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Um die soziale Sicherheit | APuZ 48/1973 | bpb.de

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APuZ 48/1973 Artikel 1 Um die soziale Sicherheit Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß

Um die soziale Sicherheit

Wilfrid Schreiber

/ 49 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Sozialversicherungseinrichtungen, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Gesetze über die Kranken-, Unfall-und Rentenversicherung (GKV/GUV/GRV) geschaffen wurden, unterschieden sich von ähnlichen privaten Institutionen dadurch, daß sie außer dem Prinzip der Selbsthilfe zusätzlich die Prinzipien der Fremd-hilfe und des sozialen Ausgleichs sowie das Zwangsprinzip als Gestaltungsnormen in Anspruch nahmen. Im Konzept der Bismarckschen Sozialversicherung war das Element der „Fremdhilfe" besonders stark ausgeprägt: Der Gesetzgeber intendierte (bei der GRV und der GKV) eine Einkommensumverteilung zugunsten der Arbeiter in Form direkter Staatszuschüsse und durch die Arbeitgeberbeiträge. Ging diese Absicht in den ersten Jahren in Erfüllung, so gelang ihre Verwirklichung in den Folgejahren immer weniger. Heute ist die Umverteilung nur noch eine Illusion, denn die Arbeitgeberanteile sind nicht mehr gewinnschmälernde Fürsorgeleistungen der Arbeitgeber, sondern Teile des Arbeitsentgelts, und die umverteilende Wirkung der Staatssubventionen zur Sozialversicherung nähert sich dem Punkte Null, da die Gesamtheit der Arbeitnehmer rd. drei Viertel der Erwerbstätigen umfaßt und ihr Anteil am Steueraufkommen des Bundes bald ebenfals drei Viertel erreichen dürfte. Von seinen Ursprüngen bis 1948 hat sich das System der sozialen Sicherung sowohl quantitativ ständig ausgeweitet (1911 z. B. Einbeziehung aller Angestellten) als auch qualitativ verändert (z. B. Einrichtung der Arbeitslosenversicherung 1927). Im zweiten Teil des Beitrages werden einige der wichtigsten Einrichtungen der sozialen Sicherung im einzelnen auf die Veränderungen hin untersucht, denen sie seit 1948 unterworfen worden sind. Dargestellt werden insbesondere die Entwicklung zur „Vollrente", zur dynamischen Rente und zur „Umlagefinanzierung" im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung, das System des Familienlastenausgleichs und die sozialpolitischen Ansätze zur weiteren Sicherung der Arbeitnehmer durch Vermögensbildung in breiten Schichten.

In den letzten 25 Jahren hat sich deutlich abgezeichnet, daß die Einrichtungen der sozialen Sicherung zu unentbehrlichen Strukturelementen der industriellen Gesellschaft geworden sind. Der Sinn-und Gestaltwandel, den diese Einrichtungen gerade in diesen letzten 25 Jahren durchgemacht haben, wird erst deutlich, wenn wir zuvor einen kurzen, zeit-raffenden Rückblick auf die Entwicklung des deutschen Sozialversicherungssystems werfen. Eigentlich müßte damit eine Skizze der sozialgeschichtlichen Entwicklung des industriellen Zeitalters überhaupt verbunden werden. Dies würde aber den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.

Man muß jedenfalls davon ausgehen, daß sich Ende der vierziger Jahre eine unübersehbare Epochenzäsur vollzogen hat. Vielleicht werden die Sozialhistoriker der Zukunft mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (für die Bundesrepublik Deutschland mit 1948) einen neuen Abschnitt der Sozialgeschichte beginnen lassen. Vielleicht. Mit Gewißheit können wir es noch nicht sagen, da der heutige Beobachter noch nicht den rechten zeitlichen Abstand zu den Dingen gewonnen hat. Viel spricht dafür, daß die industrielle Gesellschaft ihre leider-füllte Frühphase hinter sich gelassen hat und in die Phase der Erfüllung und der Ernte eingetreten ist: Endlich beginnen wir zu ernten, was keimhaft schon von jeher im geistigen Prinzip der industriellen Revolution angelegt war; endlich beginnt das große Abenteuer der Technik sich auch für den Einzelmenschen und die einzelne Familie zu lohnen. Dank fortgeschrittener Entwicklung der produktiven Kräfte, dank aber auch einer Fülle neuer Normen des Denkens, neuer zweckadäquater Gesetze und Institutionen zeigt der Wirt-Schaftsvollzug, der ein Jahrhundert lang menschenfeindliche Züge hatte, sein eigentliches, sein humanes, sein menschenfreundliches Gesicht. Auch das System sozialer Sicherung widerspiegelt den Weg der Gesamtgesellschaft aus einer Epoche unbewältigter moderner wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung in ein — wenigstens im europäisch-nordamerikanischen Raum — menschenwürdiges Zeitalter.

Die Entwicklung des Systems sozialer Sicherung von seinem Ursprung bis 1948

Thomas Ellwein Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß........................................................ S. 22

Das System sozialer Sicherung, so wie wir es heute kennen, geht auf die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Damals verabschiedete der Reichstag des 1871 gegründeten zweiten deutschen Kaiserreichs auf Bismarcks Drängen die Gesetze über die Kranken-, Unfall-und Rentenversicherung der Arbeiter (z. T. schon mit Einschluß der untersten, einkommensschwächsten Schicht der Angestellten). Natürlich hatten diese Sicherungs-einrichtungen zahlreiche Vorläufer. Sie waren aber stark zersplittert und uneinheitlich, auf einzelbetrieblichen, bestenfalls gemeindlichen Raum begrenzt und größtenteils wenig leistungsfähig. Zudem beschränkten sie sich fast ausschließlich auf wirtschaftlichen Schutz bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nur vereinzelte Großbetriebe gewährten ihren Arbeitern im Alter und bei Invalidität so etwas wie eine Rente — der Höhe und der Intention nach nicht mehr als ein Almosen. Der Schutz der Arbeiter gegen Schäden, die durch Unfälle im Betrieb verursacht wurden, war durch das Reichshaftpflichtgesetz nur sehr unzulänglich geregelt. Für alle drei obengenannten Sozialversicherungsarten bestimmte die Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre ein-3 heitliche Rechtsnormen, nicht aber auch eine einheitliche, zentralisierte Trägerschaft. In der Krankenversicherung wurden zahlreiche historisch gewachsene Gebilde zwar den neuen einheitlichen Rechtsnormen unterstellt, blieben aber als selbständige Träger erhalten. Als Auffangbecken für die bisher noch nicht von der Krankenversicherung erfaßten Pflichtmitglieder wurden die Allgemeinen Ortskrankenkassen und die Landkrankenkassen neu gegründet. Eine einheitliche, nur regional gegliederte Trägerschaft erhielt die Invaliden-(Renten-) Versicherung der Arbeiter — mit einer Ausnahme: Die Knappschaften des Bergbaus, deren soziale Einrichtungen eine jahrhundertelange ehrwürdige Tradition haben, konnten auch ihre Rentenkassen selbständig weiterbetreiben (sogar — bis auf den heutigen Tag — unter etwas abweichenden Rechtsnormen). Der gesetzlichen Unfallversicherung wurde sinnvollerweise eine Gliederung nach Wirtschaftszweigen (Berufsgenossenschaften) vorgeschrieben. Damit wurde dem unterschiedlichen Grad der Unfallgefährdung in den verschiedenen Berufsarten Rechnung getragen.

Bismarcks Motive waren eindeutig: Er wollte die Arbeiterschaft, deren zahlenmäßiges Anwachsen er mit Sorge beobachtete, dem Einfluß ihrer politischen Führer entziehen und sie für den Reichsgedanken und das „soziale Kaisertum" gewinnen, er wollte sie zum Mit-träger seines Staates machen. Das ist ihm — aus eigener Schuld — vollständig mißlungen. Bismarcks Verhalten zur Arbeiterfrage weckt ernste Zweifel an seinem (sonst oft bewiesenen) staatsmännischen Weitblick. Denn schon drei Jahre bevor die „Kaiserliche Botschaft" (1881) das große Werk der Sozialgesetzgebung ankündigte, hatte er das „Sozialistengesetz" durchgebracht, das die Sozialdemokratische Partei, und mit ihr de facto (wenn auch nicht de jure) die junge Gewerkschaftsbewegung, zum Staatsfeind erklärt und gewaltsam unterdrückt. Dieses unsinnige Gesetz, das die Masse der Arbeiter mit Gewalt in die Opposition trieb, wurde erst 1890 wieder aufgehoben. Zu spät! Die ganze soziale Gesetzgebung der achtziger Jahre wurde — welcher Widersinn! — ohne die Arbeiter, ohne Mitwirkung ihrer politischen und gewerkschaftlichen Führer, ja gegen deren verständliches Mißtrauen ins Werk gesetzt — als obrigkeitlicher Hulderweis, als Zuckerbrot, das seine Wirkung verfehlen mußte, weil ihm die Peitsche vorangegangen war.

In Ermangelung anderer Vorbilder orientierten sich die drei Sozialversicherungseinrichtungen, soweit möglich, an ähnlichen Institutionen der privaten Versicherungswirtschaft. Sie unterschieden sich von diesen jedoch dadurch, daß sie außer dem Versicherungsprinzip und dem Prinzip der Selbsthilfe noch zusätzlich das Prinzip der Fremdhilfe, das Prinzip des sozialen Ausgleichs und das Zwangs-prinzip als Gestaltungsnormen in Anspruch nahmen. „Fremdhilfe" und „sozialer Ausgleich" bedeuten Abweichungen vom Aquivalenzprinzip, welches postuliert, daß Leistung und Gegenleistung, also die Beiträge und die Leistungsansprüche jedes einzelnen Versicherten, einander — nach Maßgabe des Versicherungsprinzips — rechenhaft entsprechen. Dabei bedeutet Fremdhilfe, daß nichtversicherte Personen einen Teil der Kosten zu tragen haben, die die Versicherten verursachen; unter sozialem Ausgleich werden alle Prozesse der Lastenumverteilung unter den Versicherten selbst verstanden, z. B.derart, daß die Beiträge von Versicherten mit höherem Einkommen bei gleichem Leistungsanspruch höher liegen als die Beiträge der Versicherten geringeren Einkommens.

Im Konzept der zur Bismarck-Zeit entstandenen Sozialversicherungen war das Gestaltungsprinzip „Fremdhilfe" besonders stark ausgeprägt. Das erklärte Ziel der Sozialgesetzgebung war die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter. Das auffälligste Merkmal der Lebenslage des Proletariers war der extrem niedrige Lohn, der nur knapp zur bescheidensten Befriedigung der Fundamental-bedürfnisse in der Zeit seiner Entstehung (von einem Lohnzahltag zum andern) ausreichte. Zur Bildung von Rücklagen für einkommens-lose Zeiten blieb nichts übrig. Der Gesetzgeber strebte daher eine durch Staatsmacht erzwungene Einkommensumverteilung zugunsten der Arbeiter und zu Lasten der restlichen Mehrheit relativ wohlhabender Wirtschaftsbürger an. Ein direkter Eingriff in den Prozeß der Lohnbildung war nicht möglich; er hätte das liberale Wirtschaftssystem in seinen Grundlagen bedroht.

Der Gesetzgeber wählte daher den Weg über die Subventionierung der Sozialversicherungen. Zwar wurde dadurch das verfügbare Nettoeinkommen der Arbeiter nicht aufgebessert, wohl aber ihr gesamtes Lebenseinkommen, das ja nach Einführung der Sozialversicherungen aus dem eigentlichen Lohn zuzüglich der in einkommenslosen Zeiten fälligen Sozialleistungen bestand. Aber es war nicht nur der Weg des kleineren Widerstandes, der den Gesetzgeber veranlaßte, das System der sozialen Sicherung als Ansatzpunkt der Einkommens-Redistribution zu wählen. Dieser Weg bot sich auch deshalb an, weil gerade in Zeiten aussetzenden Lohneinkommens, d. h. bei Krankheit, Invalidität oder altersbedingter Arbeitsunfähigkeit, die Armut des Arbeiters besonders kraß hervortrat; sie steigerte sich in diesen Fällen zu nackter Not.

Der Gesetzgeber vollzog die Einkommensumverteilung zugunsten der Arbeiter auf zwei Wegen. Einmal in Form direkter Staatszuschüsse zu den Haushalten der Sozialversicherungen. Das geschah im wesentlichen dadurch, daß die Grundbeträge der Alters-und Invalidenrenten (gleicher Sockelbetrag für alle Renten) aus dem Steueraufkommen des Reiches finanziert wurde, zu dem die Arbeiter, weil wenig besteuert, nur geringfügig beitrugen. Zum anderen verpflichteten die Sozialversicherungsgesetze die Arbeitgeber — in der Hauptsache also die Selbständigen (die Unternehmer) —, einen Teil der Sozialversicherungsbeiträge ihrer Arbeitnehmer zusätzlich zum Bruttolohn aufzubringen. In der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) betrug der Beitragsanteil der Arbeitgeber anfänglich ein Drittel, von 1934 an die Hälfte. In der gesetzlichen Rentenversicherung (GRB) betrug der Beitragsanteil der Arbeitgeber von Anfang an und auch heute die Hälfte (davon abweichend liegen die Beitragsanteile der Arbeitgeber in den Knappschaftlichen Versicherungen über die Hälfte).

Die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) wurden seit Anfang und werden auch heute ganz vom Arbeitgeber aufgebracht. Das ist durchaus sinnvoll. Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist es Sache des Arbeitgebers, den vom Arbeitnehmer verlangten Arbeitsvollzug so einzurichten, daß er nicht mit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist. Durch Teilnahme an der GUV löste der Arbeitgeber seine bisher (seit 1871) bestehende direkte Haftpflicht ab. GUV-Beiträge sind also echte Betriebskosten. Aber auch die Rechtsstellung der Arbeitnehmer wurde durch Einführung der GUV bedeutend verbessert.

Offenkundig ging die Absicht des Gesetzgebers dahin, daß die Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer — soweit die Arbeitgeber Unternehmer oder Unternehmungen waren — aus den Gewinnen bezahlt wurden, d. h. die Gewinne schmälern sollten. Diese Absicht ist in den ersten Jahren nach Einführung der Sozialversicherungen gewiß auch in Erfüllung gegangen. Die Voraussetzungen dafür waren günstig. Zum einen war die Überwälzung dieser neuen Kostenart auf die Preise im damals bestehenden System der echten Goldwährung sehr schwierig. Zum anderen konnte das damals als normal geltende Gewinn-Niveau diesen Aderlaß auch recht gut vertragen. Es gab ja noch keine hinreichend starken Gewerkschaften, die die Ausschöpfung des „vollen Arbeitsertrages" zugunsten der Arbeiter hätten durchsetzen können. Zudem scheint es das Seinsgesetz der „kapitalistisch" organisierten industriellen Volkswirtschaften zu sein, daß die Unternehmergewinne in den frühen Phasen der Entwicklung relativ hoch liegen (Pioniergewinne), mit fortschreitender Entwicklung und zunehmender Dynamik des Wirtschaftsprozesses aber langsam abbröckeln und sich schließlich auf dem Minimum-Niveau konsolidieren, das erforderlich ist, um den Zustand der Vollbeschäftigung langfristig zu erhalten. Heute z. B. dürfte in unserem Land die Einkommensart Unternehmergewinn im Sinne der Theorie (Bilanzgewinne nach Abzug der kalkulierten Eigenkapitalverzinsung und des kalkulierten Unternehmerlohns) je nach Konjunkturlage auf 5 bis 9 Prozent des Volkseinkommens geschätzt werden können und zudem großenteils nicht in bar, sondern als Zuwachs des Betriebsvermögens in Form schon getätigter Nettoinvestition anfallen.

Mag die vom Gesetzgeber gewollte Einkommensumverteilüng zugunsten der sozialversicherten Arbeitnehmer und zu Lasten der Unternehmer in den ersten Jahren vollauf gelungen sein — in den Folgejahren gelang sie immer weniger, und heute besteht sie nur noch als trügerisches optisches Erscheinungsbild fort. Denn inzwischen sind drei Menschenalter vergangen. Inzwischen konnte die durchschnittliche Arbeitsproduktivität — dank technischem Fortschritt, beschleunigter Netto-investition und verbesserter Arbeitsqualität — auf ein Mehrfaches gesteigert werden. Das gab Anlaß und Gelegenheit zu stetigem Anheben der realen Bruttolöhne, die seit Anfang des Jahrhunderts immer häufiger (heute durchgängig) in Tarifverhandlungen ausgehandelt werden. Die Gewerkschaften haben gegenüber den Arbeitgebern die Pari-Stellung an Marktmacht erreicht.

Das Zusammenwirken all dieser Faktoren hatte zur Folge, daß die Arbeitgeberanteile an den Beiträgen zur GKV und GRV heute nicht mehr als zusätzliche, über den marktgemäßen Lohn hinausgehende, den Gewinn schmälernde Fürsorgeleistungen der Arbeitgeber angesehen werden können, sondern zu rite verdienten Teilen des marktgemäßen Lohns geworden sind. Würde die Beitragspflicht der Arbeitgeber heute aufgehoben, so würde die Lohnerhöhung bei der nächstfälligen Tarifverhandlung — auch ohne jede Nachhilfe des Gesetzgebers — um die ersparten Arbeitge5 ber-Beitragsprozente höher ausfallen als ohnedies. Eigentlich sollte man sich diesen Zustand wünschen. Er würde deutlich machen, daß der Arbeitnehmer von heute die Kosten seiner sozialen Sicherung tatsächlich zur Gänze aus seinem eigenen, wohlverdienten Arbeitseinkommen bezahlt und hierzu nicht der gnädigen Hilfe einer fürsorgerischen Autorität (sei es des Staates oder des Arbeitgebers) bedarf. Der Verzicht auf die Fiktion des Arbeitgeberbeitrags zur GKV, GRV und zur Arbeitslosenversicherung würde eines der vielen Trugbilder auslöschen, die den Unkundigen in der heutigen sozialen Landschaft narren und irreführen.

Aber auch der andere Weg der Einkommens-umverteilung, der noch heute beträchtliche Zuschuß, den der Bund zu Lasten der Steuerzahler den Haushalten der Rentenversicherung zukommen läßt, erweist sich mehr und mehr als Illusion. Staatliche Subventionen aus dem Steueraufkommen gelingen um so besser, je kleiner der Kreis der Begünstigten und je größer folglich der Kreis der Nichtbegünstigten ist. Im Falle der GRV ist der Kreis der Begünstigten (nämlich die Beitragszahler) jedoch — anders als zu Bismarcks Zeit — sehr groß geworden. Er umfaßt heute fast die Gesamtheit der Arbeitnehmer (ohne die Beamten) und damit wohl rund drei Viertel der Erwerbstätigen. Und da die Versicherten der GRV mit steigenden Löhnen und Gehältern immer mehr in die Lohnsteuerprogression hineingeraten, dürfte ihr Anteil am Steueraufkommen des Bundes bald auch nicht mehr weit unter drei Viertel liegen. Das bedeutet aber, daß die umverteilende Wirkung der Subvention immer geringer wird und daß schließlich nur noch das Trugbild einer Subvention ohne realen Nettoeffekt übrig bleibt.

Den weitaus überwiegenden Teil des Bundeszuschusses bringen dessen Empfänger und vermeintliche Nutznießer schon heute selber auf. Was der Staat ihnen mit der großen Geste des Wohltäters in die eine Tasche hineinsteckt, holt er ihnen größtenteils aus der anderen Tasche wieder heraus.

In einer Erwerbsgesellschaft, die zu 84 Prozent aus Arbeitnehmern besteht (1970), und bei stark nivellierter Einkommensschichtung ist der Versuch einer für den einzelnen Bürger zu Buch schlagenden gesetzlichen Redistribution der Einkommen notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Bildungspolitik steht heute hoch im Kurs. Nichts wäre dem sozialen Frieden dienlicher als eine Unterweisung aller Bildungsbeflissenen in den Grundzügen der Lohntheorie und Finanzwissenschaft. Zudem sollten sie sich das Statistische Jahrbuch zur Pflichtlektüre machen.

Werfen wir an dieser Stelle noch einen kurzen Blick auf die weitere Entwicklung des Systems der sozialen Sicherung von seinen Ursprüngen zur Bismarck-Zeit bis 1948. In ihrem quantitativen Aspekt ist diese Entwicklung gekennzeichnet durch ständige Ausweitung des Kreises der Pflichtversicherten der GRV und GKV auf Arbeitnehmer von immer weiteren Wirtschaftszweigen und Berufsarten und immer höheren Einkommensklassen. Ein besonders weittragender Schritt war die Einbeziehung der Hauptmasse der Angestellten in die GRV. Die Reichs-(später Bundes-) versicherungsanstalt für Angestellte wurde im Jahr 1911 gegründet — erstmalig als zentrale Institution ohne fachliche oder regionale Untergliederung. Im gleichen Jahr wurde das gesamte Sozialversicherungsrecht in einem einheitlichen Gesetzbuch, der Reichsversicherungsordnung (RVO), kodifiziert. Als Rahmenwerk besteht und gilt die RVO noch heute. Freilich ist ihr konkreter Inhalt durch ungezählte Gesetzesnovellen immer wieder geändert worden. Im Jahre 1941 wurden erstmalig auch Rentner der GRV in den Schutz der GKV einbezogen. Das ursprünglich niedrige Niveau der Alters-und Invalidenrenten wurde seit 1948 mehrmals angehoben (eine kräftige Heraufsetzung erfolgte erst im Zuge der Rentenreform von 1957).

Qualitativ verändert hat sich das System der GKV, indem der Katalog der Pflicht-und Kann-Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen immer wieder verlängert wurde. Als neue Einrichtung der sozialen Sicherung kam 1927 die Arbeitslosenversicherung hinzu. Ihr besonderes Kennzeichen ist, daß ihre Träger-institution, die Reichs-(später Bundes-) anstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, neben der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung zugleich auch die noch wichtigere Funktion der (öffentlich-rechtlichen, gemeinnützigen) Arbeitsvermittlung (mit fast lückenlosem Monopol) übernahm. Berufsberatung und Umschulung wurden alsbald weitere Aufgaben der Bundesanstalt. Da diese konstruktiven Aufgaben, besonders nach Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (1969), immer mehr Schwergewicht bekamen, wurde der Name der Bundesanstalt in „Bundesanstalt für Arbeit" verändert.

Sinnwandel und weiterer Ausbau des Systems sozialer Sicherung seit 1948

Fragen wir nach den Veränderungen, die das System der sozialen Sicherung in den Jahren nach 1948 erfahren hat, so fällt uns vor allem ein Faktum ins Auge: Sinngebung, Sinndeutung und Zweckbestimmung dieses Systems haben sich gegenüber den vorangegangenen sechs Jahrzehnten entscheidend gewandelt. Dieser Sinnwandel ist, wie wir sehen werden, durch gewisse Reformen, denen das System unterworfen wurde, gefördert, durch andere Reformen wiederum gehemmt worden. Im wesentlichen ist der Sinnwandel des Systems sozialer Sicherung das Ergebnis wissenschaftlicher Analyse: es ist eine Theorie der sozialen Sicherung entwickelt worden. Wenn vordem in den Vorstellungen, die man sich gemeinhin vom System sozialer Sicherung machte, die Gestaltungsprinzipien der Fremdhilfe, der Einkommensumverteilung, der Fürsorge und Versorgung die stärkste Prägekraft zu haben schienen, so trat nunmehr das Element der Selbsthilfe, der individuellen Selbstverantwortung jedes einzelnen deutlich in den Vordergrund. Dazu haben vereinzelte Reformen beigetragen (so die Rentenreform von 1957), besonders aber auch neue Erkenntnisse: so die Einsicht in den illusionären Charakter der Arbeitgeber-Beitragsanteile und in den weithin illusionären Charakter von Staatszuschüssen, die Masseneinrichtungen zugedacht sind. Gesetzlich verordnete Einkommensumverteilung gelingt in einem freiheitlich geordneten Wirtschaftssystem (Marktwirtschaft) nur noch, wenn sie kleine Gruppen begünstigen soll. Soll sie fast allen Wirtschaftsbürgern zugute kommen, so muß sie bei stark nivellierter Einkommensverteilung notwendig mißlingen und kann sich nur noch in optischen Trugbildern niederschlagen. Und die primäre Einkommensverteilung hat sich dank der spektakulären Entwicklung der Arbeitseinkommen stark nivelliert. Die auffallend hohen Einkommen der „Reichen", mit denen sich die Sensationspresse so gern beschäftigt, spielen — weil ihrer so wenige sind — im ganzen der Volkswirtschaft (und der staatlichen Finanzwirtschaft) keine Rolle mehr.

Versuchen wir, den neuen Sinn, die eigentliche Aufgabe des Systems sozialer Sicherung in einem Satz zu definieren. Leistungseinkommen’ fällt nur in einer begrenzten Zeitphase des Lebens — nur während des Erwerbsalters — an und ist auch während dieser Phase bedroht durch Risiken, die Unterbrechungen des Einkommensstroms verursachen können (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit). Dieses Lebenseinkommen muß aber für das ganze Leben ausreichen. Der Bürger der freiheitlichen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, der auch die wirtschaftliche Grundlage seines Lebens selbst, aus eigener Verantwortung und Zuständigkeit, aus eigener Lebensleistung gestalten will und nicht Kostgänger eines entmündigenden Versorgungssystems sein mag, empfindet also ein vitales Bedürfnis nach Einrichtungen, die es ihm ermöglichen und leicht machen, sein eigenes Lebenseinkommen in bedarfsgerechter Weise auf alle, d. h. auch auf nicht einkommensträchtige Phasen des Lebens — Kindheit und Jugendalter, Ausbildungszeit, Lebensabend, kürzere oder längere Perioden unverschuldeter Erwerbsunfähigkeit, die ihm zudem noch zusätzlichen Aufwand (z. B. für Krankheitsbehandlung) auferlegen können — umzuschichten. Es geht um zeitlichen Transfer von Teilen des eigenen Einkommens, nicht mehr um Einkommens-Redistribution von einer Person auf die andere.

Man könnte einwenden, für diesen zeitlichen Transfer von Teilen des eigenen Einkommens seien doch die im Markt spontan entstandenen Transfer-Instrumente (Sparkassen, Banken, Kapitalmarkt), die Prozesse wie Sparen und Entsparen, Kreditaufnahme und Kredittilgung ermöglichen, vollauf geeignet. Das trifft aber nicht zu. Insbesondere erlauben diese Einrichtungen nicht, das Prinzip der Selbsthilfe (erstes Postulat des Subsidiaritätsprinzips) mit dem wohltätigen, Sicherheit schaffenden, dem bösen Zufall Schach bietenden Versicherungsprinzip (reinste Ausprägung des Solidaritätsprinzips) in idealer Weise zu kombinieren. Diese Möglichkeit bieten freilich in begrenztem Maß die Einrichtungen der privat-rechtlichen Versicherungswirtschaft (Lebensversicherung, private Kranken-, Unfall-und Haftpflichtversicherung u. a.). Es ist daher durchaus sinnvoll, die Einrichtungen der privatrechtlichen Versicherungswirtschaft als ergänzende Faktoren dem System sozialer Sicherung zuzurechnen und ihre Existenzberechtigung als Instrumente der Sozialpolitik anzuerkennen. Voll ersetzen können sie die öffentlich-rechtlichen Einrichtungen der sozialen Sicherung aber nicht. Eine so günstige Alterssicherung wie die dynamische Rente z. B. kann nur eine öffentlich-rechtliche Einrichtung organisieren, die die Macht des Gesetzes (Zwangsprinzip) hinter sich hat. Auch ein System von Kindergeld und Ausbildungshil7 fen ist schwerlich als privatrechtliche Einrichtung (auch nicht in der Rechtsform der Genossenschaft oder des Vereins auf Gegenseitigkeit) vorstellbar.

Die oben gegebene Definition gilt nicht für das ganze System sozialer Sicherung. Sie gilt aber für ihre Kernstücke: die GRV, die GKV, die Arbeitslosenversicherung, aber auch — so wenig das anfänglich einleuchten mag — für Institutionen wie Kindergeld und Ausbildungshilfen. Das soll weiter unten erläutert werden, wenn wir die Instrumente der sozialen Sicherung einzeln durchmustern. Wir wollen aber nicht übersehen, daß es eine Gruppe anderer sozialer Einrichtungen gibt, für die die Fremdhilfe, die interpersonelle Einkommensumverteilungen konstitutiv und Sinn der Sache ist. Dazu gehören die Sozialhilfe, das Wohngeld (eine etwas unsystematische, wenig durchdachte Fürsorgeeinrichtung), die Kriegsopferversorgung (KOV) und der Lastenausgleich für kriegsbedingte Vermögensschäden (LA).

Es ist das dritte Proletaritätsmerkmal*), die von Haus aus sehr große Unstetigkeit des Einkommensflusses im Lebensablauf des Arbeitnehmers, zu deren Überwindung das System der sozialen Sicherung ins Leben gerufen wurde. Die Existenzunsicherheit des Proletariers beruhte aber nicht nur darauf, daß das Leistungseinkommen nur so lang fließt, wie die körperliche Verfassung des Arbeitnehmers voll ausgebildet und intakt ist (das verstanden wir unter der „von Haus aus gegebenen" Einkommensunstetigkeit); sie wurde vielmehr noch zusätzlich dadurch verschärft, daß sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Frühphase des liberalen Industrialismus (die allerdings weit über das 19. Jahrhundert hinausreicht) als ständiges Auf und Ab von Konjunktur und Krise, als dichtgedrängte Folge von Konjunkturzyklen vollzogen hat. An der letzten großen Krise, der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, der dann für Deutschland die tragische Dunkel-zeit von 1933 bis 1945 (mit Nachwirkungen bis 1948) gefolgt ist, wäre die freie Welt beinahe zerbrochen. In den Abschwungphasen der Konjunkturzyklen wurden — zusätzlich zur „industriellen Reservearmee" der Dauer-arbeitslosen — jedesmal Tausende, Hunderttausende Arbeitnehmer unverschuldet arbeitslos, bis sich dieses Schicksal in der Weltwirtschaftskrise zum apokalyptischen Schrecknis steigerte: 1932 gab es allein in Deutschland 6 Millionen Arbeitslose. Aber auch im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg — Zyniker sprechen von den „goldenen zwanziger Jahren" — mußten die Arbeitnehmer fast pausenlos um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes, um die Stetigkeit ihrer Beschäftigung und ihres Lohneinkommens bangen.

Es leuchtet ein, daß der Typus Arbeitnehmer, der auf den Verkauf seiner Arbeit angewiesen ist, in einer Wirtschaftsordnung, in der schon der Besitz irgendeines Arbeitsvertrags als Glücksumstand, als Gnade des Schicksals anzusehen ist, sich nicht wohlfühlen und kein Heimatgefühl empfinden kann. Eines der auffälligsten und glücklichsten Merkmale, das die soziale Marktwirtschaft vom Kapitalismus der Vergangenheit unterscheidet, erblicke ich darin, daß es der Konjunkturpolitik der Nachkriegszeit — zumindest ab 1952 — gelungen ist, konjunkturelle Arbeitslosigkeit nahezu vollständig zu vermeiden. Wie empfindlich die heutige Industriegesellschaft gegen jede Abweichung vom Zustand der Vollbeschäftigung geworden ist, zeigte sich in unserer nervös-allergischen Reaktion auf die relativ harmlose, kurzzeitige, durch konjunkturpolitisches Gegensteuern schnell wieder überwundene Rezession von 1966/67.

Erfolgreiche Vollbeschäftigungspolitik unterstützt und verstärkt die Wirkung des Systems sozialer Sicherung auf das nachhaltigste. Es ist zweifellos rationeller, Arbeitslosigkeit vollständig zu vermeiden als ihre Auswirkungen für den einzelnen Betroffenen — durch Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosen-hilfe — erträglicher zu machen. Dennoch behält die Arbeitslosenversicherung ihre Daseinsberechtigung. Sie wird immer da als letzter Notanker einspringen, wo sich strukturelle und Friktionsarbeitslosigkeit nicht völlig vermeiden läßt. Und diese letzteren Arten der Arbeitslosigkeit wird es im dynamischen Wirtschaftsprozeß immer geben. Ständiger Wandel der Produktions-und Beschäftigungsstruktur ist geradezu ein Indiz, mindestens eine notwendige Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Wachstums. Manche — besonB ders ausländische — Gewerkschaften neigen aus kurzsichtiger Motivation zu einer Politik, die den Wandel der Beschäftigungsstruktur künstlich unterdrückt. Sie unterdrücken damit aber zugleich den möglichen Zuwachs der Arbeitsproduktivität, handeln also den Interessen der Arbeitnehmerschaft entgegen. Die entschieden bessere Lösung ist die in unserem Land praktizierte: planmäßige Anpassung des qualitativen Arbeitsangebots an die sich stetig wandelnde qualitative Struktur der Arbeitsnachfrage durch rechtzeitige Umschulung und andere Formen der Arbeitsförderung (Arbeitsförderungsgesetz von 1969). Arbeitsförderung, insbesondere Umschulung von Beschäftigten in schrumpfenden Berufszweigen, ist eine neue Schwerpunktaufgabe der Bundesanstalt für Arbeit geworden.

Die Bundesanstalt für Arbeit und ihre regionalen Untergliederungen, die Arbeitsämter, finanzieren ihr vielfältiges, wohltätiges Wirken aus den Beiträgen der Arbeitnehmer zur Arbeitslosenversicherung. Diese nur historisch zu erklärende Finanzierungsweise ist nicht unumstritten. Es wird geltend gemacht, daß die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit auch solchen Personen zugute kommen, die gar nicht der ALV angehören, ihr nie angehören werden und folglich auch keine Beiträge leisten (z. B. Berufsberatung für Anwärter auf selbständige Berufe). Im Gespräch ist eine „Arbeitsmarktabgabe", die von allen Erwerbstätigen zu erheben wäre, daneben für Arbeitnehmer ein stark reduzierter ALV-Beitrag, der nur die relativ geringen Ausgaben der ALV deckt.

Für den Fall einer nochmals spürbaren Rezession (eine vermeidbare, aber immerhin mögliche Panne der Konjunkturpolitik), wäre es sinnvoll, die Finanzierung der Arbeitslosengelder aus Beiträgen auf den Finanzbedarf einer Arbeitslosenquote von 2 (allenfalls 3) Prozent — das Höchstmaß nichtkonjunktureller Arbeitslosigkeit — zu begrenzen und den überschießenden Geldbedarf durch Bundesbankkredit (also durch Geldschöpfung) zu decken. Das wäre dann zugleich aktive, krampf-lösende Konjunkturpolitik; das entspräche auch der Einsicht, daß nur die leichteren, alltäglichen, nichtkonjunkturellen Arten der Arbeitslosigkeit ein (halbwegs) versicherbares Risiko darstellen, während konjunkturelle Arbeitslosigkeit nur durch Konjunkturpolitik bekämpft werden kann.

Wir wollen uns nun einigen der wichtigsten Einrichtungen der sozialen Sicherung im einzelnen zuwenden und nach den Veränderungen fragen, denen sie seit 1948 unterworfen worden sind.

Veränderungen des Systems sozialer Sicherung seit 1948

Die Rentenreform von 1957 In der Ursprungszeit der GRV, dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, war das Niveau der Alters-und Invalidenrenten, selbst im Vergleich zu den damaligen geringen Arbeitsverdiensten, sehr niedrig. Der Gesetzgeber ging offensichtlich von der Vorstellung aus, die Rente brauche nicht mehr zu sein als ein barer Zuschuß zum sonstwie gebotenen Lebensunterhalt, z. B. als Kostgänger in einem Sohnes-oder Tochterhaushalt oder als Empfänger eines Gnadenbrotes im Haushalt eines Wohlhabenden, in dem sich der alte Arbeiter noch als Faktotum nützlich machen könnte, übrigens wurde der Rentenanspruch damals, außer bei vorzeitiger Invalidität, erst nach Vollendung des 70. Lebensjahrs gewährt, also bei einem — angesichts der damals viel kürzeren Lebenserwartung — relativ hohen Alter (erst 1916 wurde das Rentenalter auf 65 Jahre herabgesetzt). Es galt mehr oder weniger als normal, daß der Arbeiter „in den Sielen sterbe", und damit erledigte sich das Problem sei-ner Altersexistenz auf zynisch-elegante Weise von selbst.

Aber angesichts der rapide steigenden Zahl der Arbeiter und kleinen Angestellten erwies sich die Vorstellung, der alte oder invalide Arbeitnehmer werde schon irgendwie in einem Aktiven-Haushalt Unterschlupf finden und bedürfe daher nur einer Zuschußrente zur Bestreitung nichtalltäglicher Ausgaben, recht bald als illusionär. Besonders übel dran waren die Rentner in den Jahren beschleunigter, galoppierender und zum Schluß explosiver Inflation: 1919 bis 1923. In den Jahren zwischen 1891 und 1957 hat der Gesetzgeber das Rentenniveau sieben oder achtmal her-aufsetzen müssen, um der totalen Verelendung der alten Menschen ein wenig entgegenzuwirken (mit den finanziellen Folgen dieser Rentenerhöhungen für das GRV-System beschäftigen wir uns weiter unten). Eine völlig neue Konzeption von der Aufgabe und Funktion der Altersrente im Volksleben der industriellen Gesellschaft bahnte sich erst in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts an, sowohl in der Sozialwissenschaft wie in den Überlegungen des Gesetzgebers.

Es wurde nunmehr klar, daß die Rente der Zukunft nach einem erfüllten Arbeitsleben, d. h. nach etwa 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren, eine Vollrente sein müsse, eine Rente also, die zur Bestreitung einer — wenn auch bescheidenen — Altersexistenz für ein Rentnerehepaar ausreichen müsse. Die Verwirklichung dieses Konzepts erbrachte — mindestens zum Teil und der Intention nach — die Rentenreform von 1957. Dies geschah einmal durch erneute Anhebung des Ausgangsniveaus der Renten, zum andern — mit besonders nachhaltiger Wirkung — durch Einführung der Rentendynamik.

Vor 1957 wurde die Rentenhöhe aus einem allgemeinen Grundbetrag und einem von der vorangegangenen individuellen Beitragsleistung abhängigen Steigerungsbetrag ein für allemal berechnet und verblieb auf dieser nominalen Höhe während der gesamten Laufzeit der Rente, d. h. bis zum Tode des Rentners (ebenso die Rente der überlebenden Witwe als Teilquote der Mannesrente) — es sei denn, der Gesetzgeber hätte während der Laufzeit das Rentenniveau allgemein erhöht.

Da jedoch die nominalen Arbeitsverdienste der Aktiven im dynamischen Wirtschaftsprozeß Jahr für Jahr zu steigen pflegen — teils real im Gefolge steigender Arbeitsproduktivität, teils nominal zum Ausgleich inzwischen eingetretenen Geldwertschwundes —, blieben im Zeitverlauf die Renten der Alten immer weiter hinter den Arbeitsverdiensten der Aktiven (d. h.der erwerbstätigen Arbeitnehmer)

zurück. Der Lebensstandard, den der Empfänger einer Rente von konstanter Nominalhöhe realisieren konnte, wurde daher im Vergleich zum Lebensstandard der erwerbstätigen Umwelt immer niedriger. Mit fortschreitender Zeit trat eine sowohl absolute wie relative Verelendung der Rentner ein.

Diesem unerwünschten Vorgang machte die dynamische Rente ein Ende. Die Rechnungseinheit der Rentenformel ist nicht mehr die DM, sondern der jeweilige, von Jahr zu Jahr steigende durchschnittliche Brutto-Arbeitslohn aller aktiven Arbeitnehmer, die so-genannte Allgemeine Bemessungsgrundlage.

Ein für allemal, am Anfang der Rentenlaufzeit, berechnet wird nur noch der relative Rentenanspruch jedes einzelnen Rentners als Prozentsatz der jeweiligen, von Jahr zu Jahr neu zu errechnenden Allgemeinen Bemessungsgrundlage

Durch die Einführung der Rentendynamik ist die Rente der GRV aus der Nachbarschaft einer Fürsorgeleistung in enge Relation zum Arbeitslohn gerückt. Sie setzt — wenn das Rentenniveau ausreichend hoch bemessen wird — den Rentner in den Stand, nicht nur den Lebensstandard, den er als Aktiver erreicht hatte, im Rentenalter fortzusetzen, sondern auch an der Steigerung des Lebensstandards, die die Aktiven Jahr für Jahr (genauer: mit jeder neuen Lohntarifverhandlung) als Frucht des wirtschaftlichen Fortschritts für sich verbuchen können, in (ungefähr) gleichem Tempo teilzunehmen. Das hat übrigens die soziologisch interessante Folge, daß die Arbeitnehmer auch in ihrem Rentenalter an der lohnpolitischen Aktivität der Gewerkschaften interessiert bleiben.

Der Gesetzgeber von 1957 hat ein Rentenniveau angestrebt, das dem Rentner nach 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjähren eine Rente in Höhe von 60 Prozent seines durchschnittlichen, relativ zum jeweiligen Durchschnitt aller Arbeitslöhne berechneten Brutto-Lebensarbeitslohns sichern sollte. Das entspricht nur ungefähr 60 Prozent des zuletzt bezogenen Bruttolohns. Da die Rente — bis auf seltene Ausnahmen — einkommensteuerfrei ist und auch nicht mehr um Sozialversicherungsbeiträge gekürzt wird, ist der Vergleich der Rente mit dem Bruttolohn nicht sehr aufschlußreich. Besser geeignet wäre die Gegenüberstellung von Rente und verfügbarem Arbeitseinkommen. Bei einem solchen Vergleich schneidet das geplante Rentenniveau schon wesentlich besser ab: es hätte dann — bei 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren und je nach Lohnsteuersatz — etwa 70— 80 Prozent des verfügbaren Einkommens eines vergleichbaren Aktiven ausgemacht. Das wäre schon recht ansehnlich gewesen und hätte, da manche Konsumbedürfnisse der jüngeren Menschen im Alter an Dringlichkeit verlieren, einen allzu scharfen Knick des Lebensstandards beim Ausscheiden aus dem Erwerb verhindert.

Aber leider ist das Soll-Niveau von 60 Prozent tatsächlich nie erreicht worden. Das hat zwei Gründe: einmal die im ersten Jahr nach der Rentenreform ausgesetzte Rentenanpassung (eine rein pragmatisch bedingte, aber verständliche Maßnahme), zum anderen der Umstand, daß die Allgemeine Bemessungsgrundlage wegen ihrer Berechnung als dreijähriger gleitender Durchschnitt der letzten drei verfügbaren Jahresdurchschnittslöhne und weil die statistische Erfassung des Jahresdurchschnittslohns ihre Zeit erfordert, immer um zweieinhalb bis drei Jahre hinter dem aktuellen Lohnniveau herhinkt. Das Rentenniveau (nach obiger Definition) hat daher bisher im günstigsten Jahr knapp 48 (statt der intendierten 60) Prozent betragen, ist aber auch schon einmal bis auf 42 Prozent abgesunken (die Schwankungen entstehen dadurch, daß die Jahreszuwachsraten des Durchschnittslohns von Jahr zu Jahr verschieden sind). Nehmen wir 45 Prozent als Durchschnitt des Rentenniveaus an, so ergeben diese bei einem Lohnsteuersatz von 12 Prozent nur noch rund 60 Prozent vom verfügbaren Einkommen der Aktiven, und das ist für eine Vollrente zu wenig.

Die gängige Lehre tröstet sich damit, daß es außer der GRV noch zwei weitere „Säulen" der Altersversorgung für Arbeitnehmer gibt: die betriebliche Altersversorgung und die individuelle Vermögensbildung durch Sparen. Auf die letztere kommen wir weiter unten zurück. Die betriebliche Altersversorgung, die die GRV-Rente im optimalen Fall, d. h. bei langjähriger Betriebszugehörigkeit, auf 70 Prozent des Bruttolohns der vergleichbaren Aktiven aufzustocken trachtet, kommt freilich nur einem begrenzten Teil der Arbeitnehmer zugute. Ihre Quote wird auf 30 bis 60 Prozent der Arbeitnehmer der Privatwirtschaft geschätzt (genauere Zahlen existieren nicht). Meist sind es Großbetriebe oder größere Mittelbetriebe, die ihren Arbeitnehmern eine zusätzliche Altersversorgung als freiwillige betriebliche Sozialleistung anbieten. Kleinbetrieben und kleineren Mittelbetrieben ist ein solcher Aufwand wohl kaum zuzumuten. Besser dran sind die Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes. Für sie ist eine zusätzliche Altersversorgung eingerichtet worden, die ihre GRV-Rente auf bis zu 75 Prozent des zuletzt empfangenen Bruttolohns oder -gehalts aufstockt. Allerdings mußten die Begünstigten bis zum 30. Juni 1973 durch Zahlung einer (mäßigen) laufenden Prämie während ihrer Dienstzeit einen Teil der Kosten selber aufbringen.

Nun erreichen in der GRV längst nicht alle Versicherten das intendierte Rentenniveau von 42— 48 Prozent. Allzu viele Rentner bleiben weit darunter. Es gibt noch eine erschrekkend große Zahl von Klein-und Kleinstrenten. Ihre Empfänger sind zumeist Leute, die nur knapp 15 Jahre („große Wartezeit") der Rentenversicherung angehört haben, entweder, weil sie während der meisten Jahre ihres Erwerbslebens selbständig waren oder als Opfer der pausenlosen politischen Katastrophen der Jahre 1914 bis 1948 überhaupt nicht zu einem geregelten Erwerbsleben gekommen sind. Ihnen zahlt (auf Antrag) die Sozialhilfe der Gemeinden so viel dazu, daß die Summe aus Rente und Fürsorgeleistung ein erträgliches Existenzminimum ergibt. Allzu geringer Rentenanspruch kann aber trotz langjähriger Versicherungszeit dann entstehen, wenn die Betroffenen lebenslang in besonders niedrig entlohnten Arbeitsverhältnissen waren. Vielen von ihnen hilft die jüngste Rentenrechtsnovelle (1972), indem sie ihre Renten so bemißt, als ob sie lebenslang zwei Drittel des jeweiligen Durchschnittslohns verdient hätten („Rente nach Mindesteinkommen"). Die Möglichkeit, durch einen bloßen Gesetzgebungsakt bestimmten Gruppen von Versicherten „Als-ob-Ansprüche" einzuräumen, ohne das System finanziell zu gefährden (freilich immer auch auf Kosten der übrigen Versicherten), ist eine nicht unbedenkliche Besonderheit des neuen Finanzierungsmodus, der — siehe weiter unten — der dynamischen Rente allein adäquat ist — eine Besonderheit, die unbekümmerte Politiker dazu verleiten kann, das Prinzip der Solidarität zu überstrapazieren. Im übrigen dürfen wir hoffen, daß die Klein-und Kleinstrenten mit der Zeit von selber (durch Aussterben) aus der sozialen Landschaft verschwinden — in dem Maß, wie wir zeitlichen Abstand zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gewinnen, und die Lebensläufe sich folglich auf breiter Front normalisieren; immer vorausgesetzt, daß uns neue Katastrophen erspart bleiben.

Bleibt noch nachzutragen, daß die dynamische Rentenformel zunächst nur bei der erstmaligen Berechnung einer Rente („Zugangsrente") automatisch in Kraft tritt, während die alljährliche Anpassung der schon laufenden Renten („Bestandsrenten") durch besonderen Gesetzesakt (nach Anhören eines Sozialbeirats) vom Bundestag beschlossen werden muß. Nun, es erscheint plausibel, daß der Gesetzgeber, der ja mit Einführung der dynamischen Rente völlig neuen, unbekannten Boden betrat, zunächst vor einer vollautomatischen Rentendynamik zurückschreckte und fürs erste sozusagen ein handgesteuertes Regelglied in das System einbauen wollte. Inzwischen hatten wir 15 Jahre Zeit, um Erfahrungen zu sammeln, und in keinem Jahr hat der Sozialbeirat etwas anderes empfohlen und der Bundestag etwas anderes beschlossen als das, was die Rentenformel für die Zugangs-renten vorschrieb (von winzigen Abweichungen in den ersten Jahren abgesehen). Das ist auch gar kein Wunder. Eine krasse Ungleich-behandlung von Zugangs-und Bestandsrenten hätte unerträgliche, willkürliche Verzerrungen in das Rentensystem hineingebracht. Der Bundestag könnte sich unnötige, unfruchtbare Arbeit ersparen, wenn er ein für allemal beschlösse, daß auch die Bestandsrenten dem Automatismus der Rentenformel unterworfen werden.

Als die GRV gegründet wurde, orientierte sie sich am nächstliegenden Vorbild: nämlich an der privaten Lebensversicherung mit anschließendem Leibrentenvertrag. Für eine privatrechtliche Lebensversicherungsanstalt besteht die zwingende Notwendigkeit, daß sie jederzeit alle eingegangenen Verträge abwikkeln kann, auch wenn im Extremfall ab heute keine neuen Versicherungsnehmer zu ihr stoßen. Sie braucht volle Kapitaldeckung. So erstrebte auch die GRV die volle Kapitaldekkung, mindestens für den Teil ihrer Leistungsverpflichtungen, der nicht laut Gesetz durch laufende Zuschüsse aus dem Reichs-haushalt gedeckt war (die Grundbeträge der Renten). Aber dieses strenge Deckungskonzept konnte nicht durchgehalten werden. Es hätte ja gefordert, daß bei jeder vom Gesetzgeber beschlossenen Erhöhung des Rentenniveaus schlagartig Hunderte von Millionen, später Milliarden Mark, Reichsmark, D-Mark an Deckungskapital neu gebildet wurden. Wie hätten diese gewaltigen Vermögensmassen aufgebracht werden sollen? Die GRV begnügte sich daher alsbald mit einer partiellen Kapitaldeckung, und im Lauf der Jahrzehnte sank die Deckungsquote immer weiter ab, besonders nach 1923, als die Billionen-Inflation der GRV ihres Deckungsstocks fast vollständig beraubte. Die 1948 durch die Währungsreform liquidierte Hitler-Inflation reduzierte ihr Deckungskapital erneut auf einen Bruchteil der bis dahin neugebildeten Rücklagen.

Das eigentlich Neue, das die Rentenreform von 1957 ins Spiel brachte, war — außer der Rentendynamik — die theoretische Einsicht, daß ein Rentenversicherungssystem, dem durch Gesetzeszwang alljährlich ein Zustrom neuer Versicherter (nämlich die jeweils neu ins Erwerbsleben eintretenden GRV-pflichtigen Personen) zugeführt wird, und das deshalb mit quasi „ewigem" Bestand rechnen kann, einer Kapitaldeckung überhaupt nicht bedarf. In einem solchen System braucht das Beitragsaufkommen nicht mehr dem langwierigen Umweg über die Vermögenssphäre zu nehmen, ehe es Rentengeld wird. Die aufkommenden Beiträge der Aktiven können vielmehr „sofort" (praktisch: noch im gleichen Jahr) als Renten an die Rentenberechtigten verteilt werden. Der Vermögensbestand kann sich auf eine Kassenreserve (oder etwas mehr) beschränken. Eine solche relativ kleine, aber bei der enormen Höhe der umgesetzten Beträge immer noch milliardenstarke Reserve hat das Reformgesetz auch vorgesehen. Die GRV konnte zu einer Quasi-Umlagefinanzierung übergehen (ein chemisch reines Umlageverfahren — wie es z. B. die GUV praktiziert — ist es nicht, denn die Beitragssätze werden langfristig vorauskalkuliert und durch Gesetz im voraus festgelegt).

Wegen der minimalen Deckungsquote, die bis 1957 verblieben war, hatte die GRV praktisch auch schon vor 1957 nach demselben Verfahren gewirtschaftet. Der einzige Unterschied besteht praeter propter darin, daß wir jetzt mit gutem Gewissen tun, was wir jahrzehntelang mit schlechtem Gewissen getan haben. Volle Kapitaldeckung wäre angesichts der Dimensionen, die das GRV-System inzwischen angenommen hat, praktisch auch gar nicht mehr möglich. Sie würde z. Z. einen Dekkungsstock der GRV in Höhe von mehr als 800 Mrd. DM, also mehr als die Hälfte des rentierlichen Volksvermögens erfordern. Cui bono?

Soziologisch gesehen bedeutet die Rentenreform „nichts Neues", vielmehr nur ein Wiederanknüpfen an uralte, durch Jahrtausende praktizierte Normen des Gesellschaftslebens, nämlich an die Funktionenteilung innerhalb der Kleingesellschaft des Bauernhofes: Die jeweils Vollkräftigen verpflichteten sich, die Alten und Gebrechlichen aus ihrem Arbeitsertrag auf dem Niveau ihres eigenen Lebensstandards mit zu unterhalten, und erwarben dadurch den Anspruch, dereinst, wenn sie selber alt und gebrechlich sein würden, von der nachgewachsenen, dann im Vollkraftalter stehenden Kindergeneration mit unterhalten zu werden. Auch im Rahmen kleinster Gruppen — etwa einer Hofgemeinschaft oder einer Familie (selbst einer Drei-Generationen-Familie, die es heute kaum noch gibt) — wäre ein solcher „Solidarvertrag zwischen jeweils zwei Generationen" heute nicht mehr praktikabel; dafür sind die Lebensdaten der Familien (wie Kinderzahl, Sterbealter usw.) allzu unterschiedlich. Wohl aber gelingt die Erfüllung eines solchen Solidarvertrags — wie eine nun schon fünfzehnjährige Erfahrung lehrt — sehr gut im Rahmen einer großen, demnächst vielleicht das ganze Volk umfassenden Versicherungsgemeinschaft. Rentendynamik und Umlagefinanzierung gehören zusammen; das eine bedingt das andere. Da die GRV-Beiträge als Prozentsatz des Arbeitseinkommens (bis zur Bemessungsgrenze) erhoben werden, steigt das Beitragsaufkommen Jahr für Jahr im Ausmaß der durchschnittlichen Lohnzuwachsrate. Also können auch die Renten in demselben Maße steigen, wenn wir fürs erste einmal ein gleichbleibendes Zahlenverhältnis zwischen Rentnern und Aktiven unterstellen. Freilich dürfen wir diese Konstanz nicht unterstellen. Denn der Altersaufbau der Bevölkerung und mit ihm die Belastungsquote der GRV (das ist das Zahlenverhältnis zwischen Rentnern und Aktiven)

sind gerade im laufenden Jahrzehnt und wahrscheinlich-auch in Zukunft in schneller Veränderung begriffen. Der säkulare Trend scheint dahin zu gehen, daß die Belastungsquote immer größer, die Zahl der Aktiven, die einen Rentner mitunterhalten müssen, immer kleiner wird. Dahin wirken nicht nur demographische Faktoren wie steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenzahl, sondern auch sozialinstitutionelle Ursachen:

die im Durchschnitt sich verlängernde Ausbildungszeit der Jugendlichen (die die Zahl der Erwerbsaktiven mindert) und die neu eingeführte flexible Altersgrenze der GRV (die die Zahl der Rentner wahrscheinlich vermehren wird). In einem Rentensystem, das den Rentnern ein Ansteigen der Renten im Gleichschritt mit den Arbeitsverdiensten verspricht, muß der Beitragssatz — bei unveränderten Rentenansprüchen der Beitragszahler — zur Variablen werden. Tatsächlich ist der Beitragssatz inzwischen erheblich gestiegen: von 14 (1957) auf 18 Prozent des Bruttolohns (1973); wahrscheinlich wird er spätestens in 18 Jahren, wenn die bedrohlich schwachen Geburtsjahrgänge der letzten Jahre ins Erwerbsalter treten, noch einmal einen spürbaren Sprung nach oben machen. In einem wachsenden Volk wird die Alterslast immer leichter, in einem schrumpfenden Volk immer drückender.

Wenn wir sagten, zur Rentendynamik gehöre die Umlagenfinanzierung, so gilt auch der umgekehrte Satz: Zur Umlagefinanzierung gehört die Rentendynamik, und zwar aus Gründen der Gerechtigkeit. Da die GRV keine nennenswerten Kapitalrücklagen hat noch bildet, nimmt sie auch (fast) keine Zinsen ein. Sie kann also den Aktiven die geleisteten Beiträge, die sich ja im Regelfälle durchschnittlich erst nach 20 bis 25 Jahren in Rentengeld verwandeln, nicht verzinsen. Die GRV wäre für die Versicherten ein schlechtes Geschäft, böte sie ihnen nicht die Rentendynamik als guten, aber auch geschuldeten Ersatz für die fehlende Beitragsverzinsung.

Im Jahr der Rentenreform-Diskussion und wohl auch noch später wurde gelegentlich die Meinung geäußert, die GRV mit ihrer Rentendynamik sei kraft gesetzlichen Privilegs eine so einmalig günstige Geldanlage; daß die privatrechtliche Lebensversicherung mit oder ohne nachfolgendem Leibrentenvertrag nicht mit ihr konkurrieren könne. Dieser Satz ist in seiner Allgemeinheit sicher falsch. Gewiß wird es Konstellationen der vier Größen „Belastungsquote", „Lohnzuwachsrate", „Marktzinsfuß" und „Inflationsrate“ geben, bei denen die GRV kostengünstiger ist als die Lebensversicherung. Bei anderen Konstellationen der vier Größen ist aber ebenso gewiß die Lebensversicherung im Vorsprung. Es wäre von Nutzen, wenn die Versicherungsmathematiker einmal daran gingen, dieses Problem exakt zu klären.

Zwischen 1957 und 1973 haben sich die nominellen Rentenbeträge ungefähr verdreifacht. Welches Unmaß von sozialer Unruhe, von parlamentarischen und vorparlamentarischen Querelen hätte es in diesen 15 Jahren gegeben, wenn wir die dynamische Rente nicht hätten?

Der Familienlastenausgleich Alle Arbeitseinkommen werden als individuelle Leistungseinkommen verdient. Aber nur wenige Einkommensbezieher — die lebenslangen Junggesellen beiderlei Geschlechts — können ihr verfügbares Einkommen ganz für sich, für die Befriedigung ihrer individuellen Bedürfnisse, ausgeben. Der normale Wirtschaftsbürger pflegt irgendwann zu heiraten und Kinder zu zeugen. Und dann muß er sein Einkommen für viele Jahre mit ein, zwei, drei oder mehr Personen teilen. Sein persönliches Versorgungsniveau entspricht dann bei weitem nicht mehr seiner individuellen Leistung. Bei verheirateten und kinderhabenden Personen geht das Leistungsprinzip — heilsames Regulativ der gesellschaftlichen Wirtschaft — unversehens zu Bruch. Wirtschaftlich besser gestellt sind die Familien, in denen auch die Ehefrau erwerbstätig ist. Dann stehen im Zähler zwei Verdiener, im Nenner aber, -wenn Kinder da sind, immer noch zwei plus Kinderzahl. Aber mindestens, solange die Kinder klein, pflege-und aufsichtsbedürftig sind, ist es in sozialer Hinsicht unerwünscht, daß die Mutter außerhäusigem Erwerb nachgeht. Mindestens während der ersten Lebensjahre eines Kindes ist die Leistung der Frau als Mutter und als Schöpferin der Intimwerte der Familie gesellschaftlich wertvoller als der Beitrag zum Sozialprodukt, den sie alternativ — als Erwerbstätige — erbringen könnte. Das haben uns Psychologen, Pädagogen und Mediziner seit Jahren deutlich gesagt. Das Hervorbringen und Aufziehen von Kindern ist eine wertvolle, unverzichtbare soziale Leistung — das hat uns nicht zuletzt die Analyse des GRV-Systems klargemacht. Aber diese Leistung wird von der Gesellschaft nicht nur nicht honoriert, sondern obendrein mit Handicaps belastet. Die Aufgabe des Familienlastenausgleichs (FLA) besteht darin, diese Handicaps soweit wie möglich auszuräumen und die Kosten des Kinderaufziehens in erträglichen Grenzen zu halten. Zu wessen Lasten? Nun, in der Augenblicksbetrachtung sieht es so aus, als wären die Kinderlosen, die Eltern einer unterdurchschnittlichen Kinderzahl und die Eltern schon herangewachsener, erwerbstätig gewordener Kinder die Lastenträger des FLA.

Wir werden uns weiter unten mit einer anderen Betrachtungsweise vertraut machen, die es durchaus zweifelhaft erscheinen läßt, ob der FLA auf interpersonelle Einkommensumverteilung hinausläuft. Die wichtigsten Instrumente des FLA sind das Kindergeld und die Einverdienerzulage. Es gibt ihrer aber noch viele andere, besonders solche, die nicht in Form barer Zuwendungen in Erscheinung treten (z. B. die Einrichtung von Kindergärten, die Gestellung von Pflegekräften bei Krankheit der Mutter, sei es durch Nachbarschaftshilfe oder von selten der öffentlichen Fürsorge u. v. a.). Hier soll weiterhin nur von den beiden erstgenannten Instrumenten, Kindergeld und Einverdienerzulage, die Rede sein. Kindergeld gibt es in unserem Land auf breiter Basis seit 1954. Die Einverdienerzulage gibt es bei uns noch nicht, wohl aber in Nachbarländern (z. B. Frankreich). Die Einverdienerzulage ist eine Barzuwendung, die die Mütter pflegebedürftiger Kinder erhalten, wenn sie auf außerhäusigen Erwerb verzichten; natürlich kann sie wegen ihrer geringen Größenordnung den Verzicht der Mütter auf eigenes Einkommen bei weitem nicht kompensieren. Sie macht die Opferbereitschaft der Eltern keineswegs überflüssig. Auch das Kindergeld soll die Kosten, die das Aufziehen von Kindern verursacht, durchaus nicht in voller Höhe decken. Für den gesund empfindenden Menschen ist das Kind ja nicht nur eine Kostenstelle, sondern zugleich auch eine Quelle der Freude, ein wesentlicher Faktor im Streben nach Sinnerfüllung des eigenen Lebens. In der nüchternen Sprache der Wirtschaftstheorie heißt dies: Durch sein Vorhandensein befriedigt das Kind ein vitales Bedürfnis seiner Eltern. Die Gesellschaft kann also durchaus erwarten, daß die Eltern für die Befriedigung dieses Bedürfnisses willig einen Teil ihres Einkommens aufwenden. Das Kindergeld soll nur die ärgsten Disproportionen zwischen der wirtschaftlichen Lebenslage von Kinderhabenden und Nicht-Kinderhabenden beseitigen (wobei unter Kindern immer versorgungsbedürftige Kinder zu verstehen sind).

Der allzu früh verstorbene G. Mackenroth hat den FLA als die sozialpolitische „Großaufgabe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Die Gesetzgeber sind an diese Aufgabe nur zögernd herangegangen — in unserem Land noch später als in Frankreich, Belgien und einigen anderen Ländern Europas. Auch heute noch ist die Familie ein Stiefkind der Sozialpolitik. Immerhin wollen wir festhalten, daß die Einführung des Kindergeldes auf breiter Basis als neues, lückenschließendes Instrument im System sozialer Sicherung das zweite wichtige Ereignis der bundesdeutschen Sozialpolitik seit 1948 war. Ein Anfang ist gemacht. Weitere Schritte sollten alsbald folgen.

Einzelne Gruppen von Arbeitnehmern erfreuten sich schon länger gewisser Familienzuschläge zum normalen Lohn oder Gehalt, meist in Form von Kinderzulagen — so die meisten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, darunter alle Beamten, ferner die Arbeitnehmer mancher (nicht aller) Banken und Versicherungen sowie des Kohlenbergbaus. In breiter Front wäre die Einführung eines Familienlohns (Lohndifferenzierung nach Familienstand) „zu Lasten des Arbeitgebers" kaum möglich und gewiß nicht wünschenswert gewesen. Ein solches Lohnsystem hätte auf Dauer die Familienväter und Kinderreichen eher diskriminiert als begünstigt. Dieses Dilemma vermied das erste Kindergeldgesetz von 1954, das übrigens weithin auf Initiative weitblickender Unternehmer zustande gekommen ist. Es verpflichtete die Arbeitgeber einen kleineren Prozentsatz, rd. 1 Prozent, der Lohn-und Gehaltssumme in eine Familienausgleichskasse einzuzahlen, die dieses Geld über die Lohnbüros der Unternehmungen an die Kindergeldberechtigten auszahlen ließ. Die Ausgleichskassen wurden branchenweise organisiert und den Berufsgenossenschaften der GUV angegliedert. Diese globale Finanzierungsweise ließ keine Diskriminierung der Familienväter aufkommen; sie waren und blieben für ihren Arbeitgeber gleich teuer wie die (gleiches leistenden) Junggesellen. Das erste und zweite Kind jeder Familie waren vom Kindergeldempfang ausgeschlossen. Bedacht wurden nur die dritten und weiteren Kinder.

Diese erste Kindergeldregelung befriedigte auf Dauer nicht. Schwierigkeiten bereiteten besonders die Kinder von Nichtarbeitnehmem, die der Gesetzgeber sinnvollerweise — auch aus Gründen der Gleichbehandlung aller Bürger — in das Kindergeldsystem einbeziehen wollte. Aber auch unter den Arbeitgebern regte sich Unmut über diese neue „Belastung" (daß nach klarer Aussage der Lohn-theorie die wirklichen Lastenträger die Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit waren, hatte sich noch nicht herumgesprochen).

Das System der von den Arbeitgebern finanzierten Ausgleichskassen wurde durch Erlaß des Bundeskindergeldgesetzes von 1964 wieder aufgegeben. Verwaltung und Auszahlung der Kindergelder (wiederum wurden nur dritte und weitere Kinder begünstigt) übernahmen — skurrilerweise — die Arbeitsämter, eine etwas sonderbare Aufgabenkombination, die jedoch vielleicht dadurch gerechtfertigt ist, daß sie weniger Verwaltungskosten verursacht als die Einrichtung einer eigenen neuen Behörde für das Kindergeld. Finanziert wurde und wird das Kindergeld seitdem aus Haushaltsmitteln des Bundes, d. h. aus dem Steueraufkommen.

Die Übernahme des Kindergeldes in den Leistungsbereich des Staates hatte sich schon einige Jahre vorher, 1961, angekündigt, als das „Gesetz über die Gewährung von Kindergeld an zweite Kinder" im Bundestag beschlossen wurde. Dieses Zweitkindergeld, das bei Zwei-Kinder-Familien an eine Einkommensgrenze gebunden ist, bei mehr als zwei Kindern aber jeder Familie zusteht, wurde von vornherein als Staatsleistung ausgewiesen.

Kindergeld wird generell bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs gewährt, bei länger währender Schul-oder Berufsausbildung maximal bis zum 25. Lebensjahr (bei Kindern, die wegen körperlicher Gebrechen nicht erwerbstätig werden können, auch darüber hinaus). Die Höhe des Kindergeldes ist (bis zum fünften Kind) progressiv mit der Rangfolge der Geburt. Das ist sinnvoll, da das Kindergeld ja nur einen Teil der durch das Kind verursachten Kosten deckt und decken soll, die Gesamtbelastung einer Familie also trotz Kindergeld mit der Zahl der Kinder steil ansteigt.

Die Kindergeldordnung ist auch nach Inkrafttreten des Gesetzes von 1964 keineswegs einheitlich. Es gibt immer noch etliche Eltern-gruppen, für die besondere, von der allgemeinen Kindergeldordnung abweichende Regelungen gelten. So erhalten Beamtenkinder Kinderzulagen nach der Besoldungsordnung für Beamte; Kinder von Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes entsprechende Kinderzulagen auf Grund von Tarifvereinbarungen. Empfänger von Renten der GRV, GUV, der Kriegsopferversorgung und des Lastenausgleichs erhalten die in diesen Einrichtungen vorgesehenen Kinderzuschläge. All diese Ausnahmen und Sonderregelungen bezeugen, daß die Gesetzgebung über den FLA noch keineswegs abgeschlossen ist.

Wir dürfen nicht übersehen, daß das Kindergeld (oder die Kinderzulage) nicht die einzige finanzielle Begünstigung ist, die der Gesetzgeber (oder die Gesellschaft) den Familien (oder Personen) mit Kindern zukommen läßt. Viel älteren Datums ist die Begünstigung kinder-habender Familien im Lohn-und Einkommen-steuerrecht. Durch die Kinderfreibeträge wird die Steuerschuld der Familien mit Kindern nicht unerheblich verringert. Diese Entlastung wirkt sich wegen der Progression der Steuer-sätze um so stärker aus, je höher das Vater-oder Elterneinkommen ist. An diesem Faktum glauben manche Sozialpolitiker unter Berufung auf das Gleichheitsprinzip Anstoß nehmen zu sollen. Zu überlegen ist aber, ob dieser Effekt nicht geradezu erwünscht ist. Denn er bringt einen leicht schichtenspezifischen Einschlag in unser duales System des Familienlastenausgleichs. Kindergelder können und dürfen — zumindest, solange sie als staatliche Versorgungsleistungen verstanden werden — nur egalitär sein: gleicher Anspruch für alle. Die tatsächlichen Kosten, die ein Kind verursacht, richten sich aber doch nach dem Konsumstandard der Eltern.

Wir stellen uns die Frage, wie wir das Phänomen Kindergeld in das Gefüge unserer Gesellschaftsordnung einzuordnen haben. Dem optischen Erscheinungsbild nach ist das Kindergeld heute eine Versorgungsleistung des Staates. Aber wer ist der wirkliche Lastenträger? Man könnte sagen: Es findet Einkommensumverteilung zugunsten der Familien mit zwei oder mehr Kindern und zu Lasten der Kinderlosen und der Familien mit nur ei-15 nem Kind statt. In der kurzfristigen Betrachtung dürfte diese Vorstellung durchaus zutreffen.

Der Leser dieser Zeilen wird jedoch eingeladen, sich in eine ganz andere Betrachtungsweise hineinzudenken, die die soziale Einrichtung Kindergeld als Selbsthilfe-Institution mit nur noch geringem Einschlag von Fremdhilfe und interpersoneller Umverteilung ausweist. Erwählen wir nämlich nicht die Eltern als Bezugsperson, sondern das Kind, so können wir das Kindergeld als ein Darlehen auffassen, das dazu dient, die einkommenslose Lebens-phase Kindheit und Jugend leichter zu überbrücken, ein Darlehen, das die Gesellschaft dem Kinde gewährt, und das das Kind dereinst, wenn es eigenes Einkommen hat, auf Heller und Pfennig zurückzahlen wird. In dieser Sicht rückt das Kindergeld in die begriffliche Nachbarschaft der Altersrente und kann als deren zeitliches Spiegelbild verstanden werden. Bei der Rente geht die Beitragszahlung (Leistung) dem Rentenempfang (Gegenleistung) voraus. Beim Kindergeld ist es umgekehrt: dem in der Kindheit in Monatsraten empfangenen Darlehen folgt in der Erwerbs-zeit die sukzessive Tilgung. Tatsächlich findet eine solche „Tilgung" auch schon im heutigen System statt. Denn die heutigen Steuerzahler sind ja allesamt „ehemalige Kinder", bei denen wir unterstellen, daß sie in ihrer Kindheit Kindergeld empfangen haben. Das trifft freilich auf breiter Front zur Zeit nur für die allerjüngsten Jahrgänge der Erwerbstätigen zu. Aber im Jahr 2019, wenn auch schon die Fünfundsechzigjährigen als Kinder zumeist Kindergeld empfangen haben, trifft diese Vorstellung schon in hohem Maße zu. Ist das System einmal 65 Jahre alt, so reichen die jährlichen Tilgungsleistungen bei stationärer Bevölkerung gerade dazu aus, die Kindergelder für die dann lebenden Kinder „auszuleihen", Das System trägt sich dann selbst. In der langen Aufbauphase des Systems freilich müssen die älteren Jahrgänge Opfer bringen; sie müssen sozusagen Darlehen tilgen, die sie nie empfangen haben, d. h., sie müssen das Geld aufbringen, das als Kindergeld an die heutigen Kinder verteilt wird.

Das Bild, das wir uns im Vorigen vom Kindergeldsystem gemacht haben, könnte mehr sein als ein müßiges Gedankenspiel. Es könnte Vorbild werden für eine Neuordnung des gegenwärtigen Systems, durch welches dies vollends auf eine Stufe mit den übrigen großen Einrichtungen der sozialen Sicherung gestellt würde. Es müßte alle Kinder erfassen, selbstverständlich auch die ersten und auch die, für die heute nach den oben erwähnten Sonderregelungen Kinderbeihilfen oder Kinderzuschläge bezahlt werden. Berufener Träger wäre eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, eine Kindergeldkasse, die zwar vom Gesetzgeber ins Leben gerufen wird, aber als Selbsthilfe-Institution der Bürger, ganz aus dem Staatshaushalt heraus gelöst, ihr Eigenleben hat und, wie die GRV und GKV, durch einkommensproportionale Beiträge aller Erwerbstätigen finanziert wird. Wer will, mag diese Beiträge spätestens vom Jahre 2019 an Tilgungsleistungen nennen.

Der Leser hat längst gemerkt, worum es in den letzten Abschnitten ging: Es sollte der Nachweis geführt werden, daß die Institution Kindergeld durchaus nicht als schwer klassifizierbarer Fremdkörper im Gefüge der liberalen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung empfunden werden muß, sondern vollauf in diese Ordnung integriert werden kann. übrigens gibt es eine Gruppe von „ehemaligen Kindern", die nicht recht in unser idealtypisches Bild vom Kindergeldsystem paßt.

Das sind die Mädchen und Frauen, die niemals erwerbstätig werden, sondern früh heiraten und ihr Leben als Hausfrauen und Mütter verbringen. Da sie kein eigenes Einkommen erzielen, werden sie auch nicht zu Tilgungsleistungen bzw. zur Zahlung von Kindergeldkassen-Beträgen herangezogen. Aber dieser Schönheitsfehler unseres idealtypischen Bildes macht uns nur auf einen ganz allgemeinen Schönheitsfehler der heutigen Sozialordnung aufmerksam: Die soziale Stellung der Frau — ob erwerbstätig oder „nur" Hausfrau und Mutter, oder beides zugleich, oder abwechselnd das eine und andere — ist noch nicht befriedigend geordnet. Das wird Sache zukünftiger Sozialpolitik sein. Anfänge sind erkennbar (man denke an das „Babyjahr" in der Rentenrechtsnovelle von 1972).

Als Instrumente des FLA können auch die Ausbildungsbeihilfen angesehen werden. Auch sie werden z. Z. aus dem Steueraufkommen finanziert und als Staatsgeschenke ausgewiesen. Das muß nicht sein. Mehr noch als beim Kindergeld ist es bei den Ausbildungsbeihilfen angemessen, sie als das auszuweisen, was sie tatsächlich sind: als Darlehen, als „Investitionskredite", die später getilgt werden müssen (und aus dem höheren Einkommen, zu dem die bessere Ausbildung in aller Regel verhilft, auch leicht getilgt werden können). Entsprechende Konzepte liegen seit Jahren vor. Vermögenspolitik: Vermögensbildung in breiten Schichten Ein weiteres beachtliches Novum der Sozialpolitik der Jahre nach 1948 ist darin zu sehen, daß sich Gesellschaft und Gesetzgeber der Bundesrepublik erstmals darüber Gedanken gemacht haben (und weiterhin machen), wie die Vermögensbildung der bisher vermögens-losen breiten Schichten der Bevölkerung in Gang gebracht und gefördert werden kann. Vermögenslosigkeit war ein weiteres ökonomisches Merkmal des Proletariers des 19. Jahrhunderts. Dieses Merkmal hat inzwischen freilich viel von seiner Härte eingebüßt. Wer heute kein Vermögen hat, braucht sich darum nicht als Proletarier zu fühlen. Im Schutz eines gut ausgebauten Systems von sozialen Sicherungen läßt sich heute auch ohne Vermögen ganz behaglich leben. Dennoch ist breiteste Streuung des Volksvermögens, soweit es zum Halten in Privathand geeignet ist, ein legitimes soziales Anliegen. Das hat zwei Gründe.

Erstens geht vom privaten Vermögen immer noch ein starker Sicherungseffekt aus. Wer ein Vermögen hinter sich weiß — und sei es auch nur ein kleines Reservepolster — blickt mit anderen Augen in die Welt als der, der immer nur von einem Lohnzahltag zu anderen wirtschaften muß. Wer Vermögen hat, sei es anfänglich auch nur klein, fühlt sich den Wechselfällen des Lebens besser gewachsen; er kann auch z. B.der Willkür eines ungerechten Vorgesetzten eher Trotz bieten. Privates Vermögen erweitert den Freiheitsraum des Menschen, es verstärkt — vielleicht mehr psychisch als faktisch — in unvergleichlicher Weise seine soziale Sicherheit. Deshalb gehört dieses Kapitel durchaus zum Thema dieses Beitrags.

Zweitens widerspräche es dem Geist der freiheitlichen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, wenn — wie bislang — ein großer Teil der Wirtschaftsbürger auf Dauer von der Wahrnehmung einer wichtigen Grundfunktion des freiheitlichen Sozialprozesses ausgeschlossen bliebe — nämlich von der Funktion des Habens, Haltens, Verwaltens und Mehrens eines angemessenen Teils des Volksvermögens. Demokratisierung der sozialen Funktion des Vermögens — das scheint mir das eigentliche und durchschlagende Motiv der Vermögenspolitik zu sein.

Dagegen ist der Einkommenseffekt breit gestreuter Vermögen nicht sehr groß, jedenfalls kleiner als mancher mit volkswirtschaftlichen Daten nicht vertraute Mitbürger erhoffen mag. Da nur rund 15 Prozent des Volkseinkommens auf Vermögenszins und Unternehmergewinn entfallen, könnte ein Arbeitnehmer bei völlig gleichmäßiger Vermögensstreuung (die sich ja niemals erreichen läßt) sein Arbeitseinkommen durch Vermögensrendite doch nur um höchstens 20 Prozent aufstokken. Das ist nicht mehr, als ihm bei normalem Wirtschaftswachstum binnen vier Jahren an Reallohnzuwachs zufällt. Ein Volk von „reichen Leuten", die allein von ihrer Vermögensrendite behaglich leben können, werden wir auch bei vollem Erfolg der Vermögenspolitik nicht werden. Dennoch ist auch der Einkommenseffekt des Vermögens nicht zu verachten. Wir sollten aber illusionären Erwartungen vorbeugen.

An eine gewaltsame, durch Gesetz erzwungene egalitäre Neuverteilung der bestehenden Vermögen denkt kein Politiker und keine Partei. Sie wäre auch mit den Grundüberzeugungen des Rechtsstaats nicht vereinbar. Die heute verfolgte Vermögenspolitik strebt vielmehr an, den laufenden Zuwachs an Vermögen gleichmäßiger zu streuen, d. h.den jetzt noch vermögenslosen Bürgern die Bildung von Vermögen zu erleichtern und attraktiv zu machen. Der klassische und auch heute noch am meisten erfolgversprechende Weg dahin ist der über das freiwillige Sparen der privaten Haushalte. Der Staat begünstigt das Sparen (einschließlich Bausparen) durch Sparprämien oder Steuernachlässe, er begünstigt ferner auch vermögenswirksame Zuwendungen der Arbeitgeber an ihre Arbeitnehmer und hatte mit beidem befriedigenden Erfolg. In den letzten Jahren hat aber auch das nicht durch Prämien oder Steuervorteile begünstigte „gewöhnliche" Sparen trotz Geldwertschwund einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Wir dürfen erwarten, daß bei weiter ansteigenden Masseneinkommen dieser Prozeß sich weiterhin fortsetzt und beschleunigt.

Darüber hinaus sinnen die Vermögenspolitiker nach neuen Quellen, aus denen die Vermögensbildung in breiten Schichten schöpfen kann. Daß sie dabei die (bereinigten) Gewinne der Großunternehmungen (Bilanzgewinn abzüglich Eigenkapitalverzinsung) aufs Korn genommen haben, könnte zunächst den Verdacht erwecken, daß sie sich über die Größenordnung der Einkommensart Unternehmergewinn im ganzen des Volkseinkommens übertriebene Vorstellungen machen — wie das so viele in Wirtschaftslehre und Statistik wenig bewanderte Mitbürger tun. Aber das trifft nicht zu. Die Väter des Gedankens haben gerechnet und selber herausgefunden, daß bei Anzapfung der Großunternehmen zugunsten aller Arbeitnehmer auf den einzelnen Anteils-rechte im Werte von knapp 200 DM pro Jahr entfallen. Das ist enttäuschend wenig, noch nicht einmal 1, 5 Prozent vom durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt. Zum Vergleich: Die Sparquote der Arbeitnehmer (bezogen auf das verfügbare Einkommen) ist heute schon höher als 13 Prozent. Viel zu holen ist aus dieser Quelle also nicht. Lohnt sich dafür ein so massiver Eingriff in den Marktprozeß, durch den ja obendrein die Rendite der designierten Neu-Eigentümer aus den ihnen überschriebenen Anteilen spürbar verringert würde?

Dennoch steckt im Gedanken des Investivlohns und der investiven Gewinnbeteiligung ein richtiger Kern; man darf bloß die zu erwartenden Größenordnungen nicht überschätzen. Wenn die Arbeitnehmer bereit sind, einen Teil ihres Lohns nicht in bar, sondern als Anteile an schon getätigten Nettoinvestitionen entgegenzunehmen, so kann ihr Gesamt-lohn — ohne Gefahr für Geldwert oder Beschäftigungsgrad — in der Tat höher liegen als ohnedies. Nur eben nicht viel höher. Ein Investivlohn im Werte von mehr als (schätzungsweise) 3 bis 5 Prozent des Barlohns würde insoweit zu Lasten des Barlohns gehen, wenn der Gesamtlohn „gleichgewichtig", d. h. mit den Postulaten der Vollbeschäftigung und der Geldwertstabilität verträglich sein soll.

Was die Form der Vermögensanlage angeht, so steht auch dem Eigentümeranfänger selbstverständlich die ganze Palette der Anlagemöglichkeiten zur Verfügung: das Sparund Bausparkonto, das festverzinsliche Wertpapier, die Aktie, das Investmentzertifikat, der Immobilienfonds, das Haus-und Wohnungseigentum. Einige Vermögenspolitiker bevorzugen und befürworten nachdrücklich die Anlage in Form von „Produktivkapital", worunter mutmaßlich Geschäftsanteile, Aktien und aus Aktien zusammengesetzte Investmentfonds zu verstehen sind. Daß auch die Beteiligung breiter Schichten am Produktiv-kapital der Volkswirtschaft gefördert wird, ist sinnvoll und ideologisch wohlbegründet. Nichts wäre törichter als die Tendenz, das Eigentum an Produktionsmitteln den Alteigentümern als Domäne reservieren und den „kleinen Mann" auf die für ihn traditionellen Anlageformen abdrängen zu wollen. Man sollte andererseits aber auch nicht übersehen, daß das Haus-und Wohnungseigentum (zweiter großer Block des privaten Volksvermögens) gerade für den Eigentümeranfänger die erfüllungsreichste Vermögensform ist. Das eigene Haus, die eigene Wohnung (die man selbst bewohnt) ist täglich aufs Neue erlebtes Eigentum, das den Freiheitsraum der Person auf sehr spürbare Weise erweitert. Zudem macht Immobilienerwerb, der ja anfänglich meist hochverschuldet ist, das Sparen = Vermögensbilden in Form der Schuldentilgung für Jahrzehnte zwangsläufig — und: als Hypothekenschuldner steht der Eigentümeranfänger endlich einmal auf der Seite der Inflationsgewinner, was seinen Sparprozeß weiterhin beschleunigt. In den USA sind über 70 Prozent der Wohnparteien Eigentümer ihres Hauses oder ihrer Wohnung. Bei uns sind es erst knapp 35 Prozent. Hier liegt also noch eine große Operationsmasse der Vermögens-politik vor.

Sonstige Veränderungen im System der sozialen Sicherung seit 1948

Dieser Beitrag will die Evolution des Systems der sozialen Sicherung von seiner grundsätzlichen und konstruktiven Seite her analysieren. Es können und sollen also bei weitem nicht alle Veränderungen und Verbesserungen dieses Systems beschrieben und abgehandelt werden. Danach besteht auch kein Bedürfnis, da bereits eine Reihe anderer Autoren diesen Dienst mit wissenschaftlicher Akribie geleistet haben. Nur stichwortartig sollen die wichtigsten Daten der bisher nicht behandelten Veränderungen des Systems nach 1948 in chronologischer Folge festgehalten werden:

Soforthilfegesetz (Vorläufer des Lastenausgleichs, 1949)

Bundesversorgungsgesetz (Kriegsopferversorgung, 1950)

Wiedereinführung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung (1951)

Lastenausgleichsgesetz (1952)

Neuregelung der Krankenversicherung der Rentner (1956)

Altershilfe für Landwirte (1957)

HandwerksVersicherungsgesetz (1960)

Dynamisierung der Kriegsopferrenten (1970)

Unfallversicherung für Schüler, Studenten und Kinder in Kindergärten (1971)

Aus dieser Chronologie ausgespart haben wir die Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), zu der noch einige erläuternde Worte folgen sollen. Am System der GKV hat sich seit 1948 grundsätzlich nicht allzuviel verändert — ein Beweis für die Gesundheit und Lebenskraft dieses Systems. Die wichtigste Veränderung, von der zu berichten ist, hat sich nicht innerhalb des Systems vollzogen, sondern war Folgewirkung einer entscheidenden Veränderung des Arbeitsrechts: Seit 1969 gilt auch für Arbeiter, daß sie im Fall krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen Anspruch auf den vollen Bruttolohn haben. Damit ist der Hauptteil des Risikos „Einkommensausfall durch Krankheit" von der GKV weg auf die Arbeitgeber verlagert worden. Natürlich hat die dadurch verursachte Steigerung der Arbeitskosten den Anstieg der realen Bruttolöhne entsprechend verzögert. Lastenträger dieser grundsätzlich erwünschten Angleichung des Rechtsstatus der Arbeiter an den der Angestellten waren — mindestens zum überwiegenden Teil — die Arbeiter selbst, nicht anders als bei jeglicher Erhöhung der Arbeitnehmeransprüche auf bezahlten Urlaub und sonstiger Lohnnebenkosten. Das ist in einer entwickelten Marktwirtschaft, in der die Unternehmergewinne auf das für die Vollbeschäftigung erforderliche Mindestmaß komprimiert sind, gar nicht anders möglich. Dennoch ist die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein sozialer Fortschritt.

Die Krankenkassen müssen folglich Krankengeld nur noch von der siebten Woche an bezahlen, d. h. in den relativ selteneren Fällen schwerer Erkrankung. Dadurch hat sich ihr Ausgabeposten Krankengeld stark vermindert. Die davon erhoffte Reduktion der Gesamtausgaben der GKV-Kassen, die eine Herabsetzung der Beitragssätze hätte erlauben können, ist allerdings leider ausgeblieben. Die Kostensenkung auf dem Konto Krankengeld ist vielmehr durch den rasanten Anstieg der anderen Hauptausgabeposten der GKV — Arzthonorare, Medikamentekosten, Krankenhauskosten — überspielt worden. Die Lohnfortzahlung hat die Kostenentwicklung der GKV nur ein wenig abgebremst, aber nicht rückläufig gemacht.

Damit stoßen wir auf das eigentliche und wichtigste Problem, mit dem das System der GKV heute konfrontiert ist: Es erscheint uns „zu teuer" und wird von Jahr zu Jahr teurer. Der durchschnittliche Beitragssatz (bezogen auf Bruttolohn und -gehalt) ist im Jahr 1973 nicht mehr weit von 10 Prozent entfernt. Es bedarf sorgfältiger Analyse, um die Frage zu klären, inwieweit dieser rasante Anstieg der GKV-Kosten „berechtigt", mit dem Prinzip der Nutzenmaximierung vereinbar und ein bloßes Symptom des medizinischen Fortschritts sowie der vorgeschrittenen Wohlstandsentwicklung ist — und inwieweit er andererseits auf vermeidbaren Ursachen, auf mangelnder Rationalität des Gesundheitswesens beruht. Fest steht, daß der medizinische Fortschritt, der die Menschen gesünder und langlebiger macht, in aller Regel auch höheren Heilungskostenaufwand impliziert. Fest steht ebenfalls, daß die Wertschätzung von Gesundheitsgütern bei steigendem Einkommen überproportional zunimmt. Eine Verringerung der GKV-Kosten liegt kaum im Bereich des Möglichen. Aber vielleicht läßt sich durch Rationalisierung jeglicher Art ohne Schaden für die Volksgesundheit zumindest der ständige Anstieg dieser Kosten verlangsamen.

Ein letztes Faktum: Durch das zweite Krankenversicherungs-Änderungsgesetz (1970) wurde die Beitragsbemessungsgrenze (zugleich Pflichtversicherungsgrenze für Angestellte und Leistungsbemessungsgrenze bei Krankengeld und Hausgeld) dynamisiert; sie beträgt jetzt drei Viertel der Beitragsbemessungsgrenze der GRV und steigt alljährlich im Gleichschritt mit dieser. Das hat den Vorteil, daß Angestellte, deren Gehalt unter dieser Grenze liegt, nicht durch bloßen Anstieg des Gehaltsniveaus (auch wenn sie in derselben Gehaltsklasse verbleiben) aus der Versicherungspflicht herauswachsen, um dann bei fallweiser Erhöhung der Pflichtgrenze wieder „eingefangen" zu werden. Dieses Hin und Her hat in der Vergangenheit unnötige Verwirrung gestiftet. Insofern war die Dynamisierung der Pflichtgrenze sinnvoll. Mit der Novelle von 1970 wurde aber zugleich auch ihr Ausgangsniveau heraufgesetzt. Das läßt Zweifel daran aufkommen, ob die Novelle von 1970 wirklich sozialpolitisch motiviert war oder ob sie nicht ganz nüchtern darauf ausging, der GKV bei unverändertem Beitragssatz — also auf optisch unauffällige Weise — höhere Einnahmen zu verschaffen, nämlich auf Kosten der Arbeiter und Angestellten mittleren und höheren Einkommens. Eine Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze (die bisher immer auf gleicher Höhe mit der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte gehalten wurde) macht den „sozialen Ausgleich", d. h. die Begünstigung der kleinen Einkommen zu Lasten der mittleren und höheren, immer virulenter. In gewissen Grenzen ist dieser soziale Ausgleich durchaus erträglich. Von einem bestimmten Schärfegrad an aber wird er kritisch — dann nämlich, wenn der Höchstbeitrag der GKV in die Nähe der Prämienforderung der Privaten Krankenversicherung (bei vergleichbarem Leistungsangebot) rückt. Die Sozialenquete (1966) hatte dem Gesetzgeber empfohlen, für faire Koexistenzbedingungen zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung zu sorgen. Dieser Empfehlung ist er nicht immer gefolgt. Wohl zwar in einem Punkt: Jetzt schuldet der Arbeitgeber auch dem privatkrankenversicherten Angestellten einen Prämienzuschuß (in Höhe von etwa 50 Prozent des Höchstbetrags der für den Betrieb zuständigen GKV-Kasse).

Schlußwort

Es klingt etwas melodramatisch, wenn ich sage, daß die Sozialpolitik an einer entscheidenden Wegscheide steht. Denn tatsächlich hat sie seit 85 Jahren immer wieder an derselben Wegscheide gestanden. Es geht um die Alternative, ob die Institutionen der sozialen Sicherung der Selbsthilfeeinrichtungen mündiger, selbstverantwortlicher Bürger oder als obrigkeitliche Hulderweise eines patriarchalischen Versorgungsstaats aufgezäumt werden; sie hängt im demokratischen Staat wesentlich vom Bildungsstand des Wähler-volks ab. Bismarck, der als Innenpolitiker kein weitblickender Staatsmann war, wollte den Versorgungsstaat. Dasselbe wollten, von ihm fasziniert, Gelehrte wie Gustav Schmöller und Adolph Wagner. Vielleicht ist es dem Einfluß des Liberalen unter den „Kathedersozialisten", Lujo Brentano, zu danken, daß die Reichtagsparteien in Opposition zu Bismarck von vom herein starke Elemente des Selbsthilfeprinzips in das Konzept der Sozialversicherungen eingebaut haben.

Aber dieselbe Alternative hat sich dem Gesetzgeber bei jeder Novelle zum Sozialrecht immer wieder gestellt. Die Rentenreform von 1957 war ein erfreulicher, wenn auch nicht vollständiger Sieg des Selbsthilfegedankens. Aber immer, wenn die Politiker erneut an den Rechtsvorschriften des Systems sozialer Sicherung herumbasteln, besteht Anlaß zur Sorge, daß sie dem Kurs der Sozialpolitik einen erneuten Einschlag in Richtung auf den Versorgungsstaat versetzen.

Der Versorgungsstaat ist er Staat, der seine Bürger von immer weiteren Aufgaben des individuellen Wirtschaftens „entlastet", indem er ihnen z. B. beitragsfreie Renten, Nulltarife der öffentlichen Verkehrsmittel, im Endzustand schließlich auch den kostenlosen Schlag Erbsensuppe als egalitären Ersatz für das häuslich bereitete Abendessen anbietet — dafür aber, das versteht sich von selbst, immer größere Teile ihres Einkommens als Steuern abfordert, also ihrer persönlichen Verwendung entzieht. Man muß stets befürchten, daß auch die Menschen in echt demokratischen Staatsgebilden sich — mangels tieferer Einsicht — von vordergründigen Vorteilsverheißungen ihrer Politiker (aller Parteien) düpieren lassen und damit unbewußt in den Versorgungsstaat hineinschlittern. Diese Gefahr ist sehr groß, denn die Demokratie, die wir alle wollen, muß sich notwendigerweise auf die Urteilskraft des „Mannes auf der Straße" verlassen. Der Versorgungsstaat ist die Vorstufe des totalen Staates, die Vorstufe der Diktatur, sei sie Funktionärsdiktatur oder Diktatur eines einzelnen Tyrannen. Unsere ganze Hoffnung (als Demokraten) ist, daß die Wähler — durch Bildungspolitik — zu einem höheren Grad von Urteilskraft hingeführt und zu einem gesunden Mißtrauen gegen ihre gewählten Politiker erzogen werden.

Denn es ist ein grandioser Irrtum zu glauben, die gewählten Parlamentarier (oder Verbands-funktionäre) verkörperten und verträten allein und ohne Einschränkung den Willen ihrer Wähler (Rousseaus volonte generale). Politiker verfolgen — wie alle Menschen (jedes moralische Verdikt sei mir ferne) — primär ihre eigenen Interessen, und diese müssen durchaus nicht mit den Interessen ihrer Wähler übereinstimmen. So wie die Dinge liegen, müssen wir uns mit der unfreundlichen Tatsache vertraut machen, daß Politiker (aller Parteien) eine natürliche Inklination zum Versorgungsstaat haben, weil versorgungsstaatliche Lösungen ihre Macht vergrößern. Der Demokratie wohnt eine gefährliche Tendenz zur Selbstauflösung inne. Dagegen helfen auch die Grundsatzprogramme der Parteien nicht viel. Sie sind meist so schwammig formuliert, daß die Politiker im Einzelfall doch so oder anders entscheiden können. Oder der harmlose Wähler merkt die Abweichung nicht, geblendet von vordergründigen Vorteilserwartungen.

Literaturverzeichnis

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Nach der Soziallehre des Verfassers umfaßt der Katalog der Merkmale der Proletarität folgende, am Proletarier des 19. Jahrhunderts beobachtete Phänomene:

  2. Vgl. z. B. die Festschrift zu meinem 65. Geburtstag, „Der Mensch im sozioökonomischen Prozeß", hrsg. v. Franz Greiß, Philipp Herder-Dorneich u. Wilhelm Weber, Berlin 1969. Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, Köln 1955 (=Schriftenreihe des Bundes Katholischer Unternehmer [BKU]. N. F. H. s.).

  3. Die tatsächlich angewandte Rentenformel ist etwas komplizierter, da sie dem Umstand Rechnung tragen muß, daß das Rentenrecht dem einzelnen Versicherten außer den Beitragsjahren auch noch sogenannte Ausfall-und Ersatzzeiten — determiniert durch individuelle Lebensdaten wie z. B. Dauer des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft, Zeitdauer der Berufsausbildung — als rentensteigernde Faktoren zuerkennt. Außerdem enthält sie als vierten Faktor den sogenannten Steigerungssatz (bei Altersrenten 1, 5), der im wesentlichen das angestrebte Rentenniveau bestimmt.

  4. Verwiesen sei insbesondere auf: G. Kleinhenz u. H. Lampert, Zwei Jahrzehnte Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Eine kritische Analyse, in: Ordo-Jahrbuch 22 (1971), S. 103— 158.

Weitere Inhalte

Wilfrid Schreiber, Dr. rer. pol., o. Professor emerit. an.der Universität zu Köln; geboren 17. September 1904 in Brüssel; Habilitation 1955 an der Universität Bonn; daselbst Privatdozent, Dozent, 1960 apl. Professor, 1961 Berufung an die Universität zu Köln; 1964 in die Sozialenquete-Kommission der Bundesregierung berufen; hier federführend für das Kapitel „Sicherung im Krankheitsfall". Zahlreiche Aufsätze, Broschüren, Beiträge zu Sammelwerken und einige Bücher zu den Themen Soziale Sicherung (insbesondere erste Darstellung der „dynamischen Rente"), Vermögensbildung in breiten Schichten, Familienpolitik, Lohn-theorie und Lohnpolitik.