Zusammenfassung
Friedrich Schäfer: Fragen der bundesstaatlichen Ordnung: Bund — Länder — Europa
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Friedrich Schäfer: Fragen der bundesstaatlichen Ordnung: Bund — Länder — Europa
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist eine gute Verfassung. Der Bundestag war gut beraten, der Enquete-Kommission Verfassungsreform aufzugeben, „unter Wahrung seiner Grundprinzipien" zu prüfen, ob es erforderlich ist, „das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen anzupassen". Die Kommission ist bei ihren Arbeiten an keiner Stelle an einen Punkt gekommen, an dem sie der Auffassung sein mußte, die Grundprinzipien unserer Verfassung bedürften einer Revision. Im Gegenteil: Die Kommission kam wiederholt zu der Feststellung, daß sie keine Änderungsempfehlungen zu geben habe, da die bestehende Regelung die derzeit bestmögliche ist.
Die Prüfung unserer Verfassungswirklichkeit führt dazu, festzustellen, daß sich unser Verfassungsleben auf wichtigen Gebieten von den Grundprinzipien entfernt hat und daß eine Zurückführung auf diese Prinzipien geboten ist. Das wird darzustellen sein. Seit dem Jahr 1949, der Schaffung des Grundgesetzes, hat sich vieles geändert. Wir haben innerhalb der Bundesrepublik einen schnellen, umfassenden Ausbau unserer industriellen Wirtschaft erlebt. Die Bundesrepublik ist nur lebensfähig, wenn sie als einheitliches Wirtschafts-, Finanz-und Rechtsgebiet funktionsfähig ist. Die Aufgabe, „die Einheitlichkeit der Lebensver-hältnisse zu wahren", ist in Wirklichkeit die Aufgabe, gleichwertige Lebensbedingungen für alle Bürger anzustreben.
Die Entwicklung in Europa, die mit den Römischen Verträgen im März 1957 eingeleitet wurde, hat die Bundesrepublik in kaum vorhersehbarem Maße in die Europäische Gemeinschaft integriert. Dazu kommt eine enge Bündnis-und Wirtschaftsverflechtung mit allen westlichen Staaten und mit den Entwicklungsländern. Die Bundesrepublik ist ein geachteter Partner in Europa und in der Welt geworden; sie muß dementsprechend auch nach ihrer inneren Verfassung handlungsfähig sein. — Die Europäische Gemeinschaft hat bundesstaatliche Elemente. Die Bundesrepublik ist das einzige Mitgliedsland in der Europäischen Gemeinschaft, das seinerseits eine bundesstaatliche Ordnung hat. Aus der Tatsache, daß sich über unsere bundesstaatliche Ordnung eine neue schiebt, ergibt sich eine Vielzahl von Problemen: Einerseits geht es um die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft, andererseits soll die bundesstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik aufrechterhalten werden und auch für die Zukunft funktionsfähig sein.
Die Kommission befaßte sich eingehend mit den Fragen des Zusammenwirkens von Bund und Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung wie auch mit der Untersuchung und Sicherung der Eigenstaatlichkeit der Länder. Aufgabe war, die Funktionsfähigkeit des Bundes wie auch die der Länder zu sichern oder wiederherzustellen.
1-Ein Gegenstand der Untersuchung war der Bundesrat. Die Kommission sieht die Problemstellung so:
»Das Grundgesetz hat den Bundesrat als integrales Organ des bundesstaatlichen Systems geschaffen. Der Breite des ihm verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgabenbereichs entspricht die Bedeutung des Bundesrates in der politischen Wirklichkeit. Struktur und Kompetenzen dieses Organs waren bereits bei der Entstehung des Grundgesetzes umstritten; sie sind gerade in jüngster Vergangenheit wieder verstärkt Gegenstand sowohl verfassungsrechtlicher als auch verfassungspolitischer Diskussion. Die Kommission überlegte daher, ob und gegebenenfalls welche Verbesserungen im Interesse der Funktionsfähigkeit des bundesstaatlichen Systems möglich und notwendig sind. Dabei war auch hier die Sor3 ge um die Erhaltung und Sicherung der Kompetenzen der Volksvertretungen der Länder ein die Überlegungen mitbestimmender Faktor.“ Ausgangspunkt der Beratungen war Frage die nach der Zusammensetzung des Bundesrates (Bundesratsmodell — Senatsmodell — Mischmodelle) und damit zugleich nach der Qualität seiner demokratischen Legitimation. Die Legitimation der Mitglieder des Bundesrates besteht in der Existenz ihres Landes. Die Landesregierungen vertreten das Land. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan. Seine Mitglieder durch einzelnen Landesregierungen die bestellt. Da die Bundesratsmitglieder ihr Land vertreten, können die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden. Die Entscheidung darüber, wie die Stimmen abgegeben werden sollen, treffen die einzelnen Landesregierungen, die ihrerseits auf Grund von Wahlen verfassungsgemäß gebildet wurden. Das Landesparlament kann sich mit den im Bundesrat zu behandelnden Fragen befassen, die Entscheidung darüber gehört aber zur Zuständigkeit der Landesregierung.
Es wurde die Frage geprüft, ob empfohlen werden soll, von dem länderrepräsentierenden System abzugeben und ein Senatsmodell zu schaffen, wobei die Senatoren entweder durch die Länderparlamente oder durch die Bürger des jeweiligen Landes gewählt werden sollten. Es wurde auch ein Mischsystem erörtert in der Weise, daß ein Teil der Mitglieder des Bundesrates von den Landtagen nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt werden und ein weiterer Teil von der Landesregierung ernannt werden sollte. Die Kommission verwarf alle diese Pläne und blieb beim bestehenden Bundesratssystem. Die Kommission vertrat dabei die Auffassung, daß das bestehende System eine stärkere Integrationswirkung zwischen Bund und Land entfalte als jedes andere.
Die Frage der Stimmverteilung auf die einzelnen Länder war Gegenstand der Prüfung. Ausgehend von dem Grundsatz der rechtlichen Gleichheit der Länder und der Tatsache, daß das Land als solches vertreten ist, konnte die Kommission sich nicht dazu entscheiden, die Größe der Bevölkerung eines Landes maßgebend sein zu lassen für die Zahl der Vertreter im Bundesrat. Die geringe Gewichtung der Stimmen zwischen fünf Stimmen für die großen Bundesländer und drei für die kleinsten Bundesländer wurde als noch tragbare Auswirkung der Größenordnungen bei Anerkennung der rechtlichen Gleichwertigkeit angesehen. In der Tat würde es das System wesentlich verändern, wenn man nicht die Rechtspersönlichkeit der Länder als Grundlage für die Vertretung im Bundesrat nehmen würde, sondern die Bevölkerungs-zahl. Wenn man die Bevölkerungszahl nehmen würde, dann müßte man auch die Bevölkerung entsprechend der von ihr den Parteien gegebenen Stimmen im Bundesrat vertreten lassen. Wenn man sich für das Bundesratsmodell entscheidet, ist dafür kein Raum. Da man das Senatsmodell ablehnte, konnte die man Bevölkerungszahl nicht berücksichtigen.
Wenn man die verschiedenen Legitimationsgrundlagen von Bundestag und Bundesrat betrachtet, kann man für die getroffene Entscheidung Verständnis haben. Sie führt aber zu einer Rangordnung der Legitimation, denn wer die Bevölkerung unmittelbar vertritt, muß Vorrang vor demjenigen Organ haben, das nicht die Bevölkerung, sondern die juristische Person Land vertritt.
2. Das Grundgesetz hat im Grundsatz eine klare Regelung getroffen: Der Bundestag beschließt die Gesetze, der Bundesrat wirkt mit, indem er seine Verwaltungserfahrung (im ersten Durchgang) beisteuert und indem er (im zweiten Durchgang) ein aufschiebendes Veto einlegen kann; im Endergebnis entscheidet aber der aus den Wahlen hervorgegangene Bundestag. Im als Ausnahme gedachten und daher besonders angeführten Falle soll ein Gesetz nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundesrates zustande kommen können; stimmt der Bundesrat nicht zu, so ist das Vorhaben gescheitert; es gibt dann keine handlungsfähige Stelle.
Das Grundgesetz hat diesen Konfliktsfall zwischen Bundestag und Bundesrat nicht geregelt. Die Kommission hat dafür keine Empfehlung ausgesprochen. Dies ist zu bedauern.
Es ist erforderlich, hier eine Analyse der gehandhabten Staatspraxis zu geben, um die zu lösenden Fragen deutlich zu machen:
Der Gesetzesinitiative der Bundesregierung gehen oft lange Verhandlungen mit den Ländern voraus. Auf den wichtigsten Gebieten sind gemeinsame Ausschüsse vorhanden, die gemeinsame Pläne ausarbeiten, die z. B. wie bei den Planungsausschüssen der Gemeinschaftsaufgaben in die Entwürfe der Haushaltspläne von Bund und Ländern aufgenommen werden. Bei der verschiedenen politischen Strukturierung der Regierungen sind alle po-B litischen Parteien indirekt in diesen Ausschüssen vertreten, de facto aber nicht vertreten, denn es sind reine Exekutivausschüsse. „Kooperativen Föderalismus“ nennt man das, was aber letztlich anonyme, nur scheinbar dem jeweiligen Fachminister für seinen Bereich unterstellte Gruppen von Fachexperten sind. Dadurch kommt bei den einzelnen Sachgebieten eine Große Koalition der Experten zustande. Das kann gut sein, ist es aber meist nicht, denn keine politische Konzeption setzt sich durch; der Minimalkompromiß oder die Handlungsunfähigkeit ist die Regel. Bundestag und Bundesrat sehen sich so einer Vorlage gegenüber, zu der sich die Regierungsparteien nur mühsam bekennen, die Opposition keine Alternative entwickeln kann, denn sie ist über die Landesregierungen ihrer Partei bereits auf ein Modell festgelegt. Ist dies nicht der Fall, so ergibt sich folgendes; Wenn Bundestag und Bundesrat sich nicht einigen, wird der Vermittlungsausschuß angerufen. Zusammengesetzt aus elf Mitgliedern des Bundestages und elf Ländervertretern kann er zwar nur Empfehlungen an den Bundestag und den Bundesrat geben, in der Tat werden aber dort oft entscheidende Veränderungen beschlossen, man kann auch sagen: vereinbart. Manches Gesetz hat durch die Empfehlungen des Vermittlungsausschusses seinen Charakter verändert. Manche politische Konzeption wurde aufgehalten oder schlicht beseitigt, alles unter dem Zwang, sich einigen zu müssen, weil sonst eine heillose Lücke entstehen könnte.
Ergebnis der Analyse:
a) Wir haben das parlamentarische System ausgehöhlt durch anonyme Planungsausschüsse der Regierungen; der Gesetzgeber steht unter dem kooperativen Ordnungszwang der Planungsgruppen der Exekutive, er ist kaum in der Lage, von den Empfehlungen und Planansätzen der Rahmenpläne abzuweichen.
b) Die parlamentarische Verantwortlichkeit des Bundestages wird unterlaufen durch politisch anders gelagerte Mehrheiten im Bundesrat. Als Ausweg bleibt der anonyme Vermittlungsausschuß, aus welchem Empfehlungen einer großen Sach-Koalition kommen.
Beide Ursachen der Verfälschung des parlamentarischen Regierungssystems müssen beseitigt werden: Die Mischverantwortung bei den Gemeinschaftsaufgaben, die der klaren politischen Verantwortlichkeit von Bundestag und Landtagen entgegensteht, muß beseitigt werden. Eine der vollen Verantwortlichkeit des Bundestages entsprechende Lösung muß gefunden werden.
In einem Sondervotum im Kommissionsbericht wird der Vorschlag gemacht, daß bei Verweigerung der Zustimmung das Gesetz mit dem nichtzustimmungspflichtigen Inhalt trotzdem zustande kommen kann, wenn der Bundestag dies bestätigt. Dies könnte im Einzelfall sinnvoll sein, ist aber keine grundsätzliche Regelung des Konfliktsfalles. In einem anderen Sondervotum wird vorgeschlagen, daß eine Verweigerung der Zustimmung des Bundes-rates nur dann von Bedeutung sei, wenn die Mehrheit der Bundesratsstimmen in solchen Fällen gleichzeitig auch die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung des Bundesgebietes repräsentiert. Dieser Vorschlag hat — auch wenn er systemüberschneidend ist — einiges für sich. Ich halte ihn aber für nicht ausreichend.
Das Grundgesetz bekennt sich zum parlamentarischen Regierungssystem. Es hat Vorsorge getroffen, daß eine starke Bundesregierung geschaffen werden kann. Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung (Artikel 65 Satz 1 GG). Er kann dies nur mit Erfolg tun, wenn er von ausreichenden Kräften des Bundestages getragen wird, d. h. von den Parteien, die die letzte Bundestagswahl gewonnen haben und die über die Mehrheit im Bundestag verfügen. Zwischen der Bundestagswahl, der Wahl des Kanzlers und der von ihm geführten Politik besteht ein unmittelbarer Legalitätszusammenhang.
Die aus dem parlamentarischen System sich ergebende Regelung wird deutlich, wenn man sich konkret zu lösende Aufgaben vergegenwärtigt: a) Der Beschluß des Bundestages und die Verweigerung der Zustimmung des Bundesrates führen zur Handlungsunfähigkeit. Wenn Artikel 105 Abs. 3 GG besagt: „Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) ganz oder zum Teil zufließt, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates“, so erscheint dies zunächst durchaus vertretbar. Prüft man aber das Schicksal eines solchen Gesetzes weiter, so stellt man fest, daß es, obwohl es für die gesamtstaatliche Finanzlage und die Bundesfinanzen von größter Bedeutung ist und von Bundesregierung und Bundestag für notwendig gehalten wird, am Bundesrat scheitern kann. Die vom Volke gewählte Mehrheit kann also ihren Gestaltungswillen nicht um-5 setzen. Kann der Bundeskanzler dann noch die Verantwortung tragen?
b) Nach Art. 105 Abs. 2 GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder wenn die Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 GG vorliegen. Der Bundesrat könnte bei der bestehenden Regelung durch Verweigerung der Zustimmung den Erlaß von solchen Gesetzen verhindern. Das kann nicht richtig sein. Denn gerade wenn es um die Wahrung der Rechts-und Wirtschaftseinheit geht, kann nur der Gesamtstaat die erforderlichen Vorschriften erlassen; er nimmt die Interessen der Gesamtheit, damit auch die der Länder, wahr. Es geht um die Entscheidung von politischen Fragen, die für den Gesamtstaat von Bedeutung sind. Es kann nicht den Ländern anheimgegeben werden, darüber aus ihrer Interessenlage heraus endgültig zu entscheiden. Hier liegt ein fundamentaler Widerstreit im Grundgesetz, der nicht systemkonform geregelt ist, nämlich die Frage, wer im Falle abweichender Entscheidungen die Letzt-Entscheidüng treffen kann. Es besteht kein Zweifel: Im Bundestag entscheiden die vom Gesamt-volk gewählten Vertreter, im Bundesrat die zur Vertretung des betreffenden Landes beauftragten Regierungsmitglieder. Also stehen sich gegenüber: Vertreter des Volkes und Beauftragte der Institution Land. Die Entscheidung dieser Grundfrage kann nur so aussehen, daß im Konfliktfall die Letzt-Entschei-düng beim Bundestag liegen muß. Denn alle Staatsgewalt geht vom Volke aus; es kann außer dem Bundesverfassungsgericht kein Organ geben, das über die Entscheidungen des Bundestages zu beschließen hat (auf die Sonderregelung des Artikels 113 GG sei hingewiesen). Es ist deshalb vom System her falsch und in der Auswirkung unerträglich, wenn Finanzgesetze des Bundes unabänderlich an der Verweigerung der Zustimmung durch den Bundesrat scheitern können.
Es bleibt zu untersuchen, ob es bei der absoluten Zustimmungsbedürftigkeit von Organisations-und Verwaltungsausführungsgesetzen verbleiben kann. Artikel 83 GG weist den Ländern die Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit zu; es ist daher Angelegenheit der Länder, die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren zu regeln. Hier handelt es sich nicht um hochpolitische Entscheidungen, sondern um Fragen der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit, die im Interesse des Bürgers für das Bundesgebiet einheitlich geregelt werden sollen. Es erscheint vertretbar, daß die Länder über den Bundesrat insoweit ein qualifiziertes Mitwirkungsrecht haben. 3. Die Kommission lehnte es ab, dem Bundesrat eine zusätzliche Aufgabe in der Weise zu geben, daß er die Wahrnehmung der Länderkooperation (sogenannte Dritte Ebene) durch Umgestaltung zu einem Länderrat erhalten soll. Zwar besteht auf vielen Gebieten, die zur Zuständigkeit der Länder gehören, ein großes Bedürfnis nach einheitlicher Gesetzgebung. Die Besetzung des Bundesrates mit Repräsentanten der Länderregierungen schließt aber die Überlegung aus, ihnen eigene gesetzgeberische Aufgaben zu übertragen. Auch wenn man das Senatsmodell wählen würde und durch unmittelbare Wahl durch die Bevölkerung die Mitglieder des Senats wählen ließe, würden gegen die Übertragung von Aufgaben der Gesetzgebung für alle Ländei erhebliche Bedenken bestehen. Es will mir dabei der Gesichtspunkt, die Eigenstaatlichkeit der Länder verbiete dies, nicht ausreichen, da in der Europäischen Gemeinschaft die Souveränität der Mitgliedstaaten eine einheitliche Rechtssetzung durch den Ministerrat auch nicht ausschließt. Aber entweder haben alle Länder gleichviel Senatoren, dann ist es eine Vergewaltigung der großen durch die kleinen Länder, oder die Bevölkerungszahl ist für die Zahl der Senatoren entscheidend, dann ist es eine Vergewaltigung der kleinen durch die großen Länder. Sicher haben die Koordinierungsmaßnahmen der Länder — sei es in der Ministerpräsidentenkonferenz oder in der Kultusministerkonferenz — nur bescheidene Erfolge bisher erzielt; die Lösung kann aber nicht darin bestehen, eine weitere Ebene, die Dritte Ebene, zu schaffen, sondern — soweit notwendig — nur darin, daß dann eine Bundeskompetenz begründet wird. Dies ist in der Vergangenheit in nicht wenigen Fällen von den Ländern selbst angestrebt worden. 4. Die Änderung des Grundgesetzes verlangt eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Wenn es z. B. um die Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen geht, dann bedeutet dies, daß die im Bundesrat vertretenen Landesregierungen darüber entscheiden, ob ihre Landtage in Zukunft die Zuständigkeit haben sollen oder nicht, und sie entscheiden gleichzeitig darüber, ob sie selbst im Falle der Übertragung auf den Bund im Bundesrat mitwirken. Es ist deshalb wiederholt die Forderung erhoben worden, daß Verfassungsänderungen nur beschlossen werden könnten, wenn zwei Drittel der Länderparlamente einer solchen Änderung zustimmten. Die Kommission hat diesen Vorschlag nicht aufgenommen, da für sie die Frage des Willensbildungsprozesses in den Ländern nicht eine Frage der Bundesverfassung sein konnte. Um aber diesen Willensbildungsprozeß in den Ländern zu sichern, schlägt die Kommission vor, daß zu Vorlagen zur Änderung des Grundgesetzes, die beim Bundesrat eingebracht werden, die Frist zur Äußerung des Bundesrates nicht drei Wochen, sondern drei Monate betragen soll, damit die Landtage sich in den Willensbildungsprozeß der Länder einschalten können.
5. Die Kommission kam bezüglich der Ausgestaltung des Bundesrates zu folgenden Empfehlungen:
a) Das Bundesratsprinzip des Grundgesetzes soll beibehalten werden; eine Ergänzung der von den Landesregierungen entsandten Bundesratsmitglieder durch Landesparlamentarier oder durch innerhalb der Länder zu wählende Senatoren wird nicht befürwortet.
b) Die derzeit praktizierte Verteilung der Stimmen auf die Länder im Bundesrat nach Art. 51 Abs. 2 GG soll beibehalten werden.
c) Eine Erweiterung der Aufgaben des Bundesrates zur Wahrnehmung der Länderkooperation (sogenannte Dritte Ebene), etwa durch einen Länderrat, wird nicht befürwortet.
d) Eine unmittelbare Beteiligung der Länderparlamente an Grundgesetzänderungen (Erfordernis der Genehmigung durch zwei Drittel der Länderparlamente) empfiehlt sich nicht.
e) Eine ausdrückliche Bestimmung des Grundgesetzes über das Befassungsrecht der Länderparlamente mit Angelegenheiten des Bundesrates ist nicht erforderlich. Die Beratungsfrist des Bundesrates nach Artikel 76 Abs. 2 GG soll bei Grundgesetzänderungen auf drei Monate verlängert werden, damit den Volksvertretungen der Länder ausreichend Zeit zur Beratung hierüber zur Verfügung steht. Artikel 76 Abs. 2 GG ist um folgenden Satz zu ergänzen:
„Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes beträgt die Frist drei Monate."
Es gibt ausschließliche Zuständigkeiten des Bundes und solche der Länder. Nur soweit der Bund zur Gesetzgebung zuständig ist, kann einheitliches Recht geschaffen werden. Es gibt keine staatliche Stelle, die die Zuständigkeiten des Bundes und die der Länder wahrnehmen kann. Bund und Länder müssen aber nach einheitlichen politischen Gesichtspunkten geführt werden. Dies ist die große Aufgabe der politischen Parteien im Bundesstaat. Dies ist die Aufgabe der Bundespartei-tage, für die gesamte politische Tätigkeit eine einheitliche Konzeption zu entwickeln. Das bedeutet nicht, daß Bundes-Parteizentralen die die Landesregierungen geführt werden und unsere bundesstaatliche Ordnung auf dem Umweg über die Parteien ausgehöhlt würde. Die Parteitagsbeschlüsse müssen daher grundsätzlicher Art sein und je nach ihrer Zuständigkeit den Parlamenten des Bundes und der Länder Gestaltungsspielraum geben.
Die Kommission ging bei ihren Überlegungen von der Existenz und Funktionsfähigkeit der Parteien, eine integrierende und koordinierende Aufgabe zu erfüllen, aus. Dabei war sich die Kommission bewußt, daß es im Rahmen der geltenden Verfassung konkurrierende Vorstellungen gibt, die miteinander im Wettbewerb um die Entscheidung der Wähler stehen. Dies ist gerade in einem Bundestaat, in welchem die verschiedenen politischen Parteien Regierungsverantwortung tragen, in besonderem Maße der Fall. Einer Empfehlung der Kommission für die Ausgestaltung des politischen, vorparlamentarischen Raums bedurfte es nicht.
Diese Beurteilung der politischen integrierenden Tätigkeit der Parteien war es auch, die bezüglich der von verschiedenen Seiten erhobenen Forderung nach der Errichtung eines Wirtschafts-und Sozialrates als Verfassungsorgan zu folgender Empfehlung der Kommission führte:
„Die Kommission hält es nicht für erforderlich, das bestehende Verfahren der Mitwirkung der Verbände an der Gesetzgebung zu ändern.“
Die Frage stellte sich insbesondere auch, nachdem in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und Dänemark wie auch im Bereich der Europäischen Gemeinschaft Wirt-B Schafts-und Sozialausschüsse bestehen. Die Kommission war der Auffassung, daß die in Wirtschafts-und Sozialräten vertretenen Interessenorganisationen wertvolle Hilfe bei der Beratung von Gesetzen leisten können, über die verschiedenen Interessenstandpunkte kann man aber nach Auffassung der Kommission nicht in einem Kreis von Interessen-Vertretern abstimmen. Nur politische Mandatsträger, die eine Gesamtverantwortung haben und die im Rahmen einer Gesamtkonzeption ihre Entscheidungen treffen, können aus den dargelegten Interessenlagen Schlußfolgerungen ziehen. Die Kommission ist der Auffassung, daß dies die entscheidende integrierende Aufgabe der politischen Parteien ist. Den Verbänden obliegt es, den Parteien und Parlamenten ihre Interessenlage und ihre Auffassungen darzulegen. Der Schlußbericht führt dazu aus:
„Verfassungspolitisch würde die Einführung eines Bundeswirtschaftsund Sozialrates den grundgesetzlichen Auftrag der politischen Parteien, an der politischen Willensbildung mitzuwirken (Artikel 21 Abs. 1 Satz 1 GG), tangieren. Ein Bundeswirtschafts-und Sozial-rat wäre seiner Struktur nach nicht imstande, die wirtschaftlichen und sozialen Interessen des ganzen Volkes zu vertreten. Er könnte und würde lediglich Einzelinteressen ins politische Bewußtsein rücken und ihnen zum Durchbruch zu verhelfen suchen. Die politischen Parteien leisten demgegenüber bereits heute infolge ihrer weitgehenden Wandlung zu Volksparteien die Integration von Partikularinteressen. Ihre heutige Struktur bietet die Möglichkeit, politische und soziale Forderungen von organisierten Gruppen aufzunehmen und zu integrieren, ohne dabei die Rolle eines Vollstreckers ihrer Interessen übernehmen zu müssen. Die Parteien nehmen die Aufgabe des vermittelnden Ausgleichs zwischen unterschiedlichen politischen Bestrebungen wahr, dabei sind sie in der Lage, auch Ansprüchen, deren Durchsetzung einen Schaden für das gemeinsame Wohl bedeuten würde, entgegenzutreten. Wegen ihres Ziels, breite Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen, verbietet sich bei ihnen eine einseitige Interessen-verfolgung. Ein Ausgleich unterschiedlicher Interessenstandpunkte findet bereits in ihnen selbst statt. Dieser parteiinterne Prozeß des Interessenausgleichs stellt eine wesentliche Funktion der politischen Parteien dar. Diese Funktion würde beeinträchtigt, wenn den politischen Parteien durch einen Bundeswirtschafts-und Sozialrat ein quasi-parlamentarisches Forum sozialer und wirtschaftlicher Mächte gegenüberträte, das der Auseinandersetzung partikularer Interessen dient. Gefahren für die Funktionsfähigkeit des auf politische Parteien gestützten parlamentarisch-repräsentativen Systems sind deshalb nicht von der Hand zu weisen. Es bliebe nicht aus, daß eine solche Entwicklung auch zu Lasten der von den Verbänden vertretenen Interessen ginge.“
Die Bestimmung des Artikels 24 Abs. 1 GG: „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" hat einen ganz besonderen Rang, kommt doch mit ihr ein Staats-und Verfassungsverständnis zum Ausdruck, das früher durch den Begriff der Souveränität eingeschränkt war. Dabei kann der Streit darüber, ob die Hoheitsrechte übertragen oder zur Wahrnehmung übertragen werden, dahingestellt bleiben. Diese Bestimmung machte es der Bundesrepublik möglich, eine Politik für ein werdendes Europa zu führen, und sie macht im Rahmen der Art. 235 und 236 des EWG-Vertrages auch jede weitere europäische Integrationspolitik möglich.
Die für das Jahr 1978 vorgesehene unmittelbare Wahl der Abgeordneten zum Europaparlament setzt keine Änderung unserer Verfassung voraus. Es genügt, wenn Bundestag und Bundesrat den Beschluß des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner, unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten zum Europa-Parlament durch ein Bundesgesetz ratifizieren und das erforderliche nationale Europa-Wahlgesetz beschließen.
Bei der Übertragung durch einfaches Bundesgesetz kann es sich um Hoheitsrechte handeln, die nach unserer Verfassungsordnung dem Bund oder den Ländern zustehen. Es ist richtig, daß ein solches Gesetz materiell-rechtlich eine Verfassungsänderung ist. Sicher kann der Bund aber dieses Recht nur im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG ausüben, d. h., er muß die Eigenstaatlichkeit der Länder reB spektieren, er kann sie nicht durch Übertragung von Zuständigkeiten auf die Europäische Gemeinschaft in Frage stellen.
Die Kommission war der Auffassung, daß dies durch eine Neuformulierung des Art. 24 Abs. 1 GG gesichert werden sollte in der Weise, daß „Hoheitsrechte der Länder jedoch nur durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates* übertragen werden dürfen.
Gegen eine solche Bestimmung bestehen ernste Bedenken, würde sie doch die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung unangemessen einschränken und ihr die eigenverantwortliche Verhandlungsmöglichkeit bei der europäischen Integration sehr beschneiden. Die Bundesrepublik muß außenpolitisch einheitlich auftreten können; sie muß bei Verhandlungen ein voller Verhandlungspartner sein, der nicht der Gefahr ausgesetzt ist, innenpolitisch desavouiert zu werden. Man hat Art. 24 Abs. 1 GG auch wiederholt die „Integrationskompetenz“ genannt. Sie wäre bei der vorgeschlagenen Änderung nichts mehr wert.
Art. 24 Abs. 1 GG läßt die Frage offen, in welchem Verhältnis das Recht der zwischenstaatlichen Einrichtungen und insbesondere die Rechtsakte, die von diesen Einrichtungen erlassen werden, zum innerstaatlichen Recht stehen. Von besonderer praktischer Bedeutung ist diese Frage im Hinblick auf das soge-nanntesekundäre europäische Gemeinschaftsrecht. Die Kommission war der Auffassung, daß aus Sinn und Zweck des Art. 24 Abs. 1 GG der Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts generell folgt, also sowohl gegenüber dem gesamten einfachen innerstaatlichen Gesetzesrecht wie auch gegenüber dem Verfassungsrecht Soweit auf Grund von Art. 24 Abs. 1 GG Rechtsvorschriften einer zwischenstaatlichen Einrichtung (EG) einen aufgabebedingten Aufwand verursachen, ist bislang zwischen Bund und Ländern strittig, wer die Kosten zu tragen hat. Die Kommission schlägt vor, daß — soweit Rechtsvorschriften einer zwischenstaatlichen Einrichtung Geldleistungen gewähren — die gleiche Regelung gelten muß wie bei entsprechenden Bundesgesetzen; der Bund trägt also — nach dem Vorschlag der Kommission — 80 v. H.der Lasten, es sei denn, daß das Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmt. Trägt der Bund 80 v. H.der Aufwendungen, so wird das Gesetz im Auftrage des Bundes ausgeführt. Das bedeutet, daß mit dem Übergang von Landeszuständigkeiten auf die Europäische Gemeinschaft die Durchführung der Rechtsvorschriften der Europäschen Gemeinschaft, soweit sie Geldleistungen betreffen, die Auftragsverwaltung des Bundes begründen.
„Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten" ist nach Art. 32 Abs. 1 GG „Sache des Bundes”. Im Rahmen der auswärtigen Beziehungen spielt die Kulturpolitik eine bedeutende Rolle; sie liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder. Daraus entsteht das zu lösende Problem.
a) Kann der Bund solche Verträge abschließen, die sich auf die Länderkompetenz beziehen; können auch die Länder solche Verträge mit auswärtigen Staaten abschließen? (Abschlußkompetenz) .
b) Wer ist zuständig, ein abgeschlossenes Abkommen innerhalb der Bundesrepublik durchzuführen? (Transformationskompetenz). Der Bund und die Länder konnten sich in diesen Fragen nicht auf einen Rechtsstandpunkt einigen. Am 14. November 1957 schlossen sie das „Lindauer Abkommen". Das Abkommen führte in der Praxis zu einer konkurrierenden Zuständigkeit von Bund und Ländern hinsichtlich des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge, wobei die Interessen der Länder im Fall des Vertragsabschlusses durch den Bund auf Grund bestimmter Mitwirkungsrechte gewahrt bleiben.
In der Kommission setzte sich die Auffassung durch, daß trotz des durchaus befriedigend funktionierenden Abkommens die Streitfrage im Verfassungstext selbst entschieden werden sollte, und zwar durch eine eindeutige Regelung im Sinne einer konkurrierenden Zuständigkeit von Bund und Ländern. Die Kommission schlägt daher vor, den Art. 32 wie folgt zu fassen: „(1) Die Pflege der auswärtigen Beziehungen ist Sache des Bundes.
(2) Vor dem Abschlusse eines Vertrages, der die besonderen Verhältnisse eines Landes berührt, ist das Land rechtzeitig zu hören. (3) Soweit die Länder für die Gesetzgebung zuständig sind, können auch sie mit Zustimmung der Bundesregierung völkerrechtliche Verträge abschließen. Schließt der Bund solche Verträge ab, so hat er vor dem Abschluß die Zustimmung der Länder einzuholen; dies gilt nicht, wenn nur ein für den Vertrags-zweck unwesentlicher Teil des Vertrages in die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Länder treffen die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Maßnahmen.“
Gegen diese Empfehlung bestehen Bedenken: Die Bundesregierung wird vor dem Abschluß eines Vertrages von der Zustimmung aller Länder abhängig. Das ist eine Regelung, die für einen Staatenbund, jedoch nicht für einen Bundesstaat angemessen ist; sie widerspricht dem Abs. 1 des Artikels 32 GG, wonach die Pflege der auswärtigen Beziehungen Sache des Bundes ist; wenn der Bund in der vorgeschlagenen Weise von der Zustimmung aller Länder abhängig wäre, wäre er praktisch funktionsunfähig. Der Bundesstaat hat nach außen einheitlich aufzutreten; deshalb begegnet auch die Abschlußkompetenz der Länder erheblichen Bedenken. Welches Bild bietet denn die Bundesrepublik auf internationalen kulturpolitischen Konferenzen, wenn jedes deutsche Einzelland mit einer eigenen Delegation auftritt? Um innerstaatlich eine Einbruchsmöglichkeit des Bundes in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder zu verhindern, gleichzeitig aber dem Bund die Gewähr zu geben, daß das von ihm abgeschlossene Abkommen transformiert wird, schlägt die Kommission vor, die Transformationspflicht der Länder in die Verfassung aufzunehmen. Diese Verpflichtung könnte auch aufgenommen werden, ohne den Bund von der vorherigen Zustimmung aller Länder abhängig zu machen. Die vorgeschlagene Regelung macht den Bund zum Geschäftsführer der Länder, erlaubt ihm aber keine selbständige Politik in der Pflege der auswärtigen Beziehungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik.
Friedrich Schäfer, Dr. jur., Professor, geb. 1915; von. 1966 bis 1969 Staatssekretär; von 1957 bis 1966 und seit 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages; Vorsitzender des Innenausschusses in der 6. und 7. Wahlperiode.
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