In der politischen Bildung wird das Bekenntnis zu den Wertungen und Verfahrensweisen der Demokratie — also ein Stück „Affirmation" und nicht nur totale „Kritik" — an allem Bestehenden vorausgesetzt. Das muß auch bei den aktuellen Auseinandersetzungen mit radikalen Strömungen „linker" oder „rechter" Prägung in Erinnerung behalten werden. Wenn politische Bildung in Anknüpfung an frühere Zeiten der anhebenden Demokratisierung als „emanzipiert" bezeichnet wird, so schließt das nicht aus, sowohl „konservative" wie „progressive" Strömungen zu Wort kommen und sich in der kritischen Über-prüfung ihrer eigenen Standpunkte artikulieren zu lassen. Unter diesen Voraussetzungen hatte politische Bildung auch für konservative Richtungen einen „emanzipierenden", d. h. einen von blinder Autoritätsgläubigkeit „befreienden" Effekt. Wenn politische'Bildung auch breitere Bevölkerungsgruppen erreichen will, dann muß die Trennung zwischen beruflicher Aus-und Weiterbildung und politischer Bildung aufgehoben werden und politische Bildung als konstituierendes Element in jede berufliche Ausbildung eingehen, an der breitere Gruppen beteiligt sind.
Wenn ich hier über gegenwärtige Probleme der politischen Bildung einige Gedanken äußere, so möchte ich doch einige Vorbemerkungen vorausschicken.
Zunächst soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als seien alle diese Gedanken völlig neu oder als seien sie in der praktischen Wirksamkeit der Bundeszentrale oder auch der Landeszentralen für politische Bildung nicht berücksichtigt worden. Im Gegenteil: Die kurze Zeit, in der ich als Mitglied des Beirates der Bundeszentrale für politische Bildung die Arbeit habe ein wenig kennen lernen können, hat mir gezeigt, wie viele neue Probleme sie angepackt hat und wie sie in ihrer Arbeit mit den neuen Gegebenheiten Schritt zu halten versucht. Einige von den hier zu formulierenden Gedanken sind also durch die praktische Wirksamkeit z. B.der Bundeszentrale erst angeregt worden oder gehören zum Bestandteil ihrer Praxis. Ich versuche diese Gedanken daher als eine Art Selbstbesinnung zu formulieren.
Zum anderen werden die folgenden Überlegungen im Hinblick auf die besonderen Aufgaben einer staatlichen Organisation auf diesem Felde formuliert. Diese ist gehalten, parteipolitisch — aber nicht politisch — neutral zu sein. Und das bedeutet: sie hat politische Bildung im Sinne des Grundgesetzes und der Demokratie zu fördern und zu betreiben, und hier nimmt politische Bildung Stellung und veranlaßt sie zur Stellungnahme. Aber indem sie Wertungen und Stellungnahmen zu erkennen gibt und auch veranlassen will, ist sie nicht mit Schulung oder Propaganda zu verwechseln. Sie ist nicht Indoktrination auf dem Hintergrund staatlichen Drucks. Dann hörte sie auf, Bildung im Sinne der Demokratie zu sein.
Es widerspräche den Wertungen der Demokratie, Bildung in politischer Hinsicht oktroyieren zu wollen, denn damit würde sie zerstört. Die im Sinne der Demokratie betriebene politische Bildung muß kritische Einwände, Argumente und Diskussionen nicht nur zulassen, sondern anregen, wenn sie Bildung und nicht nur Schulung, wenn sie Bildung im Sinne der Demokratie und nicht Schulung im Sinne undemokratischer Regime sein soll und will.
Kritik" und „Affirmation"
Ich unterstreiche diesen Gedanken deswegen, weil politische Bildung im Sinne der Demokratie heute häufig in Gefahr steht, defensiv zu sein. Das hängt gewiß mit vielen Faktoren zusammen, die Angelegenheiten der Politik und nicht der politischen Bildung sind. Aber es hängt auch mit Klimaveränderungen gerade unter denen zusammen, die über poli-tische Bildung nachdenken und in ihr tätig sind oder tätig sein wollen. Unter ihnen ist es üblich geworden, politische Bildung nur dort anzuerkennen, wo sie Kritik fördert. In einem solchen Zusammenhang bin ich einmal mit einer folgenreichen Formulierung konfrontiert worden: Bildungsaktivitäten, die „affirmativ" seien, könnten nicht als politische Bildung anerkannt werden. Ich will jetzt nicht auf die Auslegung der vor allem von Herbert Marcuse lancierten Vorstellungen von einem affirmativen Kulturverständnis eingehen. Aber in der mit der politischen Bildung direkt zusammen-B hängenden Interpretation wird deutlich, welche Konsequenzen dieses Klischee haben kann. Politische Bildung, die sich zu bestimmten Wertungen und damit verbundenen bestehenden Verfahrensweisen, Organisationsformen und Zuständen bekennt oder für sie Stellung nimmt, verfällt dem Verdacht, daß Bestehende insgesamt zu bejahen und ihre kritische Aufgabe zu verfehlen. Eine solche Auffassung von politischer Bildung als Förderung des kritischen Denkens unter Ablehnung jedes Bestehenden, weil es besteht, ist kritisch gegen alles — nur nicht gegen sich selbst. Sonst würde sie erkennen, wie undifferenziert eine solche Darstellung ist und welche Wertungen sie ihrerseits, aber verhüllt und unausgesprochen, d. h. dogmatisch, voraussetzt. Demgegenüber wollte ich nur hervorheben: Politische Bildung im Sinne der Demokratie fördert Kritik im Namen der Wertungen, die sie bejaht, zu denen sie also affirmativ steht, und im Rahmen der mit den Wertungen verbundenen Verfahrensweisen, zu denen sie sich bekennt. Das scheint mir die wichtigste Voraussetzung dafür zu sein, daß sich politische Bildung im Sinne der Demokratie und daß sich die Vertreter dieser Demokratieauffassung nicht in die Defensive drängen lassen — auch nicht denen gegenüber, die mit subtilsten Theorien oder groben Vereinfachungen die Demokratie gewollt oder ungewollt diskreditieren.
Auseinandersetzung mit radikalen Strömungen
Die politische Bildung einer Bundeszentrale im Sinne der Demokratie hat es naheliegenderweise auch immer mit den Auseinandersetzungen mit politischen Radikalismen verschiedener Färbung zu tun gehabt und zu tun. Wir wissen, wie sich die Gewichte im Radikalismus beim Übergang von den fünfziger zu den sechziger und siebziger Jahren verschoben haben.
Diese Veränderung betrifft zahlenmäßig kleine Gruppen in der Intelligenz, unter den Studenten, unter den Akademikern, unter Erwachsenenbildnern, Lehrern — kurz unter denen, die über politische Bildung nachdenken, die sie betreiben oder sich darauf vorbereiten, sie zu betreiben. Und unter ihnen haben einige Theorien und Ideologien ihre Wirkungen getan, ohne die man auch die radikale Protest-bewegung unter der jüngeren Generation und den Studenten nicht zureichend verstehen kann. Daran denke ich, wenn ich von der Verschiebung der Gewichte spreche. Ich glaube, es wäre ein Irrtum zu meinen, diese Probleme seien gering, weil sie keine großen Massen erfaßt haben oder weil die offene Konfrontation, die Aktion oder sogar der offene Terror jedenfalls in der Bundesrepublik unterdessen schwächer geworden seien. Auf dem sogenanpten linksextremen Flügel ist die offene Konfrontation im Sinne anarchistischer Traditionen sicherlich schwächer geworden; aber an ihre Stelle ist die stillere, langfristig gedachte Konspiration ganz im Sinne offen kommunistischer oder zumindest kommunistoider Traditionen getreten. Darin läge also nur ein geringer oder überhaupt kein Trost.
Die Strömungen haben andererseits auch keine Einwirkungen auf breitere Massen bekommen; aber sie sind gerade unter den jetzigen oder künftigen Multiplikatoren und denjenigen verwurzelt, die in die offiziellen oder inoffiziellen Positionen von „opinion leaders" kommen können oder werden. Hier muß man also mit Auswirkungen auf längere Sicht rechnen. Dabei kann man sich auf die Dauer nicht damit trösten, daß viele von ihnen einmal saturiert werden und in feste Positionen rücken. Diejenigen, die aus opportunistischer Saturiertheit aufhören radikal zu sein, können nicht als die festesten, ganz und gar nicht als die überzeugendsten Stützen der Demokratie betrachtet werden — im Gegensatz zu denen, die einen überzeugungs-und Ansichtswandel durchgemacht haben. Sicherlich werden viele, vielleicht die meisten, nicht das bleiben, was sie in ihrem Alter heute sind; aber diesen Prozeß des Wandels bewußt zu beeinflussen, durch systematische und sachliche Auseinandersetzung mit den Theorien und Ideologien, die heute ihre Wirkung tun, voranzutreiben, das halte ich gerade im Hinblick auf eine Institution wie die Bundeszentrale für eine ihrer zentralen Aufgaben und Probleme. Denn sie hat sich mit diesen Multiplikatoren zu beschäftigen, und sie muß daher deren Stimmungen, Tendenzen oder festgeronnenen Ansichten zum Ausgangspunkt ihrer Wirksamkeit machen.
Damit man mich nicht mißversteht: Ich will nicht mit denen verwechselt werden, die im Stile der zwanziger Jahre von Hauptfeinden von links oder von rechts reden. Wenn ich von den Auseinandersetzungen mit Strömungen und Ideologien spreche, die auch mit den radikalen Protestbewegungen sogenannter linker Färbung zu tun haben, so muß deutlich bleiben, daß sich die Auseinandersetzungen gleichzeitig nach mehreren Seiten richten. Die Ideologien sogenannter linker Prägung sind heute nur der aktualisierte Ausgangspunkt für notwendige Klarstellungen von Problemen, die mit der Demokratie Zusammenhängen und mit denen es politische Bildung im Sinne der Demokratie auf den verschiedensten Flügeln unseres politischen Lebens zu tun hat.
„Konservative" und. „progressive" Richtungen in der Demokratie
Ich greife aus diesen mir wichtig erscheinenden Problemen nur noch einige heraus.
Bei vielen, die heute über politische Bildung nachdenken oder sie betreiben, ist es üblich geworden, politische Bildung im Sinne der Demokratie als emanzipatorisch zu bezeichnen. Das hat seine Wurzeln in der Zeit, in der gegen den ständischen Obrigkeitsstaat, für die Demokratie als einer Emanzipation, d. h. als einer Befreiung vieler Bevölkerungsgruppen und Individuen von Unterdrückung, Benachteiligung und autoritärer Herrschaft gekämpft wurde. In diesem Zusammenhang hat das Wort auch einen guten Sinn im Hinblick auf eine politische Bildung in der Demokratie. Es darf aber nicht verdunkeln, daß es im Rahmen der Demokratie verschiedene, auch sogenannte konservative Strömungen gibt und geben kann, die ebenso wie andere das Recht haben, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der politischen Bildung zu Wort zu kommen. Man kann nicht über politische Bildung nachdenken, ohne auch über die politische Situation nachzudenken, in der sie geschieht. Im Hinblick auf diese Situation scheint es mir im Interesse der Demokratie wichtig zu sein, nicht etwa alle Konflikte zu leugnen oder zu beseitigen. Demokratie ist keine harmonische Brüderlichkeit, sondern eine bestimmte Form, mit Konflikten fertig zu werden. Aber das erfordert von der politischen Bildung, zur sachlichen, richtigen Interpretation der Konflikte auch in den Köpfen der streitenden Parteiungen beizutragen und falsch eingekleidete Polarisierungen abzubauen. Unter diesem Gesichtspunkt muß — wie gesagt — deutlich bleiben, daß es innerhalb der Demokratie konservative und progressive Strömungen gibt und geben kann. Es hängt mit den besonderen Bedingungen gerade der deutschen Geschichte zusammen, daß diese Einsicht so schwer zu begreifen ist. Die lange, halbfeudale, quasi-ständische und obrigkeits-staatliche Uberformung der deutschen Gesellschaft noch in der Zeit der Industrialisierung hat auch dem Konservatismus der früheren Zeit oft ein antidemokratisches Gepräge gegeben und förderte andererseits die Rezeption eines dogmatisch orthodoxen Marxismus mit teilweise demokratiefeindlichen Zügen. Auf beiden Seiten haben unterdessen tiefgehende Wandlungen stattgefunden. Es gehört zu den großen Aufgaben der politischen Bildung, diesen Wandel im Sinne der Demokratie zu fördern und den Beteiligten zu interpretieren.
Und in diesem Sinne muß es im Rahmen der politischen Bildung selbstverständlich sein, sich konservative Richtungen im politischen Bildungsprozeß artikulieren zu lassen, indem sie ihre wertenden Voraussetzungen, die Konsequenzen ihres Denkens und Handelns auch im Zusammenhang mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung kritisch zu durchdenken und zu überprüfen lernen. In einem solchen Verständnis hätte auch in dieser Richtung politische Bildung eine vom blinden Autoritätsglauben befreiende und, wenn man so will, emanzipierende Wirkung. Das alles sage ich jetzt auch nicht zuletzt im Hinblick auf die Polarisierung, die die neuere Entwicklung in Deutschland mit sich gebracht hat, die verstehen zu lernen oder abzubauen eine Ausgabe der politischen Bildung im Sinne der Demokratie ist, soweit es sich um den Abbau von ideologischen Fehldeutungen oder Verzerrungen der Konflikte und Kontroversen handelt. Welche entscheidende Rolle die methodisch-didaktische Seite oder, wie man heute sagt, das Problem von Curricula in der politischen Bildung besonders in diesem Zusammenhang spielt, ist im Hinblick auf Schule oder Erwachsenenbildung unterdessen viel diskutiert und deutlich gemacht worden. Daher brauche ich hier nicht ausführlich darauf einzugehen. Das betrifft auch die Frage nach der Verwendung von audiovisuellen Mitteln und nach der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Medien. Hier hat die Bundeszentrale durch Vergabe von Forschungsaufträgen und eigene Arbeiten besonders anregend gewirkt.
Ich möchte nur hervorheben, daß die methodisch-didaktischen Erörterungen auch um die wichtige Frage kreisen, wie man die Menschen im politischen Lernprozeß Elemente der Selbstverwaltung und eigenverantwortlicher Entscheidung bereits erfahren lassen kann. Ohne diese verhaltensbeeinflussende Erfahrung bleibt politische Bildung weitgehend wirkungslos.
Berufliche und politische Bildung
Wir haben früher von den Multiplikatoren der politischen Bildung gesprochen. Es steht aber wohl außer Frage, daß man an sie auch im Hinblick auf die breiten Gruppen denken muß, mit denen sie im politischen Bildungsprozeß Kontakt aufnehmen. Wie die letzten Wahlen zeigen, sind diese großen Bevölkerungsgruppen in einem für die deutsche Geschichte seltenen Umfang in politische Bewegung geraten. Der Gunst dieser Stunde sollte sich jede politische Bildung bewußt sein und fragen, wie sie die Kontakte mit diesen in Bewegung geratenen Gruppen herbeiführen, erhalten oder vertiefen könne. Die politische Bildung stand und steht immer in der Gefahr, elitär zu werden, da sie sich besonders an denen orientiert, die bereits politisch nachzudenken bereit sind. Das hat eine besonders in der deutschen Bildungsgeschichte entwickelte Differenzierung erneut aktualisiert. Ich meine die Unterscheidung zwischen Bildung, Allgemeinbildung, „höherer" Bildung auf der einen und Berufsausbildung und Weiterbildung auf der anderen Seite. Heute ist der weitgehend apolitische Zug in der deutschen Bildungsgeschichte zurückgedrängt worden. Die Differenz aber ist geblieben und steht in Gefahr, nur ein neues Gewand anzunehmen: hier die „emanzipierte" politische Bildung — dort die „technokratische" leistungsbezogene Berufsausbildung. Diese Entgegensetzung ist für die Demokratie gefährlich, und sie muß in der politischen Bildung überwunden werden. Hier taucht jedoch das große Problem auf, wie die berufliche Ausbildung und Weiterbildung zu gestalten ist und wie sie öffentlich daraufhin kontrolliert werden kann, daß politische Lernvorgänge in die berufsbezogenen Lernvorgänge als konstitutives Element eingehen.
Hier und vor allem hier — wenn man von der Schule absieht — wird man die breiten Gruppen der Bevölkerung überhaupt erreichen können, mit denen die politische Bildung im Durchschnitt keinen oder nur einen ungenügenden Kontakt hält. Das Problem ist schwierig. Es hat eine politische Seite, weil hierbei massive Interessen aufeinanderstoßen, und auch eine didaktisch methodische Seite. Beide Probleme können nur gelöst werden, wenn Berufsausbildung und Berufsweiterbildung das Erlernen nicht nur von technischen Fertigkeiten, sondern auch von Einsichten in die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Berufslebens und nicht nur von Pflichten, sondern auch von Rechten im Arbeitsleben in sich begreifen.
Politische Klischees
Es ist für die politische Bildung von erstrangiger Wichtigkeit, sich um die Klarheit der Worte und Begriffe zu bemühen, die die politische Landschaft heute konturieren. Das ist keineswegs nur ein terminologisches Problem. Die Bezeichnungen oder Begriffe, mit denen gesellschaftliche und politische Zustände beschrieben, erklärt, gedeutet, angeklagt oder gefordert werden, der Jargon einer Zeit kanalisiert Denkbahnen und Verhaltensweisen, macht für Probleme hellhörig und verdeck! andere Probleme. Die darin entstehenden Kli schees und Stereotypen sind Vorstufen zl Vorurteilsbildungen, in denen nachher ein* Revision einer besonderen Sichtweise nich mehr oder nur noch schwer möglich wird Politische Bildung hat dem vorzubeugen um diese Begriffe und Bezeichnungen im Interess« distanzierender Klarheit noch im flüssigen Zu stand vor der Vorurteilsverhärtung zur Dis kussion zu stellen und anzugehen. Heute ist die politische Debatte von vielen solcher zu Klischees erstarrten Begriffen und Bezeichnungen erfüllt. Ich erinnere nur an einige Stereotypen: hier Kapitalismus, dort Sozialismus, Herrschaft und Repression auf der einen Seite, Emanzipation und antiautoritäres Verhalten auf der anderen Seite, Manipulation, Entfremdung, Ausbeutung, System, Technokratie und wie diese Begriffe alle noch heißen. Nicht daß man ohne solche Bezeichnungen überhaupt auskommen könnte — aber politische Bildung muß versuchen, auf eine klare und optimal eindeutige Verwendung zu drängen, damit das politische Leben nicht in einen Strom gerissen wird, dessen Mündungsgebiete man nicht kennt oder nur zu gut kennt.
Ich nehme als Beispiel nur das Wort Herrschaft. Die moderne Inflation in der Wortverwendung von Herrschaft erinnert an andere Inflationen. Bei vielen erscheint es so, als wollten sie alle Übel dieser Welt in diesem einen Wort zusammenfassen. Sie bezeichnen jede Macht, Führung, Weisungsberechtigung oder steuernde Einflußnahme, jede Autorität als Herrschaft und denunzieren alle diese Erscheinungen als Symbole des Übels.
Das Wort Herrschaft erscheint in vielen Färbungen. Auf der einen Seite in der wissenschaftlichen Definition etwa bei Max Weber als Chance, bei einer bestimmten Menschengruppe für bestimmte Befehle Gehorsam zu finden. Diese Bestimmung ist klar und abgegrenzt, wie es der Wissenschaft angemessen ist. In diesem Sinne hat man auch von der Demokratie als einer besonderen Herrschaftsordnung gesprochen. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß bestimmte traditionelle Wort-verwendungen von Herrschaft darin kaum vorkommen. Dennoch haben manche Wendungen von Weber auch an Herrschaft als ein Verhältnis von Herr und Knecht, von Herr und Diener, von Herren und Untertanen oder von Herren und Unterdrückten, Herren und Sklaven erinnert. So wird das Wort heute auch von anderen gebraucht. In diesem Gebrauch wird dann Demokratie nur zu einer besonders verhüllenden und trügerischen und insofern diabolischen Form von Herrschaft. So behauptet z. B. Herbert Marcuse, daß, auch bei freier Wahl der Herren, Herren und Sklaven nicht abgeschafft würden. Damit wird die Wahl, d. h. auch die Demokratie, zu einem bloßen Scheingefecht oder zum Feigenblatt für die tatsächlich fortgeführte Herrschaft im Sinne von Herren und Sklaven. Die Behauptung von Marcuse ist als Wirklichkeitserkenntnis absurd: als ob die Grundherren Herren geblieben wären, wenn die von ihnen abhängigen Bauern sie hätten abwählen können — und als ob die herrschenden Gruppen in der Sowjetunion die gleichen Herren blieben, wenn sie sich einer Wahlentscheidung zu unterwerfen hätten. Erweist sich bei genauerem Zusehen die Wirklichkeitsbeschreibung von Marcuse als widersinnig, so macht die Analyse klar, wieso sie die real bestehende demokratische Verfahrensweise als bloßen Schein denunzieren und diskreditieren will. Man kann sich allerdings fragen, ob die Definition von Max Weber nicht auch solche Konsequenzen erleichtert. Das will ich hier nicht weiter erörtern. Die wenigen Bemerkungen dienten nur dem Hinweis, wie sehr es bei der politischen Bildung im Sinne der Demokratie darauf ankommt, auf Klarheit und Eindeutigkeit der Wortverwendung zu drängen, um Aussagen überprüfbar zu machen und Wertungen auf ihre Folgen und Voraussetzungen hin analysieren zu können. Das ließe sich etwa auch an anderen Begriffen wie z. B.dem des Systems, der Technokratie, der Leistungsgesellschaft etc. illustrieren.
Demokratie-Verständnis
Auch das Demokratieverständnis steht wieder zur Debatte. Wenn Demokratie staatsorganisatorisch als eine Verfahrensweise der Gesetzesstiftung, der Regierungseinsetzung und Kontrolle mit der spezifisch unterscheidenden Merkmalseinheit von Majoritätsentscheidung, politischen Freiheitsrechten und Rechtssicherheit verstanden werden kann, dann ist sie auch mit bestimmten inhaltlichen Wertungen verbunden, die diese Verfahrensweise stützen und erläutern. Dabei denke ich z. B. an die wertende Bejahung der relativen individuellen Autonomie und Freiheit und der wachsenden Gleichheit in den Chancen, seine Person zu entfalten und an den gesellschaftlich bedeutenden Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Ferner denke ich an die wertende Bejahung der Tendenz, die Nötigung zur staatlichen Gewaltanwendung bei Bewältigung der gesellschaftlichen Konflikte auf ein Minimum her-abzudrücken. Damit ist dann auch eine wertende Bejahung einer Autoritätsform verbunden, die nicht mehr auf Vorrechten der Geburt, des Besitzes oder eines heilsgeschichtlichen Sendungsbewußtseins, sondern auf dem ausdrücklichen Auftrag aller mündigen Bürger beruht und sich durch eine an diesem Auftrag zu messende Leistung auszuweisen hat. Dadurch werden die Autoritätsträger im Staat auswechselbar und unterstehen der Kontrolle. Das erklärt das Wort von Popper, Demokratie sei die Institution, in der man eine Regierung ohne Gewaltanwendung wieder loswerden könne. Das erläutert aber auch, wieso man Herrschaft enger fassen könnte als heute üblich: z. B. als Monopolisierung der Besetzung von Macht-und Entscheidungspositionen durch besondere soziale Gruppen. Nur solche Gruppen, die das Monopol auf die Besetzung von Macht-und Entscheidungspositionen mit Erfolg als „legitim" behaupten, werden zu „Herren" im engeren und strengeren Sinne. Das macht andere Gruppen und Schichten der Bevölkerung, denen der Zugang zu diesen und die Kontrolle über solche Positionen verwehrt wird, zu „Untertanen". Der Prozeß der Demokratie hebt derartige Privilegien schrittweise auf. In diesem Lichte würde Demokratie nicht als Abbau von Macht-und Entscheidungspositionen, doch als Abbau von Herrschaft im engeren Sinne anzusehen sein. Dann jedoch kann Demokratie nicht mehr auf staatliche Organisation beschränkt gedacht, sondern muß auch mit Veränderungen der Autoritätsstruktur in anderen Bereichen der Gesellschaft, z. B.der Industrieorganisation oder des Bildungswesens, in Zusammenhang gebracht werden.
Eigentumsdoktrin
Daß dieser größere Zusammenhang auf der Tagesordnung steht, sieht man an sehr aktuellen Auseinandersetzungen um viele wirtschafts-oder bildungspolitische Fragen, aber am deutlichsten an der Rolle der sogenannten Eigentumsdoktrin. Ich meine damit die Tendenz, Eigentumsformen als primär unterscheidende Merkmale verschiedener gesellschaftlicher Ordnungen anzusehen.
Diese Doktrin hat zwei sehr verschieden gerichtete Gruppen von Anhängern. Die einen machen das Privateigentum auch als Verfügungsgewalt über riesige Produktionsorganisationen zu einem fast heiligen Bereich, die anderen zur Quelle des radikal Bösen. Die einen sehen darin die Voraussetzung für die parlamentarische Demokratie, die anderen das stärkste Hindernis für Demokratisierung im Sinne wachsender Chancengleichheit. Beide vernachlässigen dabei verschiedene Funktionen im Eigentumsbereich und vereinfachen oder verkürzen sozialhistorisch und soziologisch vergleichende Einsichten.
Hitler zerstörte die parlamentarische Demokratie, ohne das Privateigentum aufzuheben, und in Rußland war die staatswirtschaftliche Industrialisierung nicht die Voraussetzung, sondern geschah als Folge der Ein-Partei-Diktatur. Andererseits lehrt die über 50jährige Geschichte der Sowjetunion und das große Panorama zwischen Peking und Eisenach, daß Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln bestimmte soziale Privilegien beseitigen, aber auch andere an ihrer Stelle entwickeln kann. Hier ist auf staatswissenschaftlicher Grundlage die Bürokratie der Partei-, Staats-und Wirtschaftsapparate zur herrschenden Schicht der Gesellschaft geworden. Außerdem muß eine solche Aufhebung des Privateigentums keine Chancengleichheit im Bildungswesen oder in der Teilnahme an Entscheidungsprozessen realisieren. Man kann also den Satz wagen, daß in der Sowjetunion z. B. die Arbeitnehmerschaft weniger Einfluß auf wichtige gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Entscheidungen ihres Landes hat als in manchen westlichen Ländern bei Fortbe-stand des Privateigentums, aber mit Demo-kratie.
Unter diesem Gesichtspunkt scheint es mir auch falsch zu sein, die Differenz zwischen West und Ost auf den Nenner Kapitalismus— Sozialismus zu bringen. Gemessen an den VorStellungen von Kapitalismus und Sozialismus noch aus dem vorigen Jahrhundert kann man die privatwirtschaftlichen Verhältnisse im Westen oder die staatswirtschaftlichen Ordnungen im Osten nur noch verzerrend mit solchen Worten wie Kapitalismus oder Sozialismus'bezeichnen. Es handelt sich hier vielmehr um zwei Variationen der industriellen Gesellschäft. Sekundär spielen dabei auch Verschie-denheiten in den sogenannten Eigentumsverhältnissen eine Rolle. Aber primär ist der Bestand oder das Fehlen eines parlamentarisch demokratischen Rechtsstaates der für die weitere Zukunft kardinale Unterschied, denn ohne diese Art der Demokratie ist auch jede weitere Demokratisierung ein hölzernes Eisen.
Es muß beunruhigen, daß die fehlerhafte Charakterisierung der Unterschiede zwischen Ost und West nunmehr auch die Polarisierung innerhalb der bundesrepublikanischen Debatte zu prägen begonnen hat. Die Beunruhigung wird dadurch nicht gemildert, daß aus dieser irreführenden ideologischen Verpackung der Kontroverse sehr divergierende Interessengruppen Nutzen ziehen. Man kann vielleicht formulieren, daß die sonst so sehr divergierenden Anhänger der Eigentumsdoktrin eines gemeinsam haben: sie machen die Entscheidung darüber, ob, wann und wie die Demokratie möglich und wünschenswert sei, von dem Bestand oder von der Aufhebung des Privateigentums abhängig. Von der wertenden Entscheidung für die Demokratie und von der nüchternen Analyse der Realität hei aber sollte die Fragestellung umgekehrt werden: ob, wann und wie Privateigentumsformen erhalten, eingeschränkt oder aufgehoben werden, ist unter dem Aspekt zu entscheiden, ob, wann und wie Demokratie dadurch erhalten, gefestigt und vertieft werden kann.
Das bezeichnet in der gesellschaftlichen Realität eine sehr differenzierte, aber nichtsdestoweniger zentrale Angelegenheit. Aber deswegen ist sie auch ein kardinaler Gegenstand jeder politischen Bildung im Sinne der Demokratie. Eine klärende Diskussion dieses Fragenkomplexes ist um so wichtiger, als bei vielen Angehörigen der jungen Generation in der westlichen Welt der Verdacht verbreitet ist, daß man von Demokratie rede, aber das private Eigentum meine. Dieser Verdacht wird durch die irreführende Interpretation der Alternative in unserer gesellschaftlichen Entwicklung noch genährt und gestützt. Hierbei geht es um eine sozialhistorische Einsicht, aber auch um die Glaubwürdigkeit der Demokratie als eines historischen Weges, mit sozialen Konflikten fertig zu werden und soziale Veränderungen durchzuführen. Auf längere Sicht gesehen wird von der richtigen Einsicht und der Glaubwürdigkeit der Bestand der Demokratie abhängen. In jedem Falle aber entscheidet sich daran schon jetzt, ob und wie politische Bildung im Sinne der Demokratie in innen-und außenpolitischen Fragen offensiv betrieben wird und betrieben werden kann, um auf diese Weise der Aufgabe zu genügen, die man ihr gestellt hat: den Gefahren zu wehren und die Chancen für die humanistische Idee und Wirklichkeit einer Demokratie als Staats-und Lebensform zu nutzen.
Willy Strzelewicz, Dr. phil., Fil. lic., geb. 23. Oktober 1905 in Berlin, Professor für Soziologie an der Päd. Hochschule Niedersachsen, Abt. Hannover, und Honorarprofessor an der Techn. Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Der Kampf um die Menschenrechte, (Stockholm 1943) 3.deutsche Auflage Frankfurt/M. 1968; Industrialisierung und Demokratisierung der modernen Gesellschaft, Hannover 1958, 3. Ausl. 1970; zusammen mit H. D. Raapke und W. Schulenberg: Bildung und gesellschaftliches Bewußtsein, Stuttgart 1956, gekürzte Taschenbuchausgabe Stuttgart 1973; als Hrsg.: Das Vorurteil als Bildungsbarriere, Göttingen 1965, 3. Ausl. 1972; Jugend in ihrer freien Zeit, München 1965; Erwachsenenbildung, Soziolog. Materialien, Heidelberg 1968; Bildung und Leistung, in: CI. Ritters (Hrsg.), Weinheim 1968; Herrschaft ohne Zwang? Systeme und Interpretation der Autorität heute, in: G. Hartfiel (Hrsg.), Kritik I, Köln 1970.