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Wirtschaftswissenschaft oder „politische Ökonomie"? | APuZ 3/1973 | bpb.de

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APuZ 3/1973 Aktuelle Probleme der politischen Bildung Wirtschaftswissenschaft oder „politische Ökonomie"? Wachstum und überleben

Wirtschaftswissenschaft oder „politische Ökonomie"?

Lutz Köllner

/ 44 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wirtschaftswissenschaft und politische Ökonomie haben in Deutschland und in der angelsächsischen Welt verschiedene Wurzeln, da sie in unterschiedlicher Form und Intensität auf die überlieferte Gesellschafts-und Staatsphilosophie zurückgreifen. Eine Sonderstellung nimmt die neumarxistische politische Ökonomie ein. Ihre Auffächerung in eine Reihe verschiedener Erscheinungsformen hat zweifellos das Marx-und Marxismusverständnis in jüngster Zeit eher erschwert als erleichtert. Zu den bevorzugten Streitpunkten zwischen marxistischen und nichtmarxistischen politischen Ökonomen gehören der gegenseitige Ideologievorwurf und der — freilich unterschiedlich interpretierte — Rationalitätsbegriff. In der Bundesrepublik haben sich im vergangenen Jahrzehnt neue methodische Ansatzpunkte für eine politische Ökonomie herausgebildet, die die jeweils gewählten Denkansätze mitdiskutiert. Von dieser Position aus bieten sich verbesserte Möglichkeiten zu einer kritischen Weiterentwicklung der überlieferten Wirtschaftswissenschaft; zugleich verleiht die erhöhte Flexibilität im heutigen sozialwissenschaftlichen Denken einer modernen politischen Ökonomie einen deutlichen Vorsprung vor der orthodoxen und auch vor der weniger dogmatischen neumarxistischen politischen Ökonomie. Das erweist sich auch an einer Analyse der zentralen Gegenstände der marxistischen politischen Ökonomie. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Systemtheorie, die es erlaubt, ökonomische und politische Zustände in neuer, interdisziplinärer Zuordnung zu analysieren. Gerade im Blickfeld neuer methodischer Verfahren der politischen Ökonomie zeigt sich der orthodoxe Marxismus als ein unzulässig verallgemeinerndes kapitalismus-kritisches Lehrsystem, das seine Ansätze noch immer vornehmlich aus der industriellen Frühzeit bezieht.

I. Zur Begriffsgeschichte der politischen Ökonomie

Inhalt I. Zur Begriffsgeschichte der politischen Ökonomie II. Einige Gründe der Marx-Renaissance — Schwierigkeiten des Marx-Verständnisses heute III. Ideologieverdacht und Rationalität IV. Zu einigen zentralen Gegenständen der politischen Ökonomie V. Der Beitrag der neuen Systemtheorie

Der Begriff politische Ökonomie geht in Deutschland auf Friedrich List zurück, der . politische Ökonomie'freilich im Gegensatz zur kosmopolitisch eingefärbten englischen Ökonomie betont national verstanden wissen wollte Die besonderen ökologischen, wissenschaftsgeschichtlichen oder soziologischen Gründe, die zum Begriff , politische Ökonomie'geführt haben, können hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Im Wechselspiel zwischen nationalstaatlichem Denken und weltbürgerlicher Gesinnung haben sich verschiedene Formen im 19. Jahrhundert für das herausgebildet, was neutraler in Deutschland heute . Wirtschaftswissenschaft'und in der angelsächsischen Welt . Economics'oder . Economic Science'genannt wird.

In England standen bei der Entwicklung ökonomischen Denkens verständlicherweise außenhandelstheoretische Überlegungen im Vordergründe, die in Deutschland immer einen minderen Platz eingenommen haben. Sie wurden seit Ricardo in jenem charakteristischen Stil von utilitaristischer Gesellschaftsphilosophie und individueller Nutzen-theorie entwickelt, die die englische ökonomische Denkweise seit jeher auszeichnet. Die Annahme, individueller und sozialer Nutzen falle in der Regel zusammen, entließ diese Art ökonomischen Denkens aber nicht aus dem Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Gewiß nicht von ungefähr hat sich gerade in England in unserer Zeit denn auch eine Gegenströmung bemerkbar gemacht, die die sozialen Bezüge stärker betont und die Theorie der , social costs', die , cost-benefit-analysis', die „welfareeconomic'u. ä. hervorgebracht hat. Für die staatsphilosophisch und staatsrechtlich denkenden Franzosen (man denke an Kameralistik, den Tresor, die Planification usw.) war in Fragen der Ökonomie die Identität zwischen individuellen und sozialen Ansprüchen und deren Befriedigung keineswegs immer gegeben, und sie haben aus der Notwendigkeit, daß der Staat als übergeordnete Instanz eine Rolle spiele, selten einen Hehl gemacht. Friedrich List hat den Begriff . politische Ökonomie'insofern eingeengt, als er das nationale Moment besonders betonte, entsprechend seinem Denken, das nicht auf ein kosmopolitisch-ökonomisches Philosophieren gerichtet war, sondern auf eine Ökonomie, die analytisch und wirtschaftspolitisch umgesetzt dem Werk der nationalen Einigung dienen sollte.

Für Marx und Engels war der Begriff . politische Ökonomie'sowohl einfacher als auch spezifischer zu verstehen. Da die vorherrschende Gesellschaft die bürgerliche sei, könne politische Ökonomie nur eine Analyse und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und der von ihr entwickelten Theorien sein. Hinzu kommt die Verknüpfung von ökonomischer Analyse und naturwissenschaftlicher Gesetzesgläubigkeit, die Marx davon sprechen läßt, er habe die unumstößlichen Gesetze der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entdeckt. Die wissenschaftsgeschichtlichen Gründe für diese Verbindung brauchen hier nicht dargestellt zu werden. Entscheidend bleibt die Marx'sche Absicht, mit der Analyse des Privatkapitalismus bürgerlicher Prägung den von Industrialisierung und wirtschaftlichem Entwicklungsprozeß Benachteiligten, dem Proletariat, eine Waffe in die Hand zu geben, um ihre Klassenlage zu ihren Gunsten zu verändern. Diese Absicht wird auch heute noch von den Vertretern der neomarxistischen politischen Ökonomie vertreten.

Kein Ökonom mit einigen wirtschaftshistorischen Kenntnissen wird die von Engels erschütternd geschilderte Lage der arbeitenden Klasse in England bezweifeln oder übergehen wollen. Das Elend und die Not der industriellen Frühzeit waren ungeheuerlich, die Einkommensunterschiede grotesk. Aber dieser Sachverhalt hat nicht nur eine faktische, sondern auch eine methodologische Seite. Man darf sagen, daß das, was als . politische Ökonomie'von Marx und Engels angeboten wurde, nichts anderes war als eine eklektische Beschreibung und Analyse des frühindustriellen Wirtschaftsprozesses, mit dem Anspruch, daraus alleingültige ökonomische Einsichten ableiten zu können. Aus dieser Haltung resultierte folgerichtig, daß jede abweichende Meinung, jede wertfreie und gesellschaftspolitisch neutrale ökonomische Aussage als . ideologisch'abgetan wurde. Wohlgemerkt, es geht nicht darum zu behaupten, es habe keine bürgerliche Ideologisierung der ökonomischen Theorie gegeben. Es hat sie gegeben, und es gibt sie auch heute noch (man denke an den Mißbrauch ökonomischer Interessengruppen mit den Worten . soziale Marktwirtschaft'oder . konzertierte Aktion"). Es geht hier darum, daran zu erinnern, daß Marx jede nicht seinen Gedankengängen folgende ökonomisch-politische Analyse als ideologische Verbrämung bürgerlicher Interessen bezeichnete, worin ihm die Neomarxisten bis heute folgen.

Im Bereich der sogenannten bürgerlichen Ökonomie ist zu einer älteren Gruppe von Wissenschaftlern, die in Deutschland schon immer von politischer Ökonomie gesprochen haben in jüngerer Zeit eine neue Gruppe „politischer Ökonomen" hinzugetreten Diese jüngere Gruppe muß unterschieden werden nach solchen Autoren, die offen oder versteckt die orthodoxe marxistische Ökonomie anbieten, und solchen, die sich von politischer Ökonomie eine neue Form interdisziplinären gesellschaftswissenschaftlichen Denkens versprechen und die eine wissenschaftstheoretische und methodische Öffnung anstreben, um zur Entideologisierung der Wirtschaftswissenschaften beizutragen und um einen umfassenden Erkenntniszuwachs bei der Gesellschaftsanalyse zu gewinnen Daß daneben eine Reihe von Mitläufern mancher Art reflektierende und kritische Alltagsbetrachtung als neue politische Ökonomie'deklarieren, braucht hier nur am Rande zu interessieren.

II. Einige Gründe der Marx-Ränaissance — Schwierigkeiten des Marx-Verständnisses heute

Wer noch am Ende der 50er Jahre eine ebenso kraftvolle wie phosphoreszierende Belebung des Marxismus in der Bundesrepublik vorausgesagt hätte, wäre gewiß als der bekannte Prophet, der im eigenen Lande nichts gilt, behandelt worden. Wer darüber hinaus vorausgesagt hätte, daß neben der fachwissenschaft-liehen vor allem die bildungspolitische Diskussion von einer kleinen, aber wirksamen agierenden marxistischen Minderheitsgruppe mitbestimmt werden würde, dem wäre man gewiß mit zweifelndem Lächeln begegnet. Und doch haben Marx-Renaissance und leninistische Taktik das Bild der Hochschulpolitik des abgelaufenen Jahrzehnts in einer Weise mehrfach eingefärbt, die es dem heutigen Betrachter der bildungspolitischen Arena schwer werden läßt, die vielen Strömungen noch voneinander zu unterscheiden.

Welche tieferen sozialen Mechanismen die deutsche Bildungsreform auch in Gang gesetzt haben mögen — die wirtschaftliche Wohlstandsgesellschaft, soziales Aufstiegsstreben breiter mittelständischer Schichten, ein tatsächlicher oder nur suggerierter Kampf um eine angemessene Zahl von Arbeiterkindern an den Hochschulen oder ein allgemeiner Wandel des politischen Klimas —, das Wiedererwachen des Marxismus in seiner Dimension als kritische politische Ökonomie gehört zu dieser Entwicklung. Diese Wiederbelebung ist um so erstaunlicher, als sie sich als ein autonomer Prozeß mit starker Eigenbeschleunigung darstellt, der offensichtlich nicht aus der DDR gesteuert wurde. Der Vorgang selbst hat oft genug die Grenzen einer rationalen Diskussion hinter sich gelassen. Woran liegt das?

Offensichtlich besitzt die Wiederbelebung von Marxismus und kapitalistischer politischer Ökonomie auch einen sozialpsychologischen Stellenwert. Als Heilslehre für Unterdrückte wurde der Marxismus schon immer verstanden. So zeigt es sich denn auch, daß neben der sachlichen Kritik die . bürgerliche Ökonomie'als Projektionsobjekt verschiedener, mehr emotionaler Haltungen herhalten mußte. Viele Befürworter marxistischen ökonomischen Denkens bewegt heute weit weniger eine weiterführende wissenschaftliche Diskussion als vielmehr der Versuch, einen einer Kritik entzogenen Bezugspunkt als archimedischen Standort inmitten von Wissenschafts-und Methodenpluralismus zu suchen, von dem aus gleichzeitig ein klärender Blick in die Vergangenheit und eine Vorausschau in die Zukunft möglich ist. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg hat die marxistische Ökonomie unter Intellektuellen neue Anhängergruppen gefunden, was deshalb — auf den ersten Blick jedenfalls — überraschend ist, als wir heute über mehr und andere Erfahrungen mit marxistisch-sozialistischen Wirtschaftsexperimenten verfügen als vor 50 Jahren. Welchen Einflüssen die Wellenbewegungen des Interesses an Marx und dem Marxismus, an allgemeiner Gesellschaftskritik oder politischer Ökonomie auch immer gehorchen mögen, die emotionale Glaubensbeimischung bei der Rezeption ist, besonders unter Jüngeren, deutlich erkennbar. Auswahl, Gewicht und Subtilität der vorgetragenen neu-marxistischen Argumente werden davon bestimmt.

Wie verschieden man nun das Antlitz des Neomarxismus in der Bundesrepublik auch zeichnen mag, eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was als politische Ökonomie angeboten wird, erscheint dringend erforderlich. Andernfalls kämen den mit viel Eifer vorgetragenen Argumenten ihrer Anhänger Gewichte zu, die sie nicht verdienen.

Wir müssen dabei zunächst unterscheiden zwischen einer Weiterentwicklung des Marxismus in philosophisch-geistesgeschichtlicher Tradition (einschließlich der Wissenschaftstheorie) und jener Form marxistischer politischer Ökonomie, die weniger den Ausbau des Marx-Engels'schen Lehrsystems vor Augen hat, als eine generelle Gesellschaftskritik auf der Basis einer unbestimmten Unzufriedenheit mit . herrschenden Verhältnissen'. Diese, ebenso jugendsoziologisch wie sozialpsychologisch bemerkenswerte Einstellung führt dazu, daß nach einem möglichst geschlossenen System Ausschau gehalten wird. Es liegt auf der Hand, daß hier die Quelle vieler Mißverständnisse und Fehldeutungen liegt und daß auf diesem Wege neue Erkenntnisfortschritte kaum zu erwarten sind.

Außerhalb der Bundesrepublik hat es seit 1945 im Westen immer eine Marxismus-Diskussion gegeben Spätwirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft, des verlorenen Krieges, Nachwirkungen der bolschewistischen Herrschaft sowie Existenznöte und die Erfolge des wirtschaftlichen Aufschwunges seit 1948 hatten bei uns einen gewissen Nachholbedarf aufgestaut, der entsprechend vielfältig in Erscheinung trat. Die Schwierigkeiten, Anfang der 70er Jahre eine Umrißskizze auch nur der ökonomischen Marx-Diskussion und der politischen Ökonomie zu zeichnen, sind daher nicht gering. Die Vielgestaltigkeit marxistischer Lehrmeinungen — nicht zuletzt von ihrem Begründer im Keime angelegt — hat auch zu einer Vielzahl marxistischer politischer Positionen geführt

Es fällt auf, daß studentischer Protest und Wiederbelebung des Marxismus sich mischen, was jene Symbiose von Emotion und Intellekt fördert, die viele Diskussionen kennzeichnet. Dabei blieb — wie vor hundert Jahren — der Marxismus, in welchem Gewand er auch daherkommt, ein Erzeugnis und Gesprächsobjekt mittlerer und gehobener Schichten. Wie immer man Arbeiterschaft auch definieren mag, sie hatte auch diesmal keinen entscheidenden Anteil an der Diskussion und die Zahl derjenigen marxistischen Theoretiker mehrt sich, die kritisch fragen, ob denn überhaupt der Marx-sehe Industriearbeiter seine Rolle im Transformationsprozeß der Gesellschaft noch werde übernehmen können.

Soweit die Marxismus-Renaissance lediglich eine Rezeption marxistisch-revisionistischer Theoretiker aus der Zeit der zwanziger Jahre ist, braucht sie sachlich nicht noch einmal diskutiert zu werden. Hier liegen vor allem individual-und sozialpsychologische Identifikationsphänomene vor. Die neuerliche Marxismus-Diskussion findet nicht mehr wie vor 40 oder 50 Jahren in der Atmosphäre von Hinter-zimmern oder naiver politischer Arbeiterbildung statt. Sie bedarf daher erhöhter Aufmerksamkeit. Soweit man sie von ihren emotionellen Beimischungen befreit, stößt man auf einen ernst zu nehmenden intellektuellen Kern. Das zu betonen scheint wichtig. Denn gerade in der Bundesrepublik hat man die marxistische Ökonomie lange Zeit, wohl überwiegend aus unbestimmbaren emotionellen Gründen, gering geachtet. Anspruchsvolle Marxisten blieben Außenseiter im Wissenschaftsbetrieb. Das Erlebnis des Krieges gegen Rußland hat Spuren hinterlassen; eine weitverbreitete Ablehnung gegenüber allem, was , aus dem Osten'kam, mag selbst im Wissenschaftsbetrieb eine Rolle gespielt haben. Ein mangelndes oder nur geringes Marx-Verständnis wurde vorschnell mit dem Blick auf die untereinander zerstrittenen Schulen des Marxismus entschuldigt. Wie immer man aber auch die Tabuisierung des Marxismus erklären mag, die er seit Jahrzehnten im deutschen Bildungsbürgertum erfuhr, auffälligerweise wuchs bei uns das Interesse an der wahrhaft titanischen Gesamtschau sozialer Lebensprozesse im Stadium einer hochentwickelten Industriewirtschaft. Dies geschah übrigens zu einer Zeit, als auch aus der angelsächsischen Welt, also aus der „bürgerlichen" Wirtschaftswissenschaft, umfassendere ökonomische Vorstellungen — etwa die von den . sozialen Kosten'oder den gesamtwirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Vergleichen — mit einiger Verspätung Eingang in deutsches sozialökonomisches Denken fanden.

Will man Stellenwert und Gewicht der marxistischen politischen Ökonomie und der nicht-marxistischen Ökonomie erkennen, so muß man sich der Schwierigkeiten bewußt sein, die heute, 100 Jahre nach Erscheinen des . Kapital', einem Marx-Verständnis entgegenstehen. Diese Schwierigkeiten liegen vor allem in den folgenden Punkten auf die hier nur kurz eingegangen werden kann.

1. Marx tritt gleichzeitig als Philosoph, Nationalökonom, Soziologe und als Prophet auf. Als Philosoph vertritt er einen Materialismus der in den Thesen vom historisch determinierten Ablauf des Privatkapitalismus und dessen dialektischem Umschlagen in den Sozialismus-Kommunismus gipfelt. Als Nationalökonom richtet er sich kritisch gegen die herrschende englische Ökonomie, und als Soziologe bietet er ein einfaches Zwei-Sektoren-Modell an: die Klassengesellschaft von Besitzenden und Besitzlosen, ökonomisch Mächtigen und ökonomisch Ohnmächtigen. Als Prophet wendet er sich an alle, die sich in irgendeiner Form ausgebeutet, verletzt oder sozial falsch bewertet fühlen. Offensichtlich beruht ein beträchtlicher Teil der Faszination des Marxschen Systems darauf, daß jeder Mensch zu irgendeiner Zeit derartige Gefühle erlebt. Nicht zuletzt kommt die Anziehungskraft der marxistischen politischen Ökonomie daher, daß ein eklektisches System auf einen eklektischen Menschen trifft, der sich an irgendeiner Stelle von Marx sinnvoll interpretiert fühlen muß. (Zwar lehnt gerade die marxistische politische Ökonomie die Sozialpsychologie ab, aber es besteht kein Zweifel, daß Marx ein Sozialpsychologe war.) Als Prophet, meint Schumpeter, sah er weit über die kleinbürgerlichen Aufstiegs-und Anpassungsbestrebungen der Arbeiter hinweg. Er verband soziale Klassentheorie mit ökonomischer Entwicklungslehre. „Wenn der Klassenkampf", schreibt Schumpeter, „das Hauptthema der Geschichte und auch das Mittel zur Herbei-führung der sozialistischen Morgenröte war, und wenn es nur gerade diese zwei Klassen geben durfte, dann mußte ihre Beziehung grundsätzlich antagonistisch sein, oder sonst wäre die Triebkraft in seinem System der sozialen Dynamik verlorengegangen". 2. Das Verhältnis zwischen Marx’scher Philosophie und Ökonomie war Schwankungen ausgesetzt und das Gewicht beider Elemente unterschiedlich Mit dem Regreß auf die Philosophie setzte Marx eine von vielen englischen Ökonomen praktizierte Übung fort, wobei sein lebenslanger Widerpart, Hegel, nicht nur seine philosophische Position, sondern auch seine Sicht auf das Verhältnis von Philosophie und Ökonomie bestimmte. Mag die früher übliche Unterscheidung in einen „frühen" und einen „späten" Marx auch für unsere Darstellung verzichtbar sein, so dürfte doch, vollends seit Auffinden der „Pariser Manuskripte" in den 30er Jahren, sicher sein, daß philosophischen und ökonomischen Reflexionen im Zuge der Ausarbeitung des Systems wechselnde Gewichte zugekommen sind. Dies entspricht dem Werdegang jeder größeren geistigen Arbeit und verdiente keiner weiteren Erwähnung, wenn sich nicht beachtliche Konsequenzen für die Marx-Interpretation daraus ergeben hätten. Denn je nach der Qualität der Beweise berufen sich seine Anhänger entweder auf den philosophischen Marx oder sie zitieren den ökonomischen Marx. Ein totales Marx-Verständnis ist ein mühevolles Unterfangen, dem sich vor allem diejenigen nur ungern unterziehen, die Marx als Inbegriff privatkapitalistischer Kritik begreifen, ohne sich von Einzelheiten der wissenschaftlichen Analyse des Marxismus beunruhigen lassen zu wollen. Insofern teilt Marx das Schicksal spiritueller Charismatiker, mit denen man sich identifiziert, ohne sich mit allen Konsequenzen in das verästelte Flechtwerk ihres Denkens hineinstellen zu wollen. 3. Stellt das unterschiedliche Gewicht philosophischer und ökonomischer Reflexionen bei Karl Marx bereits eine allgemeine Erschwernis für eine systemgerechte Analyse seines Werkes dar, so führt die Verbindung zwischen dialektischer Methode und Sachaussage zu weiteren Schwierigkeiten. Mit Recht hat M. Friedrich darauf hingewiesen, daß die methodische und die Sachdiskussion bei der Marx-Interpretation zeitweise stark auseinandergefallen sind. Philosophen betrachten die Ökonomie als mitgeliefertes Beispiel Marxscher Dialektik, während die Ökonomen dazu neigen, die methodischen Bezüge als mehr oder weniger lästiges Beiwerk einer , reinen'Ökonomie zu begreifen. Daß dies so ist, läßt sich auf den Schöpfer des Systems selbst zurückführen, dessen methodische Sauberkeit keineswegs in allen Werk-und Lebensabschnitten gleichbleibend überzeugend war. So richtet sich ein Teil der methodischen Einwände gegen das schwankende Gewicht, das Theorie und Empirie bei ihm einnehmen. Vereinfacht läßt sich das dahingehend zusammenfassen, daß Marx aus der Beobachtung des frühindustriellen englischen Kapitalismus nichi immer mit der erforderlichen Differenzierung auf den weiteren Industrialisierungsprozel geschlossen hat. Hier liegt die Quelle für die Möglichkeit historisch-empirischer Gegenbe weise zur Marxschen Wirtschaftsprognostik. 4. Die Theoriengeschichte der Ökonomie ha verschiedene Schulen hervorgebracht, die eir Ergebnis unterschiedlicher Wissenschaftsauf fassungen und Methoden sind. Das führte not wendigerweise zu einer Vielzahl von Marx Interpretationen, die dem Unbefangenen Ver ständnisschwierigkeiten bereiten müssen. Der traditionellen Marx-Kritikern hat man von marxistischer Seite oft vorgeworfen, sie seien unfähig, den totalen Sinnaustausch der Marx-sehen ökonomischen Theorien (gegenüber der Englischen . klassischen Nationalökonomie'end deren Fortentwicklung) überhaupt zu verstehen. Dem muß beim heutigen Stande wirtschafts-und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung die Frage entgegengehalten werden, worin der wissenschaftliche und soziale Mutzen eines derartigen totalen Sinnaustausches überhaupt noch zu suchen sei. Dabei wird deutlich, daß weite Abschnitte der Marx-sehen Ökonomie nur noch theoriengeschichtchen Wert haben, während von anderen Teilen Denkanstöße bis in unsere Tage ausgehen. 5. Nur ein Teil der marxistischen politischen Ökonomie bietet sich als Kapitalismuskritik dar. Ein anderer Teil ist der sozialistischen Ökonomie gewidmet, die Marx freilich nur in wenigen Zügen skizziert hat, weshalb verschiedene marxistische Schulen entstehen konnten. Zwar entspricht die Unterscheidung in kapitalismuskritische und sozialistische marxistische Ökonomie nicht der vom Marxismus vertretenen Einheit des Denkens, doch hat die historisch-gesellschaftliche Entwicklung des Marxismus als gesellschaftlicher Kraft diese Zweiteilung der marxistischen politischen Ökonomie unvermeidbar gemacht, da die das , absterbende'kapitalistische System ersetzende neue Ordnung ebenfalls einer ökonomiekritischen Reflexion bedarf.

III. Ideologieverdacht und Rationalität

Die politische Ökonomie, wie sie von anspruchsvollen Neu-Marxisten vertreten wird, lähert sich methodisch jenen Verfahren, die man als operationelle Ökonomie zu bezeichnen pflegt. Gesellschaftliches Leben wird von operationalen Ökonomen von vorneherein als an gestaltbarer Prozeß angesehen. Dieser Veryleich endet jedoch schnell. Denn die , klassiichen’ Vertreter einer neu-marxistischen poliischen Ökonomie, wie Ernest Mandel oder Dskar Lange, billigen der ökonomischen Kybernetik, der Ökonometrie, der linearen rogrammierung und ähnlichen Verfahren der perationellen Ökonomie lediglich die Rolle iner . bürgerlichen Hilfswissenschaft'zu. Ab-

esehen davon, daß hier der Ausdruck , bürrerlich’ — wie so oft — bis zur Unerträglich-Leit für jedes andere Denksystem pauschal Ind ohne jede weitere Differenzierung ge-

raucht wird (was natürlich der marxistischen Lualistischen Gesellschaftsauffassung ent-

pricht und ein bezeichnendes Licht auf das Nissenschaftsverständnis der Neu-Marxisten wirft), abgesehen von dieser ärgerlichen Vernfachung liegt hier ein tiefgreifendes Mißerständnis vor. Den neueren ökonometri«hen und wirtschaftskybernetischen Versahen wird unterstellt, daß sie völlig im Dienste enes einseitigen Rationalitätsprinzips stünden, wie es die englische Nationalökonomie hervorebracht habe: die Rationalität von Entscheiungsprozessen zugunsten privater Gewinn-

haximierung bilde den einzigen Gegenstand Lerartiger Verfahren. Daran ist bestenfalls richtig, daß eine operationelle Methode niemals den untersuchten Gegenstand selbst reflektieren oder kritisieren kann. Das muß vorher oder hinterher geschehen. Und in der Tat: es ist überhaupt nicht einzusehen, warum wirtschaftskybernetische Verfahren, Ökonometrie und Systemtheorie nicht auch für andere als lediglich auf private Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsgesellschaften gelten sollen.

Verdachtsmomente gegen eine — möglicherweise sorgfältig verpackte — Ideologie reiner Gewinnwirtschaft sind nun freilich nicht nur von Neu-Marxisten vorgetragen wurden. Bahnbrechend waren auf diesem Gebiet Gunnar Myrdals Werk über das politische Moment in der ökonomischen Doktrinbildung in den dreißiger Jahren (neu: Hannover 1963) und Joan Robins Kritik an der überlieferten Nationalökonomie. Als „nationale" Ökonomie habe sie folgerichtig viele Probleme der „Außenwirtschaft" und der internationalen Währungsordnung vernachlässigt oder sie als Anhängsel betrachtet Sie habe aber dar- über hinaus auch lange Zeit ihren wahren sozialökonomischen Charakter verleugnet, insofern sie bei Realisierung des Systems privater Gewinnmaximierung zugleich eine Optimierung des Volkswohlstandes als gegeben behauptete oder stillschweigend unterstellte.

Das galt für viele Investitionstheoretiker, Produktions-und Verteilungstheoretiker vergangener Jahrzehnte. Wer jedoch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts behaupten will, diese Einstellung habe sich allenthalben bis heute erhalten, der kennt die verschlungenen und selektierten Beziehungen und Bezirke wirtschaftswissenschaftlichen Denkens nicht. Es dürfte schwer sein, heute einen Wirtschaftswissenschaftler von Rang zu finden, der dem Glauben nachhinge, mit der Lösung partieller mikroökonomischer oder makroökonomischer Entscheidungsalternativen zugunsten privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung bereits das gesamte System von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert oder beschrieben zu haben. Die Lehre von der rationalen privatwirtschaftlichen Entscheidungsfindung zugunsten der Gewinnmaximierung stellt einen Sektor wirtschaftswissenschaftlichen Denkens dar; nicht mehr und nicht weniger. Die Investitionstheorie, die nach privatwirtschaftlichen Rentabilitätsgesichtspunkten fragt, ist eine Form, wirtschaftliches Geschehen zu erklären. Wer untersucht, wie auf verschiedenen Pfaden modernen Managements eine privatwirtschaftliche Gewinnmaximierung erreicht werden kann, operiert nur in einem Ausschnitt, praktiziert nur eine Möglichkeit wirtschaftswissenschaftlichen Denkens. Zu behaupten, er reflektiere die gesamtwirtschaftliche Ordnungspolitik nicht mit, ist eine böse Unterstellung. Von den Kritikern einer marktorientierten Wirtschaftswissenschaft wird hier die Notwendigkeit zur Eingrenzung für eine sektorale Analyse verwechselt mit einer angeblichen Rechtfertigungslehre für das System. Ohne Zweifel können Handlungsalternativen vom wirtschaftswissenschaftlichen Standpunkt auch für andere rationale Lösungen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Charakters entwickelt werden, die nicht einseitig am Grundsatz privatwirtschaftlicher Gewinnmaxi-mierung festzuhalten brauchen, die im Gegenteil das Gewinnmaximierungsprinzip untex privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten ver gleichend gegenüberstellen einer sozialkosten theoretischen Betrachtung, so wie es z. B. die in England im Anschluß an die allgemeint Welfare-Okonomie entwickelte Theorie de , social-costs'oder der Nutzen-Kostenanalyse tut. Dabei werden betont einzelwirtschaftlich* Ergebnisse rationalen Handelns verglichen mi.

gesellschaftswirtschaftlichen, wobei freilic wiederum ein Rahmen gesellschaftlicher Nori men . gesetzt'werden muß, um zu sinnvolles Resultaten zu kommen. So muß etwa vorab entschieden werden, wieviel individuelle Frei'

heit vorhanden sein soll und worin diese be steht (z. B. Konsumfreiheit, Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes, Freiheit, über Arbeitszeit disponieren zu können.) Diese Zusammen hänge werden in jüngster Zeit von der System theorie'behandelt, als deren herausragend deutsche Vertreter Luhmann, Schenk und Hom drich gelten dürfen Das alles kann soga geschehen, ohne daß man den Knotenpunk der Ökonomie, die Verteilungslehre, bereit;

. grundsätzlich'miteinbezieht

In der Rationalitätsfrage zielt der Vorwurf de Neu-Marxisten dahin, daß die „bürgerlichen Ökonomen (wozu also von Adam Smith bk Gunnar Myrdal oder Ota Sik alle Nicht-Ma: xisten gehören, so als sei die einzige Farl alternative zu rot eben nur grün) den Begri der . Zweckrationalität'(Max Weber) aut schließlich auf die privatwirtschaftliche Gwinnmaximierung verwandt hätten und da Rationalität gänzlich unreflektiert bleibe. Ma Weber und andere haben nun zwar die Bedet tung des Rationalprinzips für die Entstehun und Ausbreitung des . Kapitalismus'herausge arbeitet, aber sie haben niemals behaupte daß dies die einzige Verwirklichung von Ri tionalität im Gesellschaftsleben sei.

Daß rationales Handeln hier keine ander* als nur privatwirtschaftliche Motive und Zie haben kann, dürfte äußerst selten von einem Sozialwissenschaftler behauptet worden sein. Wo es dennoch geschah, wurde in der Tat privatwirtschaftliche Ideologie betrieben, aber nur dort.

Es hieße Vielfalt und Tiefe deutschen sozialwissenschaftlichen Denkens seit anderthalb Jahrhunderten gründlich verkennen, würde man eine nicht-marxistische Ökonomie ausschließlich mit privatwirtschaftlicher Ideologie gleichsetzen. Deutschland war schließlich das Land des Kathedersozialismus, war das Land eines Friedrich List, war das Land einer neuen marktwirtschaftlichen Sozialordnung, des Ordo und des Freiburger Kreises, der ja gerade nicht die Ausschließlichkeit des privatwirtschaftlichen Gewinnstrebens predigte, sondern bis hin zum bloß noch instrumentellen Charakter privater . Profitwirtschaft'das Nebeneinander und die Verzahnung privatwirtschaftlicher und sozialwirtschaftlicher Bezüge lehrte, ebenso wie es nicht erst seit Lord Beveridges Tagen in England eine Welfare-Okonomie tut. Die Entdeckung des Rationalprinzips durch den kapitalistischen Geist gleichsetzen zu wollen mit dessen unbegrenzter und unkritischer Verteidigung, dies bleibt der Popanz, den die Neu-Marxisten immer wieder neu aufstellen, um sich als Gegenposition begreifen zu können Wer meint, daß es ausschließlich des Anstoßes durch die Neue Linke bedurft hätte, um die soziale Bedeutung des Rational-prinzips in der Gesellschaftstheorie neu zu entdecken, der verkennt die sozialwissenschaftliche Diskussion der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und in England — dem Mutterland der Ökonomen — gründlich Der Vorwurf, die bürgerliche Ökonomie (wenn dieser Begriff überhaupt sinnvoll ist) sei eine einzige Apologetik von Privat-wirtschaft und privater Gewinnmaximierung, übersieht, daß seit langem viele Ökonomen sich als Handlungs-und Entscheidungstheoretiker verstehen. Wieviel praktischen Einfluß auf die gesellschaftspolitische Gestaltung sie damit nehmen oder nehmen können — dies zu untersuchen ist eine Frage der politischen Soziologie.

IV. Zu einigen zentralen Gegenständen der politischen Ökonomie

Mehrwerttheorie und Entfremdung Es ist wichtig, Mehrwerttheorie und Ausbeutungslehre von Marx nicht nur als ökonomische Machtlehre zu verstehen, sondern auch zu erkennen, daß sie mit der Entfremdungslehre — also der anthropologisch-soziologischen Komponente seiner Ökonomie — verknüpft bleiben, möglicherweise dieser sogar ihre Entstehung verdanken. Die Denkfigur ist dabei einfach: Angesichts der schnellen Mechanisierung in einen ständig mehr zergliederten Arbeitsprozeß (Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung) glaubte Marx, in der Arbeit eine Entäußerung erkennen zu müssen, deren Eigenart darin liege, daß der Mensch nicht mehr ausschließlich für seinen und seiner Familie (oder der Kleingruppe) notwendigen Bedarf arbeite, sondern für einen anonymen Markt, dessen Aufnahmebereitschaft durch privat-unternehmerische Absatzstrategie abgetastet werde. Dieser Prozeß ist seit Marx immer wieder beschrieben worden und stellt den Mittelpunkt vieler kulturkritisch-anthropologischer Diagnosen des Industriezeitalters dar.

Der Entäußerung unterliegt nach Marx auch der Unternehmer, soweit dessen Tätigkeit ebenfalls Hingabe von „Arbeitskraft" ist. Hier schon wird deutlich, daß Marx einmal unter „Arbeit" manuelle Arbeit, bezogen auf eine soziale Gruppierung, versteht, zum anderen aber, sofern sie . Entäußerung'ist, einen anthropologisch-sozialen Vorgang. Das ist eine überaus wichtige Unterscheidung, die freilich von Marx nicht konsequent genug durchgeführt wird. In der „Kritik der politischen Ökonomie" engt er den Begriff „Arbeit" einschneidend ein. Arbeit als Tätigkeit unter den Bedingungen von Privateigentum und Arbeitsteilung wird mit der manuellen Arbeit der Menschen im ersten Industrielande der Welt, in England, gleichgesetzt. Dieser Sprung kommt so unvermittelt, daß er von den meisten Lesern übersehen wird. So sehr sich durch Anschauung und Erleben diese Gleichsetzung in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Marx auch aufgedrängt haben mag, hier liegt methodisch ein tiefer Riß vor. War schon die exklusive Zuordnung der Produktionsfaktoren (Boden in den Händen der Großgrundbesitzer, Kapital in den Händen der Fabrikherren, Arbeit in den Händen der Arbeiter, die sich somit verdingen müssen und nicht . warten'können angesichts der historisch unterschiedlichen Entwicklung eine unzulässige Vereinfachung gewesen, so wurde die Gleichsetzung von Arbeit schlechthin mit Arbeit, Ausbeutung und spezifischen Entfremdungseffekt in einer sozialen Klasse den verschiedenen Übergangs-, Misch-und neuen Formen von „Arbeit" unter industriewirtschaftlichen Bedingungen nicht gerecht. Das Entfremdungstheorem etwa muß als Phänomen unabhängig von der sozialen Klassenlehre und der mit der Akkumulationstheorie von Marx zusammengeschweißten Verteilungstheorie gesehen werden.

Entfremdungsprozesse zeigen sich in allen bürokratischen Gesellschaftsverfassungen industriewirtschaftlicher Prägung, also auch in der Sowjet-Union und in solchen Ländern, die einen mittleren Weg zwischen . reinem'Kapitalismus und . reinem'Sozialismus gehen möchten. Auch literarisch wurde das Entfremdungsphänomen in modernen Gesellschaften mit einer starken bürokratischen Verwaltungsmacht beschrieben, so u. a. von Franz Kafka (Das Urteil', Der Prozeß'usw.) Ob die bürokratische Apparatur starr und unerschütterlich oder ob sie verletzbar, gerade ihres Leerlaufes und ihrer Selbstgerechtigkeit wegen angreifbar sei, bildet einen interessanten Gegenstand der Bürokratiesoziologie und einiger jüngerer , linksintellektueller'revolutionärer Gesellschaftstheorien. Der , Marsch durch die Institutionen'darf als ein Beleg für die Auffassung gelten, daß die bürokratisch-administrative Apparatur verletzlich sei, nicht zuletzt, weil ihre bloße Existenz zu absurden Fehlleistungen führe.

Daß Entfremdung durch eine völlige Abschaf- fung industriewirtschaftlicher Arbeitsteilung verhindert werden kann, ist vom .frühen'Marx mehrfach ausgesprochen worden. Der Marx des zweiten und dritten Bandes des . Kapitals'hingegen -distanzierte sich von derartigen Möglichkeiten. Daß Entfremdung auf eine privatwirtschaftlich organisierte Wirtschaft beschränkt zu bleiben braucht, hat Marx niemals behauptet. Sein Sozialismus, soweit er überhaupt beschrieben wurde, trägt deutlich pessimistischere Züge, als Berufsrevolutionäre es wahrhaben wollen. Von Arbeitsarmeen ist die Rede und von einer militanten Überwachung der . gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“. Ein neuer Freiheitsspielraum beginne gleichsam erst hinter dieser organisierten Welt sozialistischen Wirtschaftens In dieser über--legung offenbart sich Marx’ Genialität tiefer als in allen Auslegungen, die ihn vordergründig als strahlenden Propheten verstehen wol--len. Die aktuelle Frage liegt nahe, ob denn nicht auf einem auch auf anderem Wege erreichten Wohlstandssockel das Entfremdungsproblem, besonders die Frage . disponible time', der Freiheit, zwischen Arbeitseinsatz und Freizeit wählen zu können, besser gelöst werden kann als in den Elendsjahren der industriellen Frühzeit. Diese Frage wird mit Ausnahme der orthodoxen Marxisten von Vertretern jeglicher Art politischer Ökonomie heute bejaht. Freilich wird man dabei wieder auf das Mehrwerttheorem stoßen — bei der Frage nämlich, wie denn, in welcher Höhe und in welcher Form der durch kapitalistische Produktion erzeugte Mehrwert auf die an seiner Schaffung beteiligten Produktionsfaktoren aufgeteilt werden soll. Das bleibt eine schwierige Frage. Man vergegenwärtige sich z. B. nur, daß jeder, also auch derjenige, der weder ein Einkommen aus produktiver noch aus unproduktiver Arbeit bezieht der also in irgendeiner Form über einen sozialpolitischen Umverteilungsweg .sekundäres'Einkommen erhält, in den Genuß der Chance kommt, ein gerade wegen der industriellen Arbeitsteilung stark gefächertes Güterangebot zu kaufen oder für solche Güter zu sparen.

Marx selbst war zu sehr von den materiellen Erfolgen des privatwirtschaftlichen Kapitalismus gebannt, als daß er die Qualitätsverbesselung durch ein breiteres Güterangebot gänzlich. übersehen hätte. Weder ordnungspolitisch noch anthropologisch-ökonomisch ist einzusehen, warum diese Einstellung keinen individuellen und sozialen Wert darstellen soll, wenn auch das Optimierungs-und Koordinierungsproblem von individuellen und sozialen Bedürfnissen gewiß nicht gelöst ist. Vielleicht ist diese Wachstumskraft ein Grund für die erstaunliche Tatsache, daß die Wirtschaftspolitik sozialistischer Länder sich ausdrücklich (wie unter Chruschtschow) oder stillschweigend (wie auf den Tagungen des COMECON deutlich wurde) am materiellen Erfolg kapitalistischer Länder orientiert.

Von der überlieferten Doppelfunktion der marxistischen politischen Ökonomie, nämlich nebeneinander kapitalismuskritisch und sozialistisch zu argumentieren, ist in der westdeutschen Diskussion erklärlicherweise nur die erstere wieder aufgegriffen worden, weil die akuten planwirtschaftlichen Probleme sozialistischer Rechenhaftigkeit (Investitionsrechnung, Lohnfondsberechnung, kalkulierte Lagerhaltung usw.) nur die Wirtschaft der DDR und Osteuropas beschäftigen. Die westdeutsche neu-marxistische Ökonomie beschränkt sich auf die phänomenologische Seite der marxistischen Mehrwertlehre und Entwicklungstheorie, fernab von allen brennenden Problemen Und Aufgaben einer kollektivistischen, bürokratischen Staatsverwaltungswirtschaft

Die Sozialgeschichte hat den Entfremdungsverdacht von Marx nicht widerlegen können; im Gegenteil: sie bildet ein Kernproblem jeglicher Sozialtheorie, die mehr sein will als bloße mechanische Entscheidungslehre zugunsten privaten Gewinnstrebens oder gruppenbezogener Verteilung und Wohlfahrtsmaximierung. Die These freilich von dem dauerhaft und notwendig niedrigen Stand des allgemeinen Lebens-niveaus der Industriearbeiterschaft hatte aus mannigfachen Gründen vor der Geschichte keinen Bestand. Das, was Marx im Interesse seines Systems zusammenzog, sollte wieder getrennt werden, um analytisch und erkenntniskritisch der Wirklichkeit gerecht zu werden.

Nach der Marx'schen Tausch-und Arbeitswertlehre wird zum einen dem Arbeiter der Mehrwert vorenthalten. Dies wird mit verschiedenen Begründungen erläutert, die unterschiedlichen Erklärungswert besitzen. Einmal heißt es, der . Arbeiter leiste vor', d. h. er bekomme seinen Lohn erst nach getaner Arbeit ausbezahlt. Dies ist ein typisches Argument aus der statischen Betrachtung. Es gilt praktisch nur für die erste Lohnperiode, mikroökonomisch und makroökonomisch, vorausgesetzt, daß Quantität und Qualität der volkswirtschaftlich eingesetzten , Arbeit'sich nicht verändern, eine angesichts der Dynamik des privatkapitalistischen Prozesses und auch angesichts der bekannten krisentheoretischen Argumente der Marxisten eine gewagte, widersprüchliche Annahme. Weiter heißt es, der Mehrwert, der dem Arbeiter vorenthalten werde, entstehe durch interne und externe Kostenersparnisse, um Ausdrücke der jüngeren Theorie zu gebrauchen. (Interne Ersparnisse entstehen vor allem durch betriebliche Rationalisierung, externe Ersparnisse z. B. durch gemeinwirtschaftliche Investitionen wie etwa Straßenbau, Hafenanlagen, Nachrichtenwesen usw. Umgekehrt können Gemeinschafts-oder Sozialinvestitionen betriebliche Kosten hervorrufen — man denke an Anliegerbeiträge —, wie andererseits durch die Existenz privatwirtschaftlich arbeitender Unternehmungen Sozialkosten auftreten können, was die breite Diskussion über den Umweltschutz und die Verschmutzung industriefreier Räume gezeigt hat.)

Daß eine solche Mehrwertentstehung möglich ist, wird nicht bestritten, wobei die Zurechnungslehre bis zum heutigen Tage freilich immer nur zu formalen Ergebnissen gelangt ist und eine plausible, kausale Zurechnung des Mehrproduktes bei Mehreinsatz eines Produktionsfaktors innerhalb einer gegebenen Produktionsfaktorenkombination nicht möglich erscheint (was z. B. im Lehrbuch der Ökonomie von Gahlen übersehen wird)

Auffällig ist, daß in der marxistischen Ökonomie orthodoxer Prägung noch immer Produktionstheorie und Verteilungstheorie im Sinne einer Theorie des sozialen Ungleichgewichtes miteinander verbunden sind, was einen denkbaren, aber nicht den einzigen theoretischen Ansatz dieses Zusammenhanges darstellt. Nur diejenigen Bezüge aus dem Geflecht möglicher Verbindungen zwischen Produktions-und Verteilungstheorie werden herausgesucht, die den gewählten Ansatz — das duale Klassendenken — stützen können.

Die Tausch-und Arbeitswertlehre geht noch einen wichtigen Schritt weiter. Der Arbeiter erhalte nicht nur einen um den Mehrwert (oder den Teil des Mehrwertes, der ihm funktionell zusteht) zu geringen Lohn, nicht nur die industrielle Reservearmee drücke in Kri-senzeiten das allgemeine Lohnniveau weiter herab und das Bevölkerungswachstum halte ihn ohnehin niedrig, vielmehr müsse der im arbeitsteiligen Prozeß wirkende Arbeiter sein eigenes Produkt (oder doch besser: Teile davon) noch zurückkaufen: er wird zum doppelt Gefoppten, da er nun auch noch einmal den ihm nicht ausbezahlten Mehrwert (wenigstens teilweise) zurückkaufen müsse. Dieses Argument trifft insofern zu, als es die Problematik des arbeitsteiligen, den engen Bereich einer geschlossenen Hauswirtschaft sprengenden industriellen Prozesses tauschwirtschaftlich richtig sieht. Die Schwäche des Argumentes liegt aber darin, daß übersehen wird, daß der Industriearbeiter auf die Dauer von der allgemeinen höheren Produktivität (wie auch alle übrigen am Verteilungsprozeß Beteiligten) profitiert. Hinzu kommt, daß nur für den lebensnotwendigen Bedarf ein wirklicher Zwang zum Kaufen gehört, daß darüber hinaus aber mit wachsendem durchschnittlichen Lebensstandard (oder: Realeinkommen je Kopf) gerade durch das arbeitsteilige Industriesystem ein völlig neuer Freiraum entsteht, den keine hauswirtschaftliche Organisation kennt: die Freiheit, angebotene Güter zu kaufen oder nicht zu kaufen. Diesem, schon von den englischen Altliberalen vorgebrachten Argument haben die Marxisten mit Ausnahme weniger Revisionisten entgegengehalten, Bevölkerungsdruck und mangelnde politische Bildung sowie fehlende ökonomische Einsicht würden es niemals zulassen, daß ein derartiger Konsumfreiraum entstünde. Lassalle sprach vor. einem ehernen Lohngesetz als genereller, wiederkehrender Krisenerscheinung, Marx selbst glaubte an eine dauernde 1 Verelendung, die Revisionisten sprechen von einer . relativen Verelendung, indem sie den durchschnittlichen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens zwar nicht leugnen, dessen Preis jedoch, die Beibehaltung von Privateigentum und anonymer Kapital-akkumulation in den Händen weniger, für zu hoch erklären. In diesem Zusammenhang dürfen wir feststellen, daß die (Arbeits-) Wertlehre Marxscher Prägung in Verbindung mit de: Verteilungstheorie, also der einseitigen Zurechnung des Mehrproduktes zugunsten einer a priori so formulierten Kapitalistenklasse, die philosophisch-anthropologische Entfremdungsthese ebenso stüzen soll, wie diese wiederum auf die Marxsche Verteilungslehre zurückwirkt. Die brillante Geschlossenheit des Systems erweist sich als Zusammenhang pei definitionem: weil die Arbeit als Entfrem dungsprozeß beschrieben wird, fügt sich diesei theoretische Aspekt in. die Mehrwertlehre und Verteilungstheorie ein, diese wiederum liefert den weiteren Stoff zur Festigung der Entfremdungsthese

Während die Überzeugungskraft der Mehrwertlehre bei den Anhängern des Marxismus stärker auf der Wirkung des Propheten als auf der des Analytikers Marx beruht, so stellt sie sich theorienkritisch als mißlungener Versuch dar, ausschließlich mit , Wert'-anstelle von , Preis'begriffen den Produktions-und Verteilungsprozeß zu erklären. Denn im Kern steht die Mehrwertlehre auf der Annahme, daß unabänderlich der kapitalistische Gebrauchswert der Arbeit höher einzuschätzen sei als ihr Tauschwert. Diese Annahme mag für die Epoche der industriellen Frühgeschichte zutreffend gewesen sein, als allgemeine Annahme bleibt sie unhaltbar, da hier die spezielle Situation einer Epoche zum Element einer allgemeinen Theorie gestempelt wird

Arbeitswertlehre Die Annahme, daß der Gebrauchswert der Arbeit für den Unternehmer höher sei als deren Tauschwert auf dem Arbeitsmarkt steht und fällt mit den bekannten Theorien des Bevölkerungsüberdruckes (Malthusianismus), einer nahezu unbegrenzten Austauschbarkeit von . Arbeit'und mangelnder Organisation der Arbeiterschaft im Sinne einer gegengewichtigen Marktmacht. Die . industrielle Reservearmee'verstärke die Diskrepanz zwischen Gebrauchs-wert und Tauschwert der Arbeit noch, verbunden mit der Vorstellung, daß die Krisen des Systems sich epochal verstärken, während doch die Einsicht in alle hier genannten Tendenzen gerade Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik als Krisenbeherrschung hervorgebracht haben.

Wirtschaftshistorisch nachgewiesen gab es eine Landflucht schon vor Beginn der eigentlichen Industrialisierung. Die Bevölkerungsentwicklung erwies sich als von einer Fülle von steuerbaren Faktoren abhängig. Krisen blieben nicht aus, aber sie waren nach dem Ergebnis der statistisch-empirischen Forschung wirtschaftlicher Wechsellagen etwas anderes als das, was Marx in ihnen sehen wollte (nämlich eine dauerhafte Systemkrise). Der Industrialisierungsprozeß mit seiner weitgehenden Arbeitszerlegung und Arbeitsteilung hat die spezialisierte Arbeit zu einem immer weniger beliebig austauschbaren Gut werden lassen und die politisch-gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter hat Möglichkeiten der Teilnahme am wirtschaftlichen Wachstumsprozeß erschlossen, die früheren Epochen der Wirtschafts-und Gesellschaftsgeschichte unbekannt waren. Die faszinierende, scheinbare Geschlossenheit der Marxschen Ökonomie beruht auf dem selektiven Umgang mit isolierten . Tendenzen', die nicht geleugnet werden können, die aber eher zu einem Gemälde der industriellen Frühzeit als zu einer eigentlichen wirtschaftlichen Entwicklungslehre passen wollen. Mit den Worten der Methodenkritik: Marx hat die Auswahl zwischen variablen und konstanten Daten so getroffen, daß sie der Logik eines Gesamtsystems entsprechen, andere Gruppierungen der Annahmen, vor allem bei laufender empirischer Überprüfung, sind jedoch möglich Es zeigt sich auch, daß die Wertlehre allein, keine durchdringende Analyse von Gesellschaftsordnungen zu leisten vermag. Denn Sozialökonomie ist nicht nur Werttheorie, so weit man im neumarxistischen Sinne Wert'auch begreifen mag (was dann Diskrepanz zwischen individuellem und sozialem Wert heraufbeschwört), sondern daneben auch Systematik, Handlungs-und Entscheidungstheorie, was von den Vertretern der neueren . politischen 'Ökonomie'betont wird und was im übrigen von den Vertretern der überlieferten politischen Wissenschaft nichtmarxistischer Prägung niemals geleugnet wurde Wenn es im Vorwort zu Oskar Langes politischer Ökonomie' heißt, daß Unvermögen der meisten bürgerlichen Ökonomen, Marx zu begreifen, zeige sich in der grotesken Annahme, man könne Teile und Stücke von Marx übernehmen und gleichzeitig seine Wertlehre ablehnen so muß man demgegenüber herausheben, daß es hierum gar nicht geht, sondern um die Widersprüchlichkeit der Wertlehre selbst. Der Marxsche Wertbegriff ist zweiebnig: und das macht seine Benutzung so schwierig und angreifbar: das von Marx prognostizierte Mißverhältnis zwischen Gebrauchswert und Tauschwert der Arbeit als Grundlage von Ausbeutung unter den Bedingungen der Herrschaft des Privateigentums gehört zu seiner Gesamtdiagnose des privatwirtschaftlichen Systems auf dem makrosozialen Rang. Auf der Mikroebene der Preisbildung für Arbeit sind fundamentale kritische Einwände gegen die unterstellte Annahme eines dauerhaften, überall vorfindbaren Mißverhältnisses zwischen Gebrauchswert und Tauschwert der Arbeit möglich, so daß theoriengeschichtlich und erkenntniskritisch nichts anderes übrig blieb, als die , objektive'Wertlehre für den Lohnfindungsprozeß durch eine Preistheorie für Arbeit zu ersetzen. Diese aber zeichnet sich, wie Preistheorien für andere Güter auch, dadurch aus, daß auf jeder Marktseite bei den Anbietern und bei den Nachfragern nach Arbeit eine Skala von Motiven auftaucht. An die Stelle einer einseitigen Werttheorie ist eine breit gefächerte Motivation getreten, die im Preis-geschehen ihren verkürzten Ausdruck findet.

Marx'Produktions-und Werttheorie ist eine Bereicherungstheorie, eine politisch-soziologische Theorie. Wie immer man aber zum Privateigentum stehen mag, abgeleugnet werden kann nicht, daß der freie Unternehmer oder jedwede unternehmerische Organisation, die sich an Daten des Marktes orientiert, ein Risiko auf sich nimmt, das auch darin besteht, daß der vom Markt vergütete Tauschwert eines Gutes oder einer Dienst-leitung niedriger liegen kann als die dazugehörigen Produktionskosten. Dies kann durch Nachfrageverschiebungen bedingt sein, durch konjunkturelle Wellenbewegungen oder durch einen langfristig-strukturellen Umbau des gesamten Wirtschaftskörpers. Ob man so weit gehen will, dieses Risiko theoretisch durch eine besondere Risikoprämie abgedeckt zu sehen, ist eine andere Frage (hier wäre der Punkt, wo marktwirtschaftliches Denken zur Ideologie werden kann) -, daß ein derartiges Risiko besteht, lehrt die gesamte jüngere Wirtschaftsgeschichte aller Branchen. Lange Zeit haben die nicht-marxistischen Ökonomen den hinter den Preisbildungsprozessen stehenden Motivationsfächer wenig beachtet. Dieser kritische Einwand besteht zu Recht. Aber: die empirische Sozialforschung, die zwischen Ökonomie und Soziologie steht, hat seit mindestens zwei Jahrzehnten auch in Deutschland diese Lücke zu schließen versucht.

Wenn die Mehrwerttheorie zur Erklärung wirtschaftlichen Wachstums nicht ausreicht, weil ein soziales und politisches Machtverhältnis als ein möglicher Erklärungsgrund für eine privatwirtschaftliche Akkumulation allein nicht ausreicht, so müssen Wirtschaftswissenschaft und politische Ökonomie nach weiteren Gründen suchen, um zu erklären, warum eine Wirtschaft nicht nur im Maße der Zunahme des Einsatzes einzelner Produktionsfaktoren wächst, sondern um zu erklären, welches die sozialen und individuellen Triebkräfte für makroökonomisches Wachstum sind, das über den bloß quantitativen Zuwachs einzelner Produktionsfaktoren hinausgeht. Vor dieser entscheidenden Frage werden alle wirtschaftshistorischen und verteilungstheoretischen Fragen zu Nebenproblemen. Wahrscheinlich spielt unterschiedliches Sozialverhalten eine große Rolle. Das liefe darauf hinaus, festzustellen, daß der Wachstumsprozeß sich unter bestimmten Bedingungen .selbst trägt', was die Entstehung von Fehlstrukturen einschließt. Diese frühzeitig zu erkennen, darauf sollte sich jede politische Ökonomie konzentrieren. Was eine Fehlstruktur ist, kann die Wissenschaft nicht entscheiden. Sie kann aber die Prozesse aufzeigen, die zur Bestimmung von gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Prioritäten führen. Wenn auch die Wissenschaft in den sozialen Entwicklungsprozeß einbezogen ist, so bedeutet dies, daß diese einerseits von ökonomischen Gegebenheiten, Institutionen und deklarierten Zielen abhängig sein kann, daß sie andererseits aber auf diese sozialen Systemelemente auch zurückwirkt. Wir haben mithin nicht ein zweidimensionales Geflecht ökonomisch-politisch-sozialer Beziehungen vor uns, sondern einen vieldimensionalen Körper, der angefüllt ist mit funktionalen Beziehungen, die sich jeder monokausalen Erklärung entziehen, so wie sie die Gestalt des Körpers ständig verwandeln.

Erstaunlich an der neu-marxistischen Diskussion in der Bundesrepublik und in einigen Ostblockländern ist, daß die Mehrwerttheorie als Herzstück marxistischer Kapitalismuskritik bei der Behandlung ökonomischer Fragen des Sozialismus nicht mehr im Vordergrund steht. Investitionstheoretische und produktionstheoretische Überlegungen stehen an erster Stelle, offenbar doch auch in der Annahme, daß die verteilungspolitischen Probleme sich bei einem hohen Produktionsstand leichter lösen lassen. Die Marx'sche Kritik an der industriellen Arbeitsteilung bleibt zugedeckt, eine schwache Brücke wird geschaffen durch unverbindliche Hinweise etwa der Art, man dürfe neben dem Ökonomen Marx den Humanisten Marx nicht übersehen.

V. Der Beitrag der neuen Systemtheorie

Mit der neuerdings ins Gespräch gekommenen Systemtheorie scheint eine Chance verbunden zu sein, die Orthodoxie der Marx'schen Ökonomie sowie, gewisse Einseitigkeiten der traditionellen Wirtschaftswissenschaft zu überwinden. Schon vor Jahrzehnten in den Grundzügen entworfen, bemüht sich die System-theorie als gedankliche Konstruktion darum, Wissenschaftsgebiete einander näherzubringen, die bisher durch Fach-und Bildungstradition voneinander getrennt waren. Ihre Entstehungsgeschichte führt auf mehrere Wurzeln zurück. Ursprünglich gehörte sie dem naturwissenschaftlichen Bereich an, von vorne-herein wurde aber angestrebt, auch andere Gebiete, so auch die Ökonomie und die Politik, mit einzubeziehen. Neuerdings sind methodisch zur Systemtheorie informationstheoretische, kybernetische und auch mengentheoretische Elemente hinzugetreten.

Ein „System” stellt eine Struktur dar, deren Elemente miteinander und mit Elementen außerhalb des Systems derart in Beziehung stehen, daß jede Veränderung eines Elementes auf andere Elemente im System fortwirkt. Systeme sind also fortwährend in Bewegung und im Wandel begriffen, unterliegen ständigen Anpassungs-und Fortentwicklungsprozessen. Systemtheorie ähnelt damit u. a.dem, was üblicherweise Morphologie genannt wird. Systemvorstellungen unterscheiden sich zunächst durch die Definition der Elemente. Als Bausteine sozialer Systeme bieten sich z. B. Personen, Personengruppen, soziale Rollen, Interaktionen, Institutionen oder Teilsysteme an. Wofür man sich entscheidet, hängt dabei von dem jeweiligen Betrachtungszweck ab. Außer durch die Wahl der Elemente unterscheiden sich sozialwissenschaftliche System-vorstellungen durch die Annahmen, die sie hinsichtlich charakteristischer Eigenschaften des Systems machen. Diese Systemmerkmale werden häufig in Analogie zu nicht-sozialen Systemen begriffen. So lassen sich mechanische, organische und neuerdings kybernetische Systemvorstellungen unterscheiden

Die Vielzahl methodischer Verfahren im Zusammenhang mit jüngsten systemtheoretischen Überlegungen wird die Verwendbarkeit wirtschaftswissenschaftlicher und politisch-ökonomischer Einsichten für die Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik der Zukunft zweifellos steigern können. Geht es doch darum, den Umkreis für rationales politisches Handeln zu erweitern, indem der Bereich des rational Erfaßbaren ausgeweitet wird. Zwar bleibt angesichts einer nahezu unüberschaubar gewordenen Wirklichkeit des sozialen Lebens eine Reduktion komplexer Zusammenhänge bestehen, es haben sich aber verschiedene Typen von . Systemen’ bereits herausgebildet. Flexible Denkansätze lassen überlieferte Struk-turen der Gesellschaft, der Produktion oder der Verteilung nicht mehr ungefragt bestehen. Unterschieden wird z. B. zwischen einfacher und zielverändernder Rückkoppelung. Vorläufer derartiger Verfahren gab es z. B. in der empirischen Konjunkturforschung schon länger, wenn etwa durch Fragebogen, nach Branchen geordnet, Unternehmer nach ihrer künftigen Konjunktureinschätzung gefragt wurden und die Kenntnis der Antworten aller Befragten die Äußerungen bei der nächsten Befragung, also nach Veröffentlichung der ersten, beeinflußten, so lag im Bereich der konjunkturellen Selbsteinschätzung dieser Großgruppe bereits eine die künftige unternehmerische Tätigkeit modifizierende Rückkoppelung vor. Zweifellos kann ein analytisch-theoretisches System sich selbst bestätigen, wie es andererseits auch Triebkräfte des sozialen Wandels aufweisen und aktivieren kann, vornehmlich dann, wenn den Beteiligten ihr individueller oder gruppenbezogener Entscheidungsspielraum transparent gemacht werden kann. Der Wissenschaft fällt hier eine neue Aufgabe zu, die im Kern bildungspolitisch ist. Gerade dies aber entbindet sie nicht von der Pflicht zu formaler methodischer Sauberkeit; die gesellschaftliche Position der Sozialwissenschaft, gleichgültig, wie sie sich schwerpunktmäßig begreift, kann durch die Systemtheorie ebenfalls neu beschrieben werden. Dies bedeutet nicht, die Einheit von Theorie und Praxis im marxistisch-orthodoxen Sinne herstellen. Es bedeutet aber die Chance eines tieferen Eindringens in den sozialen Kosmos und die Chance zu vermehrter soziopolitischer Einsicht verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Informationstheoretisch ausgedrückt, handelt es sich bei der Systemtheorie um die Behandlung großer Mengen von Daten nach systematischen Gesichtspunkten. Für die Ökonomie bedeutet dies z. B.: Erkenntnisse aus einzelnen Disziplinen werden so weit wie möglich begrifflich (und kybernetisch) zusammengefaßt (aggregiert). So werden z. B. Einsichten aus dem Bereich der volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnung, der Produktions-, Geld-, Außenhandelswirtschaft usw. als „Größen" aufgefaßt, die — wie in der herkömmlichen ökonomischen Modelltheorie — variabel oder konstant sein können. Derartige Größen können z. B.

sein: die Zusammensetzung des Volkseinkommens, die Inflationsrate einer Wirtschaft, die Außenhandelsquoten, der Anteil des Sparens am persönlich verfügbaren Einkommen, die Summe der durch die Privatwirtschaft verursachten sozialen Kosten (wie Umweltverschmutzung) usw; aber auch eine politisch-bürokratische Herrschaftsstruktur, die „Menge" an Konsumfreiheit, freiwilligem oder erzwungenem Konsumverzicht können Elemente eines Systems sein.

Eine der Besonderheiten von Systemen gegenüber klassischen ökonomischen Ablaufmodellen liegt darin, daß es innerhalb des Systems zu Rückkoppelungen im Sinne einer Verarbeitung von Informationen kommen kann. So etwa, wenn angenommen wird, daß die Kenntnis einer bestimmten Zusammensetzung des Volkseinkommens die politisch Verantwortlichen dazu veranlaßt, Maßnahmen zu ergreifen, die diese Zusammensetzung ändern sollen. Mit anderen Worten: der allgemeine und spezielle Wissensstand über ökonomische und andere Probleme kann selbst ein Systemelement sein. Traditionellerweise wurden derartige Überlegungen in verschiedenen Wissensgebieten, etwa in der Volkswirtschaftslehre, in der Staatsphilosophie und Staatsrechtslehre, in der Wissenschaft von der Politik usw. angestellt. Die Systemtheorie möchte dagegen überdisziplinär arbeiten.

Für unseren Zusammenhang genügt es, festzuhalten, daß sie im sozialökonomischen Bereich bestrebt ist, mehr zu bieten als nur Ablaufmodelle und daß das Wissen über das Funktionieren eines Systems gleichzeitig in ein System miteingespielt werden kann. Ob die Struktur eines Systems, dessen innere Aktivität oder ob Veränderungen in der Zusammensetzung der Elemente eines Systems im Vordergrund stehen, bleibt demgegenüber eine zweitklassige Frage. Ökonomische Modelltheorie und Wissenssoziologie können jedenfalls in der Systemtheorie eine Verbindung eingehen.

Man kann derartige Versuche als einen modernen Ausdruck des Strebens nach Wahrheit und nach besserer Einsicht in soziale Strukturen werten, von Motiven also, wie sie auch Karl Marx beherrschten. Freilich: in einer flexiblen Systemtheorie wird es keine orthodoxen Grundannahmen geben können, die undiskutiert bleiben. Da die Dogmatiker in der , Neuen Linken'hingegen am monokausalen Basisüberbau-Schema von Marx, einem vergleichsweise einfachen und deshalb nicht ungefährlichen wissenssoziologischem Schema, festhalten müssen, wird es bei ihnen zu einer Abwehrhaltung gegenüber einer flexiblen Systemtheorie kommen, auch schon deshalb, weil diese die Chance bietet, das zu tun, was der politisch etablierte Marxismus seit jeher gefürchtet und unterdrückt hat: die Betrachtung des eigenen Systems aus kritischer Distanz, gekoppelt mit der Möglichkeit, eigene Denkinhalte sowie bestehende Strukturen zum Gegenstand der Diskussion zu machen, zu . hinterfragen', wie die jüngere, linguistisch getönte Soziologie sagt.

Bekanntlich bildet die Bewußtseinswandlung des Proletariats die einzige vermittelnde Größe im Marx’schen wissenssoziologischen Schema. Läßt man systemtheoretisch auch andere Instrumente, Inhalte und Wirkungen der individuellen und sozialen Bewußtseinsbildung zu, so wird einerseits die Macht der Partei als Vortrupp des Proletariats und Inhaberin der alleinigen Wahrheit in Zweifel gezogen, zum anderen muß gefragt werden, ob der im marxistischen Sinne definierte . Arbeiter'überhaupt ein geeignetes Medium für eine breite soziale Bewußtseinserhellung sein kann.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß zwischen dogmatischen Marxisten einerseits, die Fortschritte in der Wissenssoziologie so wenig wahrhaben wollen wie eine kritische Überprüfung der Sozial-erscheinung „Proletariat" als einzigen Träger des „richtigen" Bewußtseins, und Systemtheoretikern andererseits erbitterte Streitgespräche zu erwarten sind, zu schweigen von den Auseinandersetzungen mit denjenigen Systemthoeretikern, die, selbst wenn sie marxismus-freundlich sind, die Herzstücke der Marx'schen Ökonomie wie Mehrwertlehre, Lohnfondstheorie, Kapitalakkumulation usw. flexibler handhaben und nicht mehr ausschließlich in den ihnen von Marx zugewiesenen Zusammenhängen sehen wollen.

Angesichts des interdisziplinären Charakters der Systemtheorie wird übrigens auch deutlich, daß die kritische marxistische politische Ökonomie ihre Faszination immer auch von den internen Verständigungsschwierigkeiten zwischen sogenannten . bürgerlichen'Denkern bezog, die sich zwar dem Wissenschaftsideal des Methodenpluralismus verpflichtet fühlten, ohne daß jedoch forschungsorganisatorisch hinreichende interdisziplinäre Gruppen gebildet worden wären. Die Frage nach der bestmöglichen Einsicht in sozialökonomische Zusammenhänge stellt sich durch das Aufkommen der Systemtheorie aufs Neue. Zweifellos werden traditionelle (spät-) marxistische Ökonomen ebenso wie die Vertreter der . Neuen Linken'auf ein Charakteristikum der Systemtheorie hinweisen, auf den führende Systemanalytiker selbst aufmerksam gemacht haben, nämlich auf den im Kern zunächst inhumanen Charakter system-theoretischen Denkens. Denn allgemein, auch ohne einen marxistischen Standort zu beziehen, wird man erwarten können, daß die weitere systemtheoretische Entwicklung zu neuen Höhepunkten abstrahierenden Denkens über wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse führen wird. Dies könnte nun ein lediglich wissenschaftsinternes Problem bleiben, wenn nicht auf Seiten der Marxisten die Absicht bestünde, mit ihrem wissenschaftlichen Instrumentarium der „Arbeiterschaft" einen tieferen Einblick in die Funktionsabläufe hochindustrialisierter Gesellschaften vermitteln zu wollen Die Frage drängt sich dann auf, ob lerntechnisch die überlieferte marxistische Ökonomie ihr bisheriges Gewand wird weiter tragen dürfen und ob ihr nicht, soweit sie sich kapitalismuskritisch gibt, die Gefahr droht, noch stärker als bisher als eine Analyse der frühindustriellen Zeiten in die Theorien-geschichte zurückzusinken. Damit müssen die orthodoxen Marxisten rechnen — und die , aufgeklärten" Marxisten immerhin in dem Maße, wie sie an ihrem Grundschema, dem Mißverhältnis zwischen sozialem Einsatz produktiver Kräfte und ausschließlich privatwirtschaftlich gedachter Aneignung der Akkumulationsergebnisse, festhalten und realen Mischsystemen in ihrem ökonomischen Denken keinen dauerhaften Platz einräumen Gegenüber der marxistischen Theorie vom determinierten Geschichtsablauf nach dem monokausalen Basis-Überbau-Schema stellt sich die wichtige wissenssoziologische Frage, ob Wissenschaft, also auch Wirtschaftswissenschaft, als Chance der Reflexion nicht nur der eigenen Wissenschaftsorganisation und -methodik, sondern auch der Prioritäten von individuellen und sozialen Bedürfnissen eine produktive Kraft sein kann oder nicht. Wir lassen hier beiseite, daß Institutionalisierung und Professionalisierung der Wirtschaftswissenschaften Starrheitsfaktoren darstellen können, die eine dynamische Behandlung von Sachfragen und eine kritische Eigenreflexion möglicherweise verzögern, was im übrigen nicht zuletzt immer auch eine idividuelle Problematik jedes einzelnen akademischen Lehrers und Forschers bleibt. (Eben deshalb legt die Neue Linke'viel Wert auf neue forschungspolitische Schritte und forschungspolitische Verfahren, deren Ergebnisse aber bisher nicht ausreichen, um ein Urteil über sie fällen zu können.)

In unserem Zusammenhang interessiert an dem Komplex „Wissenschaft als Produktiv-kraft" vor allem die Problematik, daß Wissenschaft selbst im Geflecht wechselseitiger Beziehungen zwischen Grundlagen (Basen), , überbauten'und vermittelnden Instanzen steht, ähnlich wie Sprache, soziale Institutionen usw. Folgt die marxistische Ökonomie der stalinistischen Tradition, vermittelnde Instanzen als außerepochal und bedeutungslos anzusehen, um das , reine'monokausale Basisüberbautheorem erhalten zu können (wie es Stalin vor 20 Jahren in seinen Linguistik-Briefen tat), so ist zu erwarten, daß neben einer ökonomischen Sozialpsychologie auch eine verfeinerte Wissenssoziologie außerhalb des marxistischen ökonomischen Denkens bleiben wird. Wie immer dies motiviert sein mag, diese Haltung überläßt der . bürgerlichen'Wissenschaft einen Effizienzvorteil. Dieser Vorteil, der im Kern auf der Freiheit beruht, das eigene System kritisch zu durchdenken, ohne an Apologetik starr festhalten zu müssen, wird verständlicherweise gegenüber jeder Form von orthodoxem marxistischen Denken vorhanden sein, handle es sich nun um theoretische Vorstellungen, wie sie in der SowjetUnion unter der Herrschaft von parteiergebenen Ideologen und Bürokraten entwickelt worden sind, oder um solche, die von den Dogmatikern der , Neuen Linken'außerhalb des Ostblockes vertreten werden, soweit sich diese auf die Marxismusdebatte etwa der Ara Hilferding/Luxemburg zurückziehen.

Der Anstoß des studentischen Protestes hat neben wünschenswerten bildungsstrukturellen Folgen auch die Konsequenz gehabt, die nicht-marxistische Ökonomie flexibler, kritischer und reflektierender gemacht zu haben. Offenbar haben einige Vertreter der . Neuen Linken'diesen Vorgang erkannt und sich aus der großen Debatte bereits zurückgezogen. Die Orthodoxie, vornehmlich wenn sie sich als manirierte Renaissance kapitalismuskritischen Denkens erweist, stößt hier an ihre Grenzen und ruft flexible Gegenreaktionen hervor. Zudem haben die Impulse, die von den Vertretern der , Neuen Linken’ ausgingen, unter-anderem dazu geführt, die Einseitigkeiten, Disproportionen und Mängel auch der marxistischen politischen Ökonomie noch klarer herauszustellen, als es bis dahin geschehen konnte

Der marxistische Ökonom ist darauf angewiesen, empirische Belege für sein fest konturiertes System zusammensuchen zu müssen, eine Folge des Eklektizismus seiner Annahmen und der von ihm untersuchten Zusammenhänge Eine lockere Behandlung neu auftretender Phänomene muß ihm fremd bleiben. Die Zuordnung zum gewählten Erklärungsbild bleibt vorgegeben. So erklärt sich die Tatsache, daß die nicht-marxistische kritische Reflexion industrialisierter Gesellschaften tiefere Einsichten vermitteln kann als der klassische Marxismus. Dieser arbeitet weiter am Bilde eines Privatkapitalismus, dessen Züge sich seit der industriellen Frühzeit entscheidend gewandelt haben. So muß die marxistische politische Ökonomie nach immer neuen Erklärungsvehikeln Ausschau halten, wie etwa ihre ausschließlich auf privatwirtschaftliche Profit-interessen ausgerichtete Imperialismustheorie, die Unterscheidung in . absolute'und . relative'Verelendung und die Unterscheidung in . allgemeine'und . spezielle'Krise.

Zur Begrenztheit orthodoxen Denkens gehört auch, daß das Auftreten des aktiv wirtschafts-und gesellschaftspolitisch engagierten Staates von den marxistischen politischen Ökonomen niemals anders als ein Machtzuwachs des Bürgertums begriffen worden ist, das nun auch noch die gesamte Apparatur der Wirtschaftspolitik, von der Gewerbe-bis zur Währungspolitik, in den Dienst . bürgerlicher'Interessen gestellt habe. Angesichts einer so weitmaschigen Behauptung gegenüber einem komplizierten Sozialsystem, wie es alle hochentwickelten Industriegesellschaften darstellen, muß naturgemäß die Beweisführung im einzelnen immer schwieriger werden. Die marxistische ökonomische Theorie stand dabei vor zwei Möglichkeiten: Entweder sie verzichtete auf differenzierte Beweise für die Interessengleichheit von Politik und Geschäft, von Macht und Profit und blieb bei ihrer generellen Anklage gegen das . Bürgertum'und .seine'Ökonomie, machte also Hintergrundmächte im Dunkeln für alle sozialen Unglücke verantwortlich, oder sie mußte bei jeder einzelnen Behauptung den Beweis antreten. Bekanntlich ist der Vulgär-marxismus den ersten Weg gegangen. Der anspruchsvollere Marxismus hat sich (wie die Arbeiten von Hallgarten, Vilmar, Lange oder Mandel zeigen) bemüht, der Behauptung einzelne Beweise folgen zu lassen. Wenn die Arbeiten marxistischer Ökonomen der letzten Jahre eines deutlich gezeigt haben, so dies, duß im Zeitalter von , Informationsüberschüssen', . Aufklärung'und . Gegenaufklärung', von Ansätzen zu neuer /Öffentlichkeit'und neuen Formen der Wissenschaftsorganisation allgemeine Hinweise auf die verderbliche Macht einer bürgerlichen Ökonomie nicht mehr befriedigen können, ebensowenig wie eine generelle Verdächtigung des Gesamtsystems. Die Beweisführung auf marxistischer Seite, daß tatsächlich eine Verbindung zwischen Privatwirtschaft, Politik und bürgerlicher Ökonomie besteht, ist schwieriger geworden. Aber nicht etwa, weil die tatsächlichen Verhältnisse unübersichtlicher geworden wären (die Publizitätspflicht in der Wirtschaft ist seit der Weltwirtschaftskrise erheblich strenger geworden), sondern weil man komplizierten Verhältnissen nicht methodisch mit einem Instrumenten-kästen entgegentreten kann, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gepackt wurde.

Wenn Verbindungen zwischen . bürgerlicher'ökonomischer Denkweise und privatwirtschaftlich betriebener Kapitalakkumulation zur Debatte stehen, so ist vielmehr zu fragen, mit welchem Instrumentarium man optimal an diesen Komplex herangehen kann und welche operationellen Schlüsse aus empirischen Beobachtungen und analytischen Ergebnissen gezogen werden können. Hier wie im gesamten ökonomischen Problembereich lauten heute die erkenntniskritischen und methodischen Kernfragen:

Was leistet die marxistische kapitalismuskritische politische Ökonomie, soweit sie an orthodoxen Stücken der originären marxistischen Ökonomie noch festhält?

Was leistet eine weiterentwickelte, . aufgeklärte'marxistische Ökonomie, insofern sie Mehrwerttheorie und privatwirtschaftliche Akkumulationstheorie als ausschließliche ökonomische Erklärungsinstrumente aufgibt?

Was leistet die überlieferte Wirtschaftswissenschaft mit ihrem breiten Fächer unterschiedlicher methodischer Verfahren?

Was leistet eine , neue‘ politische Ökonomie, die systemtheoretisch interdisziplinär vorgeht?

Fussnoten

Fußnoten

  1. F. List, Das natürliche System der politischen Ökonomie, Neuauflage Berlin 1961.

  2. Von den Autoren der älteren politischen Ökonomie in Deutschland seien ausdrücklich noch genannt: H. Albert, ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen 1954; F. Lenz, Politische Ökonomie in unserer Zeit, Tübingen 1958; H. Peter, Einführung in die politische Ökonomie, Stuttgart-Köln 1950; E. Preiser, Politische Ökonomie im 20. Jahrhundert. Ein Standardwerk politisch-ökonomischen Denkens in England wurde J. M. Meade, Principles of political Economy, London 1968. Für die DDR: F. Behrens, Die politische Ökonomie bis zur bürgerlichen Klassik, Berlin-Ost 1962. Hingewiesen sei auch auf die deutsche Übersetzung von David Ricardo, über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Berlin 1959. E. Salins Politische Ökonomie war zunächst als Theoriengeschichte der Nationalökonomie mit stark staatsphilosophischen Bezügen entworfen worden. Die 5. Auflage seines Buches heißt: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart, Tübingen-Zürich 1967. Die genannten Veröffentlichungen, mit

  3. Von neueren Arbeiten zur Kritrk der politischen Ökonomie aus neu-marxistischer Sicht nennen wir ausdrücklich: A. Lemnitz und H. Schäfer, Politische Ökonomie des Kapitalismus — Einführung, Frankfurt/M. 1972; Marx-Arbeitsgruppe Historiker, Zur Kritik der polrtischen Ökonomie, Frankfurt/M. 1972; M. Wirth, Kapitalismustheorie in der DDR, Frankfurt/M. 1972; A. Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, Frankfurt/M. 1971; P. Mattik, Kapitalistischer Reproduktionsprozeß und Klassenbewußtsein, Offenbach 1972; E. Mandel, Theorie des Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1972.

  4. Hierzu auch: H. Vetter, Politische Ökonomie, Kapitaiismuskritik ohne Marxismus?, in: Der Volkswirt/Wirtschaftswoche, Frankfurt/M. 1971/72.

  5. Für französische Verhältnisse vgl. das Nachwort zu H. Lefebvre, Probleme des Marxismus heute, Frankfurt/M. 1965; ferner vom Verfasser, Zwischen Dogma und Tabu, Marxismusdiskussion in beiden Teilen Deutschlands, in: Deutsche Studien, Bremen 1965. Gelegentlich wird auch R. Dutschke als Vertreter des Neo-Marxismus in der Bundesrepublik genannt. Damit ist der Bogen zweifellos überspannt, da Dutschke bisher nicht mehr als seine rezeptiven Kenntnisse über R. Luxemburg oder R. Hilferding und einige syndikalistisch-frühsozialistische Vorschläge anbot.

  6. Und auch Ausdruck der wissenschaftsorganisatorischen Situation, der sich Marx gegenübersah. Hierzu: H. J. Krysmanski, Soziales System und Wissenschaft. Zur Frage wissenschaftlichen Außenseitertums, Gütersloh 1972; W. Euchner, Marxistische Positionen und Studentenunruhen in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/68 v. 4. 9. 1968.

  7. E. Kauder, The intellectual sources of Karl Marx, in: Kyklos 1970; Marx und die Revolution, Frankfurt/M. 1970; U. Boehnisch u. a., Marx zur Ansicht, Hamburg 1972.

  8. Einen Überblick über Hauptprobleme bietet: W. Euchner, A. Schmidt (Hrsg.), Kritik der politischen Ökonomie heute, Frankfurt/M. 1967.

  9. J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1950.

  10. Hierzu u. a.: M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx, Frankfurt/M. 1959; R. Rosdolski, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapitals, Frankfurt/M., 1968. Aus neuerer Zeit: Walter Euchner und Alfred Schmidt (Herausgeber), Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre Kapital, Frankfurt/M. -Wien 1967; der Band enthält u. a. einen Beitrag von Nicos Poulantzas, Theorie und Geschichte. Kurze Bemerkungen über den Gegenstand des Kapitals. Hier finden sich Ansätze für eine systemtheoretische Formulierung des Marxismus. Vgl. auch L. Köllner, Marx im Zeitalter der Sicherheit, und: Was blieb von dem Jahrhundertbuch, in: Die Welt, vom 14. 12. 1963 und 16. 9. 1967.

  11. Die Frage, ob die vergleichsweise späte Lösung der Probleme der Weltwährungsordnung eine Folge dieser Haltung sind, soll hier nur gestellt, nicht ausführlich beantwortet werden. Bekanntlich sieht die neu-marxistische politische Ökonomie in den Krisen der Weltwährungsordnung der Jahre 1961, 1967 und 1971 neue Höhepunkte der allgemeinen Krise des . Kapitalismus’, wiewohl es sich augenscheinlich lediglich um eine strukturelle Krise institutioneilen und raumwirtschaftlichen Charakters handelt. Insbesondere verlangte der wirtschaft-

  12. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Ople den 1971; K. E. Schenk, Systemanalyse in den W. n schafts-und Sozialwissenschaften, Berlin 1971; KJ. Hondrich, Systemanalyse, politische Ökonom Bedürfnisbefriedigung, Kölner Zeitschrift für Sozi logie und Sozialpsychologie, 1972/2.

  13. Inwieweit es sich bei der Systemtheorie meta disch grundsätzlich um etwas anderes handeltum eine Mischung zwischen überlieferten , Model-: Analysen der Ökonomen und denjenigen der po tischen Soziologie und der Arbeitsweise der her kömmlich politische Wissenschaften genannt Verfahren, ist eine sehr interessante Frage, t hier nicht diskutiert werden kann.

  14. Diesen Vorwurf muß man ebenfalls O. Lange machen, was auch seine ihm sonst wohlgesonnenen Herausgeber vermerken. Vgl. hierzu: J. Kuczinski, Zur politökonomischen Ideologie Deutschlands von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg, Berlin (Ost) 1961.

  15. E. Altvater, Gesellschaftliche Produktion und ökonomische Rationalität. Externe Effekte und Zentralplanung im Wirtschaftssystem des Sozialismus, Frankfurt/M. 1969.

  16. Die nach Marx immer ungleiche Marktposition von Unternehmern und Arbeitern am Arbeitsmarkt schließt die . Wartetheorie'des Zinses, etwa von Senior, mit ein. Nach ihr ist der Zins der Preis für das . Wartenkönnen'auf den Einsatz der'eigenen Arbeitskraft, weil man zwischenzeitlich vom . arbeitslosen'Kapitaleinkommen leben könne.

  17. Vgl. hierzu die wenig bekannte, originelle Studie von H. Albach, Unternehmer und Organisation bei Franz Kafka, Mitteilungen der List-Gesellschaft, Basel 1969/3. Weniger dramatisch als die revolutionär sich verstehende , Neue Linke'hat dies der Amerikaner Vance Packard mit seinen amüsierliehen Büchern über sozialen Aufstieg und Verhalten in bürokratischen Strukturen dargestellt. Vgl. hierzu auch: J. Israel, Der Begriff Entfremdung, makrosoziologische Untersuchungen von Marx bis zur Soziologie der Gegenwart, Hamburg 1970.

  18. Vgl. hierzu den Beitrag von D. Oberndorfer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. 9 1972. Obgleich in der Fachökonomie seit Jahrzehnten ausdiskutiert, muß hier noch einmal daran erinnert werden, daß Marx in den entscheidenden Stellen seiner Produktions-und Verteilungstheorie s (die Zirkulationssphäre ist nach ihm . unproduktiv', während die nicht-marxistische Wirtschaftstheorie den Handel als funktional produktiv ansieht, der auf die Produktion zurückwirkt) den Mehrwert (. Inkrement') als vorhanden voraussetzt, um nachträglich die Erklärung anzubieten, der Mehrwert beruhe ausschließlich auf der ausgebeuteten Arbeitskraft, weil nur die für die physische Reproduktion erforderlichen Löhne an die Arbeiterschaf: gezahlt würden. Andere Autoren haben sich um andere Erklärungen des , letzten Geheimnisses'des Kapitalismus bemüht und zu erklären versucht, 1 warum letztlich die Wirtschaft wächst und um wel-I ehe Rate. Man hat von einem . natürlichen Zins'ge-'sprochen und davon, daß die Gesinnung entschei-i dend sei, nur solche Produktion aufzunehmen, die) einen Uberschuß verspricht, was ohne allgemeine) soziale Anerkennung dieses Verhaltens kaum mög-1 lieh sein dürfte. Wahrscheinlich können massen-1 soziologische, sozialpsychologische sowie ethisches Erklärungen eine bessere Deutung für das Phä-i nomen des kapitalistischen , Surplus'liefern als die Marx’sche Mehrwerttheorie, die von der Annahme eines ständig am Existenzminimum lebenden In-i dustrieproletariats ohne Organisation, ohne Einsicht, in seine soziale Rolle und ohne eigenes soziales. Aufstiegsstreben lebt — Annahmen, die selbst für die industrielle Frühzeit sehr grob sind.

  19. Diese Unterteilung gehört zum eisernen Bestand per marxistischen Wirtschaftstheorie. Bedauerlicherweise vereinbart sie sich nicht mit dem, was Marx . disponible time'nennt, die angeblich nur im Sozialismus möglich sei. Arbeitszeitverkürzungen von 60 auf 40 Stunden, gleitende Arbeitszeit und bezahlter Urlaub, Verbot der Kinderarbeit usw. lagen außerhalb der wirtschaftlichen Erfahrung von Marx, was die Mehrwertheoretiker gerne übersehen. Der wachsende, weite Bereich des . tertiären Sektors'der Dienstleistungen findet in der Unterscheidung in produktive und unproduktive Tätigkeit keinen Platz, obwohl doch der Ausfall eines Wartungsdienstes eine Produktion lahmlegen kann. Offensichtlich hat man es hier mit einer besonders schwachen Stelle der marxistischen Ökonomie zu ‘an, die lediglich materielle Gütererzeugung in der Fabrik als . produktiv'ansieht. Hier wird auch deut-ich, wie wichtig eine semantisch-begriffskritische Behandlung einzelner Abschnitte auch des Neu-Marxismus ist, der weiterhin an der Unterscheiung zwischen produktiver und unproduktiver Täigkeit festhält.

  20. Hierzu: Erwin K. Scheuch, Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/1968 v. 4. 9. 1968.

  21. Bernhardt Gahlen u. a., Volkswirtschaftslehre, München 1971.

  22. H. Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Basel 1953.

  23. Diesen gewiß nicht neuen Einwand gegen die Marx’sche und marxistische Ökonomie halten wir aber im Gegensatz zu manchem anderen Autor nicht als . enthüllend’ im Sinne einer Ideologie-kritik, sondern für eine schlichte methodische Un-sauberkeit.

  24. Dies zeigt ein Blick auf J. A. Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung aus dem Jahre 1912, der einzigen, den Marx’schen Thesen entgegen-gerichteten wirtschaftlichen Entwicklungslehre. Die Unbequemlichkeiten, die Schumpeter bietet, haben offensichtlich das Entstehen einer . Schumpeter-Schule'verhindert. Von den . Neuen Linken'wird er — auch weil weitgehend unbekannt — nicht als Gegenposition zu Marx erkannt. Die Grundthese Schumpeters: der Privatkapitalismus als historisch nachweisbar bisher erfolgreichstes System (was Marx nicht bestreiten würde) verdanke seinen schnellen Aufstieg einer wagenden Unternehmer-generation, die mit volkswirtschaftlich zusätzlichem Geld ausgestattet werde, weil die vielen . Pfützen kleiner Ersparnisse'für die Durchsetzung neuer . Innovationen'nicht ausreichen. Tatsächlich greift hier Schumpeter Marx an seiner schwächsten Stelle an: bei der Geld-und Kredittheorie. Marx sieht den Zwangssparprozeß der industriellen Frühzeit in Verbindung mit seiner Ausbeutungstheorie. Schumpeter sieht die Möglichkeiten, die das System von Vertragsfreiheit und Privateigentum jenen bietet, die bereit sind, Risiko zu übernehmen und über die Enge der Anfangsjahre hinauszukommen. Daß der von Schumpeter selbst gelegentlich so genannte hemdsärmelige Unternehmer sozial durch neue Figuren verdrängt wird, bildet ein wesentliches Element organisatorischer und bürokratischer Verkrustung des (Kapitalismus’ in Schumpeters Sicht. Institutionelle und bürokratische Erstarrung sowie ein dem komparativen Kostenprinzip entgegenarbeitender Exportmonopolismus sind nach Schumpeter, die ärgsten Feinde des Privatkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu im einzelnen: Lutz Köllner, Geld-und Wissenssoziologische Bemerkungen zu Marx und Schumpeter, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Göttingen 1964/3, Bd. 15.

  25. Man denke an die Frage der sozial-politischen Prioritäten gesamtwirtschaftlicher Ziele und eines rationalen Mitteleinsatzes zu deren Verwirklichung. Vgl. hierzu H. Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Wiesbaden 1961.

  26. Oskar Lange, Politische Ökonomie, Bd. I, Frankfurt/Wien 1963. Hierzu auch: K. G. Zinn, Arbeitswerttheorie, Herne-Berlin 1972.

  27. Zur Abgrenzung der Systemtheorie von anderen theoretischen Modellen vgl. inbes. K. W. Deutsch, Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg 19702.

  28. Diese schwieriger werdende bildungspolitische Aufgabe besitzt auch eine brisante wissenssoziologische Komponente: der Abstand zwischen intellektueller Reflexion und der tatsächlichen Sozial-mechanik wird größer. Das aber kann bedeuten, daß methodisch und anthropologisch neue Forderungen an den Menschen gestellt werden müssen, von denen man im einzelnen noch nicht weiß, wie sie aussehen sollen. Man kann dies als eine Dynamik des bildungspolitischen Prozesses beschreiben, und zweifellos haben die sechziger Jahre dazu erhebliche Anstöße geliefert.

  29. Die gleiche Frage wäre aber auch an die überlieferte Wirtschaftswissenschaft zu richten.

  30. A. Sohn-Rethel, Ökonomischer Dualismus der Übergangsgesellschaft, Neuwied 1971.

  31. Manches an diesem Vorgang erinnert an die Verhältnisse in der Sowjetunion während der zwanziger Jahre. Hierzu: A. Erlich, Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924— 1928, Frankfurt/M 1972; K. Kühne, Ökonomie und Marxismus, Neuwied 1972.

  32. J. M. Gillmann, Das Gesetz des tendenziellen Falles der Profitrate, Frankfurt/M — Wien 1971; Als Beispiel für eine undogmatische Behandlung wachstumspolitischer und gesellschaftspolitischer Fragen siehe: D. Schröder u. a., Wachstum und Gesellschaft. Gesellschaftspolitische Grundlagen der längerfristigen Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums, Stuttgart 1971. Diese im Auftrag der Bundesregierung angefertigte Studie wird folgerichtig von der . Neuen Linken'als Godesberger Sozialdemokratismus eingestuft. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte für den vorliegenden Beitrag die ausführliche Arbeit von Karl Kühne, Ökonomie und Marxismus, Neuwied 1972; von ihr erfuhr der Verfasser erst nach redaktionellem Abschluß des Manuskriptes.

Weitere Inhalte

Lutz Köllner, Diplom-Volkswirt, wissenschaftlicher Oberrat, geb. 1928 in Wernigerode am Harz, studierte Nationalökonomie und Soziologie, war mehrere Jahre in der empirischen Wirtschafts-und Konjunkturforschung tätig. Wissenschaftliche Veröffentlichungen u. a.: Marxistische Wirtschaftstheorie und sowjetische Wirtschaftspolitik, Bonn 1965; Der Imperialismus in marxistischer Sicht, Bonn 1965; Von Marx bis Erhard — Propheten und Magier der Wirtschaftspolitik, Velbert 1967; Rüstungsfinanzierung, Frankfurt/M. 1969; Chronik der deutschen Währungspolitik 1871— 1971, Frankfurt/M. 1972; Mitarbeit am Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Herders Staatslexikon, Handbuch der Entwicklungspolitik, Handbuch der Außenpolitik. Wirtschafts-und gesellschaftspolitische Aufsätze in sozialwissenschaftlich-politischen Zeitschriften.