane. Chronik seines Lebens. Berlin-Grunewald 1960. 95 S.
Lukäcs, Georg Die Grablegung des alten Deutschland. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, (über: Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane.) Reinbek bei Hamburg 1967. 172 S.
= Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Bd 276. Nürnberger, Helmut Der frühe Fontane. Politik, Poesie, Geschichte 1840 bis 1860. Hamburg 1967. 442 S.
Nürnberger, Helmut Theodor Fontane in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1968. 187 S.
= Rowohlt Monographien Bd. 145.
Reuter, Hans-Heinrich Fontane. Bd 1— 2. München 1968.
Ritscher, Helga Fontane. Seine politische Gedankenwelt. Göttingen 1953. 159 S. = Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft. H. 8.
Roch, Herbert Fontane. Berlin und das 19. Jahrhundert. Berlin-Schöneberg 1962. 287 S.
Wandrey, Conrad Theodor Fontane. München 1919. VII, 412 S.
Zeitschriftenaufsätze:
Hagen, Maximilian von Theodor Fontanes politische Wandlung. Zur Veröffentlichung seiner Altersbriefe an Georg Friedländer. S. 106— 112.
In: Die Welt als Geschichte. Stuttgart 1957. Jg. 17. H. 2.
Heiseler, Bernt von Plädoyer für Fontane. S. 465— 470.
In: Zeitwende. Hamburg. Jg. 35. 1964. H. 7.
Höfele, Karl Heinrich Theodor Fontanes Kritik am Bismarckreich. S. 337— 342.
In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Stuttgart. Jg. 14. 1963. H. 6.
Jürgensen, Wilhelm Theodor Fontane im Wandel seiner politischen Anschauungen. S. 561— 569.
In: Deutsche Rundschau. Baden-Baden 1958. Jg. 84. H. 6.
Kieslich, Günter Journalistisches und Literarisches bei Theodor Fontane. S. 452— 462.
In: Publizistik. Bremen. Jg. 5. 1960. H. 6.