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Preußen und Preußentum | APuZ 2/1980 | bpb.de

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APuZ 2/1980 Artikel 1 Der Verfall politischer Vernunft in Monarchie, Republik und Diktatur. Eine geschichtspsychologische Ergänzung zur „Holocaust" -Diskussion Das Weimarer Revisionssyndrom Preußen und Preußentum

Preußen und Preußentum

Johannes Rogalla von Bieberstein

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Zusammenfassung

Ausgangspunkt der Analyse der mit dem 1947 vom Alliierten Kontrollrat aufgelösten Staat Preußen sowie mit dem Preußentum verbundenen historisch-politischen Problematik ist die gegenwärtige Preußen-Renaissance. Ein kritischer Blick auf diese Preußen-Renaissance zeigt, daß sie neben nostalgisch-wehmütigen Aspekten ebenso wie der Staat Preußen und das Preußentum selber eine starke Gegensätze in sich schließende „Janusköpfigkeit" bzw. eine „kulturfähige“ und eine „kulturwidrige''Seele (Friedrich Meinecke) aufweist. Darüber hinaus verweist das Thema Preußen auf eine deutsche Standortbestimmung, da es nämlich untrennbar mit der Gründung und dem Untergang des Deutschen Reiches verbunden ist. Anhand eines weithin noch nicht ausgeschöpften Quellenmaterials wird nachgewiesen, daß zwischen dem monarchisch-junkerlichen Altpreußen, dem wilhelminischen Borussismus, dem (sozial-) demokratischen Volkspreußen sowie endlich der nationalsozialistischen und parteikommunistischen — in der DDR — Inanspruchnahme des Preußentums sorgfältig unterschieden werden muß. Andererseits darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß bei aller Gegensätzlichkeit der Ziele doch auch soziologische Kontinuitäten sowie ideologisch-staatsautoritäre Gemeinsamkeiten existieren. Das Fazit zahlreicher, ausgewählter Stellungnahmen zum Thema „Preußen“ ist, daß der Mythos vom Preußentum deshalb so vielschichtig ist, weil es eine starke historische Dynamik aufweist, weil sich in ihm unterschiedliche politisch-ideologische, landsmannschaftlichgeographische sowie schließlich auch konfessionelle Momente überlagern und schließlich das ethische Preußentum überzeitliche Werte enthält.

„Die Hydra des preußischen Mythos ist noch nicht tot". Hans Rosenberg 1958

I. Der Mythos vom Preußentum

Noch bevor ein Literaturhistoriker 1970 in seinem Buch „Fontane und das Preußentum" eine „Preußen-Renaissance" konstatieren konnte bemerkte ein preußenfreundlicher Historiker 1969: „Preußen ist en vogue. Fast hat es den Anschein, als feiere es jetzt ... eine geistige Renaissance. Wo früher Schelte und Verdammung überwogen, regen sich nun Zuspruch und Liebe." Im März 1979 trug schließlich eine Rezension der in die Bestsellerlisten aufgestiegenen Preußenbücher von Bernt Engel-mann und Sebastian Haffner die Überschrift: „Steht Preußen von den Toten wieder auf?" Zehn Jahre zuvor hatte Wolfgang Venohr bemerkt: „Um Mißverständnissen vorzubeugen: Preußen ist tot, und es soll nicht wieder erweckt werden. Es gibt keinen Weg zurück in der Geschichte." Während der wohl prominenteste bundesdeutsche Preußenverehrer Hans-Joachim Schoeps bereits 1956 behauptet hat: „Unser heutiger Staat lebt weithin aus dem preußischen Erbe" hat die rechtsradikale „National-Zeitung“ 1974 geklagt: „In Bonn ist Preußen tot". Dabei fügte sie diffamierend hinzu, daß Bundespräsident Scheel „Kaviar und Krimsekt... am besten bei den Festivitäten in Moskau anläßlich Deutschlands Zerstückelung" schmeckten Die gegenwärtige Preußen-Renaissance läßt solche zuweilen peinlichen Klagen im nachhinein als unberechtigt erscheinen. Denn zwar ist der preußische Staat vom Alliierten Kontrollrat am 25. Febraur 1947 als „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion" aufgelöst und nicht wieder aufgerichtet worden, der Mythos vom Preußentum jedoch ist keineswegs tot, sondern beherrscht die Geister mehr denn je.

In seiner negativen Form ist dieser Mythos von Winston Churchill 1943 in Teheran so formuliert worden: „Ich möchte hervorheben, daß Preußen die Wurzel allen Übels ist." Bei allen grundsätzlichen politisch-gesellschaftlichen Unterschieden stimmten in der Verdammung des protestantischen und militaristischen Preußen viele Liberale und nichtpreußische Konservative, Katholiken und Sozialisten auf eine geradezu überraschende und sonst absolut ungewöhnliche Weise überein. So hat der auf der Universität Heidelberg erzogene ungarisch-jüdische Marxist Georg Lukacz, welcher das Preußentum 1943 als „gefährlichen Fremdkörper in der modernen Zivilisation" verurteilt hat noch 1968 bekannt: „Ich habe einen universellen Haß gegen alles, was preußisch ist" Und der liberalkonservative Katholik und erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer hat 1946 bemerkt: „Wir im Westen lehnen vieles ab, was gemeinhin . preußischer Geist'genannt wird ... Wer Berlin zur neuen Hauptstadt macht, schafft geistig ein neues Preußen."

Bei der Bewertung dieser preußenfeindlichen Äußerung ist zu bedenken, daß Josef Goebbels 1932 unverfroren behauptet hat: „Der Nationalsozialismus darf heute mit Fug und Recht von sich behaupten, daß er heute Preußentum sei“ und daß die Sozialdemokratin und ehemalige Reichstagsabgeordnete Anna Siemsen Vorabdruck des einführenden Kapitels aus der in Kürze erscheinenden Publikation des Verfassers: „Preußen, Preußentum und Junkertum". 1937 in der Pariser Emigration das Buch „Preußen — eine Gefahr Europas“ publiziert hat.

Weiter ist hier daran zu erinnern, daß der bayerische Kronprinz den 1871 bei der Gründung des Deutschen Reiches vom Potsdamer Hofprediger abgehaltenen Militärgottesdienst eine „taktlose Rede voll preußischer Selbstvergötterung" nannte und der revolutionäre 1848er Demokrat Georg Herwegh damals sagte: „Die Wacht am Rhein genügt nicht, der schlimmste Feind steht an der Spree." Seinem Sohn trug dieser grimmige Preußenfeind auf, nach dem Untergang Preußens auf seinen Grabstein zu meißeln: „Freue dich Vater, Preußen besteht nicht mehr." Im Ausland gipfelten Totalverdammungen, die auf dem Glauben beruhten, die reaktionär-militaristischen Preußen seien „böse Menschen, Barbaren mit der Pickelhaube auf dem Kopf" oder — so der konterrevolutionäre spanisch-katholische . Staatsphilosoph Donoso Cortes — der preußische Staat habe sich „seit dem Beginn seines Daseins dem Satan verschrieben“ nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Feststellung, beim Krieg handele es sich um einen „heiligen Krieg gegen die teuflische Doktrin des Prussianismus"

Neben solchen pauschalen Verdikten lassen sich freilich auch propreußische Äußerungen und Bekenntnisse von Repräsentanten solcher Kreise anführen, die gemeinhin nicht für preußenfreundlich gelten. Hier ist darauf zu verweisen, daß der Kölner Katholik, Mitbegründer der CDU und Oberdirektor der Bizonenverwaltung Hermann Pünder sich in seinen Erinnerungen „Von Preußen nach Deutschland" zu dem „preußischen Geist“ bekannt hat, der nur scheinbar tot sei und als „Klammer von Ost und West dereinst einen wichtigen Baustein zu diesem europäischen Bau darstellen"

könne. Einschränkend sagte er freilich: „Das Preußen, an dem ich hänge,... ist keineswegs nur das Preußen der Pickelhaube und erst recht nicht des Monokel tragenden Gardeleutnants." Da eben dieser Leutnant zu einer beliebten Klischeefigur geworden ist, sei hier darauf verwiesen, daß im September 1977 im westfälischen Vornholz die Beerdigung des um die deutsche Pferdezucht und Reiterei hochverdienten — katholischen — Barons Clemens Nagel stattgefunden hat. Dieser einstige Kavallerieoffizier hat in dem exklusiven und die Tradition der Gardekavallerie fortführenden Potsdamer 4. Preußischen Reiter-Regiments gedient. Seine Beisetzungsfeier lief wie folgt ab: „Die Kapelle spielt zunächst einen Choral und geleitet dann den Sarg mit einem Trauermarsch zur Gruft. Halali (geblasen von Baron Eltz). Nach der Beendigung der Zeremonie in der Gruft rückt die Kapelle mit dem Marsch „Preußens Gloria" um die Kirche herum ab ins Dorf. Die Fahnen und Standarten ... nehmen Aufstellung im Chor hinter dem Altar."

Wenngleich die preußische Militärmonarchie dazu neigte, die im Revolutionsjahr 1848 von dem im preußischen Kriegsministerium tätigen Oberstleutnant von Griesheim stammende Parole: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" zur Richtschnur zu nehmen, so konnte doch Gustav Freytag schreiben: „Ja, den radikalsten preußischen Demokraten kann man sicher auf den Kopf zusagen, daß sie dann auch für Preußen selbst, daß sie jetzt so gerne zerpflücken, Spieß und Harnisch mit Freudigkeit tragen werden; sie sind in der guten Mehrzahl gut preußisch, ohne es selbst zu ahnen.“ Auch Theodor Fontane, welcher als Anhänger der Revolution von 1848 das alte Preußen „eine Lüge" genannt und für das als „Sterben“ bezeichnete Aufgehen Preußens in Deutschland plädiert hat, schrieb im Dezember 1849 anläßlich des Sieges der Reaktion: „Aber die Entrüstung über unpreußische Handlungsweisen der preußischen Machthaber wird nie so weit gehen, daß ich das Kind mit dem Bade ausschütte und wohl gar Land und Volk schmähe, aus Liebe zu dem ich überhaupt gar in Entrüstung geraten bin." Zuvor hatte das „Wahlcomitd der demokratischen Partei" in Mainz erklärt: „Müssen wir denn Feind von Preußen sein? Dem preußischen Volk reichen wir zur Einigung gern die Hand. Aber wir bekämpfen das Regierungssystem des Junker-und Soldatentums.“ Schließlich sei hier angemerkt, daß der aus dem „rheinpreußischen" Trier stammende Karl Marx, welcher Preußen und das Preußentum als „Verkörperung der deutschen Reaktion" attakkiert und den „preußischen Despotismus" ge-geißelt hat seinerseits von manchen Biographen als „roter Preuße" plakatiert wird Solch eine von einem katholischen Antipreußen vorgenommene Charakterisierung des Propheten der Weltrevolution, welcher die ihn peinigenden Hämorrhoiden die „perfiden Preußischen" taufte hat übrigens der dem Nationalsozialismus nicht fern stehende konservative Revolutionär Hans Schwarz 1932 in seinem Buch „Die preußische Frage" als „scherzhaften Einfall" abgetan Er war nämlich der Ansicht, Preußen verspräche zum „politischen Zauberkasten" der nationalen, d. h. rechtsautoritären Revolution zu werden

Mehr als vier Jahrzehnte, bevor der Preußen-verehrer Schoeps anläßlich der gegenwärtigen Preußen-Renaissance den Eindruck gewinnen konnte, daß man „mit Preußen reüssieren, Geschäfte machen" wolle hat der völkische Nazi Wilhelm Seddin 1935 in Berlin die folgende Schrift veröffentlicht: „Preußentum gegen Sozialismus. Preußisch-sozialistisch — die Tarnungsphrase der deutsch-nationalen Reaktion". Darin behauptet er, der Begriff Preußentum sei ein von Reaktionären und Konservativen gebrauchtes „magisches Irrlicht", und stellt dann fest: „Die Literatur über das Preußentum hat einen geradezu inflationistischen Charakter ... Das Preußentum ist gerade jetzt das Feld vieler Literaten, die diesen Begriff dazu ausersehen haben, mit ihm ihre Geschäfte zu machen." Heute sei es nicht die Aufgabe, das „geschichtlich erledigte Preußentum zu kopieren, sondern den Nationalsozialismus zu verwirklichen" Angespielt wurde mit solchen Worten beispielsweise auf die von Friedrich Schinkel 1934 in „Preußischer Sozialismus“ vorgetragene These: „Während in den Jahren nach dem Weltkrieg selbst konservative Kreise sich von der preußischen Überlieferung distanzieren zu müssen glaubten, ist heute Preußen bereits zu einem Modewort geworden."

Daß es dazu kommen konnte, ist darauf zurückzuführen, daß einerseits Hitlers konservative Partner den „Führer" in die preußische Tradition einbinden und damit zähmen wollten und andererseits Hitler die höhere Weihe der preußischen Tradition gern entgegen-nahm.Tatsächlich bemerkt der einstige Hit-lersche Münchener Spezi und Auslandspressechef der NSDAP „Putzi" Hanfstaengel in seinen Erinnerungen, daß „Preußens Gloria nun einmal der Höhepunkt seiner — Hitlers — patriotischen Träumereien" war Dies ist der Boden für den in der Residenzstadt der preußischen Könige, die nach dem französischen Botschafter in Berlin für das Preußentum „eine Art Heiligtum" darstellte am 21. März 1933 veranstalteten „Tag von Potsdam". Bei diesem „infernalischen Possenspiel" wurde nach der Interpretation des rheinisch-katholischen „Antipreußen" Wenger der Gefreite Hitler durch den früheren königlich-preußischen Feldmarschall und Reichspräsidenten Hindenburg in Anwesenheit des Kronprinzen Wilhelm, und zwar am Grabe Friedrichs des Großen, in die „preußische Tradition investiert" Dieser auch von vielen preußischen Konservativen mit unguten Gefühlen aufgenommene Staatsakt symbolisiert das, was Bundespräsident Scheel im Dezember 1978 anläßlich der Einweihung des Neubaus der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz so formulierte: „Die Pervertierung des . Preußentums'durch den Hitlerschen Staat hat die preußischen Tugenden eine Zeitlang verdunkelt." Wie beispielhaft diese Tugenden auch Männern gelten konnten, welche nicht unbedingt einen propreußischen Hintergrund hatten, verdeutlicht die von Bischof Graf Galen am 20. Juli 1941 in der Münsteraner ÜberwasserKirche aus Anlaß von Übergriffen der Gestapo gehaltene Predigt. Darin mahnte er: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen ... Nehmt euch zum Beispiel und Vorbild jenen preußischen Justizminister der alten Zeit ..., dem einst König Friedrich der Große das Ansinnen stellte, er solle ein gesetzmäßig gefälltes Gerichtsurteil nach dem Wunsch des Monarchen umstoßen und abändern. Da hat dieser echte Edelmann, ein Herr von Münchhausen, die prachtvolle Antwort gegeben: . Mein Kopf steht Eurer Majestät zur Verfügung, aber nicht mein Gewissen!'... Ist das Geschlecht solcher Edelleute, die so gesinnt sind und so handeln, sind die preußischen Beamten dieser Art ausgestorben?" Bekannter noch als diese Episode ist das Verhalten jenes friderizianischen Generals von der Marwitz, der sich weigerte, das Schloß des sächsischen Grafen Brühl durch preußische Truppen plündern zu lassen und der die klassischen Worte auf seinen Grabstein meißeln ließ: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."

Bereits diese in die Thematik einführenden Quellen belegen die Tatsache, daß es Preußen-verehrer und Preußenfresser, daß es eine weiße und eine schwarze Preußenlegende gibt, daß Preußen und das Preußentum sowohl die Rolle des Helden als auch die des Bösewichts spielen und somit Preußenlegenden „Freund und Feind" bewegen Insbesondere auch darin, daß sich Preußenfreunde und -feinde nicht nach dem beliebten Rechts-Links-Muster klassifizieren lassen, scheint die fortwährende Aktualität der von Hans Rosen-berg getroffenen Feststellung begründet: „Die Hydra des preußischen Mythos ist noch nicht tot."

II. Preußen als deutscher „Seelenkomplex"

Als Ausgangspunkt der Analyse kann daher die bereits 1914 im „Kunstwart" enthaltene Aussage genommen werden:, Jeder hat seinen Vorstellungskreis von Preußen. Wer hat den richtigen? Eine Wirklichkeit ist nie mit einem Blick erschöpft. Nehmt alles in allem, so habt ihr die Wirklichkeit." Eine derart unternommene Vergegenwärtigung der historischen Fakten erscheint um so erwünschter und dringlicher, als am 21. Juli 1978 in der „Frankfurter Allgemeinen" im Hinblick auf die für 1981 geplante Berliner Preußen-Ausstellung der Artikel „Die preußische Notwendigkeit" eYschien. Darin wird der Komplex Preußen als „Seelenkomplex des öffentlichen deutschen Geschichtsbewußtseins" bezeichnet.

Zu solch einem Seelenkomplex ist Preußen nicht nur als Gegenstand zuweilen nostalgischer Rückbesinnung, sondern darüber hinaus auch als Kristallisationspunkt von politisch-moralischen Zukunftshoffnungen geworden.

Dies ist um so bemerkenswerter, als den deutschen Kriegsgegnern daran gelegen war, Deutschland nach der Niederwerfung des Dritten Reiches zu „entpreußen" (deprussianize) Immerhin war ja bereits in einem Ultimatum der Entente-Mächte vom Juni 1919 zu Versailles die Anklage erhoben worden: „Die ganze preußische Geschichte ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert" Mit der auch staatsrechtlichen Beseitigung Preußens von 1947 schien somit ein alter Wunsch der Preußenfeinde und überdies die nach der vernichtenden Niederlage Preußens gegen Napoleon zu Jena und Auerstädt von 1806 ausgesprochene Prophezeihung des — später zum Reformer Altpreußensgewordenen — Freiherrn vom Stein in Erfüllung gegangen zu sein: „Preußen wird unbedauert und ohne Nachruhm untergehen, man wird es für ein Glück halten, daß eine Macht, die durch ihren Ehrgeiz Europa erschüttert hat, zu sein aufhöre."

Die Verketzerung Preußens, die in dem Vorwurf gipfelt, daß „historisch betrachtet eine gerade Linie von Luther über den Großen Kurfürsten, über Friedrich II. und seine Nachfolger, über Bismarck und die wilhelminische Zeit bis zu Hitler (führt)“ hat wegen ihrer Maßlosigkeit und Absurdität kritische Fragen eher behindert und ungewollt der nicht eben selten anzutreffenden Verklärung Preußens Vorschub geleistet. Denn die undifferenzierte Identifizierung Preußens mit dem Nationalsozialismus, wie sie ein in Schweden lebender deutscher Emigrant 1940 vornahm, indem er das nationalsozialistische Deutschland „Großpreußen" nannte und darüber hinaus erklärte, die mit dem Soldatenkönig ins Dasein getretene Bewegung habe in Hitler ihre „radikalste Erfüllung" gefunden mußte geradezu zwangsläufig emotionale und erkenntnishemmende Abwehrreaktionen zur Folge haben. Darüber wurde dann leicht vergessen, daß selbst Preußenfreunde wie der bedeutende Berliner Historiker Friedrich Meinecke nach 1945 bemerkt haben, der preußische Staat habe zwei Seelen, und zwar eine „kulturfähige" und eine „kulturwidrige" besessen. Darum sei eine „naive Selbstbeweihräucherung des preußischen Wesens" durch den „konventionellen Borussismus" unangebracht Unbeschadet eines manchmal penetranten Preußenkultes besonders in deutschnationalen Kreisen, haben auch kritisch-liberale und sozialistische Preußenfreunde Preußen stets vor Preußenfressern in Schutz genommen: So hat sich der in der New Yorker Emigration lebende Alfred Kantorowicz Ende 1944 veranlaßt gesehen, den Artikel „Prussia conquered by Nazism. Nazism versus Prussianism" zu schreiben. Darin nannte er die „Gleichstellung von Nazismus und Preußentum oder gar die in Frankreich und Amerika gängige Formel, der Nationalsozialismus wäre die zeitgemäße Form des preußischen Militarismus", eine „gefährliche Begriffsverwirrung" Auch der Breslauer Bernhard Guttmann, der 1947 den preußenkritischen Nachruf „Preußens Ausgang" verfaßte und darin die Ansicht äußerte, Preußen sei an seiner „Hybris" untergegangen, wies die verbreitete Vorstellung, Preußen habe „zu allen Zeiten an nichts als Eroberungen gedacht und gleichsam wie ein Sperber unablässig über dem von friedfertigem Geflügel erfüllten Hühnerhof Europas gekreist", als mit den historischen Tatsachen nicht vereinbar zurück Verglichen mit den Invektiven des von den Nazis verfolgten Württembergers Hermann Zipperlen war dieser von Preußen-verehrern mit Entrüstung aufgenommene Preußen-Nachruf noch geradezu pietätvoll. Denn der Schwabe behauptete 1947 in seiner Flugschrift „Nationalismus und Militarismus", daß „seit mehr als 200 Jahren der Norden unseres Vaterlandes an der preußischen Krankheit des Militarismus und Nationalismus litt" und daß nach 1870 die „Preußen-Krankheit Deutschlands" die Mainlinie überschritten, auf den Süden übergegriffen und sich schließlich im Zweiten Weltkrieg zum ersten Male „voll ausgetobt" habe

Wenngleich dies eine nicht-repräsentative, extreme Äußerung ist, konnte doch der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Burghard Freudenfeld, 1968 gewiß nicht ohne jede Berechtigung schreiben: „Preußens Sündenbockrolle nach 1945 gehört ja auch zu den affektiven Gründungsmotiven der Bundesrepublik, so wie das Grundgesetz gegen Weimar, so sind wesentliche Teile der Staats-und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik mit diesem expressis verbis oder mitschwingend antipreußischen Affekt in die Welt gesetzt worden, als sei Preußen die Summe aller deut-sehenFatalitäten." über diesen Sachverhalt empörte sich z. B. 1952 ein Herr von Sodenstern in seinem in der „Wehrwissenschaftlichen Rundschau" veröffentlichten Aufsatz „Bürgersoldaten". Darin lamentiert er darüber, daß „der so verfemte preußische Geist nicht an der Wiege der Bundeswehr Pate stehen soll"

So stark freilich wie wehleidige Preußenverehrer es oft darstellen, ist die Verfemung Preußens nie gewesen. Der aus Süddeutschland stammende und zur Widerstandsbewegung gehörende Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier hat sich 1956 klar zu Preußen bekannt: „Wir sagen ja zur Tradition des Deutschen Reiches, auch zur Tradition Preußens, mit all seiner Größe und Schuld." Ob die Bundesrepublik dagegen „weithin aus dem preußischen Erbe" lebt, wie Schoeps 1956 unterstellte ist dagegen wohl auch deshalb umstritten, weil die Meinungen darüber, was der Inhalt dieses Erbes ist, auseinanderklaffen. Dies ist um so wesentlicher, als ein Erbe gemeinhin eine Verpflichtung für die Zukunft beinhaltet. So hat ja Schoeps 1953 in seiner Schrift „Kommt die Monarchie?" bei einer klaren Distanzierung von der „Brüllmasse Volk" bzw.der „gottesjämmerlichen Majorität" für die Wiedereinführung einer konstitutionellen Monarchie unter Prinz Louis Ferdinand von Preußen geworben und erklärt: „Wenn einst dem Volk von Preußen ...sein Selbstbestimmungsrecht zurückgegeben wird, werden auch zusammen mit dem Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche die klassischen deutschen Tugenden wieder auferstehen." Die trotzige Aussage eines Vorstandsmitgliedes der Landsmannschaft Ostpreußen in dem 1967 publizierten Aufsatz „Preußens Erbe und Auftrag" ist somit keineswegs eindeutig: „Entweder bekennt sich das deutsche Volk zur Wiedervereinigung und damit auch zur geschichtlichen Substanz, die in dem Begriff Preußen liegt, oder man beschleunigt die Flucht aus der deutschen Geschichte und verleugnet alles, was Preußen dem deutschen Volk gegeben hat." Auch das 1957 von Wolf-ram von Wolmar publizierte „Requiem für Preußen", in dem über die „Hinrichtung Preußens" von 1947 geklagt und erklärt wird: „auf die preußischen Tugenden*kann kein deutscher Staat ... verzichten, will er nicht die deutsche Seele in sich selbst verderben" hinterläßt zwiespältige Gefühle; besonders wenn man bedenkt, daß der frühere Nazi Wolmar 1943 seine Schrift „Prag und das Reich" dem SS-Obergruppenführer Heydrich gewidmet hat. überhaupt ist hier darauf zu verweisen, daß sich bereits 1867 ein — konservativer — Preuße zu der Bemerkung veranlaßt gesehen hat: „Ich schreibe als Preuße gegen Preußen für Preußen." Sich in diese Tradition der preußischen Nüchternheit stellend sagt Ve-nohr 1969: „Eine Laudatio wäre unpreußisch." Daß eine kritische Reserve gegenüber manchen Preußen angebracht erscheint, zeigt auch die Tatsache, daß der Pommer Adolf von Thadden als Chef der rechtsradikalen Nationaldemokraten 1973 erklärte, die „kalte Wut" käme ihm hoch, wenn man sich nicht schämte, ihm „Preußentum" vorzuwerfen. Er fügte hinzu: „Ja, ich bin ein Preuße und unendlich stolz darauf." Mag diese Aussage auch noch in der Thadden'schen Familientradition begründet sein, so kann damit die aufschlußreiche Aussage des nationaldemokratischen Wochenblatts „Deutsche Nachrichten", welche rechts-und linksradikalen Gemeinsamkeiten unverblümt Ausdruck gibt, nicht erklärt werden: „Im kommunistischen Osten unseres Vaterlandes dagegen findet die Jugend, auch die studentische, zu . ihrem Staat', dort sind Fleiß, puritanische Haltung, preußischer Stil, preußische Ordnungsprinzipien wie Strenge, Bescheidenheit, Pflicht, Opfersinn und Verantwortungsbewußtsein für die Gemeinschaft (. Kollektiv) oberste, anerkannte Werte."

Der Publizist Paul Sethe hat 1962 gemeint, daß es unter dem Schutt des zusammengebrochenen preußischen Staates „noch brauchbare Balken" gäbe. Er sei überzeugt, daß „kein Staatsmann des kommenden freien Deutschland walten kann, dessen Haupt nicht gesalbt ist mit einem Tropfen preußischen Öls"

Ähnlich hat sich die Ostpreußin Marion Gräfin Dönhoff 1973 in ihrem Aufsatz „Berlins Zukunft im Hinterhof" ausgesprochen, in dem sie Berlin das „letzte Stück der Urzelle Preußen"

nennt, das uns geblieben sei. Dabei konnte sie sich die Bundesrepublik auf die Dauer „ohne die staatsbildende Kraft Preußens und seiner Menschen" nicht gut vorstellen Während sich der in Berlin lebende Verleger Axel Springer als einen „Preußen aus Altona" bezeichnet, heißt es in einer Glückwunsch-adresse des Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf den SPD-Parteichef und aus Lübeck gebürtigen früheren Berliner Regierenden Bürgermeister Willy Brandt: „Die Lübecker sind keine Preußen. Ihnen eignet keine hierarchische Disziplin. Wenn aber der kategorische Imperativ Immanuel Kants oder wenn dessen Idee vom ewigen Frieden als Preußentum begriffen werden dürfen, dann könnte man den Hanseaten Willy Brandt einen Preußen nennen." Angesprochen auf die Frage: „Was treibt Helmut Schmidt?" antwortete der Hamburger 1974: „Es klingt sehr preußisch! Mich treiben der Ehrgeiz, dem öffentlichen Wohl zu dienen, und ein ziemlich ausgeprägtes Pflichtgefühl." Zur gleichen Zeit erklärte der auf der entgegengesetzten Seite des demokratischen Spektrums angesiedelte CSU-Parteichef Franz Josef Strauß: „Gerade wir, im Süden Deutschlands, müssen, wenn es die Geschichte erfordert, bereit sein, notfalls die . letzten Preußen'zu sein". Den „guten Seiten des Preußentums" müsse Respekt bezeigt werden

Daß dem Preußentum von sehr unterschiedlichen, ja sich untereinander feindlich gegenüberstehenden Kräften Hochachtung entgegengebracht wird, belegt auch dies: Hatte ein DDR-Historiker noch 1965 den „antinationalen Charakter des Preußentums" gegeißelt und war noch 1971 in einem offiziösen Werk der DDR-Geschichtsschreibung verkündet worden: „Die demokratischen Kräfte unter Führung der revolutionären Partei der Arbeiterklasse sorgten dafür, daß alle Erscheinungen des Preußentums ausgemerzt wurden und die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes bewältigt wurde" so ist mittlerweile auch in der DDR Preußen „entdeckt" worden, wie eine ARD-Sendung vom November 1978 belegt hat. Der SED-Staat, den der rheinische Publizist P. W. Wenger als . rotes Neopreußen"

angesprochen hat differenziert nunmehr verstärkt zwischen dem „reaktionären" Preu-B Ben, dem „erzreaktionären Preußenkult der BRD", sowie den „fortschrittlichen Zügen“ in der preußischen Geschichte Damit möchte der von seiner Bevölkerung ungeliebte Staat, welcher die deutsch gebliebenen Kernprovinzen Preußens besitzt, das Schloß Sanssouci als „nationales Erbe" hütet und dessen Wachkompanien noch heute den — in der Bundesrepublik verpönten — preußischen Stechschritt demonstrieren, ganz offensichtlich auch an „Preußens Gloria“ partizipieren. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die SED die 1914 von einem Potsdamer Superintendenten aus Anlaß der ersten Tagung des „Preußenbundes" aufgestellte These: „Der preußische Geist paßt allen denen nicht, die etwas zu viel demokratisches Oel in ihren Adern fließen haben" nicht auf ihre Weise interpretiert.

All dies beweist, wie recht der einen preußisch-litauischen Namen tragende Bonner Historiker Skaiweit gehabt hat, als er 1954 in seinem Aufsatz „Preußen als historisches Phänomen" vom „unheimlichen Janusgesicht des Preußentums" sprach und bemerkte, die Begriffe Preußentum und preußische Tradition schlössen „stärkste Gegensätze" in sich ein Es gilt nunmehr, tiefer in dieses Janusgesicht zu blicken.

III. Preußischer Geist und preußische (Un-) Tugenden

In der 1946 in Konstanz erschienenen Broschüre „So kam es" heißt es: „Es ist schwer zu beschreiben, worin dieser . preußische Geist'bestand ... Hier genügt es, auf die Tatsache hinzuweisen, daß dieser preußische Geist überall da, wo er auf die Wesensart anderer deutscher Stämme stieß, der schärfsten Ablehnung begegnete, ja mit Feindseligkeit abgelehnt wurde." Unter den Eigenschaften, die „das Preußentum den übrigen Deutschen unausstehlich" gemacht hätten, wurden dabei „Anmaßung, Geltungssucht und Rücksichtslosigkeit" hervorgehoben Ein anderer westdeutscher Preußenfeind glaubte, das Preußen-problem im gleichen Nachkriegsjahr bewältigen zu können, indem er das Preußentum als durch „viele undeutsche Züge" charakterisiert hinstellte Die aus der Emigration zurückgekehrte frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Siemsen behauptete schließlich 1947, „das altpreußische Wesen" habe das Volk ). Diese Einschät „deutsche vergiftet" -zung berührt sich mit derjenigen des „Rheinischen Merkur" von 1815, in der von der „ganzen Herbheit und widerwärtigen Schärfe" des Altpreußentums die Rede ist, welches der ganzen Welt in „innerster Seele" verhaßt sei

Während der aus Pommern stammende Vertriebenenpolitiker von Merkatz die antipreußische Legende 1964 in „Besinnung auf Preußen" schlechthin als „vollendeten Unsinn" abtat gelangte der frühere Danziger Senats-präsident Hermann Rauschning, welcher aus einem Anhänger zu einem entschiedenen Gegner Hitlers geworden ist, zu der Einsicht, daß Preußen neben positiven auch negative Züge getragen hat. Er schrieb 1953: „Niemand, auch der leidenschaftlichste Preuße nicht, wird bestreiten, daß es dies . andere’ Preußen gab, das Preußen des Kasernenhofs, der alles bestimmenden Obrigkeit, des Polizeiwachtmeisters, des beschränkten Untertanenverstandes, das Preußen der Klassenunterschiede und Rangordnungen."

Der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger, der nach einer Charakterisierung des preußischen Juden und Historikers Hans Rothfels „eine spezifisch preußische Prägung im besten Wortsinn" verkörperte der Widerstandsbewegung nahegestanden und als erster Nachkriegs-Rektor die kommunistische Gleichschaltung der Berliner Friedrich-Wilhelms-(heute: Humboldt-) Universität vergeblich zu verhindern versucht hat, hat den Essay „Das Preußische" hinterlassen. Sein Anfang lautet: „Preußen als Staat ist zugrunde gegangen. Das Preußische’ wird in der geistig-sittlichen Welt fortleben. Nachfolgende Geschlechter werden es bewundern und hassen. Was an ihm unrecht war, soll nicht beschönigt werden. Was an ihm ethisch groß war, soll gerettet werden." Bereits 1921 hatte Spranger in einem Aufsatz zur Schulreform postuliert, über der Bewegtheit der Gesellschaft „wölbe sich zuletzt der alte Dom des preußisch-deutschen Pflichtgedankens, das Ziel bezeichnend, das über uns allen ist" Damit hat er ein Bekenntnis zu dem ethischen Preußentum abgelegt, das zum säbelrasselnden seit jeher in einem ausgeprägten Spannungsverhältnis gestanden hat. Entgegen dem weitverbreiteten Klischee vom preußischen Militarismus ist dies sublimierte Preußentum gerade auch unter hervorragenden preußischen Militärs anzutreffen. Dies deutet der Hitler-Attentäter Rudolf-Christoph von Gersdorff in „Soldat im Untergang" an. Dorf sagt er seinem — mit einer ostpreußischen Gräfin Dohna verheirateten — Vater, einem Kavalleriegeneral, nach, er sei „das Gegenteil eines Militaristen und Kommißsoldaten" und seine Eltern wären „preußische Menschen in der philosophischen Bedeutung des Preußentums" gewesen

Eine Diskussion der Frage „Was ist preußisch?", über die 1907 in Halle ein Gymnasial-professor eine zackige Rede hielt, in der es wilhelminisch-dummstolz heißt: „Preußisch ist, stolz sein Haupt zu erheben unter den Völkern der Erde" hat somit auszugehen von der Janusköpfigkeit Preußens. Diese ist auch von Schoeps nicht bestritten worden, als er zitierte: „Was war das alte Preußen? Was stellen wir uns darunter vor? Nun die einen stellen sich vor Junker mit Reitstiefeln und Hunde-peitschen, die jährlich ein Buch kaufen, den Kalender. Polnische Zuckerrübenhacker, elende Schulhäuser, hungernde Lehrer, Leutnants mit schnarrender Stimme, schnauzende Unteroffiziere, schneidige Staatsanwälte ... Die anderen stellen sich vor: pünktliche Eisenbahnen, saubere Straßen ... Die dritten stellen sich vor: Männertreue gegen den gnädigsten Kurfürsten und Herren ... Die vierten stellen sich vor: das Vaterland Friedrichs des Großen und Kants." In nahezu jeder Publikation über findet — gewichtet Preußen sich jeweils nach den persönlichen Vorlieben des Verfassers — solch ein Katalog von guten und schlechten Seiten Preußens, von preußischen Fugenden und Untugenden. Die letzteren ha-

□en besonders im Ausland einen derartigen Ruf erlangt, daß amerikanischen Studenten sei dem Namen Preußen die Assoziation Waf-

en-SS kommt und daß in Israel der hebräi-sehe Fluch „Preuße" ein Synonym für „Strenge, Genauigkeit, Brutalität und Gehorsam" geworden ist

Daß sich dieser Tugendkatalog nicht einfach nach dem Rechts-links-Schema ordnen läßt, ist bereits gezeigt worden. Dies wird jedoch angesichts der Affinität des Altpreußentums zu Monarchie und Konservatismus einerseits und der korrespondierenden demokratisch-sozialistischen Bekämpfung des „preußischen Militärdespotismus" andererseits immer wieder versucht. So schrieb eine Frau von Zitze-witz 1977 in einem entrüsteten Leserbrief: „Preußen war nicht, wie die Linken uns immer wieder weismachen wollen: Unduldsamkeit, Kadavergehorsam, Unterdrückung des Volkes, Militarismus, Kulturlosigkeit.. . Wenn dies tatsächlich die allgemeine Einschätzung der demokratischen Linken gewesen wäre, so hätte der letzte demokratische Ministerpräsident von Preußen, der nicht zufällig ironisch-respektvoll „roter Zar von Preußen" titulierte Sozialdemokrat Otto Braun, welcher die auch von Eduard Spranger angesprochene „Affinität der Sozialdemokratie zu dem Preußischen" beispielhaft verkörperte, nicht stolz bekennen können: „Preußen ist nie preußischer regiert worden, als in meiner Amtszeit." Dieses Wort hat übrigens Josef Goebbels 1932 in seiner Wahlrede „Preußen muß wieder preußisch werden" aufgegriffen, in der er den Faschismus „römisches Preußentum" nannte, den Nationalsozialismus mit dem Preußentum gleichsetzte und sich positiv auf den Kantschen preußischen Pflichtbegriff bezog

Diese Berufung auf Kant durch Goebbels macht hinreichend deutlich, daß gern als preußisch bezeichnete Tugenden wie Pünktlichkeit, Disziplin, Gehorsam ihren eigentlichen Wert nur durch eine Synthese mit inhaltlichen, ethisch-religiösen Werten erlangen und andernfalls zu „subalternen Idealen" wie Unterwürfigkeit und Kadavergehorsam mit Mißachtung der Menschenwürde entarten können Daher ist dem wissenschaftlichen Leiter der für 1981 geplanten Berliner Preußen-ausstellung, Manfred Schlenke, beizupflichten, daß es nicht darum gehen kann, Preußen zu „exhumieren, um daraus Tugenden zu destillieren und wahllos auf die Gegenwart aus-zumünzen" Auch wäre es ein anachronistisches und fatales Unterfangen, „einen Katalog von Werten aufzustellen und damit eine Art preußischer Testamentsvollstreckung zu versuchen

Da der Begriff Preußen bereits 1935 für ein „magisches Irrlicht“ und 1978 von Joachim Fest als „bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst" erklärt wurde, kommt es darauf an, unter Ausschaltung von Ressentiments und auch unter Vermeidung nostalgisch-wehmütiger Rückschau die historischen Triebkräfte und geschichtlichen Weichenstellungen Preußens zu dokumentieren und veranschaulichen. Hierbei ist zu beachten, daß als nichtmaterielles Hauptcharakteristikum des preußischen Staates und der preußischen Ideologie die willens-bestimmte Dynamik gilt, deren Kraft in der spezifisch preußischen Ausprägung des Pflichtgedankens verwurzelt ist. Ganz unterschiedlich orientierte Beobachter stimmen darüber ein, daß das nicht mit natürlichen Grenzen ausgestattete und an Rohstoffen arme Preußen nur dank überdurchschnittlicher Anstrengungen und ständiger An-bzw. Überspannung seiner Kräfte in kurzer Zeit zu einer Großmacht aufsteigen und dann anschließend in einem — durch die dadurch erzeugte Hybris bedingten — fast beispiellosen Fall von der Landkarte ausradiert werden konnte.

In der bereits erwähnten Kaisergeburtstagsrede von 1907 heißt es daher nicht nur, preuBisch, sein bedeute „stolz sein Haupt zu erheben Unter den Völkern der Erde", sondern auch: „Preußisch ist eiserne Disziplin ... und der Wille zum Siege, koste er, was er wolle". Dabei wird hinzugefügt: „Preußisch ist der Wille, seine Pflicht zu tun bis zum letzten Atemzug." Daneben wird freilich der in Europa vorbildliche Rechts-und Sozialstaatscharakter Preußens gelobt und sein Kulturstaatscharakter wie folgt als sittliche Pflicht begründet: „Preußisch ist der Wille zur Ausbreitung wahrer Bildung über alle Schichten des Volks." Diese von Preußen gern mit „Mumm" bezeichnete Eigenschaft der Durchdringung durch einen willensbestimmenden Pflichtgedanken, welche der Überwindung des „inneren Schweinehundes" dienen soll und einem leicht als „schlapp" abgewerteten, müßig-genußfrohen, selbstzufriedenen Leben entgegensteht, erklärt das folgende Urteil der offiziösen Bundeswehrzeitschrift „Kampf-Truppe" von 1970: Die deutsche Jugend plätschere deshalb in „moralischem und weltanschaulichem Nihilismus" herum, weil ihr das „preußische Rückgrat" fehle

über den Kriegen von 1866, 1870/71, 1914— 18 und 1939— 45, welche die antipreußischen Klischeevorstellungen besonders im Ausland ganz entscheidend geprägt haben, wird nur allzu leicht vergessen, daß das friderizianische Preußen einst in Fränkreich als das „Athen des Nordens" galt In ihrem berühmten Buch „De lAllemagne" schrieb die Tochter des französischen Finanzministers Necker, Madame de Stael, im Jahre 1810, Preußen sei nicht nur ein Staat der Kasernen und Rüstungskammern, sondern auch ein Staat der Philosophen, Schulen und Universitäten. Der Kultur-und Rechtsstaatscharakter Preußens, der unter Bismarck noch durch eine beispielhafte, die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierungsprozesse abmildernde sozial-staatliche Komponente bereichert wurde, war es, der den nationalistischen französischen Historiker Bainville im Kriegsjahr 1915 sagen ließ, es sei „Ironie und Schande unserer Geschichte, daß der preußische Militarismus und Absolutismus in Frankreich 150 Jahre lang als Werkzeug und Ausdruck der Freiheit und der: . modernen Ideen'angebetet worden sind" Alle diese vielfach in sich widersprüchlichen: Tatsachen haben den Marxisten Leo Kofleri bereits 1947 veranlaßt, hinsichtlich der Bewertung Preußens und seines Militarismus von einer „Verworrenheit der Gesichtspunkte" und einer „Sucht zur Romantisierung" zu sprechen. Kofler, welcher übrigens — mit negativem: Vorzeichen — von einem „Verpreußungspro-zeß" des deutschen Proletariats gesprochen hat, meinte: „Erstaunlich ist nur, in welchem Maße auch viele Gegner und Kritiker des Preußentums von dieser Methode angesteckt sind. Sie unterscheiden sich von den Prusso-philen nur dadurch, daß sie in den Schlußfol-gerungen die Vorzeichen umkehren." Ganz ähnlich hatte der Sozialist Franz Mehring 1893 betont: „Es ist kaum nötig zu sagen, daß die wissenschaftliche Geschichtsforschung mit den preußenfeindlichen Mythologemen eben-sowenig zu schaffen hat wie mit den preußen-freundlichen."

Eine geschichtliche Analyse des preußischen Staates und des Preußentums hat zu berücksichtigen, daß nicht nur der Begriff Preußen, sondern auch sein Unterbegriff Altpreu-ßen(tum) eine höchst unterschiedliche Interpretation erfahren. Für einige ging Altpreußen im Jahre 1806 unter, für andere 1866 bzw. 1870/71 und für weitere 1918. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Kaiser Wilhelm II. — welcher viel auf sein Preußentum gehalten und welcher der Epoche des „Wilheiminismus" den Namen gegeben hat — kürzlich von einem Historiker nachgesagt worden ist, er habe — obleich noch König von Preußen — nicht mehr gewußt, „was Preußen war" Solch eine Bewertung kann sich auf den aus Baden stammenden Staatssekretär des Auswärtigen Marschall von Bieberstein berufen, der gesagt hat, der Kaiser sei „zu wenig König von Preußen und zu sehr deutscher Kaiser", von welcher Würde er sich einen ganz falschen Begriff zusammengeschmiedet habe. Dadurch stoße er alle Augenblicke nicht nur seine fürstlichen Bundesbrüder und andere nichtpreußischen Stämme vor den Kopf, sondern auch „die partikularen Empfindungen der Preußen selbst" Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich konnte ein Historiker dementsprechend erklären: „Das Preußentum wurde mehr und mehr vom Wilheiminismus überwuchert", heutzutage spreche man vom Preußentum und meine den Wilheiminismus

Keine Preußendiskussion kommt ohne den Begriff der königlich-preußischen Residenz-stadt Potsdam aus. Denn, wie der Potsdamer Kurt Hesse 1967 in seinem Buch „Der Geist von Potsdam" formulierte: „Die Beschäftigung mit Preußen führt immer wieder zu Potsdam, zum Mittelpunkt des preußischen Staates." Das auch die Schule durchdringende und militarisierende „preußisch-potsdamische Prinzip" hat der Schlesier Gerhard Hauptmann scharf verdammt Wie es sich auswirken konnte, hat der erste nordrhein-westfälische Ministerpräsident, der katholische Zentrumspolitiker Amelunxen, in seinen Erinnerungen geschildert. Er mußte am Kaisergeburtstag 1898 das von einem Oberlehrer verfaßte Gedicht in einer Aula zu Münster aufsagen:

„Klein bin ich, hab'noch keinen Bart, doch kenn ich schon Soldatenart!

Drum hab ich, wie es dem Kaiser gefällt, so stramm mich hier aufgestellt!"

In der eine Spitze „gegen die Tradition des Reiches" enthaltenden Idee von Potsdam verkörperte sich nach Meinung vieler — besonders auch demokratischer Preußenkritiker — die „Räson des Obrigkeitsstaates" Im Kontext der Diffamierung des Preußentums stellte ein Kritiker 1946 die These auf: „Der Glaube an die Gewalt wurde getragen von dem Geist von Potsdam ... Potsdam wurde das Mekka der Militaristen und in der Potsdamer Garnison-kirche übernahm Hitler symbolisch die Macht." Ein anderer schrieb 1948: „Potsdam ... ist ein prägnanter Begriff: mehr oder minder aufgeklärter Absolutismus mit und ohne Krückstock, junkerlich schnarrende Überheblichkeit, sturer Muschkotendrill, schäbig verbrämt mit dem Flittergold der Hohenzollernlegende." Mit solch beißender Kritik sollte man es sich nicht zu leicht machen; denn immerhin hat der dem führenden 20, -Juli-Mann und Potsdamer Offizier Henning von Tresckow nahestehende Potsdamer Kriegsschullehrer Hesse geschrieben: „Wäre nicht am 20. Juli 1944 der Geist von Potsdam unter Beweis gestellt worden, so müßte man sagen, daß mit dem Kriegsausgang der geschichtliche Weg des deutschen Volkes im Zeichen des preußischen Gedankens endete."

Die Tatsache, daß der von den Nazis verfolgte Fritz Löwenthal 1948 befriedigt konstatieren konnte: „Unter den Trümmern der Stadt (Potsdam) liegt auch der alte’ Geist von Potsdam begraben, mag die Zahl seiner unbelehrbaren Anhänger auch noch so groß sein" findet ihre Erklärung auch in dem Diktum des Monarchisten Schoeps: „Der Gedanke der Volks-souveränität war preußisch stets eine Unmöglichkeit. Nicht das Volk ist souverän, sondern der Monarch." Dieser Monarch residierte, beschützt von seinen Garderegimentern, au-ßerhalb der geschäftigen Welt-und Industriestadt Berlin, in der idyllischen Residenzstadt Potsdam.

Das Instrument der Souveränität des die — auch noch unter der Bismarckschen Reichsverfassung — „Kommandogewalt" ausübenden Preußenkönigs waren seine Soldaten. Sie trugen des „Königs Rock“. Deshalb sagte der konservative Parteiführer Graf Westarp 1913: „Wir können kein Parlamentsheer, sondern nur ein einheitlich geführtes Heer brauchen ... Die Aufrechterhaltung einer starken Staatsgewalt ist speziell die preußische Aufgabe." Wilhelm II., der den Weltkrieg im Sommer 1918 als Auseinandersetzung zwischen der „preußisch-deutsch-germanischen" und der dem „Götzendienst des Geldes" verfallenen angelsächsisch-demokratischen Weltanschauung interpretierte hat deshalb wie-derholt provozierend geprahlt: „Wo meine Garde auftritt, da gibt es keine Monarchie.'Sein Kammerherr Elard von Oldenburg-Januschau, von dem der berühmt-berüchtigte Ausspruch stammt, der König von Preußen müsse zu jeder Zeit einem Leutnant sagen können: „Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag" hat noch 1917 den entlarvenden Ausspruch getan: „Wenn das allgemeine Wahlrecht in Preußen verkündet wird, dann haben wir den Krieg verloren." Auch der preußische Feldherr Erich Ludendorff, welcher 1923 zusammen mit Adolf Hitler gegen die Weimarer Republik putschte, hat im Sommer 1918 dem ständisch-hierarchischen Prinzip bzw.dem Klassenegoismus so den Vorrang vor der nationalen Solidarität gegenüber dem äußeren Feind gegeben: „Ich fürchte die Revolution mehr als die militärische Niederlage."

IV. Altpreußen, Nazi-Preußen und Volkspreußen

In solchen Worten deutet sich eine Auflösung ethisch-religiös geprägter (alt-) preußischer Wertvorstellungen und ihre Reduktion auf eine rein weltliche, antirepublikanisch-rechtsradikale Einstellung an. Allein dies macht verständlich, warum ein rechtsradikaler „Nationalbolschewist" 1926 erklären konnte: „Der Bolschewismus ist die Preußenidee Rußlands" und warum ein anderer „preußischer Leninist" namens Ernst Jünger im Krisenjahr 1932 schrieb: „Je zynischer, preußischer oder bolschewistischer im übrigen das Leben geführt werden kann, desto besser wird es sein.“ Damit wurde das bereits vor 1914 geprägte Hohnwort „Prussakentum", welches dem als Büttel der zaristischen Selbstherrschaft fungierenden nachempfunden war nachträglich gerechtfertigt. Von hier bis zu den von dem NS-Schreiber Wilhelm Ihde 1943 in „Das Preußische Prinzip" aufgestellten Thesen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Dort wird nicht nur der preußische Paradeschritt als „Perpendikel der deutschen Seele" bezeichnet unter Berufung auf den „sächsischen Preußen" Treitschke der Macht-staat verherrlicht, sondern schließlich noch behauptet, der „von Preußen in das Reich hineingeschleuderte Pflichtbegriff" habe entscheidend zur Entfernung des „Giftbazillus Demokratie aus dem Volkskörper" und zur Etablierung der am 30. Januar 1933 strahlend und triumphierend zur Macht gelangten „Einherrschaft" beigetragen

Mit solchen Zitaten sind wesentliche Gründe für die Verfemung und Auslöschung Preußens nach 1945 angedeutet und wird zugleich erklärt, warum nach dem Krieg nicht nur in der SBZ/DDR, sondern auch im einstmals weifischen Hannover gegen den „Ungeist von Potsdam" polemisiert worden ist Die wilhelminische Überlagerung und Verformung des Altpreußentums, welche sich — zu Lasten eines friedlich-diplomatischen Ausgleichs — an der einseitigen Betonung des Macht-bzw. Gewalt-prinzips und in einer Abkehr vom altpreußischen Gedanken des sozialen Königtums ablesen läßt, findet ihren Ausdruck in der 1935 publizierten „Konservativen Politik" des langjährigen konservativen Parteiführers Kuno Graf Westarp. Dieser hatte 1925 auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei gewarnt: „Es besteht die Gefahr, daß unser Volk sich aus Gewohnheit mit den Verbrechen der Novemberrevolution und mit der ganzen Unfähigkeit des demokratischen Systems abfindet." In seiner „Konservativen Politik" sprach Westarp von den „so bitternötigen preußischen Tugenden der Unterordnung des einzelnen unter den Staat“ und bekannte freimütig: „Uns Konservativen war die Zertrümmerung der Sozialdemokratie über alle Tagesfragen hinweg , das große Problem.“ Darüber hinaus erklärte er apodiktisch zum Problem eines Verständigungsfriedens im Ersten Weltkrieg: „Der Gedanke war unpreußisch"

An einer solch starren, nicht kompromißfähigen Haltung ist das königliche Preußen — und dies war nach konservativer Auffassung Preußen überhaupt — Ende 1918 zugrunde gegangen. Da preußisch sein bislang bedeutet hatte, „monarchisch gesinnt sein" verkündete der erste sozialdemokratische preußische Ministerpräsident Hirsch im März 1919 vor der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung: „Das alte Preußen ist für immer dahin. Ein neues Preußen ist im Werden." So definierte er das sozialdemokratische Ziel, aus dem „Junkerpreußen" ein „Volkspreußen" zu machen Diesem naturgemäß von monarchisch-konservativer Seite bekämpften (sozial-) demokratischen Versuch einer Umpolung des Preußentums hat der liberale Berliner Historiker Friedrich Meinecke Rücken-deckung erteilt, indem er 1919 erklärte: „Nicht das echte, das eigentliche preußische System ist in der Katastrophe von 1918 zugrunde gegangen, sondern das entartete, das aus den Fugen geratene." Welche Widerstände einer Neubegründung und Neuorientierung Preußens entgegenstanden, die in der Aufhebung der „Trennung von Weimar und Potsdam als Spaltung von Gedanke und Tat" bestehen sollten wie sie sich in Wilhelm von Humboldt als Preußen und Liberalen, als Politiker und Philosoph verkörpert habe verdeutlicht eine programmatische Stellungnahme des vielen nationalgesinnten deutschen Bürgern aus der Seele sprechenden Gustav Stresemann. Dieser hat am 13. April 1919 in Jena auf dem Parteitag der anfänglich nicht unbedingt republikanisch orientierten „Deutschen Volkspartei" gesagt, der vielfach bei einzelnen Demokraten und Sozialisten „zum Ausdruck kommende Haß gegen Preußen" stelle eine „grenzenlose geschichtliche Undankbarkeit" dar. Das deutsche Volk sollte „seinem Himmel dafür danken, wenn es noch ein Heer besäße, in dem der Geist von Potsdam lebendig" wäre (stürmischer Beifall), das alte Heer sei nämlich „verlumpt und verludert" Dies war ein um so böseres Vorzeichen, als die deutsche Nationalversammlung wegen der von revolutionär-kommunistischer Seite ausgehenden Unruhen nicht im politisch-industriellen Machtzentrum Berlin, sondern vielmehr in der durch Goethe und Schiller zu Weltruhm gelangten thüringischen Residenzstadt Weimar zusammentrat.

Auf diese Dinge spielte der Nationalsozialist und frühere preußische Offizier Hermann Göring an, der im Januar 1931 den im holländischen Exil lebenden Wilhelm II. besucht und in ihm ernsthafte Hoffnungen auf eine Restauration der Hohenzollernmonarchie durch die Nationalsozialisten erweckt hat als er im Anschluß an den bereits erwähnten Festakt in der Potsdamer Garnisonkirche vom 21. März 1933 bei der Eröffnung des Reichtstages triumphierte: „Man hat damals — 1918/19 — das Wort . Potsdam'verfemt und hat geglaubt, aus dem Geiste von Potsdam herausgehen zu müssen nach Weimar ... Nun ist Weimar überwunden ... Auch heute war es symbolisch, daß der neue Reichstag zurückgefunden hat zu der Stätte, von der einst Preußen und Preußen-Deutschland ausgegangen ist. Wir sind heute in Demut, Dankbarkeit und Ergriffenheit nach Potsdam gegangen."

Tatsächlich war der von allen deutschen Sendern übertragene Festakt von Potsdam, den Josef Goebbels benutzt hat, um den „geheiligten Boden von Potsdam" und das „unsterbliche Preußentum" propagandistisch in den Dienst des „Dritten Reiches" zu stellen nicht ohne „gewisse Mißhelligkeiten" abgelaufen. Denn: „Der alte Hindenburg hatte darauf bestanden, nach altem Brauch mit „Helm ab zum Gbet auch dem . Herrn der Schlachten dort oben'den gebührenden Tribut zu zollen. Vor der patriotischen Zeremonie waren daher Gottesdienste angesetzt worden. Es fiel peinlich auf, daß Hitler sich davon fernhielt."

Hier deutet sich ein Bruch in der temporären (Mes-) Allianz zwischen dem Altpreußentum und dem Pseudopreußentum der Nationalsozialisten an, der in der Person des Henning von Tresckow beispielhaft seine Verkörperung findet. Tresckow nämlich, welcher — wie viele Konservative — dem Nationalsozialismus anfänglich auch gute Seiten abgewonnen hat und am „Tag von Potsdam" mit seinem Bataillon vor Hindenburg und Hitler paradierte, sagte — mitten in Attentatsvorbereitungen stehend — anläßlich der Konfirmation seiner Söhne am 11. April 1943 in der Potsdamer Garnisonkirche: „Vergßt niemals, daß ihr auf preußischem Boden und in preußisch-deut sehen Gedanken aufgewachsen und heute ai der heiligsten Stätte des alten Preußentum eingesegnet seid. Es birgt eine große Ver pflichtung in sich, die Verpflichtung zur Wahr heit, zur innerlichen und äußerlichen Diszip lin, zur Pflichterfüllung bis zum Letzten. Abe man soll niemals vom Preußentum Sprecher ohne darauf hinzuweisen, daß es sich dami nicht erschöpft. Es wird oft mißverstandet Vom wahren Preußentum ist der Begriff Frei heit niemals zu trennen. Wahres Preußentun heißt Synthese zwischen Bindung und Freihei ... Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zi seelenlosem Kommiß und engherziger Recht haberei herabzusinken. Nur in der Synthes« liegt die deutsche und europäische Aufgab« des Preußentums, liegt der . preußisch« Traum'."

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. Attwood, Fontane und das Preußentum, Berlin 1970, S. 11.

  2. B. Scheurig, Preußen und Preußen-Renaissance, in: Um West und Ost, Hamburg 1969, S. 11.

  3. B. Engelmann, Preußen. Land der unbegrenzten Möglichkeiten, München 1979; S. Haffner, Preußen ohne Legende, Hamburg 1979.

  4. So O. J. Frauendorf in „Welt am Sonntag“ vom 25. 3. 1979.

  5. W. Venohr, Preußische Porträts, Hamburg 1969, S. 9.

  6. H. J. Schoeps, Das Ethos des preußischen Beamtentums, in: Neue deutsche Beamtenzeitung, 6. Jg. Jan. 1956, Nr. 1, S. 1.

  7. 20. 9. 1974.

  8. Zit. nach W. Venohr, Preußische Porträts, Hamburg 1969, S. 7.

  9. G. Lukacz, Schicksalswende, Berlin 1948, S. 68.

  10. Zit. nach W. Venohr, Preußische Porträts, Hamburg 1969, S. 16.

  11. Zit. nach: Die Zeit vom 12. 12. 1946.

  12. J. Goebbels, Revolution der Deutschen, Oldenburg i. O. 1933, S. 64.

  13. Zit. nach F. Herre, Nation ohne Staat, Köln 1967, S. 331.

  14. So war Preußen dem prominenten späteren französischen Nationalisten Charles Maurras als Kind vorgestellt worden. Zit. nach E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 96.

  15. Zit. nach E. Kühnelt-Leddin, Freiheit oder Gleichheit, Salzburg 1953, S. 107.

  16. So Norman Angel auf S. 47 in seinem 1914 in London publizierten Buch „Prussianism and its de-

  17. Stuttgart 1968, S. 548.

  18. Der Meldereiter, 21. Jg„ Nr. 3, Sept. 1977.

  19. Zit. nach R. Höhn, Verfassungskampf und Heereseid, Leipzig 1938, S. 343.

  20. G. Freytag, Preußen und Deutschland, Stuttgart 1968, S. 311.

  21. Zit. nach K. Attwood, Fontane und das Preußentum, Berlin 1970, S. 77 ff.

  22. Zit. nach E. Engelberg, Im Widerstreit um die Reichsgründung, Berlin 1970, S. 405

  23. Zit. nach Marx/Engels, über das reaktionäre Preußentum, Hrsg. E. P. Kandel, Moskau 1943, S. 8f. und 43.

  24. Vgl. L. Schwarzschild, Der rote Preuße. Leben und Legende von Karl Marx, Stuttgart 1954.

  25. A Künzli, Karl Marx, Wien 1966, S. 185.

  26. Berlin 1932, S. 29.

  27. Ebda, S. 68.

  28. Zit. nach P. Sager, Preußen wieder ausgraben, in: ZEIT-MAGAZIN Nr. 21 vom 18. 5. 1979, S. 12.

  29. S. 29 ff.

  30. Breslau 1934, S. 7.

  31. E. Hanfstaengel, Zwischen Weißem und Braunem Haus, München 1970, S. 70.

  32. A Francois-Poncet, Als Botschafter in Berlin, Mainz 1947, S. 106.

  33. P. W. Wenger, Wer gewinnt Deutschland?, Stuttgart 1959, S. 13.

  34. Zit. nach: Süddeutsche Zeitung vom 16/17. 12. 1978.

  35. Zit. nach M. Bierbaum, Das Leben des Kardinals von Galen, Münster 1966, S. 358 f.

  36. So E. J. Feuchtwanger, Preußen. Mythos und Realität, Frankfurt/M. 1972, S. 4. V

  37. H. Rosenberg, Bureaucracy, aristocracy and auto-cracy, Cambridge/Mass. 1958, S. 234.

  38. Zit. nach H. J. Schoeps, Preußen, Berlin 1967, S. 6.

  39. Vgl. E. Vermeil, Germanys three Reichs, London 1944, S. 409.

  40. Zit. nach S. Kähler, Studien zur deutschen Geschichte, Göttingen 1961, S. 338.

  41. Zit. nach W. Schüssler, Preußen und Österreich in der deutschen Geschichte, Göttingen 1963, S. 2.

  42. W. v. Hanstein, Von Luther bis Hitler, Dresden 1947, S. 7.

  43. U. Volkmann, Die preußische Revolution, Stockholm 1940, S. 7.

  44. F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946, S. 23 ff.

  45. A. Kantorowicz, Deutsches Tagebuch, München 1959, S. 376 f.

  46. B. Guttmann, Preußens Ausgang, in: Die Gegenwart v. 31. 3. 1947, S. 7.

  47. H. Zipperlen, Nationalismus und Militarismus, Stuttgart 1947, S. 10 (Kulturaufbau-Flugschriften Nr. 8).

  48. Zit. nach: H. -J. Netzer (Hrsg.), Preußen, München 1968, S. 204.

  49. Zit. nach K. -H. Strehler, Friedrich II. und der altpreußische Militarismus in der Bundeswehr, in: Zeitschrift für Militärgeschichte, Jg. 8 (1969), S. 316.

  50. FAZ vom 21. 7. 1956.

  51. H. J. Schoeps, Das Ethos des preußischen Beamtentums, in: Neue Deutsche Beamtenzeitung, 6. Jg. (1956), Nr. 1, S. 1.

  52. Ulm 1953, S. 15 und 64.

  53. H. Burneleit, Preußen. Erbe und Auftrag, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, Bd 13 (1963), S. 23.

  54. Göttingen 1957, S. 6 u. 73.

  55. Dresden 1943.

  56. Zit. nach H. J. Schoeps, Der Weg ins deutsche Kaiserreich, Berlin 1970, S. 181.

  57. Preußische Porträts, Hamburg 1969, S. 9.

  58. *Z 1i 0t. nach: Die Zeit vom 14. 9. 1973.

  59. 5. 1. 1968.

  60. In: Welt am Sonntag v. 21. 1. 1962.

  61. In: Die Zeit Nr. 13 v. 23. 3. 1973.

  62. Zit. nach: Spiegel Nr. 51 v. 17. 12. 1973, S. 45.

  63. Zit. nach: Stern Nr. 25 v. 12. 6. 1974.

  64. F. J. Strauß, zit. nach: „Bayernkurier" v. 31. 8. 1974.

  65. H. Schleier, Sybel und Treitschke, Berlin (Ost) 1965, S. 9.

  66. W. Berthold (Hrsg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, Köln 1971, S. 154.

  67. In: Wer gewinnt Deutschland?, 1959, S. 13.

  68. Vgl. G. Zehm, Auf der Suche nach Preußen, in: Die Welt Nr. 246 v. 21. 10. 1978

  69. Zit. nach K. Stenkewitz, Gegen Bajonette und Dividenden, Berlin 1960, S. 138.

  70. Jahrbuch für die Geschichte Mittel-u. Ostdeutschlands III (1954), S. 209.

  71. F. Harzendorf, So kam es, 1946, S. 14.

  72. W. Hagemann, Der Weg in den Abgrund, München 1946, S. 8.

  73. A Siemsen, Die Tragödie Deutschlands und die Zukunft der Welt, Hamburg 1947, S. 33.

  74. Zit. nach O. Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg/Berlin 1906, S. 251, Art.: Preußentum.

  75. Hrsg. H. v. Königswald, Oldenburg 1964, S. 21.

  76. H. Rauschning, Preußen, in: Zeitschrift für Geopolitik, 24. Jg., 1953, S. 36.

  77. Die Zeit Nr. 25 vom 22. 6. 1962.

  78. E. Spranger, Staat, Recht und Politik, Tübinger 1970, S. 392.

  79. E. Spranger, Kultur und Erziehung, Leipzig 1925, ;. 137.

  80. R. C. v. Gersdorff, Soldat im Untergang, Frankurt/M. 1977, S. 15.

  81. B. Hebestreit, Was ist preußisch, Halle a. d. S. 907, S. 25.

  82. H. J. Schoeps, üb'immer Treu und Redlichkeit, üsseldorf 1978, S. 11.

  83. So der in Münster/W. lehrende amerikanische rofessor R. C. Walton in seinem Vortrag: „Preußen nd das Preußentum aus amerikanischer Sicht" von 979, Manuskript S. 4.

  84. Frankfurter Rundschau vom 8. 9. 1973.

  85. Die Welt vom 14. 7. 1977.

  86. E. Spranger, Staat, Recht und Politik, Tübingen 1970, S. 409.

  87. Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt/M. 1977.

  88. J. Goebbels, Revolution der Deutschen, Oldenburg i. O. 1933, S. 59ff.

  89. U. Volkmann, Die preußische Revolution, Stockholm 1940, S. 15.

  90. „Zeit-Magazin" Nr. 21 vom 8. 5. 1979, S. 18.

  91. H. J. Netzer, Preußen, München 1968, S. 2951.

  92. W. Seddin, Preußentum gegen Sozialismus, Berlin 1935, S. 30.

  93. B. Hebestreit, Was ist preußisch?, 1907, S. 25, 14 u. 21.

  94. Ebda, S. 31.

  95. Zit. nach Der Spiegel Nr. 39 vom 21. 9. 1970. S. 62.

  96. F. Bluche, Le despotisme clair, Paris 1968 S. 13.

  97. J. Bainville, Geschichte zweier Völker Frankreichs Kampf gegen die deutsche Einheit Hamburg 1940, S. 106.

  98. L. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Ge-

  99. Zit. nach H. Kathe, Die Hohenzollernlegende, Berlin 1973, S. 9.

  100. B. Scheurig, Um West und Ost, Hamburg 1969, S. 15.

  101. Zit. nach E. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens, München 1969, S. 117

  102. G. Pacyna, Agrarfabriken oder Bauernhöfe?, Hamburg 1958, S. 61 f.

  103. K. Hesse, Der Geist von Potsdam, Mainz 1967, S. 265.

  104. Zit. nach K. Fl. Höfele, Geist und Gesellschaft der Bismarckzeit, Göttingen 1967, S. 23 f.

  105. R. Amelunxen, Ehrenmänner und Hexenmeister, München 1960, S. 15.

  106. Vgl. E. Niekisch, Deutsche Daseinsverfehlung, Berlin 1946, S. 19 und 58.

  107. O. Vollnhals, Verhängnis der Gewalt, Wiesbaden 1946, S. 31.

  108. F. Löwenthal, Der neue Geist von Potsdam, Hamburg 1948, S. 11.

  109. K. Hesse, Der Geist von Potsdam, Mainz 1967, S. 245.

  110. F. Löwenthal, Der neue Geist von Potsdam, Hamburg 1948, S. 11.

  111. H. J. Schoeps, Die Ehre Preußens, Stuttgart 1951, S. 36.

  112. Preußen. Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Zukunft, Berlin 1913, S. 57.

  113. Zit. nach J. Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776-1945, Bern 1976, S. 205.

  114. Zit. nach F. W. von Oertzen, Junker, Oldenburg 1939, S. 376.

  115. Zit. nach J. Neurohr, Der Mythos vom Dritten Reich, Stuttgart 1957, S. 43.

  116. Zit. nach J. Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus, Köln 1978, S. 52.

  117. So Mahlmeister, zit. nach E. Schüddekopf, Linke Leute von rechts, Stuttgart 1960, S. 187.

  118. E. Jünger, Der Arbeiter, 2. Aufl. Hamburg 1932, S. 201.

  119. O. Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg/Berlin 1906, S 253.

  120. W. Ihde, Das Preußische Prinzip, Berlin 1943, S. 9.

  121. Ebda S 55f

  122. Zit nach: Der Spiegel H. 10 vom 3. 3. 1954, S. 10.

  123. K. Westarp, Die Deutschnationale Volkspartei, Berlin 1928, S. 1.

  124. K. Westarp, Konservative Politik, Bd. 2, Berlin 1935, S. 671.

  125. Ebda I, S. 338.

  126. Ebda II, S. 676.

  127. B. Hebestreit, Was ist preußisch?, Halle 1907, S. 27.

  128. P. Hirsch, Der Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen, Berlin 1929, S. 225.

  129. F. Meinecke, Nach der Revolution, München 1919, S. 18.

  130. B. Bauch, Der Geist von Potsdam und der Geist von Weimar, Jena 1926, S. 27.

  131. B. Guttmann, Preußens Ausgang, in: Die Gegenwart, 31. 3. 1947, S. 8.

  132. G. Stresemann, Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles, Berlin 1919, S. 155.

  133. Vgl. S. v. Ilsemann, Der Kaiser in Holland II, München 1968, S. 152II.

  134. H. Göring, zit. nach W. Gehl, Die nationalsozialistische Revolution, Breslau 1933, S. 105.

  135. So heißt es in seinem Aufruf vom 18. 3. 1933, ebda, zit. S. 96.

  136. W. Gans zu Putlitz, Unterwegs nach Deutschland. Erinnerungen eines Diplomaten, 16. Aufl. Berlin (Ost) 1972, S. 130.

  137. Zit. nach B. Scheurig, Henning von 2. Aufl. Oldenburg 1973, S. 147.

Weitere Inhalte

Johannes Rogalla von Bieberstein, M. A, Dr. phil., geb. 1940; Bibliotheksoberrat an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Archiv, Bibliothek und Museum als Dokumentationsbereiche, München-Pullach 1975 (Bibliothekspraxis Bd. 16); Die These von der Verschwörung 1776— 1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern 19782; Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen. Erhebung und Gutachten, Köln 1979 (Kulturförderung in Nordrhein-Westfalen).