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Der konservative Selbstverrat. Gedanken zu einer ausgebliebenen „Tendenzwende" | APuZ 51/1976 | bpb.de

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APuZ 51/1976 Artikel 1 Der konservative Selbstverrat. Gedanken zu einer ausgebliebenen „Tendenzwende" Rebellion. Individuelle und gesellschaftliche Voraussetzungen Angst in der Schule. Ein Essay

Der konservative Selbstverrat. Gedanken zu einer ausgebliebenen „Tendenzwende"

Carl Amery

/ 8 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der vorliegende Aufsatz befaßt sich mit dem widersprüchlichen inneren Zustand des deutschen Konservatismus. Während dieser einerseits seine Existenzberechtigung aus den Tatsachen der „Grenzen des Wachstums" zu beziehen vorgibt, weicht er anderereits allen Folgerungen aus, die sich im politischen und gesellschaftlichen Raum aus dieser Begrenzung ergeben, heftet sich vielmehr an einen Status quo, der in sich selbst alle Ansätze zur planerisch-ökologischen Systemzerstörung birgt.

Seit Jahren (auch zu einer Zeit, wo dies nicht so komfortabel war wie heute) bekennt sich der Verfasser zu einer radikalen Form des Konservatismus. Er war deshalb äußerst interessiert, als von Lehrstühlen, Akademie-pulten und Redaktionssesseln aus die Tendenzwende verkündet wurde. Der Fortschritt, so schien es, wurde immer verdächtiger, seine Folgelasten für die Menschheit immer unerträglicher, und das Auge des Beobachters sah ein Morgenrot heraufdämmern, in dem man, ein gerechtfertigter Don Quijote, mit alten und neuen Bundesgenossen gegen Erz-und Erbfeinde zu Felde ziehen konnte: mit den englischen Frühromantikern gegen das Industrie-system, mit den wackeren katholischen Philosophen des Vormärz gegen die Verelendung der Landschaft und der Proletaires, mit Charles Peguy und G. K. Chesterton gegen die Wüsten des modernen Rationalismus, des mörderischen calvinischen Erbes — ja, und mit E. F. Schumacher und Ivan Illich gegen die krebsfördernde Gigantomie der globalen Ausbeutung.

Aber solche Tendenzwende hat nicht stattgefunden, war hierzulande nie gemeint und nie gefragt. Die Theorie der wahrhaften, der großen Konservativen wurde nicht einmal geprüft, jedenfalls nicht ernstlich. Die selbst-ernannten Konservativen dieser Republik verschwiegen, verrieten sie. Das ist die Substanz der Anklage. Im folgenden sei sie an einigen Beispielen erörtert und illustriert.

Einer der Leute, die sich nicht ohne Geschick und Geduld als Cheftheoretiker der Tendenzwende ausgeben, ist Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Ihm steht zweifellos die Anerkennung zu, daß er diesen Beruf schon wählte, als noch nicht viel Wachstumschancen in ihm zu stecken schienen. Kaltenbrunner hat nun die Gelegenheit ergriffen und 1975 seine Aufsätze unter dem Titel Der schwierige Konservatismus bei Nicolai veröffentlicht. Wohin sich die Tendenzwende eigentlich zu wenden hätte, hat er genau begriffen; seit geraumer Zeit steht im Mittelpunkt seiner Vorwörter der Satz: genus humanum conservandum est -— das Menschengeschlecht muß erhalten werden. Mit

Recht setzt ein solcher Konservatismus (den man methodisch als ökologischen Konservatismus bezeichnen könnte) weit unterhalb der immateriellen Argumente an, die etwa den christlichen Konservatismus zwischen 1815 und 1945 interessierten. Damit hätte er die Chance, aus einer idealistischen eine materialistische Philosophie zu werden, ein . ökologischer Materialismus’. Er könnte das ganze Industriesystem, einschließlich seiner gesellschaftlichen und institutionellen Ursachen, Folgen und Stützen, viel radikaler kritisieren, als dies etwa der Marxismus getan hat. Er könnte es nicht nur, er müßte es: Für den großen Theoretiker des 19. Jahrhunderts war Seveso, waren die radioaktiven Salzkavernen von Asse noch kein zentrales Politikum und Okonomikum; für uns illustrieren sie den innersten Kern der Probleme der bevorstehenden Jahrtausende. Ausgehend von solcher Kritik müßte der ökologisch orientierte Konservatismus (also eben der Kaltenbrunners) nicht nur eine Praxis fordern, welche etwa der Michail Bakunins gleichkäme, er müßte die gegenwärtige Form aller Institutionen als veraltet, wenn nicht parasitär entlarven; er müßte die Ausbeutung des Planeten, die ökologische Systemzerstörung noch in ihren sanftesten Verkleidungen beschreiben. Er müßte wahrscheinlich die Fahne über den großen konservativen Aufständen hochziehen, die dort schon oft genug geflattert hat: die schwarze Fahne der Anarchie. Wohlgemerkt: Dies ist vom Standpunkt des konsequentesten ökologischen Konservatismus aus gefordert. Es ist gerade dann gefordert, wenn er jede Beimengung sozialistischen Gedankengutes als Verwässerung seiner ursprünglichen Kraft ablehnt.

In Wahrheit aber verfolgt jeder Konservatismus, der hierzulande sichtbar ist — auch der Kaltenbrunners —, immer noch die alten Spuren. Berechtigtes Mißtrauen am „Fortschritt" schlägt immer noch um in Bejahung alter, längst überfälliger Strukturen und Institutionen — solcher Strukturen und Institutionen, welche den Fortschritt der Systemzerstörung entweder selbst betreiben oder ihn jedenfalls nicht verhindern können. Es geht ihm, diesem Konservatismus der soge-nannten Tendenzwende, also beweisbar nicht um die Erhaltung der Menschheit, sondern um die Erhaltung der liebgewordenen Organisations-und Denkmuster. Diese Art Konservative teilen im Grunde die ausgesprochene oder verschwiegene Prämisse der progressiven Gegner, daß nämlich Menschengeschichte vor einem Hintergrund von Natur stattfindet, der wenig mehr als Kulisse ist. Vor solcher Kulisse kann man sich parteilich für oder gegen Fortschritt entscheiden, für die Institutionen oder gegen sie. Aber der Kern des konservativen Problems auf der Höhe des Begriffs — des Problems nämlich der Erhaltung der Welt und der Menschheit — wird dabei schlechthin übergangen.

So kann es kommen, daß aus Arnold Gehlens stählernem Ja zu den Institutionen im Handumdrehen ein Ja zur industriellen Wachstums-gesellschaft und ihren „Sachzwängen" wird, die, eben laut Gehlen, überhaupt noch als letzter Kitt, als letzte innere Kontrolle die Gesellschaft zusammenhalten. Was solche Haltung im Effekt, in der Praxis, von bewußtloser technischer Fortschrittsseligkeit trennt, ist nicht mehr auszumachen. Ähnliches gilt für einen offenen Bewunderer Gehlens, den marxistischen konservativen Denker Wolfgang Harich. Seine Projektion einer künftigen kommunistischen Verteilungsgesellschaft jenseits aller Hoffnung stellt zwar scheinbar das in den Mittelpunkt, was Programm des ökologischen Materialismus sein muß, nämlich die Erhaltung des Menschengeschlechts; in Wahrheit aber erfordert dieses Programm die Erhaltung, ja die Verewigung stalinistischer Strukturen, die seinerzeit — unter anderen historischen Voraussetzungen — die Systemzerstörung\der relativ stabilen östlichen Räume einleiteten. Zwar spricht Harich in seinem Buch „Kommunismus ohne Wachstum?" nebenher von „brüderlichen" Zukunftsverhältnissen, gleichzeitig aber bejaht, ja fordert er die Umsiedlung von vielen hundert Millionen Hungergefährdeter in noch intakte ökologische Bezirke — ein Programm, welches nicht nur der zusätzlichen Belastung des Globus, sondern letzten Endes der Stärkung eben jener parasitären Zentral-macht dient, um deren Vernichtung oder zumindest Lähmung es dem wahren Konservativen heute gehen müßte.

Beide, Lehrer wie Schüler, Gehlen wie Harich, greifen also in der radikalen konservativen Kritik des Zeitalters zu kurz. Beide glauben noch an das, was seit Gehlen die „Entlastungsfunktion" der Institutionen heißt.

Diese Entlastungsfunktion ist zweifellos gegeben, aber — und damit sind wir am Kern des Problems — diese Entlastung ist kollektiv-subjektiv, nicht objektiv-natürlich. Die Institution, welche dem Individuum Sorge abnimmt, nämlich die Sorge um Kontinuität der Verhältnisse und den Weltauftrag des Menschen, wird in wachsendem Maße unfähig, dem Menschen die Sorge abzunehmen, um die es letzten Endes geht: die Sorge um die Übereinstimmung zwischen dem selbstgewählten Geschick des Menschen und den tatsächlichen Gegebenheiten seiner Lage auf dem Planeten. Konservative Theorie hat sich bisher, bis zurück zu den großen frühgeschichtlichen Königreichen und Kaiserreichen, bis zu Sumer und Frühchina, damit begnügt, eine geheime, letzten Endes magische Übereinstimmung zwischen gut regierten Kollektiven und dem Wohlbefinden der nichtmenschlichen Welt des Lebens anzusetzen. Die „Gerechtigkeit des Königs", wie sie im Alten Testament heißt, ist die Gerechtigkeit, welche letzten Endes auch das Lamm und den Löwen lehrt, friedlich nebeneinander zu lagern. In diesem prophetischen Bild ist am schönsten das Ur-Vertrauen wiedergegeben, welches nicht nur die Wurzel jeglichen konservativen Weltgefühls, sondern auch die End-Ursache jeglicher Theorie von der „Entlastungs-" Funktion der Institutionen ist. Nur wenn die Institution, die politische wie die gesellschaftliche, tatsächlich „Gerechtigkeit des Königs" zu begründen vermag, ist sie ja auch im alten strengen Sinne konservativen Denkens wirklich legitimiert, sich als gehorsamsverdienend, nicht nur gehorsamsfordernd, ausgewiesen. Absolutismus ist deshalb niemals wirklich konservativ: er verweigert den letzten Ausweis, die letzte Legitimation seiner Herrschaft.

Der Absolutismus, der heute die Legitimation der „Gerechtigkeit des Königs" verweigert, ist der Absolutismus der Technokratie. Gegenüber ihren Anforderungen versagen nicht nur die alten Montesquieuschen Kontrollen des Gemeinwesens — man besehe sich nur einmal bei Licht die politisch-ökonomischen Verfilzungen, aus denen heute die sogenannten Großvorhaben, vom Riesenflugplatz über das Autobahnnetz bis zum Atomkraftwerk, geboren werden! Der einzige Politiker von Konsequenz, der das Problem in die offene Feld-schlacht des Wahlkampfes geführt hat, war der konservative schwedische Bauernführer Fälldin. Wie immer man die Auswirkung seiner Kampagne gegen die Kernkraftwerke beurteilen mag: auf jeden Fall war hier echtes konservatives Lebensgefühl am Werk; und wenn es ihm, wie hier die Konservativen meinen, tatsächlich Wählerstimmen gekostet hat (Palme, der Unterlegene beurteilt das anders), dann ist seiner konservativen Konsequenz doppelte Anerkennung zu zollen.

Die bundesrepublikanische Tendenzwende hat mit solcher Konsequenz nichts zu tun. Im Gegenteil scheint es, daß die Sorge um die „Gerechtigkeit des Königs", also um die Legitimation der Herrschaft aus dem tatsächlichen Zustand der Welt, ausschließlich von soge-nannten Linken — Eppler, Steffens, dem einen oder anderen JUSO-Theoretiker — artikuliert und wahrgenommen wird. Dafür werden sie als potentielle Radikale, Spinner, Systemzerstörer eingestuft, während sie doch in Wahrheit — o Ironie der alten Begriffskästchen! — die einzigen sind, die sich im weitesten Sinne mit Systemerhaltung befassen.

Im Gegensatz dazu ist eine blinde Bejahung der technokratischen Systemzerstörung den Vorkämpfern der sogenannten Tendenzwende fast immanent, über Arnold Gehlen haben wir bereits gesprochen. Hier sei — als weiteres Beispiel — Helmut Schoeck herangezogen, der 1975 sein Buch „Das Geschäft mit dem Pessimismus" bei Herder erscheinen ließ; in einem Verlag also, der schon durch Kaltenbrunners Broschürenreihe INITIATIVE mit der Sache des neuen Konservatismus verbunden ist.

Professor Schoeck macht die Plattform seines konservativen Temperaments zum Vehikel für eine Verteidigung unserer Wirtschaftsform, die doch einem echt konservativen Lebensgefühl zutiefst zuwider sein müßte. So greift er etwa die Vorsicht gegenüber neuen Medikamenten an, weil die Strenge der Prüfungen die Verbreitung neuer Medikamente um Jahre verzögert; oder er verteidigt das Prinzip der Wegwerfgesellschaft, weil dieses Prinzip die alte Besitzgier reduziere. Und wo bleibt das Mitleid des echten Konservativen mit der Landschaft, wenn er den Kulturpessimismus des schlimmsten Verbrechens anklagt, das es offenbar in deutschen Landen gibt — nämlich der Verteufelung des Automobils und damit der Gefährdung von Arbeitsplätzen?

Unterlassen wir eine nähere Prüfung der Methoden, mit denen hier argumentiert wird. Beschränken wir uns auf die paradoxe Grund-befindlichkeit: der Kulturpessimismus, einst so etwas wie die selbstverständliche Grund-befindlichkeit konservativer Kritik, ist aufgegeben und wird gegen die Pessimisten gewendet, weil die Linke eben diesen Kulturpessimismus entdeckt hat. Der Konservative der Tendenzwende (und Professor Schoeck scheint für ihn typisch zu sein) gibt damit stillschweigend seine innerste Legitimation, seinen politisch-gesellschaftlichen Daseinszweck auf: nämlich die Verhältnisse daraufhin zu prüfen, ob sie der „Gerechtigkeit des Königs" entsprechen. Noch kürzer: Die Konservativen geben ihr prophetisches Amt auf und werden zu Cheftheoretikern der neuen, absolutistischen Höfe der Technokratie.

Diese Überlegungen wurden vor dem 3. Oktober 1976 angestellt — doch sind die Ergebnisse der Bundestagswahl für sie auch nicht relevant. Weder das Regierungslager noch die Opposition hielten es im Wahlkampf für notwendig, grundsätzliche konservative Positionen auch nur anzusprechen, wodurch nicht nur die theoretische, sondern auch die praktisch-politische Bedeutungslosigkeit der sogenannten Tendenzwende hinreichend bewiesen ist. Die Wahlkämpfer waren nicht blind und nicht überdurchschnittlich verstockt — sie haben nur ein Thema ausgelassen, welches die Konservativen, die Konservativen des Selbstverrats, nicht zu formulieren verstanden.

Man wird also einem ernsthaften Konservativen gestatten, sich auch in Zukunft unter nachdenkenden Linken wohler zu fühlen als unter diesen sogenannten Konservativen der Tendenzwende. Kein Hauch des Geistes von Franz Baader, von Charles Peguy, von G. K. Chesterton oder gar Ivan Illich, dem letzten großen Vertreter radikalkonservativen Gedankenguts, war in solcher Tendenzwende zu spüren. Die große konservative Abrechnung, die laufen müßte, findet in anderen geographischen und geistigen Erdteilen statt. Wenn sie politisch wirksam werden soll, wird sie sich auch andere Verbündete suchen müssen als die, welche lauthals die Tendenzwende verkündet haben und insgeheim wohl glauben, daß die Parole „Freiheit oder Sozialismus" eine konservative gewesen sei.

All jene aber, welchen wirklich um die Erhaltung der Menschheit zu tun ist, sollten sich die Frage vorlegen, ob die tiefe Verzweiflung, die hinter so mancher revolutionären Theorie steckt, nicht mehr Treue zu eben diesem Anliegen einschließt als die vordergründige Verteidigung eines Status quo, der längst dem Niagarafall der nächsten Zukunft zutreibt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Carl Amery, geb. 1922, seit Kriegsende als freier Schriftsteller tätig, mit einer vierjährigen Unterbrechung (1967— 1971) als Direktor der Münchener Städtischen Bibliotheken. Neben belletristischen Arbeiten (einem Bühnenstück und vier Romanen) widmet er sich hauptsächlich Fragen der Kultur-und Gesellschaftskritik. Seine Analyse des westdeutschen Katholizismus: Die Kapitulation, Reinbek 1963, hatte beachtlichen öffentlichen Erfolg. Seit 1970 gilt sein Hauptaugenmerk den Fragen, die mit der immer dringlicher werdenden Notwendigkeit der Kooperation mit den begrenzten Möglichkeiten unseres Planeten Zusammenhängen. Die Leitlinien seines Denkens und seiner Kritik sind in den beiden Bänden „Das Ende der Vorsehung" und „Natur als Politik" (Reinbek 1972 und 1976) zusammengefaßt.