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Das Weimarer Revisionssyndrom | APuZ 2/1980 | bpb.de

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APuZ 2/1980 Artikel 1 Der Verfall politischer Vernunft in Monarchie, Republik und Diktatur. Eine geschichtspsychologische Ergänzung zur „Holocaust" -Diskussion Das Weimarer Revisionssyndrom Preußen und Preußentum

Das Weimarer Revisionssyndrom

Michael Salewski

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Geschichte der Weimarer Republik ist bis ins einzelne erforscht worden, wobei alle wichtigen Aspekte berücksichtigt wurden. Im Gegensatz aber etwa zur Geschichte des Kaiserlichen Deutschland oder der des sog. Dritten Reiches fehlt eine überzeugende Gesamt-deutung der Republik von Weimar, die oft in unangemessener Weise als eine Art historisch-politischen „missing link" zwischen Kaiserreich und Diktatur eingeordnet wird. Die Zerrissenheit der politischen Kultur Weimars und die fehlende Herausbildung individueller politischer Selbstzeugnisse scheint eine derartige Interpretation zu stützen. Es gibt jedoch mit dem Problem des „Revisionismus“ in der Tat eine Art größten gemeinsamen Nenners des politischen Selbstverständnisses der Republik; das „Revisionssyndrom" bezieht nicht nur, wie bisher meist geschehen, die Außenpolitik mit in die historische Betrachtung ein, sondern auch die Innen-, Sozial-, Geistes-und Militärpolitik. Es erweist sich, daß die scheinbare Heterogenität der politischen Wirklichkeit Weimars sich zu schlüssigen Interaktionsmustern fügt, wenn man von der These ausgeht, daß das Streben nach Revision auf einen sehr breiten politischen Konsens der deutschen Bevölkerung stieß, wobei die aktuelle politische Entwicklung immer daran gemessen wurde, was sie für diese Revision zu leisten vermochte. Da Revision aber im wesentlichen als ein Zurück in die Jahre vor 1914 begriffen wurde, ging die Republik von Weimar in den Augen nicht nur ihrer erklärten Verächter, sondern eben auch breiter Bevölkerungsschichten aus allen Lagern ihres politischen Eigenwertes verlustig, und in dem Maße, in dem es den Regierungen der Republik gelang, die Revision durchzusetzen, stellte sie sich selbst in Frage. Abschließend wird dargelegt, wie es Hitler verstand, das Vehikel des Weimarer Revisionismus zu benutzen, um seine eigentliche Zielsetzung zu verschleiern und die Deutschen auf seine Seite zu bringen. Eine umfassende Analyse des Revisionssyndroms kann zu einer einheitlichen Theorie der Geschichte Weimars beitragen.

Dem Vorsitzenden der Interalliierten Militär-kontrollkommission, General Nollet, mißfiel die Inschrift des für die gefallenen Berliner Studenten errichteten Mahnmals in der Friedrich-Wilhelms-Universität so stark, daß er es nicht unterließ, den Text dem französischen Außenministerium mitzuteilen. Es war ein schlichter lateinischer Spruch. Er lautete: " In-victis victi victuri" In der Aula der Marineschule in Mürwik hätte der General ähnlich Bedenkliches finden können: In beste deutsche Eiche geschnitzt ist hier zu Ehren der im Ersten Weltkrieg gebliebenen deutschen Seeoffiziere der Spruch verewigt: „Nicht klagen, wieder wagen, Seefahrt tut not 11. Keine Rede könne davon sein, faßte wenige Jahre später, 1927, General Walch, der Nachfolger Nollets, in seinem großen Abschlußbericht solche Symptome zusammen, daß das Deutsche Reich auch geistig abgerüstet habe; möge der Völkerbund auch die vollzogene Entwaffnung des ehemaligen Gegners akzeptieren, die kriegerisch-revanchistische Mentalität in der

Reichswehr und in den zahlreichen Wehrverbänden habe sich mitnichten geändert. In nahezu allen Kreisen der Bevölkerung sei das Streben nach Revision des Versailler Vertrages tiefer denn je verwurzelt; es sei nicht gelungen, die Entwaffnungsmaßnahmen der Sieger als Vorleistung zu einer allgemeinen Abrüstung im Bewußtsein der Deutschen zu verankern; die der Entwaffnung zugrunde liegende Idee einer friedlichen Zukunft habe in Deutschland keine Wurzeln geschlagen.

Dies war eine ziemlich exakte Umschreibung der politischen Wirklichkeit im Deutschland der späten zwanziger Jahre, aber wenige Politiker dürften geahnt haben, daß es sich damals nur um den Beginn einer politischen Denk-und Verhaltensweise handelte, die zu ungeheueren Dimensionen anschwellen sollte. Erst in den letzten Jahren der Republik, vollends dann im Staate Hitlers enthüllte sich die Brisanz der politischen Grundsatzforderung des Reiches nach totaler Revision des Versailler Vertrages.

I. Die politische Zerrissenheit Weimars

Die Erforschung der Geschichte der Weimarer Republik hat in den vergangenen zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Fortschritte gemacht. Dies geht nicht allein auf die sehr viel bessere Quellenlage zurück, beruht nicht allein auf der stetigen Publikation großer Dokumentenreihen wie den „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik" oder den „Akten der Reichskanzlei" sondern ist wesentlich Folge veränderter Fragestellungen und neuer historischer Sehweisen. Die Weimarer Republik gleichsam als „missing link" zwischen der Geschichte des kaiserlichen und des nationalsozialistischen Deutschland wurde schon immer sehr stark unter dem Gesichtspunkt von „Kontinuität oder Diskontinuität in der deutschen Geschichte", wie es Andreas Hillgruber formuliert hat, betrachtet Ursachen und Folgen der Revolution von 1918 und der Hitlerschen Machtergreifung 1933 waren die beiden großen Stützpfeiler, über die hinweg der historische Bogen bis zur Reichsgründung von 1871 einerseits, dem totalen Zusammenbruch Deutschlands 1945 andererseits geschlagen wurde. Die Geschichte Weimars erhielt auf diese Weise stark funktionalistischen Charakter,, und es gab nicht wenige Historiker, die dieser ersten deutschen Republik überhaupt einen historischen Eigenwert abstritten. Die permanente innere Zerrissenheit der Gesellschaft Weimars, der immer fehlende politische und soziale Grundkonsens, die auffallende Heterogenität der Parteien, Verbände, gesellschaftlichen Gruppen, das Unvermögen der Weimarer Regierungen, dem Radikalismus von rechts und links ausreichend zu wehren, ließ durchgehende politische, gesellschaftliche oder auch geistig-kulturelle Eigentümlichkeiten der Republik nicht oder kaum erkennen Wenn ein so zynisch-scharfsinniger Beobachter der politischen Kultur Weimars wie Carl Schmitt diesem Staatswesen verderblichen „Pluralismus" diagnostizierte, so umschrieb er damit nur das, was auch die historische Forschung lange Zeit behauptete: daß es ein wie auch immer geartetes einheitliches Bild dieser Epoche deutscher Geschichte nicht gegeben habe. Vom Blickpunkt des Wilhelminischen Konservativismus oder der nationalsozialistischen Weltanschauung her gesehen war die Vielfalt, Zersplitterung und Ohnmacht der „Weimarer Ideologie" deutlich zu erkennen. Es schien nichts zu geben, was den Menschen dieser Republik gemeinsam gewesen wäre, soweit es sich um das historisch-politische, das geistige, soziale oder ökonomische Selbstverständnis handelte.

So richtig nun aber alle diese Beobachtungen und Feststellungen auch sein mochten — es bestand eine Ausnahme, und zwar eine ganz wesentliche Ausnahme: Von 1919 bis 1933 gab es einen großen politischen Grundkonsens, der von nahezu allen Parteien — bis hin zu den radikalen —, von ausnahmslos allen Reichsregierungen und von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen wurde: daß der Versailler Vertrag als eines der „Grundgesetze" der jungen Republik bekämpft werden, daß er fallen und, wie der meistgebrauchte Ausdruck lautete, „revidiert" werden müsse. Die Forderung nach grundsätzlicher, alle Artikel des Vertrages umfassender Revision erwies sich bis zum Ende der Republik überhaupt als der dauerhafteste Kitt dieses Staatswesens. Die doppelte Verankerung des Vertrages in der Außen-und Verfassungspolitik des Reiches — der Vertrag war bekanntlich geltendes Reichsrecht, im Reichsgesetzblatt verkündet — führte dazu, daß die Forderung nach Revision nahezu alle Teilbereiche der politischen und kulturellen Wirklichkeit in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren berührte und oft wesentlich prägte.

Der Begriff „Revision" ist auf diese Weise ein hervorragendes Instrument zur Deutung der Individualität Weimars — besser: er könnte es werden, denn es gibt bislang keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, umfassende Deutung des „Revisionssyndroms", wie wir es nennen wollen allzu einseitig hat sich die bisherige Forschung mit dem Phänomen „Revision" nur unter außenpolitischen Gesichtspunkten beschäftigt Daß dies falsch ist und dem Wesen des Weimarer Revisionismus nicht gerecht wird, soll in gebotener Kürze und notwendiger Vorläufigkeit dargestellt werden. Der empirische Befund wird allerdings nur dann zu befriedigenden Ergebnissen führen können, wenn er auch von der Theorie her durchdacht wird. Dies ist das Wesen einer historischen Begriffsbestimmung, die sich als dialektische verstehen will.

II. Revision als historischer Rechtsanspruch?

Die Begriffe „Revision" und „Revisionismus" sind semantisch mehrfach besetzt; hier interessiert allein der politisch-historische Aspekt. War der sog. Revisionismus innerhalb der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg eine Abkehr von radikal-revolutionärem Gedankengut, eine Bezeichnung für gemäßigtes sozialistisches Denken, so wohnte dem Weimarer Revisionismus von Anbeginn eine Tendenz zur Radikalisierung inne; nicht die Bewahrung des bestehenden politischen Zustandes war das Entscheidende, sondern dessen fundamentale Änderung. Revision wurde nicht — wie etwa in der Buchhaltung oder in der Fertigungstechnik — als kritische Über-prüfung verstanden, die im Ergebnis das Geprüfte für durchaus gut befinden kann, sondern als prinzipielle Negation des Gegebenen, das von Anbeginn als minderwertig, verabscheuenswürdig, ja hassenswert erschien. Der innen-und außenpolitische Zustand des Deutschen Reiches, wie er aufgrund der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, oder genauer: des Friedensvertrages von Versailles einerseits, der Novemberrevolution und der Weimarer Reichsverfassung andererseits sich nach 1918 entwickelte, wurde von den Deutschen nur deswegen widerwillig toleriert, weil er untrennbar mit der Verheißung der Revision verknüpft war. Wenn Erzbergers Hand nach dem Juni 1919 ebensowenig verdorrte wie die des unglücklichen Reichskanzlers Bauer, so nur deswegen, weil allen Machtträgern der jungen Republik klar war, daß das, was sie in Versailles unterschreiben mußten, nicht auf politischer Freiwilligkeit beruhte, sondern von den Alliierten schlicht erpreßt worden ist

Niemand aber konnte verantwortliche deutsche Staatsmänner dazu zwingen, das, was sie unter Zwang äußerlich anerkannten, auch innerlich zu akzeptieren. Dies war die geistige Konstruktion, die es der deutschen Delegation in Paris erlaubte, sich nicht selbst als ehrlos zu betrachten Vor allem der Generaloberst von Seeckt hat später mehrfach darauf hingewiesen, daß die Sieger zwar die Absicht gehabt hätten, dem Deutschen Reich die „Ehre zu rauben“, daß ihnen dies jedoch nicht gelungen sei. Seeckt faßte diese Philosophie in dem bekannten Schlagwort zusammen: „Geist bleibt lebendig — bis auf den Tag"

Die Forderung nach Revision des Versailler Vertrages wurde so zueinem integrierten Teil des Vertrages selbst, und zwar gerade weil dieser Vertrag so formuliert war, als sollte er Ewigkeitswert besitzen. Je ungerechter und absurder den Deutschen die Vertragsartikel erschienen, desto stärker war die ihnen immanente Revisionsforderung; dies wird besonders deutlich beim sog. Kriegsschuldartikel (§ 231) und den sog. Kriegsverbrecherartikeln (§§ 227 -230). In beiden Fällen war der politische Imperativ zur Revision so stark, daß es den Alliierten nicht gelang, diesen Bestimmungen Geltung zu verschaffen: Der Artikel 231 wurde von der Reichsregierung und vom Reichstag feierlich als historisch ungültig zurückgewiesen; die Auslieferung der sog. Kriegsverbrecher wurde einfach verweigert — und es ist symptomatisch, ja für die spätere Entwicklung geradezu symbolhaft, daß die Sieger, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, die Erfüllung dieser Forderung nicht zu erzwingen wagten

Diese innere Verweigerung, die unausgesprochene und oft auch ausgesprochene Ablehnung nicht nur des Friedensvertrages selbst, sondern des gesamten politischen Prinzips, auf dem das Werk von Paris beruhte, wurde eine der Grundlagen der deutschen Politik. Sie war daher ebenfalls auf einem politischen Negati-vum aufgebaut, ihrem eigentlichen Wesen nach also destruktiv. Aber nur weil sie dies war, vermochten die Parteien der Weimarer Koalition zu einem temporären Konsens zusammenzufinden, der dem Staatswesen eine allerdings nur ungenügende Identität verlieh Immer dann, wenn die deutsche Außenpolitik den Anschein erweckte, „Erfüllungspolitik" zu sein, zerbrach die labile Koalition zwischen den sozialistischen und den bürgerlichen Parteien, da letztere argwöhnten, die SPD sei im Begriff, die Grundforderung nach außenpolitischer Revision zu relativieren. Infolgedessen ist es in den zwanziger und dreißiger Jahren keiner politischen Gruppierung gelungen — ja es gab sie überhaupt nicht! —, ein außenpolitisches Programm positiv auf der Grundlage des Friedensvertrages zu entwerfen, geschweige denn durchzusetzen. Dies wiederum war der tiefere Grund dafür, daß alle Vorstellungen von kollektiver Sicherheitspolitik von den Deutschen abgelehnt wurden, denn diese konnten sich auf den Vertrag, genauer: auf die dem Vertrag unglücklicherweise vorgeschaltete Völkerbundsatzung berufen

Diese Beobachtung führt zu einer weiteren Feststellung: Eine vorurteilslose Analyse des Versailler Vertrages hätte ergeben können, das viele Vertragsteile sehr viel besser waren als das negative Image des Gesamtvertrages. Dieses aber war es, das politisch relevant wurde, so daß es von Anfang an keine Chance gab, den Vertrag gleichsam „aufzuschnüren", um die „guten" Partien von den „schlechten“ zu trennen. Damit wurde die Arbeit der Pariser Friedenskonferenz pauschal abgelehnt. Gerade diese aber begriffen die Siegermächte, an ihrer Spitze Frankreich, als zukünftige politische Diskussionsgrundlage

Hier wird bereits etwas weiteres Wichtiges sichtbar: Während die deutsche Politik an den Friedensvertrag mit einer negativen Grundhaltung herantrat, begriffen ihn die Alliierten cum grano salis als positiv. Zwischen diesen beiden Polen — also „plus" und „minus“ — baute sich, gleichsam automatisch, ein politisches Spannungsfeld auf, das in diametralem Gegensatz zu den Intentionen stand, wie sie in der Völkerbundsidee niedergelegt waren.

Dieses Spannungsfeld aber war nicht statisch, sondern in höchstem Grade dynamisch, da es das Wesen des außenpolitischen Revisionismus war, auf politische Veränderung zu drängen, wodurch die Parameter laufend mitverändert wurden. Die Folge war eine permanente Unsicherheit und Destabilität der europäischen Gesamtpolitik. Die beatipossidentes — Frankreich, England, Belgien und Polen als wichtigste Nachbarn des Reiches — empfanden diesen Umstand natürlich als negativ, während Deutschland ihn positiv wertete. Nur wenn in der europäischen Politik ständige „Bewegung“ herrschte (dieser Begriff sollte im Nationalsozialismus eine charakteristische Be-deutung gewinnen), blieben für das Reich die Chancen auf Revision gewahrt. Die Unruhe Europas wurde so zu einer Option auf Revision. Es lag auf der Hand, daß es unter diesen Umständen schon vom Prinzip her nicht zu einer allseits anerkannten Sicherheitspolitik in Europa kommen konnte Alles, was in den glücklichen fünf Jahren der Republik von Persönlichkeiten wie Briand, Stresemann, Chamberlain auf diesem Felde versucht wurde, war daher auf Sand gebaut und letztlich nicht entwicklungsfähig Es fehlte eben eine nüchterne Analyse dessen, was in Deutschland unter „Revision“ verstanden wurde. Zwar gelang es beispielsweise Stresemann im Rahmen seiner Locarnopolitik, von dieser Tatsache abzulenken; Erfolg aber hatte er gerade deswegen, weil er intern keinen Zweifel daran ließ, daß auch er die alten Revisionsziele weiter verfolgte — der berühmte „Kronprinzenbrief" ist hierfür immer als schlagendster Beweis zitiert worden, und dies zu Recht

III. Revisionspolitik und historisches Selbstverständnis

Vertragsablehnung — Revisionsforderung — Dynamisierung der Politik — Destabilisierung des Systems von Paris: dies waren, schlagwortartig zusammengefaßt, die Grundprinzipien der deutschen Außenpolitik, die bis hin zu Hitler im wesentlichen unverändert blieben. Dieser eher formalen Bestimmung des Revisionssyndroms im Bereich der Außenpolitik muß nunmehr eine inhaltliche Beschreibung folgen: Was eigentlich waren die politischen Ziele der deutschen außenpolitischen Revisionsforderung? 1 Zwei Aspekte sind zu unterscheiden: Zum einen bezog sich die deutsche Revisionspolitik Artikel um Artikel unmittelbar auf den Versailler Vertrag, zum anderen auf das historische Selbstverständnis der Deutschen.

Auf die einzelnen Revisionsforderungen bezüglich des Vertragsinstrumentes braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, denn sie sind hinlänglich bekannt. Die wichtigsten Gravamina betrafen die Reparations-, Entwaffnungs-und Territorialfragen; auf die besondere Rolle des sog. Kriegsschuldartikels wurde bereits hingewiesen. Eine Erfüllung der deutschen Forderung hätte in der restlosen Beseitigung aller Reparationsforderungen, der Wiederherstellung der Wehr-und Rüstungsfreiheit und der Wiederangliederung aller Territorien, die 1914 zum kaiserlichen Deutschen Reich gehört hatten — einschließlich der Kolonien —, bestehen müssen. Postuliert man, daß all dieses von den Siegern zugestanden worden wäre, so hätte das Kriegsergebnis nachträglich in einem „Unentschieden" bestanden, die politischen Verhältnisse des Jahres 1914 wären, von der außenpolitischen Perspektive her gesehen, sozusagen wiederhergestellt worden. Diese Überlegung führt zum zweiten, wichtigeren Punkt, der mit dem Begriff des „historischen Selbstverständnisses" umschrieben werden soll

Deutsche Revisionspolitik war immer zugleich Restaurationspolitik. Es ging den Weimarer des Staatsmännern um die Wiederherstellung Deutschen Reiches in dem Rahmen, der durch das Werk Bismarcks 1871 abgesteckt worden war. Es sollte also nicht auf die Zukunft hin „revidiert" werden, sondern Bezugspunkt war die Vergangenheit, wobei das Jahr 1914 ähnli-chen Stichdatumscharakter erhielt wie nach dem Zweiten Weltkrieg das Jahr 1937 im Rahmen der deutschen Wiedervereinigungspolitik seitens der Bundesrepublik. Verglichen mit der politischen Gegenwart Weimars erschien den Deutschen die Zeit Bismarcks und Wilhelms II. als die „gute alte Zeit", zumindest, was die außenpolitische Perspektive betraf In dieser Hinsicht gab es innerhalb des politischen Parteienspektrums, vielleicht mit Ausnahme der USPD und der KPD, keine Gegensätze. Das, was das Reich bis 1914 im Konzert der Großmächte dargestellt hatte, galt nach 1919 als nahezu optimal; die starrköpfigen Vertreter einer deutschen „Weltpolitik" spielten in den frühen Jahren Weimars keine entscheidende Rolle: ein Kapp wurde der Lächerlichkeit preisgegeben, ein Tirpitz und Ludendorff spielten keine politische Rolle, obwohl sie sich bemühten, sie zu spielen Die Mehrheit der Politiker und der Bevölkerung wäre nach 1919 schon sehr zufrieden gewesen, wenn das Deutsche Reich jenen Platz hätte wiedergewinnen können, der ihm vor Kriegsausbruch eher als Platz im Dunkeln der Weltgeschichte erschienen war. Daß es bei dieser relativen Selbstbescheidung aber nicht bleiben sollte, wird noch darzulegen sein.

Revision war also ein Zurück in die Vergangenheit. War die Revision erfolgreich, so wäre diese Vergangenheit zum Prägemuster der Zukunft geworden. Die Weimarer Republik hatte demnach immer nur rückwärtsgewandte Perspektiven. Dies kam nach und nach zum Bewußtsein, und zwar in den radikalen Flügel-parteien: Weder die marxistischen noch die extrem nationalistischen Parteien, an ihrer Spitze die spätere NSDAP, konnten dieser Aussicht etwas Positives abgewinnen. Sie wollten nicht die Rückkehr in das Bismarck-reich oder das „Zweite Reich", sondern den Durchbruch — sei es zur kommunistischen Gesellschaft, sei es zu einem „Dritten Reich". Hier wird nun zum erstenmal die innere, dialektische Verbindung zwischen Außen-und Innenpolitik im Zeichen des Revisionssyndroms sichtbar. Zunächst muß aber die Frage beantwortet werden, welche Rolle das historisch-politische Selbstverständnis der Weimarer Republik in bezug auf das Revisionsphänomen spielte.

Revisionspolitik war immer Flucht aus der Gegenwart. Das Hier und Heute ging seines Eigenwertes verlustig. Nur zögernd bekannte sich selbst die Sozialdemokratie zu den Errungenschaften der Novemberrevolution, der Sozial-und Schulpolitik, vor allem der Weimarer Verfassung. Die politischen Umstände, die zur neuen Reichsverfassung geführt hatten, waren alles andere als erfreulich gewesen: schließlich waren der Sturz der Monarchie und die Demokratisierung und Parlamentarisierung des Reiches weitgehend Folgen der Niederlage, des Einspruchs der Alliierten, der Forderungen Wilsons. Die Verkoppelung des Versailler Vertrages mit der Verfassung war überhaupt der Gipfelpunkt der Schändlichkeiten.

„Weimar" als politischer Idee fehlte weitgehend die Freiwilligkeit, und so erschien die Republik als eine nur bedingte, relative. Ihr kam kein absoluter Wert zu; war sie nicht wert-los, so begriffen doch die meisten Deutschen sie als wert-frei. Sie galt als Notinstitut, der Rätedemokratie gegenüber als das geringere Übel; das politische Bewußtsein machte nicht in „Weimar" fest, sondern im Berlin des kaiserlichen Deutschland. Die Fixierung der Politik auf Revision brachte es auf diese Weise mit sich, daß man der politischen Wirklichkeit wenig achtete. Dies aber war eine der Vorbedingungen für die Erosion des Weimarer Staates. Er brachte es niemals zur Ausformung politischer Menschen Symbole die als Orientierungspunkte hätten dienen können.

Die Republik war glanzlos und unsicher, sie bekannte sich nicht etwa zur Paulskirche von 1848, sondern zu Bismarcks Reichsgründung von 1871. Sie erstarrte in innenpolitischer Bescheidenheit und überließ das Feld allzu willig allen möglichen Ersatzkaisern und Ideologien. Auch das Revisionssyndrom war Ideologie und keineswegs nüchterne „Realpolitik". Gerade dies machte einen Teil seiner Brisanz und Gefährlichkeit aus. Revision auf 1914 bedeutete rückwärtsgerichtete Utopie, die Beschwö-rung eines in die Geschichte versunkenen Bildes. Das machte die kühle Berechnung der deutschen Außenpolitik für die Partner des Reiches so überaus schwierig. Deutscher Revisionspolitik haftete etwas Haltloses an, so daß sich England, Frankreich und Italien immer wieder bemühten, mit Hilfe von Kollektivpaktsystemen in diese Politik Stützen und Auffangpositionen einzuziehen. Dies wird schon 1922 erkennbar, im Zusammenhang mit der Konferenz von Genua, wobei der Vollständigkeit halber auch auf das sowjetische Sicherheitsprojekt dieses Jahres hinzuweisen ist; es wird besonders deutlich 1924, als es zum Genfer Protokoll kommt, und scheint in den Locarnoverträgen erstmals konkretisiert zu werden

Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Die deutsche Revisionspolitik gewann ihre Stoßkraft wesentlich aus der Überzeugung fast aller Deutscher, daß sie moralisch-sittlich gerechtfertigt und nicht bloßer Ausdruck einer gültigen Staatsräson war. Man fühlte sich durch den Versailler Vertrag zu Unrecht „bestraft". Der Strafcharakter wurde nicht nur in den vielen kleinen Schikanen deutlich, die in den Vertrag tatsächlich eingebaut worden waren, sondern vor allem im „Kriegsschuldartikel", der ja von seiner ursprünglichen Intention her nur ein „Kriegsschuldenartikel" war — das formal logische Ergebnis amerikanischen Nachdenkens darüber, auf Grund welchen Rechtstitels man von den Deutschen die Bezahlung von Reparation verlangen konnte. Aber dieser finanziell-zivilrechtliche Aspekt wurde in Deutschland nicht rezipiert, ja bewußt unterdrückt. Der Artikel 231 wurde vielmehr als moralischer Pranger gewertet, an den die brutalen Sieger das unschuldige Opfer zu ketten gedachten. Die vehemente und durchgängige Ablehnung eines wie auch immer gearteten oder formulierten Schuld-und Unrechtbewußtseins führte notwendig zu einer Tabuisierung der eigenen politischen Vergangenheit. Kritik an der Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland war nur bis zu der Grenze erlaubt, die durch den Kriegsschuldartikel bezeichnet wurde Folgerichtig verschwand das Kantorowiczsche Gutachten zur Kriegsschuldfrage in der Versenkung Diese Idealisierung der deutschen Vergangenheit, gepaart mit den fatalen Konsequenzen der Dolchstoßlegende, trug nun aber ebenfalls dazu bei, daß die politische Gegenwart, das bestehende politische System unterbewertet wurden, während die verbliebenen Relikte des Kaiserreiches eine unverdiente Wertschätzung erfuhren — dergestalt das ohnehin brüchige Selbstbewußtsein Weimars weiter aushöhlend. Die Erhebung Hindenburgs zum Reichspräsidenten der Republik macht dies symbolhaft deutlich Der moralische Aspekt der Revisionspolitik machte eine kritische Auseinandersetzung mit der Revisionspolitik selbst nahezu unmöglich. So konnte sie zu einer Art Fetisch werden, dem jeder Kanzler seine Reverenz erwei-sen mußte, wenn er Wert auf Gefolgschaftstreue legte. Wer dies nicht in ausreichendem Maße tat, konnte im Reichstag nicht mit Zustimmung oder auch nur Tolerierung rechnen; wieder war es Stresemann, der wie kein anderer Politiker in der Weimarer Zeit sich an die möglichen Grenzen herantastete, ohne sie doch jemals zu überschreiten Persönlichkeiten wie Brüning, Schleicher und Papen haben sich später dann gar keine Mühe mehr gegeben, die deutschen Revisionsforderungen wenigstens zu relativieren und nach Maßgabe des politisch Durchsetzbaren zu modifizieren. Der Gipfelpunkt wurde auch hier allerdings erst durch Hitler erreicht.

Aus allen diesen Überlegungen wird deutlich, daß es nicht angängig ist, das Revisionsphänomen allein unter außen-und sicherheitspolitischen Aspekten zu betrachten. Es handelte sich tatsächlich um eine Art Syndrom, das im einzelnen zu analysieren die Einbeziehung der Innen-, Verfassungsund Geistesgeschichte erfordert. Aber auch die Wirtschafts-und Sozialgeschichte, vor allem die Militärgeschichte liefern wichtige Aufschlüsse. Wir wenden uns daher nunmehr der innenpolitischen Revisionspolitik zu.

IV. Revision nach Innen

Revision bedeutete seit 1919 immer auch Revision der inneren Verfassung Deutschlands. Die Forderung nach außenpolitischer Revision hing ganz eng mit der Forderung nach innenpolitischer Systemveränderung zusammen, ja, das eine ist ohne das andere gar nicht denkbar. Hieraus ergab sich jenes Grundsatzdilemma der Republik von Weimar, das sich als unlösbar herausstellen sollte. Ihrem politischen Selbstverständnis nach mußte die deutsche Republik danach streben, ihre Existenzberechtigung durch Vertretung und Durchsetzung der Revisionsforderungen nachzuweisen; geB lang ihr dies aber, so hob sich das System Weimars auf: Es wurde in eine Zukunft transportiert, deren Lebenskraft aus der Vergangenheit stammte; die Republik überwand sich selbst. Wieder war es Carl Schmitt, der am schärfsten und konsequentesten diesen dialektischen Zusammenhang erkannte und sich bemühte, mit der Theorie von den „zwei Verfassungen" eine Vermittlung anzubieten, deren Fragwürdigkeit sich zuerst in der kommis-sarischen Verwaltung Preußens 1932, wenig später im gesamten Reich erweisen sollte Dieser Prozeß bedarf, wenn er historisch begriffen und richtig interpretiert werden will, sorgfältiger, differenzierender Betrachtung. Denn es war nicht so, daß die Träger der Staats-und Verfassungsidee Weimars die außenpolitische Revision auf 1914 einfach mit einer innen-und verfassungspolitischen Revision verknüpfen wollten — zumindest nicht unmittelbar und in kurzfristiger Perspektive. Aber es war doch charakteristisch, daß sowohl Friedrich Ebert als auch Stresemann, Brüning und Papen in der Wiederherstellung der Monarchie ein nicht nur legitimes, sondern auch realistisches Fernziel sahen -Wenn aber die bekanntesten Exponenten Weimars die republikanische Grundidee Weimars derart intellektuell verrieten, dann nimmt es nicht Wunder, daß auch die Masse der politische Verantwortung Tragenden keine Stütze der Weimarer Staats-und Verfassungsidee war. Das Schlagwort von den „Vernunftrepublikanern" implizierte ja den Gedanken, daß man mit der Republik eben auch „unvernünftig" oder emotional, d. h. ideologisch geprägt umgehen konnte. Da man in der Republik und ihrer Verfassung keinen absoluten Wert sah, der um seiner selbst willen verteidigt werden müßte, stand die Verfassung des Staates prinzipiell immer zur Diskussion.

Tatsächlich wurde sie diskutiert, und der Antrieb, dies zu tun, wurde durch das Revisionismussyndrom geliefert. Die innen-und sozialpolitischen Konfrontationen Weimars nämlich standen in einem auffallenden Gegensatz zu dem politischen Grundkonsens nach Revision. Die Revision durchsetzen bedeutete allemal, zunächst eine einheitliche, d. h. politisch schlagkräftige Gesellschaft zu formen. In dem Begriff der „Volksgemeinschaft", der später von den Nationalsozialisten okkupiert und pervertiert wurde, verbarg sich der Wunsch danach. Die ideale „Volksgemeinschaft" aber erforderte ein ihr angemessenes Führersystem, eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft, eine weitgehende Gleichschaltung des politischen Willens und Wollens. Aber eben hieran mangelte es dem Weimarer Staat in eklatanter Weise: Abfällig wurde über das Parlament als „Schwatzbude" gelästert; noch schlechter, als sie ohnehin schon waren, die Parteien gemacht, die prinzipiell nicht miteinander diskutierten, sondern „zankten"; auf völlige Ablehnung stießen alle gesellschaftlichen Gruppierungen, denen Demokratie und Parlamentarismus mehr waren als bloße Vehikel zur Wiedergewinnung von Freiheit, Gleichberechtigung, Souveränität — kurzum der erhofften Folgen einer erfolgreichen Revisionspolitik. Nur ein einheitlicher Volkswille — hierin waren sich die meisten Politiker der Weimarer Regierungen durchaus einig — konnte der deutschen Revisionspolitik den benötigten innenpolitischen Rückhalt liefern; diese Gleichrichtung der Politik aber erschütterte automatisch die Verfassungsidee Weimars. Aus diesem Teufelskreis konnte nur ausbrechen, wer eine innen-und verfassungspolitische Veränderung auf Kosten der Demokratie bewußt akzeptierte, so wie dies am eindrucksvollsten bei Brüning zu beobachten ist.

Warum aber, so ist zu fragen, erschien es als unmöglich, außenpolitischen Revisionismus zu forcieren, ohne die Fundamente der Weimarer Republik aufs gefährlichste zu erschüttern? Warum hatte die Republik, wie es nun scheinen mag, überhaupt keine Überlebenschance? Die Antwort ergibt sich aus einer Analyse der gesellschaftlichen Strukturen im Deutschen Reich. Diese nämlich hatten sich seit den Tagen Kaiser Wilhelms II. viel weniger gewandelt, als dies den Trägern der Republik bewußt wurde. Das Schlagwort von der „Republik ohne Republikaner" oder der Slogan von der „verratenen Republik umschrieben die einfache Tatsache, daß die Masse der Bevölkerung trotz der Revolution von 1918/19 — ja, man könnte pointiert und nur wenig übertreibend sagen, gerade wegen der Pseudo-Revolution von 1918 —, noch ganz in den Denkhorizonten des Bismarckreiches lebten und in ihrem politischen Selbstverständnis der Forderung auf außenpolitische Revision gleichsam automatisch diejenige nach innenpolitischer Revision der herrschenden Zustände zugesellten. Dabei wäre es notwendig gewesen, der Weimarer Gesellschaft klarzumachen — so wie dies beispielsweise nach 1870 der Dritten französischen Republik hervorragend gelungen war —, daß Regierung und Parteien samt ihren Exekutivorganen sehr wohl zur gleichen Zeit eine starke — wenn es sein mußte, sogar aggressive — Revisionspolitik führen konnten, ohne sich von der republikanisch-parlamentarischen Verfassung und Innenpolitik zu di-stanzieren. Aber eben an dieser Differenzierung mangelte es vollkommen. Es mangelte den Staatsmännern Weimars jegliches demokratisch-republikanisches Selbstbewußtsein — ob in der Flaggenfrage oder in den hahnebüchenen Diskussionen um die Fürstenabfindung; ob in der Stellung und Funktion der Reichswehr oder gar der Reichspräsidentenwahlen: überall stand der faule Kompromiß den Ergebnissen an der Stirn geschrieben; so wie Tannenberg, Skagerrak, Hindenburg und Potsdam als positiv empfundene historisch-politische Symbole in die Tristesse Weimars hineinragten, so wurde das miserable Image der Republik durch Namen wie Erzberger und Rathenau, Quidde und Tucholsky symbolisiert. Die geistigen Folgen hat niemand eindrucksvoller beschrieben als Ernst von Salomon in seinem Buch „Der Fragebogen". Weit entfernt davon, den 9. November 1918 zu einem Feiertag der Republik zu machen, überließ man dieses symbolträchtige Datum den Nationalsozialisten, die mit großem Geschick dafür sorgten, daß dieser Tag mit dem Schimpfwort „Novemberverbrecher" identifiziert wurde. Ganz folgerichtig wählte sich Hitler dieses Datum aus, um 1923 den Putsch zu wagen und 1938 die Juden in der „Reichskristallnacht" als vogelfrei zu erklären.

Man wird dieses Verhalten der politischen Führungsschicht, insoweit sie dem demokratischen Parteienspektrum angehörte, nicht anders als mit politischem Versagen charakterisieren können. Tatsächlich ist vielen Politikern dies nach und nach auch bewußt geworden. In den ersten turbulenten Jahren der Republik, als diese sich in pausenloser Rundum-verteidigung befand, brannte dieses Problem weniger auf den Nägeln. In den Jahren 1924 bis 1929 half eine trügerische Phase der innenpolitischen Konsolidierung, dieses Problem in den Hintergrund zu schieben. Als es zusammen mit der Weltwirtschaftskrise erneut scharf ins Bewußtsein der demokratischen Politiker geriet, suchten sie Abhilfe; aber was sie schließlich zuwege brachten, wird man nur, Hegel ironisierend, als „List der Unvernunft" bezeichnen können. Damit kommen wir zu einer letzten Betrachtungsebene.

V. Revisionismus und Militanz

Wir sahen, daß Revisionismus und innenpolitisches System Weimars als Disharmonie empfunden wurden, und da das erste positiv, das zweite negativ bewertet wurde, war es nur natürlich, daß die erforderliche Synchronisierung nicht auf Kosten der revisionistischen Maximalforderungen, sondern immer nur auf Kosten der Weimarer innenpolitischen Verfassung gehen konnte. Das — wie man es nennen könnte — „Synchrongetriebe" sollte die deutsche Sicherheitsund Militärpolitik werden. Die Genesis, die schließlich zu der Entscheidung zur Militarisierung der Republik im Dienste des Revisionismus führen sollte, läßt sich bis in die Geburtsstunde der Weimarer Republik zurückverfolgen. Das bekannte „Bündnis" zwischen Ebert und Groener war ja nichts anderes als ein Handels-und Tauschgeschäft: Die vorhandene, durch und durch dem alten System verpflichtete bewaffnete Macht stellte sich in den Dienst der neu geschaffenen Republik, weil diese sich verpflichtete, sowohl die Revolution als auch die Waffenstillstands-forderungen zu bekämpfen; wobei die Soldaten für die erste Aufgabe, die politischen Freunde Eberts für die letztere Aufgabe einstehen sollten. Tatsächlich hat sich die deutsche Paris dieses Friedensdelegation in Auftrages achtbar entledigt; niemals wurden die Zumutungen der Sieger vehementer abgelehnt als unter der politischen Federführung von Erzberger, Brockdorff-Rantzau und dem Rat der Volksbeauftragten. 1919, beim Januar-aufstand, 1920 im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, 1923, als Hitler den Umsturz versuchte und auch in Thüringen und Sachsen der militante Extremismus das Haupt erhob, war es erneut die Reichswehr, die für Ruhe und Ordnung sorgte, wobei man nicht zimperlich in der Wahl der Mittel war Aber die Soldaten der deutschen Armee taten dies nicht alles freiwillig und politisch gratis: Die politische Führung wurde vielmehr immer wieder auf die Durchsetzung der Revisionsforderungen verpflichtet, wobei die Entwaff-nungs-und Abrüstungsfrage hier naturgemäß eine besonders wichtige Rolle spielte

Eine Analyse der deutschen Außenpolitik im Gefolge der innenpolitischen Krisen, zu deren Bewältigung das militärische Instrument eingesetzt werden mußte, läßt den Zusammenhang zwischen forcierter Revisions-Außenpolitik und innenpolitischer Kraftproben deutlich erkennen. Es bildete sich nach und nach eine Art Mechanismus heraus: Die Reichs-wehr tolerierte und unterstützte die Regierungen der Republik nach Maßgabe deren Bereitschaft, Revisionspolitik nach außen und autoritäre Politik nach innen zu betreiben. Hinter diesem Zusammenwirken gab es eine weitere Überlegung, die für das Schicksal Weimars wichtig wurde: Wenn die Annahme zutraf, daß erfolgreiche Revisionspolitik letztlich nur dann getrieben werden konnte, wenn hinter dem Recht — das man zu haben glaubte — auch die Macht, die militärische Macht, stand, wie es Stresemann einmal forderte, so mußte es darauf ankommen, diese Macht zu schaffen, selbst wenn der Versailler Vertrag dies ausdrücklich zu verhindern suchte. Machtanhäufung konnte nun aber nicht durch heimliche Aufrüstung — die nur sehr begrenzt möglich und politisch wenig wirkungsvoll gewesen wäre — erzielt werden, sondern eher durch Schaffung der Voraussetzungen für eine Machtvergrößerung. Im Jargon der Zeit hieß dies: das in Deutschland vorhandene „potentiel de paix" war so weit wie nur möglich als „potentiel de guerre" auszulegen. Das Verfahren hierzu bestand in einer bewußten und systematisch durchgeführten Militarisierung von Staat und Gesellschaft; das erste Ergebnis sollte eine Bereitschaft zur Militanz sein, auf deren Grundlage nach Wegfall der Versailler Bindungen die Wiedergewinnung der realen Macht als revisionistisches Druckmittel erfolgen sollte Die Forschung ist erst verhältnismäßig spät auf diesen Zusammenhang aufmerksam geworden; inzwischen jedoch sind die damals angewandten, teilweise recht subtilen Mechanismen bekannt, mit deren Hilfe die Republik zurück in einen, wenn zunächst auch nur „potentiellen", Machtstaat traditioneller Bismarckscher und Wilhelminischer Prägung verwandelt wurde

Diese Umformung des Staatswesens war Konsequenz des revisionistischen Imperativs. Sie bezog sich in den Anfängen noch nicht konkret auf die Verfassung der Republik selbst, zog diese von einem bestimmten Zeitpunkt an jedoch unvermeidlich mit in den Wandlungsprozeß ein. Die Attraktion, die einer autoritä-ren Staatsauffassung in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren anhaftete — und dies keineswegs allein in Deutschland —, ging auf die Überzeugung zurück, daß Machtpolitik eben sehr viel besser und durchschlagender von einem autoritären Regime getrieben werden konnte als von Regierungen, die dauernd zwischen den Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen kompromißlerisch hindurchsteuern mußten.

Auf diese Weise wurde die Forderung nach Revision zum Katalysator der inneren Verfassungsänderung; Reichswehr und Reichsregierung fanden auf der Ebene der Machtpolitik seit 1927 mehr und mehr zusammen; beide gemeinsam hinderten nicht nur nicht die sich ausbreitenden Tendenzen zur Militanz in der Gesellschaft, sondern hielten sie für durchaus nützlich. Fatal war nur, daß sich die Politiker der Weimarer Republik mehr und mehr einer weitergefächerten Optionsmöglichkeit begaben: Hatten Kanzler wie Bauer, Wirth und Stresemann ihre revisionistische Konzeption auch noch mit Hilfe all jener Instrumentarien fördern können, die nicht mit dem Makel der Militanz, der Machtdrohung verknüpft waren, so setzten sich Brüning, Papen und Schleicher, zu schweigen von Hitler, darüber hinweg. Sie schufen bei ihren Verhandlungspartnern eine latente Angststimmung; sie handhabten die deutsche „Unberechenbarkeit" souverän zu deutschen Gunsten; es gelang ihnen schließlich, Engländer und Franzosen auf einen Appeasementkurs zu nötigen, dem jene dann nicht mehr oder doch viel zu spät entrinnen konnten

Revision wurde am Ende der Republik keineswegs allein mehr als „Wiederherstellung", als bloße „Wiedergutmachung" begriffen, sondern der Begriff veränderte sich im Sinne eines — wie man ihn genannt hat — „Superrevisionismus". Auf die damit einhergehenden qualitativen Veränderungen der deutschen Revisionspolitik nach außen und nach innen muß gleich zurückgekommen werden; zunächst aber ist mit Nachdruck festzustellen, daß es gerade die Militarisierung von Staat und Gesellschaft gewesen ist, die die deutsche revisionistische Außenpolitik mit der inneren und der Verfassungsentwicklung kombinierte. Der Revisionismus erwies sich als größter gemeinsamer Nenner der deutschen Außen-und Innenpolitik. Diese Deutung des Revisionismus führt zu einer einheitlichen und einsichtigen Interpretation der deutschen Außen-und Innenpolitik. Die historische Bedeutung der deutschen Militär-und Sicherheitspolitik in der Weimarer Zeit liegt in ihrer katalysatorischen, synchronisierenden Funktion. Man erkennt, warum das Deutschland Weimars sich nach und nach in ein Deutschland Potsdams verwandelte, und es wird begreiflich, warum eine demokratisch-republikanische Verfassung und Gesellschaft sich in eine autoritätsgläubige und autoritätsbewußte, militanten politischen Prinzipien huldigende „Volksgemeinschaft" verwandelte. Es stellt sich nun freilich die Frage, ob der Revisionismus im Sinne eines Revisionssyndroms alle Lebens-und Wirkungsbereiche Weimars ergriffen und umgeformt hat. Dies ist sicherlich nicht der Fall. Die Sozialpolitik und große Partien der Kultur-und Wirtschaftspolitik blieben vom Bazillus des Revisionismus weitgehend verschont. Gerade im wirtschaftlichen Bereich läßt sich — entgegen Behauptungen marxistischer Analysen — ein deutliches Zögern der Konzerne beobachten, die Konsequenzen eines militanten Revisionismus nachzuvollziehen. Eine friedliche Entwicklung im Sinne kollektiver Zusammenarbeit auf den Feldern der Außenwirtschaft und des Handels — also die Vision von Genua, die Rathenau 1922 entworfen hatte — erschien •den kapitalistischen Wirtschaftsinteressen viel nützlicher als die mit unkalkulierbaren politischen Risiken verknüpfte aggressive Revision Erst in der nationalsozialistischen Ära gelang es, die Wirtschaft den Revisionszielen dienstbar zu machen; aber auch dann gab es noch große Schwierigkeiten, welche die NS-Funktionäre bekanntlich laut beklagt haben. Auch im Bereich der Sozialpolitik stieß der Revisionismus auf Skepsis. Zwar ging die miserable wirtschaftliche Lage in und nach der Inflation, sodann im Zeichen der Weltwirtschaftskrise im Selbstverständnis der Arbeiter, Angestellten, Beamten und Freiberufler zu einem großen Prozentsatz auf die „Tributzahlungen" der Reparationspolitik zurück, und die Forderung nach Einstellung der Wiedergutmachungszahlungen gehörte zu den ältesten und am heftigsten vorgetragnen Revisionswünschen; aber es bestand nur geringe Bereitschaft, diesen Forderungen dadurch Nachdruck zu verleihen, daß man den Gürtel enger schnallte, um dem Staat die Möglichkeit zu geben, die geplante Militarisierung finanziell abzustützen. Die Konsequenz hieraus war Hitlers Programm von „Kanonen und Butter". Brünings Austerity-Vo\iM\. war kein geeignetes Vehikel zur Beförderung der deutschen Machtinteressen.

Inwieweit das Revisionssyndrom den breiten Sektor der Kulturpolitik beeinflußt hat, ist schwer zu entscheiden. Das Beste, was Weimar zur deutschen Kultur beigetragen hat, war nicht revisionistisch gefärbt, eher im Gegenteil. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß von den Geschichtslehrplänen in den Schulen bis zu den Kollegs in den Univer-sitäten massive Revisionsideologie verbreitet wurde Die Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges in Form zahlreicher Romane, Filme, Theaterstücke — man denke nur an Ernst Jünger — war in hohem Maße revisionistisch, und gerade auf diesem Feld ließ sich die gegenwärtige Militanz als Instrument der Revisionspolitik zwanglos mit der Idealisierung des Krieges verknüpfen. Das Konzept der „friedlichen Revision", wie es zu Beginn der Weimarer Republik wenigstens nach außen hin von den deutschen Reichsregierungen propagiert worden war, wurde durch eine Geisteshaltung abgelöst, die in der Anwendung von Gewalt im äußersten Notfall nichts Verabscheuenswürdiges mehr erblickte. Der Erste Weltkrieg wurde zum Beispiel eines solchen „heroischen Schicksalskampfes“ stilisiert — die Folgen ergaben sich im Zweiten Weltkrieg.

VI. Revisionismus und Nationalsozialismus

Eingangs wurde behauptet, daß die Forderung nach Revision der einzige erkennbare Grund-konsens in der zerrissenen politischen Landschaft Weimars gewesen sei. Diese Eigenschaft machte das Revisionssyndrom schon für die Weimarer Reichsregierungen attraktiv,'aber erst Hitler verstand es, den Revisionismus völlig in den Dienst seiner Ideologie und Herrschaft zu stellen. Nirgendwo sonst hat sich Hitler gelehriger erwiesen. Indem er die Politiker Weimars mangelnder Revisionsfreudigkeit bezichtigte — was in Wirklichkeit ja keineswegs der Wahrheit entsprach —, bot er sich selber als neue und große Revisionshoffnung an. In den ersten Jahren des Nationalsozialismus wurde Hitlers Außen-und Innenpolitik als konsequente Fortsetzung des Weimarer Revisionismus unter verstärkter Einbeziehung des Macht-und Gewaltgedankens, wie er ja bereits in den endzwanziger Jahren entwickelt worden war, begriffen Die Kontinuität der deutschen Politik schien durch Hitler hervorragend gewahrt zu werden; der Umsturz der Verfassung erschien ebenfalls nur als logische Folge der Weimarer Entwicklungen. Das seit 1919 in Deutschland gepflegte Denken in den Kategorien von Veränderung und Revision machte Hitler die Verschleierung seiner wahren Ziele nur allzu leicht. Denn in Wirklichkeit interessierte Hitler die „klassische" deutsche Revisionspolitik nicht im mindesten. Ihm hat niemals eine Revision auf 1914, eine Restaurierung der Monarchie, die Wiederaufrichtung eines europäischen Staatensystems im Sinne der Gleichgewichtstheorien des 19. Jahrhunderts vorgeschwebt. Das alles war für ihn totes, rückwärtsgewandtes Denken. Seine Programme — dies braucht im Rahmen unseres Themas nicht ausgeführt zu werden — sahen qualitativ ganz anders aus; nicht Revisionsideologie, sondern Rassenideologie war der Motor seines Handelns Aber das Revisionssyndrom eignete sich lange Jahre — bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges — als Instrument der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung Nachdem dem Diktator die Revision noch in Friedenszeiten weitgehend gelungen war, hörte er keineswegs mit der Revisionspropaganda auf, sondern steigerte diese zu einer Art „Überrevisionismus". Auch dieser funktionierte wie der Weimarer Revisionismus: nämlich als Gewalt-drohung nach außen und Diktatur nach innen. Nur war es jetzt nicht mehr die Reichswehr, die Träger dieser Revisionsfunktion war, sondern die SS; und es war nur konsequent, daß Hitlers Elitetruppe nach und nach eine völlige Neuformung des Staatsgebildes anstrebte. Wie aus der Revision die Über-Revision wurde, so wurde aus dem autoritären Regime ein totalitäres.

Die Forderung nach Revision war in den Jahren der Weimarer Republik der „ruhende Pol" in der politischen Erscheinungen Flucht. Indem sie dies war, dynamisierte und destabilisierte sie das europäische wie das Weltgleichgewicht — eben dies war ihre raison d'etre . Der angestrebten grundsätzlichen außenpolitischen Veränderung im Sinne einer möglichst vollständigen Restauration jener Verhältnisse, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg bestanden hatte, entsprach eine Veränderung des innen-und verfassungspolitischen Systems Weimars. All dieses war rückwärtsgewandt, ohne neue Zukunftsperspektive und vielleicht letztlich gerade deswegen so verhängnisvoll. Das Revi-siqnssyndrom war die Krankheit der Weimarer politischen Kultur, und sie war ansteckend, ihre Umwelt vergiftend.

Es ist nicht Aufgabe des Historikers, einem Richter gleich über Schuld und Unschuld zu urteilen; es kommt vielmehr darauf an, dieses Revisionssyndrom in seinen vielfältigen Aspekten und nur dialektisch zu deutenden inneren Verknüpfungen zu begreifen/Erst wenn die Mechanismen des Revisionismus einsichtig werden, lassen sie sich allgemein-gültig zu einer Theorie formulieren; aber diese ist notwendig, denn politisches Revisionsstreben ist mitnichten ein längst vergangenes historisches Problem, sondern es gehört in vielen Staaten auch heute noch zu den mächtigen Antrieben politischen Willens, Wollens und Handelns.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. M. Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland 1919— 1927, München 1966, S. 378. „Invictis victi victuri" — die Inschrift — ist schwer übersetzbar, da mehrdeutig. Vielleicht: Die Besiegten, die siegen werden, den Unbesiegten.

  2. Journal Officiel, vol. VIII, C. 371, 1927 IX v. 27. 7. 1927, Socit des Nations.

  3. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918 bis 1945, Serie B: 1925— 1933, Göttingen 1966— 1978. — Immer noch klafft eine Lücke; von der Serie A (1918— 1924) ist noch nichts erschienen. Zum Gesamtwerk vgl. Th. Schieder, Das Dokumentenwerk zur deutschen auswärtigen Politik 1918— 1945, in: Historische Zeitschrift 218, 1974, S. 85— 95. Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik. Herausgegeben für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von K. -D. Erdmann, für das Bundesarchiv von W. Mommsen unter Mitwirkung von Walter Vogel, Boppard 1968 ff.

  4. A Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1971.

  5. Die kulturelle „Einheit" der Weimarer Republik betonen W. Laqueur, Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt/M 1976; P. Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918— 1933, Frankfurt/M 1970. Der Begriff der „politischen Kultur" ist bisher nicht zusammenhängend untersucht worden; wichtige Ansätze bei H. J. Schoeps (Hg.), Zeitgeist im Wandel: Der Zeitgeist der Weimarer Republik, Göttingen 1968, und A, Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918— 1932, Darmstadt 19722.

  6. RGB 1. 1919, Nr. 140 vom 16. 7. 1919.

  7. „Syndrom", aus dem Griechischen syndromos: „zusammenlaufend“, in der Medizin als „Symptomen-komplex" bezeichnet, eine Mehrzahl einzelner Krankheitssymptome, die zusammen sowie in ihrem Mit-und Gegeneinander diagnostiziert werden müssen, um eine zutreffende Gesamtdiagnose des Krankheitsbildes zu gewinnen.

  8. Der Begriff „Revisionismus" findet sich zwar in zahlreichen Arbeiten, aber er wird zumeist unreflektiert verwendet, so z. B. bei K. Megerle, Deutsche Außenpolitik 1925. Ansatz zu aktivem Revisionismus, Frankfurt/M. 1974; ders., Danzig, Korridor und Oberschlesien. Zur deutschen Revisionspolitik gegenüber Polen in der Locarnodiplomatie, in: Jahrbuch zur Geschichte Mittel-und Ostdeutschlands 25, 1976, S. 145— 178; N. Krekeler, Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheiten in Polen, Stuttgart 1973; P. Alter, Rapallo, Gleichgewichtspolitik und Revisionismus, in: Neue Politische Literatur 19, 1974, -S. 509— 517; G. Wollstein, Vom Weimarer Revisionismus zu Hitler: Das Deutsche Reich und die Großmächte in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, Bonn 1973. Der Begriff wird ausschließlich für die Außenpolitik verwendet; auch der Titel bei Wollstein täuscht: Es handelt sich um eine der üblichen diplomatiegeschichtlichen Studien.

  9. Das geht aus dem Dokumentenmaterial im Umkreis der Debatte um Annahme oder Ablehnung des Vertrages eindeutig hervor; so hieß es beispielsweise in der deutschen Note zur bedingungslosen Unterzeichnung des Friedensvertrages vom 23. Juni 1919: „Durch einen Gewaltakt wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt", in: Ursachen und Folgen III, Berlin 1958, S. 388.

  10. So Seeckt in seiner Verfügung vom Juli 1919 (Ursachen und Folgen III, S. 534); Vgl. auch Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Scheidemann 13. Februar— 20. Juni 1919, bearbeitet von H. Schulze, Boppard 1971, S. 475. Zum Gesamtzusammenhang: K. Schwabe, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19, Düsseldorf 1971.

  11. Nachlaß Seeckt, BA-MA Freiburg i. Br„ St. 111. Vgl. auch Ursachen und Folgen III, S. 536.

  12. Zu diesem Themenkomplex ist in Vorbereitung eine Kieler Dissertation von Schwengler.

  13. G. Arns, Regierungsbildung und Koalitionspolitik in der Weimarer Republik 1919— 1924, Clausthal-Zellerfeld 1971; M. Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924— 1928, Düsseldorf 1967.

  14. Es wäre noch genauer zu untersuchen, inwieweit die formale Koppelung von Völkerbund-Satzung und Versailler Vertrag zur Ablehnung der Völkerbundsidee in Deutschland beigetragen hat. Neben dem Standardwerk von F. P. Walters, A History of the League of Nations, London, New York, Toronto 1960, siehe auch Ch. M. Kimmich, Germany and the League of Nations, Chicago 1976, und M. Lee, Fai-Iure in Geneva. The German Foreign Miristry and the League of Nations 1926— 1933, Ann Arbor 1977. Sehr nützlicher Überblick bei A. Pfeil, Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner Geschichte (= Erträge der Forschung Bd. 58), Darmstadt 1976.

  15. Dies wurde programmatisch schon unmittelbar nach Abschluß des Vertrages sichtbar in dem viel-gelesenen und vieldiskutierten Werk von Jacques Bainville, Les consquences politiques de la paix, Paris 1920. Eine hervorragende Studie zu diesem Komplex liegt vor mit P. Miquel, La paix de Versailles et l’opinion publique francaise, Paris 1972; ders., Versailles im politischen Meinungsbild Frankreichs, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 20/1972, S. 1 — 15.

  16. Vgl. zum Problem der „Sicherheitspolitik''M. Salewski, Zur deutschen Sicherheitspolitik in der Spätphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1974, S. 121 — 147. Durchaus diskutierenswert: W. Ruge und W. Schumann, Die Reaktion des deutschen Imperialismus auf Briands Paneuropaplan 1930, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, S. 40— 70. Zum Gesamtkomplex am besten: J. Jacobson, Locarno Diplomacy. Germany and the West 1925— 1929, Princeton 1972, und als Pendant hierzu: M. Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, Bremen 1971.

  17. In diesem„Zusammenhang fällt der jeweilige „Bedingungscharakter" aller Vereinbarungen auf und die durchgängige Tendenz, die Grundfragen der deutschen Revisionspolitik „offen" zu halten — so bei Locarno die Ostgrenzenfrage, in Thoiry das Rheinland-und Entwaffnungsproblem, beim Völkerbundbeitritt die Durchmarsch-und Beistandsklauseln, bei der Abrüstungskonferenz und ihrer Vorbereitung seit 1926/27 das Gleichberechtigungsphänomen.

  18. Vgl. Megerle, Deutsche Außenpolitik, a. a. O.; W. Ruge, Die Außenpolitik der Weimarer Republik und das Problem der europäischen Sicherheit 1925 bis 1932, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 22, 1974, S. 273— 290. — Kronprinzenbrief = Schreiben Stresemanns an den Kronprinzen Wilhelm vom 7. September 1925, in dem er seine außenpolitischen Fernziele enthüllte.

  19. Der Begriff „Historisches Selbstverständnis" ist nicht verbindlich wissenschaftlich definiert; ich verwende ihn hier im Sinne meines Beitrages „Historisches Selbstverständnis und Nationalbewußtsein der Deutschen", der demnächst in dem Sammelband „Geschichte und Geschichtsbewußtsein", hrsg. von O. Hauser, Göttingen 1980; erscheint.

  20. Dies ergab sich aus der vehementen Diskussion 0 der innerdeutschen „Kriegsschuldfrage"; behaupteten doch Persönlichkeiten wie Fürst Bülow und Tirpitz in ihren jeweiligen Memoiren, daß Deutschland ; von den „Einkreisungsmächten" schließlich nur deswegen überfallen worden sei, weil Reichsregierung unter Bethmann Hollweg zu „schwach" und zu u „unentschlossen" gewesen sei. Demgegenüber habe? die politische und militärische „Basis" bis 1914 durchaus eine erfolgversprechende „Abschrek: kungspolitik" möglich gemacht.

  21. Dies bleibt jenen Spekulationen gegenüber festzuhalten, die in diesen Persönlichkeiten ernst zun nehmende Träger politischer Potenzen der Weima-E rer Zeit sehen. Weder Tirpitz noch Ludendorff]! konnten ihre Ambitionen (auf die Reichskanzler-I bzw. Reichspräsidentenschaft) befriedigen. Vgl. G. Borst, Die Ludendorff-Bewegung 1919— 1961. Einen Analyse monologer Kommunikationsformen in ders sozialen Zeitkommunikation, Augsburg 1969. Inwieweit Ludendorff durch seine Frau politisch „ge-s bremst“ wurde, wäre noch zu klären.

  22. Typisch hierfür der verunglückte „Verfassungstag" des 11. August sowie der Flaggenstreit.

  23. Gerade Locarno liefert den indirekten Beweis für die These, daß Deutschland den -Versailler Ver trag eben doch nicht „anerkannt" hat: Die in Locarno erfolgende feierliche Festschreibung der Westgrenze war „an sich" nicht notwendig, da der Friedensvertrag diese bereits unabänderlich festgelegt hatte. Es ist kennzeichnend, daß Stresemann dies mit der „Offenhaltung" der Ostgrenzen gleichsam sich honorieren ließ; vgl.den aufschlußreichen Beitrag von K. D. Erdmann, Das Problem der Ost-oder Westorientierung in der Locarnopolitik Stresemanns, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 6, 1955. Auch Rapallo und Genua lassen diesen Mechanismus — diesmal sozusagen umgekehrt — erkennen; vgl. H. G. Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 19722. Die Reaktionen in Frankreich können als Gradmesser für die Stichhaltigkeit dieser Argumentation angesehen werden; vgl. R. Bournazel, Rapallo, ein französisches Trauma, Köln 1976.

  24. Hierauf weist besonders hin: W. E. Wüest, Der Vertrag von Versailles in Licht und Schatten der Kritik, Zürich 1962.

  25. Vgl. hierzu I. Geiss, Das Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amts, 1919— 1933 (= bisher ungedr. MS, vorgelegt der Association internationale d'histoire contemporaine, Genf 1979).

  26. Hermann Kantorowicz, Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von I. Geiss, Frankfurt/M. 1967.

  27. Daß auch das Ausland dem System von Weimar zumindest gleichgültig gegenüberstand, wurde anläßlich der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten sichtbar: Ganz im Gegenteil zu Befürchtungen, es werde sich ein Sturm der Entrüstung im Ausland erheben, waren die Reaktionen außerordentlich gemäßigt; vgl. W. Hubatsch, Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878— 1934, Göttingen 1966, S. 73.

  28. Das ergibt sich aus dem Nachlaß Stresemann, (ADAP, Serie B, Bd. 2, 1 und 2). Aus der Fülle der Literatur vgl. vor allem Jacobson: Locarno Policy, a. a. O., und M. -O. Maxelon, Stresemann und Frankreich 1914- 1929. Deutsche Politik der Ost-West- Balance, Düsseldorf 1972, S. 175 ff.

  29. Sehr instruktiv: K. -J. Müller, E. Opitz (Hrsg.), Mi--litär und Militarismus in der Weimarer Republik. . Beiträge eines internationalen Symposiums an der : Hochschule der Bundeswehr Hamburg am 5. und 1 6. Mai 1977, Düsseldorf 1978. Umfassend und tief--dringend: M. Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit -Reichswehr und die Krise der Machtpolitik 1924 bis €1936, Diss. (masch.) Freiburg 1976; neueste Gesamt--analyse: Das Deutsche Reich und der Zweite Welt-krieg, Bd. 1: Ursachen und Voraussetzungen der 1 deutschen Kriegspolitik von W. Deist, M. Messer-Schmidt, H. -E. Volkmann, W. Wette, herausgegeben r vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stutt--gart 1979.

  30. Vgl. H. Muth, Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Sommers 1932 in: Historische Zeitschrift, Beiheft 1, 1971, S. 75 ff.

  31. Dies ergibt sich für Brüning eindringlich aus seinen Memoiren, Stuttgart 1970. Vgl. auch Fr. Freiherr Hiller von Gaertringen, Zur Beurteilung des „Monarchismus" in der Weimarer Republik, in: Tradition und Reform der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, Berlin 1976, S. 138— 186.

  32. So der Titel der Erinnerungen von W. Hoegner, Die verratene Republik, München 1958.

  33. Vgl. R. Wohlfeil, Reichswehr und Republik 1918 bis 1933, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648— 1939, VI, 1970, S. 264— 278.

  34. Dieser Zusammenhang wird ausführlich dargestellt bei Salewski, Entwaffnung, a. a. O.

  35. Vgl. K. Nuß, Militär und Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik. Zur politischen Rolle und Entwicklung der Reichswehr, Berlin (Ost) 1977; M. Geyer, Das Zweite Rüstungsprogramm (1930— 1934), in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 17/1975, S. 125— 172; demnächst: M. Salewski, Reichswehr, Staat und Republik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1980.

  36. Hierzu der neueste Beitrag von W. Wette, Ideologien, Propaganda und Innenpolitik als Voraussetzungen der Kriegspolitik des Dritten Reiches, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, a. a. O., insbesondere S. 31 ff., 100 ff.

  37. Daß dieser Appeasement-Kurs nicht auf politischer Ignoranz oder gar Naivität beruhte, hat die Forschung der vergangenen Jahre deutlich gemacht; vgl. z. B. O. Hauser, England und das Dritte Reich. Eine dokumentierte Geschichte der englisch-deutschen Beziehungen, Bd. 1: 1933— 1936, Stuttgart 1972; jetzt auch M. Messerschmidt, Außenpolitik und Kriegsvorbereitung, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, a. a. O., S. 560 I., 584 ff.

  38. Das zeigte sich in dem Unwillen zahlreicher Fabriken und Konzerne in der Weimarer Zeit, Kapazitäten für die Reichswehrrüstung und eine evtl. Mob-Rüstung freizuhalten; vgl. Salewski, Entwaffnung, a. a. O., S. 99 ff.

  39. Zu diesem Komplex gibt es einen umfangreichen Forschungsstand; aus der Literaturfülle seien »stellvertretend genannt; H. Beilner, Reichsidee, ständische Erneuerung und Führertum als Elemente des Geschichtsbildes der Weimarer Zeit, in:

  40. Vgl. W. Wette, Ideologien, a. a. O., S. 94 ff.; demnächst: W. Leikauf, Das Bild des Ersten Weltkriegs im Spielfilm der Weimarer Republik, Diss., Bonn.

  41. W. Wette, Ideologien, a. a. O., S. 31 ff. Zum Wesen und zur Genesis der „Gewaltpolitik" vgl. auch M. Salewski, Die Bewaffnete Macht im Dritten Reich 1933— 1939, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte VII, München 1978, S. 29; ferner: K. -D. Bracher, Tradition und Revolution im Nationalsozialismus, in: Hitler, Deutschland und die Mächte, hsg. von M. Funke, Düsseldorf 1976, S. 17— 29; G. Wollstein, Eine Denkschrift des Staatssekretärs Bernhard von Bülow vom März 1933. Wilhelminische Konzeption der Außenpolitik zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/1973, S. 77— 94.

  42. Dies hat überzeugend nachgewiesen A. Hillgruber, Die „Endlösung" und das deutsche Ostimperium als Kernstück des fassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20, 1972, S. 135— 153; vgl. auch M. Messerschmidt, Außenpolitik, a. a. O., S. 537.

  43. Und als wichtigstes Propagandamittel, — vgl. J. Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg. Die propagandistische Vorbereitung der deutschen Bevölkerung auf den Zweiten Weltkrieg, Opladen 1976.

Weitere Inhalte

Michael Salewski, Dr. phil., geb. 1938 in Königsberg/Pr.; seit 1971 Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Veröffentlichungen: Entwaffnung und Militärkontrolle 1919— 1927, München 1966; Die deutsche Seekriegsleitung 1935— 1945, 3 Bde., Frankfurt, München 1970— 1975; Von der Wirklichkeit des Krieges, München 1976 (dtv Nr. 1213); Die bewaffnete Macht im Dritten Reich 1933— 1939 (Handbuch zur deutschen Militär-geschichte VII), München 1978; Tirpitz. Aufstieg—Macht—Scheitern, Göttingen 1979. Zahlreiche Aufsätze zur Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts.