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Zum Grundsatzprogramm '81 des Deutschen Gewerkschaftsbundes | APuZ 25/1981 | bpb.de

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APuZ 25/1981 Artikel 1 Ein „Recht auf Arbeit" oder Vollbeschäftigung? Zum Grundsatzprogramm '81 des Deutschen Gewerkschaftsbundes Theoretische und wirtschaftspolitische Konsequenzen aus der Kritik an der Wachstumsgesellschaft

Zum Grundsatzprogramm '81 des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Gerhard Leminsky

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Verfasser stellt das Grundsatzprogramm 81 des DGB in den Gesamtzusammenhang der gewerkschaftlichen Entwicklung; er sieht programmatisches Denken als Teil gewerkschaftlicher Politik und weist auf die strukturellen und organisatorischen Bedingungen der Programmdiskussion hin. Vor diesem Hintergrund werden Schwerpunktverlagerungen gewerkschaftlicher Politik, insbesondere die Beziehungen zu Staat und Unternehmensbereich, deutlich, die sich bei einer bloßen Textinterpretation nicht erkennen lassen: Die Gewerkschaften müssen sich mehr auf ihre eigene Kraft verlassen, was weitreichende programmatische, politische und organisatorische Konsequenzen haben wird.

Auf seinem Vierten Außerordentlichen Kongreß, der vom 12. bis 14. März 1981 in Düsseldorf stattfand, hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund ein neues Grundsatzprogramm gegeben. Die Bedeutung dieses Programms läßt sich nur sinnvoll einschätzen, wenn man es in den Gesamtzusammenhang der gewerkschaftlichen Entwicklung stellt, wenn die Wechselwirkungen zwischen programmatischem Denken und gewerkschaftlicher Politik beachtet werden und wenn man die strukturellen und organisatorischen Bedingungen einer Programmdiskussion nicht außer acht läßt. Erst dieser Hintergrund kann die innergewerkschaftliche Diskussion um das neue Grundsatzprogramm erklären. Wer den Text des Programms aus seinem historischen, politischen und ökonomischen Umfeld löst, wird weder den Stellenwert dieses Dokuments noch die Politik der Gewerkschaften überhaupt verstehen.

Deshalb geht es bei den folgenden Überlegungen nicht um eine Textdarstellung des Grundsatzprogramms ‘ 81, sondern um eine Darstellung der Zusammenhänge, von denen es zu erklären ist und auf die es bezogen werden muß. Sonst ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die Auseinandersetzungen sich in inhaltslosem Prinzipienstreit oder in kleinlichen Begrifflichkeiten erschöpfen. Das spricht nicht gegen eine Auseinandersetzung um den Text des Programms. Aber diese Auseinandersetzung, etwa um den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, muß auf die konkreten Bedingungen bezogen werden, in der dieser Konflikt auszutragen ist.

Die historische Ausgangslage gewerkschaftlicher Politik

Die Gewerkschaften in der Industrialisierungsphase Mit der Industrialisierung entstand die abhängige Arbeit mit ihren unmenschlichen Folgen, und es bildeten sich zugleich jene Organisationsformen, die für eine, menschliche Industriearbeit kämpften: sozialistisch orientierte politische Parteien und Gewerkschaften. Ohne das Gewicht christlich ausgerichteter oder liberal beeinflußter Gruppierungen zu unterschätzen, haben doch die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland vor allem beeinflußt.

Parteien und große, auf Reichsebene organisierte gesellschaftliche Gruppen mit einheitlicher Programmatik gab es noch vor den Gewerkschaften. Zwar hatte auch die Arbeit ihre Vertretungen, aber es waren traditionelle, aus Zunftvorstellungen gewachsene, aufgesplitterte Handwerkerbünde, die meist eng umgrenzte Gebiete umfaßten und die Rechte spezialisierter Berufszweige verteidigten. Die großen politischen Gruppierungen wollten dieses Potential für ihre Zwecke zusammenfassen — und so wurde gewerkschaftliche Tagespolitik mit längerfristigen sozialistischen, liberalen und konfessionell-konservativen Gesellschaftsvorstellungen verknüpft.

Diese Ausgangslage hat die deutsche, zumal die sozialistische Arbeiterbewegung tief geprägt. Die Gleichberechtigung des Industriearbeiters im wirtschaftlichen und staatlichen Bereich wurde als von der Politik des Staates abhängig gesehen — jedenfalls hat sich diese Einschätzung in der gewerkschaftlichen Pro-grammatik und Politik weitgehend durchgesetzt. Seit der frühen Zeit der Arbeiterbewegung wird eine Verbesserung der Lage der Arbeitenden niemals nur als Veränderung der unerträglichen Arbeitsbedingungen, der niedrigen Löhne und der allgemeinen Rechtlosigkeit im Betrieb gesehen, sondern vor allem als eine strukturelle Umkehr der Machtverhältnisse in Staat und Gesamtgesellschaft. Eine der wichtigsten gewerkschaftlichen Forderungen mußte bei dieser Ausgangslage der demokratische Staat als Voraussetzung für grundlegende Änderungen in der Gesellschaft sein. Wenn der obrigkeitlich-monarchistische Staat zu einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit einem starken Einfluß der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Partei umgeformt werden könnte, dann sei der entscheidende Hebel für eine Demokratisierung auch der Wirtschaft gegeben. Solche Änderungen wurden also über staatliche Politik gedacht und waren „von oben" her in Gang zu bringen. Die Gewerkschaften sollten gewissermaßen die Fußtruppen sein, die eine solche Entwicklung herbeiführten; die damit verbundene Planungs-und Lenkungsmacht hätten die sozialistischen politischen Gruppierungen dann im Parlament umzusetzen. Diese Verbindung von Staat und Demokratisierung konnte jedoch nur wirksam werden, wenn die staatliche Macht von Parteien besetzt war, die über entsprechende Zielsetzungen und Durchsetzungsvermögen verfügten. Eigenständige gewerkschaftliche Aktivitäten hatten in diesem Konzept zunächst nur wenig Raum; betriebsbezogene Politik, soweit nicht zentral gesteuert, wurde zurückhaltend eingeschätzt; es ging um eine von oben durchzusetzende Demokratisierung für den Arbeiter, aber weniger durch ihn und mit ihm selbst. Die Arbeiterbewegung wollte an den „Schalthebeln der Macht" ansetzen, sie ging nicht so sehr von den unmittelbaren Interessen der Arbeiterschaft aus. Diese Schalthebel sollten durch ein Gefüge von durch Gesetz einzuführenden Institutionen in Besitz genommen werden. Wirtschaftsund Sozialräte mit paritätischer Besetzung spielten dabei auf nationaler und regionaler Ebene in Verbindung mit Planung und Sozialisierung von Schlüsselindustrien eine wichtige Rolle. Eine mehr basis-nahe Betriebs-und Unternehmenspolitik sollte ebenfalls vor allem im Dienste der gesamtgesellschaftlichen Planung stehen; sie wurde wegen der Gefahr des Betriebsegoismus nur zögernd verfolgt.

Dieses Gesamtkonzept einer institutionell orientierten Reformpolitik über staatliche Maßnahmen wurde, wenn auch mit gewissen Änderungen, insbesondere im Hinblick auf die Mitbestimmung im Unternehmen ebenfalls als bestimmendes Element in die Grundsatzprogramme des DGB von 1949 und 1963 übernommen. Die Umsetzung fiel damit wiederum den Parteien zu; die Gewerkschaften hatten dazu keine eigene Durchsetzungsstrategie. Die Gesamtentwicklung der Arbeiterbewegung hat allerdings zu einigen Veränderungen geführt: In dem Maße, in dem die Gewerkschaften ihre Mitgliederzahlen erhöhten und ihre Organisation ausbauten, mußten sie selber für konkrete Verbesserungen kämpfen. Sie hielten zwar an den auf das sozialistische Endziel gerichteten Vorstellungen der Sozialdemokratischen Partei fest, aber in der Praxis betrieben sie eine Politik schrittweiser, auf die Befriedigung dringender Bedürfnisse gerichteter Reformen, die nur durch die Einsatzbereitschaft und die Mobilisierungsfähigkeit der Mitglieder durchgesetzt werden konnten. Dazu gehörten etwa der Aufbau von Sterbekassen, die Schaffung verschiedener Selbsthilfeeinrichtungen oder der Abschluß von Tarifverträgen (wenn auch von den Vertretern der „reinen Lehre" noch bis in das 20. Jahrhundert als Integrationselement in das kapitalistische System ebenso bekämpft wie heute von vielen die Mitbestimmung), der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen vor allem im Bergbau oder die großen Streiks um die Einführung des Achtstundentages. Ebenso wurden erste Ansätze administrativer Demokratisierung sichtbar durch Mitarbeit in den Einrichtungen der Bismarckschen Sozialversicherungen wie bei den Gewerbegerichten, um zwei frühe Beispiele zu nennen.

Tarif-und Betriebspolitik machten es möglich, Konflikte erfolgreich durch solidarisches Handeln zu lösen. Das hier gewachsene Mobilisierungspotential wurde jedoch kaum mit den institutionell ausgerichteten, systemverändernden Vorstellungen in Zusammenhang gebracht; vielleicht war es deshalb für den gewerkschaftlichen Alltag nie von sonderlicher Bedeutung. Dieses unverbundene Nebeneinander läßt sich bis in die sechziger Jahre hinein verfolgen.

Die „Wirtschaftsdemokratie" der Weimarer Zeit Diese Tendenzen setzten sich in der Weimarer Zeit fort und fanden ihren deutlichsten programmatischen Ausdruck — wenn man sich auf die mit Abstand stärkste, die sozialistische Gewerkschaft bezieht — im Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“. Diese von Naphtali im Auftrage des ADGB ausgearbeitete Perspektive wurde allerdings Mitte der zwanziger Jahre zu einer Zeit entwickelt, als die Möglichkeiten für eine tatsächliche grundlegende Neuordnung schon vorbei waren.

Nach Naphtali konnte zwar ein wirklich demokratischer Aufbau der Wirtschaft innerhalb des kapitalistischen Systems nicht erreicht werden. Die Demokratisierung der Wirtschaft müßte aber im Kapitalismus als Weg zum Sozialismus begonnen werden: „Die Demokratisierung der Wirtschaft bedeutet die schrittweise Beseitigung der Herrschaft, die sich auf dem Kapitalbesitz aufbaut, und die Umwandlung der leitenden Organe der Wirtschaft aus Organen der kapitalistischen Interessen in solche der Allgemeinheit“ (Hamburger ADGB-Kongreß 1928).

Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie, das auf eine Alternative zum bestehenden kapitalistischen System abzielte, beruhte auf den zentralen Elementen Planung, Sozialisierung und Mitbestimmung. Dies wurde auf dem Hamburger ADGB-Kongreß 1928 wie folgt zusammengefaßt: w .. die Ausgestaltung des kollektiven Arbeitsrechts, der Ausbau und die Selbstverwaltung der Sozialversicherung, die Erweiterung des Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer im Betrieb, die paritätische Vertretung der Arbeiterschaft in allen wirtschaftspolitischen Körperschaften, die Kontrolle der Monopole und Kartelle unter voller Mitwirkung der Gewerkschaften, die Zusammenfassung von Industrien zu Selbstverwaltungskörpern, die Ausgestaltung der Wirtschaftsbetriebe in öffentlicher Hand, die Produktionsförderung in der Landwirtschaft durch genossenschaftliche Zusammenfassung und Fachschulung, die Entwicklung der gewerkschaftlichen Eigenbetriebe, die Förderung der Konsumgenossenschaften, die Durchbrechung des Bildungsmonopols“.

Dieses Gegenmachtmodell war entscheidungsnah, aber basisfern und zielte auf die Entscheidungsinstanzen des organisierten Kapitalismus. Es nahm zwar die gewerkschaftlichen Errungenschaften der Weimarer Zeit auf und war gekennzeichnet durch eine positive Einstellung zum demokratischen Staat, den die Gewerkschaften mit erkämpft und während des Kapp-Putsches verteidigt hatten. Aber auch das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie" wurde von einer Minderheit bekämpft, für die der Staat nur Handlanger der herrschenden Kräfte war und für die der Sinn der Gewerkschaftsbewegung nur in einem Anfang zur großen Revolution liegen konnte. Die Gewerkschaften wurden im Strudel der Weltwirtschaftskrise immer schwächer und waren untereinander zersplittert. Die Kommunisten arbeiteten zum Teil mit den Nationalsozialisten zusammen und betrachteten die Sozialdemokraten zeitweise als „Sozialfaschisten“. Die geschwächte Gewerkschaftsbewegung konnte 1933 dem Hitlerregime nichts mehr entgegensetzen. Der Entschluß, eine Einheitsgewerkschaft zu bilden, war zu spät gekommen. Die Vorstellungen der „Wirtschaftsdemokratie“ waren erst nach 1945 wieder aktuell.

Wiederaufbau und Grundsatzprogramm von 1949

Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften die Gewerkschaften einerseits wieder an die Wirtschaftsdemokratie der Weimarer Zeit an. Die Erfahrungen mit dem Versagen des marktwirtschaftlichen Systems in der Weltwirtschaftskrise, der Mißbrauch wirtschaftlicher Macht zu politischen Zwecken und das Ende der Parteien wie der demokratischen Institutionen im Jahre 1933 bestätigten die Gewerkschaften in ihren Forderungen nach einer Alternative zum herrschenden Kapitalismus wie auch zur Zwangswirtschaft nationalsozialistischen Typs.

Andererseits war auch die Schwäche und die Zersplitterung der Arbeiterbewegung mit ein Grund für die Durchsetzungskraft der Nationalsozialisten gewesen. Die große Mehrzahl der gewerkschaftlichen Organisationen schloß sich deshalb 1949 in München zu einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung zusammen: Es entsteht der Deutsche Gewerkschaftsbund als Einheitsgewerkschaft, der die organisatorische Einheit aller derjenigen, die abhängige Arbeit geleistet haben und leisten, bedeutet. Damit wird die Zersplitterung der Gewerkschaften nach politischen Richtungen überwunden, das Prinzip „ein Betrieb — eine Gewerkschaft" verwirklicht und die Trennung der Organisationen nach Berufsgruppen oder Arbeitern, Angestellten und Beamten aufgehoben, wenn man von der Deutschen Angestelltengewerkschaft und dem Beamtenbund absieht.

Der DGB ist damit — wenn auch nicht politisch neutral — parteipolitisch unabhängig, er ist in seiner Willensbildung selbständig. Gewerkschaftliche Ziele werden in und für die Gewerkschaften durch diese selbst formuliert. „Das Grundsatzprogramm wächst auf dem Boden der Einheitsgewerkschaft" (Heinz O. Vetter). Die politische Bedeutung der Einheitsgewerkschaft wurde kaum diskutiert, aber nur, weil sie allen selbstverständlich war, weil sich in der Emigration, im Widerstand und in der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit eine einheitliche Auffassung dazu herausgebildet hatte.

Im einzelnen folgt das Münchener Grundsatzprogramm von 1949, das im wesentlichen aus wirtschaftsund sozialpolitischen Grundsätzen besteht, dem Konzept der Wirtschaftsdemokratie. Es zielte vor allem auf eine grundlegende Neuordnung der Wirtschaft. Den Kern des Programms bilden die Forderungen nach Planung, um Vollbeschäftigung, den zweckmäßigen Einsatz der volkswirtschaftlichen Produktivkräfte und die Deckung des volkswirtschaftlich wichtigsten Bedarfs zu gewährleisten. An zweiter Stelle wird die Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmer in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Wirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung gefordert. Dann folgt die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum. Den Abschluß bildet der Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit bei der Verteilung des volkswirtschaftlichen Ertrages.

Wie schon früher drängten die Gewerkschaften vor allem auf eine Reformpolitik über die staatliche Gesetzgebung. Den im Vorfeld gesetzlicher Regelungen möglichen Einfluß hatten sie, wie man rückschauend feststellen kann, nicht genutzt Sie hatten keinen Einfluß auf eine stärkere Verankerung sozialer Grundrechte im Grundgesetz ausgeübt (Streikrecht, Aussperrung, Sozialisierung, Bundeswirtschaftsrat); sie hatten die teilweise faktisch starke Position von Betriebsräten und örtlichen Gewerkschaftsorganisationen nicht zum Anlaß genommen, um die innerbetriebliche Mitbestimmung zu sichern und um regionale, mit den Gewerkschaften verbundene Planungsgremien zu bilden, die als Ansatzpunkte für eine erfolgreiche dezentralisierte Lenkung nicht so leicht hätten abgeschafft werden können.

Die Vorschläge der Gewerkschaften zur Neuordnung der Wirtschaft waren — der gewerkschaftlichen Tradition folgend — Gesetzesvorschläge. Die konkrete Tarifpolitik war wiederum nicht mit weiterreichenden Zielen verbunden, obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht in strukturelle Änderungen unter den Mitgliedern zunächst weitverbreitet war. Zwischen Zielen und Umsetzung bestand aber nach wie vor eine große Lücke; von den grundlegenden Zielen konnte nur die qualifizierte Mitbestimmung in den Unternehmen des Bergbaus und der Stahlindustrie mit dem Kern paritätischer Arbeitnehmervertretung in den Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren durchgesetzt werden. Diese Mitbestimmung war für die Gewerkschaften der historische Kompromiß, der ihnen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete, der sie aber auch verantwortlich handeln ließ. Denn sie sahen in der Mitbestimmung die Perspektive einer neuen und gleichberechtigten Stellung der Arbeit in der industriellen Gesellschaft; die Montanmitbestimmung war für sie mehr als nur ein Gesetz.

Als dann die CDU/CSU nach ihrem Wahlerfolg mit der „Sozialen Marktwirtschaft" wieder auf die alten Kräfte setzte, breitete sich in den Gewerkschaften Resignation aus. Da das veränderte Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit eine Durchsetzung der Münchener Grundsatzforderungen nicht zuließ und das Kräfteverhältnis im Parlament keine Unterstützung gewerkschaftlicher Forderungen ermöglichte (so die Analyse von Otto Brenner, dem damaligen Vorsitzenden der IG Metall), sollte ein Aktionsprogramm die Gewerkschaften aus der Defensive führen. Dieses Aktionsprogramm, 1955 beschlossen, 1965 und 1972 fortgeschrieben und 1979 neu gefaßt, enthielt solche Forderungen, für die die Arbeitnehmer mobilisiert werden konnten und die mit gewerkschaftlichen Mitteln durchzusetzen waren: kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne und Gehälter, verbesserter Arbeitsschutz, größere soziale Sicherheit und gesicherte Mitbestimmung.

Mit dem Aktionsprogramm wurden wichtige Prioritäten für die gewerkschaftlichen Aktivitäten gesetzt; es hat für die tägliche gewerkschaftliche Arbeit möglicherweise eine größere Bedeutung als das Grundsatzprogramm gehabt.

Gewerkschaftspolitik im Zeichen der Vollbeschäftigung -das Düsseldorfer Programm von 1963

Das Grundsatzprogramm von 1963 wurde auf einem außerordentlichen Kongreß in Düsseldorf beschlossen. Es zog die veränderten ökonomischen Bedingungen in Betracht, die zur Vollbeschäftigung geführt hatten; es war nicht unbeeinflußt vom Godesberger Programm der SPD aus dem Jahre 1959 und ist bis zu einem gewissen Grade die Fortführung jener Politik, die mit dem Aktionsprogramm von 1955 eingeleitet worden war. Hinter dem Grundsatzprogramm von 1963 stand alles in allem eine optimistische Grundvorstellung, die von der „Machbarkeit" der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ausging. Diese wurde als Frage des richtigen Einsatzes der an sich vorhandenen Mittel gesehen, wobei wiederum dem Staat eine wichtige Rolle zukam.

Das neue Programm, dessen Stoßrichtung am deutlichsten in den wirtschaftspolitischen Grundsätzen zum Ausdruck kommt, ist deshalb weniger eine Zielperspektive als vielmehr ein Instrumentenkasten: Selbstverwirklichung und materielle Sicherung des einzelnen und der Arbeitnehmerschaft im ganzen sollten nicht mehr durch eine geschlossene Alternative zum gegenwärtigen System erreicht werden. Es schien, als ob Wachstum und Stabilität am ehesten im Rahmen eines offenen Systems zu sichern seien, wobei je nach Situation verschiedene Maßnahmenkombinationen im Sinne einer Keynes’schen Wirtschaftspolitik erforderlich wären. Das zeigt sich besonders deutlich in den wirtschaftlichen Grundsätzen, die in Grundlagen, Ziele und Mittel aufgeteilt sind.

Unter den Grundlagen der von den Gewerkschaften erstrebten Ordnung der Wirtschaft werden angeführt: ein Höchstmaß an Freiheit und Selbstverantwortung der Arbeitnehmer, eine ihrer Persönlichkeit entsprechende dauerhafte Tätigkeit, eine gerechte Einkommens-und Vermögensverteilung, ein optimales Wachstum der Wirtschaft, die Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht und die Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Offenlegung aller Daten. Die qualifizierte Mitbestimmung als Haupterrungenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wird besonders hervorgehoben als „eine der Grundlagen einer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung. Sie entspricht dem Wesen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates." Unter den Zielen werden die Vorstellungen des DGB in bezug auf Vollbeschäftigung und stetiges Wirtschaftswachstum, gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung, Stabilität des Geldwertes, Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht und internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit näher ausgeführt.

Der Katalog der Mittel umfaßt den volkswirtschaftlichen Rahmenplan, die Haushalts-und Finanzpolitik, Investitionslenkung, Gemein-wirtschaft, Kontrolle wirtschaftlicher Macht einschließlich Sozialisierung, Mitbestimmung, Planung und Wettbewerb.

Zwar sind die alten Forderungen nach Mitbestimmung, Planung und Sozialisierung im Düsseldorfer Programm wieder enthalten, aber sie stehen jetzt in einem anderen Zusammenhang: Planung wird als Mittel zur Sicherung eines stetigen Wachstums mit Wettbewerb als konstruktives Element aufgefaßt. Die Sozialisierung wird nur als Instrument zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht ausdrücklich erwähnt. Nur die Mitbestimmung erscheint sowohl bei den Grundlagen wie bei den Mitteln.

Die Gewerkschaften halten mit dem Düsseldorfer Programm an einer „Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft" fest, die darauf abzielt, alle Bürger an der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Willensbildung gleichberechtigt teilnehmen zu lassen. Aber diese Umgestaltung wird als langfristiger Prozeß angesehen, nicht als geschlossene Alternative zur bestehenden Ordnung. Die gewerkschaftlichen Zielvorstellungen sind dabei nach wie vor zu einem großen Teil konkret antikapitalistisch. Als prinzipielle und ausreichende Deutung wird dieser Ansatz aber als zu eng angesehen. Freiheitsbedrohende Tendenzen gehen nicht nur vom Privateigentum an Produktionsmitteln aus; Bürokratien und Technokratien gefährden die Freiheit in allen hochentwickelten Gesellschaften. Die Offenheit des Grundsatzprogramms von 1963 hat einerseits dogmatische Positionen und „Endziel" -Vorstellungen aufgegeben, barg jedoch andererseits eine Verführung zum bloßen Pragmatismus und zur Tagespolitik ohne längerfristige Perspektive.

Seit 1963 hat sich der Unterschied zwischen Grundsatz-und Aktionsprogramm immer stärker verwischt. Das Aktionsprogramm, das 1955 noch fünf Hauptforderungen enthielt, war 1972 auf 13 Hauptforderungen angewachsen, die sich dann 1979 auf insgesamt 16 Punkte erhöhten. Es zählt technische Maßnahmen wie die Veröffentlichung von Arbeitsunfallzahlen ebenso auf wie strukturverändernde Vorstellungen — etwa die Einführung der integrierten Gesamtschule. Im übrigen enthält auch das Grundsatzprogramm nicht nur grundsätzliche Forderungen wie etwa die gleichberechtigte Beteiligung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften an wirtschaftli-chen Entscheidungen, sondern ebenso instrumenteile Vorschläge wie die freiwillige Inanspruchnahme der Berufsberatung.

Seit Ende der sechziger Jahre sind die Gewerkschaften mehr und mehr dazu übergegangen, zu größeren Teilkomplexen je nach der Situation zusammenhängende Konzepte zu entwickeln, wie Leitsätze der Gewerkschaftsjugend, Grundsätze des DGB zur Neuordnung des Beamtenrechts, Programm des DGB für Arbeitnehmerinnen bis hin zu Leitsätzen des DGB zum Umweltschutz, Vorstellungen zur Humanisierung der Arbeit und zu einem beschäftigungspolitischen Programm des DGB, um das vielleicht aktuellste und gewichtigste Beispiel zu nennen. Solche Konzepte stellen die grundsätzliche Position des DGB zum Thema dar und behandeln die jeweiligen gewerkschaftlichen Forderungen im einzelnen. Diese Teilkonzepte sind die konkreteste Verbindung von Zielen und Mitteln in einer bestimmten Situation.

Die alten Probleme sind aber auch heute noch in fast allen Programmteilen erkennbar: Die gewerkschaftlichen Forderungen richten sich nach wie vor zum großen Teil an den Staat; sie sagen bei allen Präzisierungen meist wenig über die Strategien aus, mit denen die gewerkschaftlichen Forderungen umgesetzt werden sollen. In neuerer Zeit zeichnen sich hier jedoch Änderungen ab.

Strukturelle Änderungen im Vorfeld einer neuen Programmdiskussion

Die Voraussetzungen, die zum Grundsatzprogramm von 1963 geführt haben, bezeichnen auch seine Grenzen. Die Debatte um neue Zielsetzungen entwickelte sich dabei aus verschiedenen Wurzeln. Einmal ist dabei die Aufbruchstimmung Ende der sechziger Jahre zu nennen: Der Wille zu mehr Emanzipation und Demokratisierung verband sich mit dem Glauben an die Gestaltungsmöglichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, wobei das Hauptgewicht auf Fragen des qualitativen Wachstums gelegt wurde. Dieser „Antrag 7" des DGB-Bundeskongresses von 1972, der ein Programm zur Finanzierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen forderte, also eine Verbindung von Grundsatz-und Aktionsprogramm auf quantifizierter Grundlage und eine entsprechende Umsetzungsstrategie, mußte in seinem hohen Anspruch die Gewerkschaften überfordern. Er wurde aber auch durch die weltweite Wirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre unrealistisch.

Im Jahre 1975 wurde deshalb durch den nächsten Ordentlichen Bundeskongreß des DGB dieser Antrag fallengelassen und statt dessen eine Überarbeitung des geltenden Grundsatz-und Aktionsprogramms beschlossen. Von einer völligen Neufassung wurde nach längerer interner Diskussion abgesehen. Die neuen Schwerpunkte für das Programm ergaben sich aus der wirtschaftlichen und politischen Gesamtentwicklung. Der schon länger andauernde Rationalisierungsprozeß führte in Verbindung mit dem konjunkturellen Abschwung zu einer hohen Zahl von Arbeitslosen. Aber auch die im Arbeitsprozeß Stehenden waren durch Veränderung der Qualifikationen und Intensivierung der Arbeit hart berührt. Durch die Verschiebungen der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung und die Einführung neuer Technologien waren bestimmte Industrien und Regionen besonders schwer betroffen. Forderungen nach einem Recht auf Arbeit, nach Vollbeschäftigung und nach Humanisierung der Arbeit mußten notwendigerweise ins Zentrum gewerkschaftlicher Arbeit rücken.

Da der Staat die Vollbeschäftigung nicht sichern konnte, die Rationalisierungsprozesse aber zuerst in Betrieben und Verwaltungen sichtbar werden, gewann die gewerkschaftliche Betriebs-und Tarifpolitik zunehmend an Bedeutung, übrigens nicht nur in der Bundesrepublik. Damit wurden auch die Probleme von Streik und Aussperrung wieder aktuell, die in der langen Zeit der hohen Wachstumsraten fast in Vergessenheit geraten waren.

Die Unternehmer wurden nicht nur widerstandsfähiger gegen die gewerkschaftlichen Forderungen, wie die zunehmende Härte der tariflichen Auseinandersetzungen zeigte. Darüber hinaus versuchten die Unternehmer und die ihnen nahestehenden politischen Gruppierungen auch die bisher erreichten Reformfortschritte zu blockieren oder zurückzunehmen: So klagten sie vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das ohnehin unzureichende Mitbestimmungsgesetz 76; sie wahrten ihre Vorrechte in der beruflichen Bildung; sie sperrten Arbeitnehmer bei Streiks in unverhältnismäßiger Weise aus, um die Gewerkschaften, die in solchen Fällen Unterstützungen zahlen, finanziell auszubluten; sie zentralisierten die Tarifpolitik, um die Konflikte auf eine politische Ebene zu heben, und versuchten sogar, die Montanmitbestimmung, wie im Falle Mannesmann, abzubauen. Die Gewerkschaften sahen sich einer militanten Unternehmerpolitik gegenüber, bei der sie nicht mehr nur an eine harte, aber faire Auseinandersetzung glaubten; sie mußten vielmehr davon ausgehen, daß man sie im Kern ihrer Existenz treffen wollte.

Das mußte Auswirkungen auf ihre Politik und ihre grundsätzlichen Überlegungen haben, da hier nur die Mobilisierung der eigenen Mitglieder ein Gegengewicht schaffen konnte. Auch die Beziehungen der Gewerkschaften zum Staat mußten überdacht werden, und zwar sowohl zu den politischen Parteien wie zum Staat als Verwaltung. Was das Verhältnis Gewerkschaft und Parteien im Rahmen der Arbeiterbewegung angeht, so mußte die Entwicklung der Gewerkschaften zu Einheitsgewerkschaften und der Parteien zu Volksparteien zu Änderungen führen, ohne allerdings die gewachsenen traditionellen Bindungen zu zerstören. Die Gewerkschaften mußten erkennen, daß die Parteipolitik der Volksparteien auf das Gewinnen von Wahlen ausgerichtet war und nicht auf die Befriedigung gewerkschaftlicher Forderungen. Bei Koalitionsregierungen wird die Lage noch weiter kompliziert, wie die politische Debatte um die Montanmitbestimmung und um das Mitbestimmungsgesetz 76 gezeigt hat. Die Gewerkschaften erkannten, daß auch die mit ihnen traditionell verbundenen politischen Gruppierungen nicht ohne weiteres ihre Ziele umsetzen, wenn sie selbst nicht nachdrücklich und glaubwürdig mit ihren Mitgliedern deutlich machen, wo für sie die Grenzen für Kompromisse liegen. Die Gewerkschaften müssen um die Verwirklichung ihrer reformpolitischen Forderungen selber kämpfen, sie können nicht nur an Parteien appellieren.

In der Diskussion wurde häufig der zusammenfassende Satz verwandt, daß sich die Gewerkschaften mehr auf ihre eigene Kraft verlassen müßten. Die Gewerkschaften legten jedoch großen Wert auf die Feststellung, daß sie ihre Ziele im Rahmen der parlamentarischen Demokratie, auf dem Boden des Grundgesetzes und mit rechtsstaatlichen Mitteln vertreten wollten. Diese Positionen wurden von Anfang an in die Grundsatzprogrammdiskussion einbezogen.

Mit diesen Fragen, die in einem inneren Zusammenhang stehen, waren wesentliche Schwerpunkte der Debatte gegeben. Die Angriffe auf die Gewerkschaften und die inter21 nen Diskussionen um den zukünftigen Weg führten daneben zu einer neuen Bewertung der Einheitsgewerkschaft als der Voraussetzung für eine wirksame Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Immerhin konnte die Diskussion im wesentlichen in Ruhe geführt werden. Denn der „Programmatische gewerkschaftliche Bestand" (Heinz O. Vetter) war in den letzten Jahrzehnten ständig gewachsen. Das Grundsatzprogramm von 1949 war zunächst fast noch die alleinige programmatische Grundlage gewerkschaftlicher Politik gewesen; ab 1955 kamen dann die Aktionsprogramme und seit Ende der sechziger Jahre entstanden zunehmend Teilkonzepte, am bedeutsamsten dabei wohl das Vollbeschäfti-gungsprogramm von 1975. Stellt man diese Gesamtprogrammatik in das Netzwerk der Einflußnahme über gesetzliche Regelungen, Mitbestimmung und Tarifpolitik, dann waren die deutschen Gewerkschaften so schlecht wiederum auch nicht gerüstet.

Schwerpunkte der Programmdiskussion

Einige der wesentlichen Schwerpunkte der Programmdiskussion hatten sich schon im neuen Aktionsprogramm gezeigt, das im Juni 1979 vom DGB-Bundesausschuß, dem höchsten Gremium zwischen den Kongressen, verabschiedet worden war: Das Aktionsprogramm war in der Öffentlichkeit meist nur unter aktuellen Gesichtspunkten beurteilt worden, wie den Forderungen nach der Aufnahme der 35-Stunden-Woche, dem Verbot der Aus-sperrung oder der Stellungnahme zum Bau von Atomkraftwerken. Auch wenn das Aktionsprogramm keine grundsätzlich neuen Ziele eröffnet, so werden doch einige Schwerpunktverlagerungen deutlich, die auch das spätere Grundsatzprogramm kennzeichnen:

Gegenüber den lange Jahrzehnte vorherrschenden Forderungen, Reformpolitik über den Staat durchzusetzen, tritt eine größere Betonung der eigenen Möglichkeiten. Der Ausbau der Tarifautonomie taucht erstmals in der Nachkriegszeit (seltsam genug in einem gewerkschaftlichen Aktionsprogramm!) als eigener Abschnitt auf, wobei die Forderung nach einem Verbot der Aussperrung wohl der wichtigste Unterpunkt ist. Die gewerkschaftlichen Ziele nach Recht auf Arbeit und gesicherten Arbeitsplätzen sind an den Anfang des Aktionsprogramms gerückt. In den übrigen Abschnitten zu Arbeitszeit, Einkommen, Arbeitsbedingungen oder Qualifikation wird im einzelnen das Doppelgesicht der Rationalisierung mit Arbeitslosigkeit auf der einen und Ab-gruppierungen, Dequalifizierungen und Arbeitsintensivierung auf der anderen Seite deutlicher als früher hervorgehoben. Soziale Grundrechte und öffentliche Infrastruktur wie Alterssicherung, Bildung, Wohnen, Umwelt und Energie werden noch nachdrücklicher als vorher angesprochen. Neben der — programmatischen — Hervorhebung der Tarifpolitik vor allem in ihren qualitativen Dimensionen werden die Forderungen zur Mitbestimmung und Betriebsverfassung wiederholt — Zeichen des geringen Fortschritts auf diesem Felde gesellschaftlicher Strukturreformen seit Anfang der siebziger Jahre.

Das neue Grundsatzprogramm hat diese Akzentsetzungen ausnahmslos bestätigt. Die Beschäftigungsorientierung zieht sich wie ein roter Faden durch alle Sachkapitel. Vollbeschäftigung im Sinne von humaner und menschenwürdiger Arbeit, die als eines der Grundrechte des Menschen bezeichnet wird, steht dabei im Zentrum. So heißt es: „Der Verwirklichung und Sicherung der Vollbeschäftigung sind alle Institutionen, die die Beschäftigung beeinflussen, zu verpflichten. Verwaltungen und Unternehmen müssen den Grundsatz der Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen bei allen Planungen und Entscheidungen berücksichtigen. An der Durchsetzung einer sozialen und beschäftigungssichernden Politik in den Unternehmen orientieren sich auch die Betriebs-, Mitbestimmungs-und Tarifpolitik der Gewerkschaften.“ Die Beschäftigungsfrage war denn auch eines der Zentralthemen in dem Grundsatzreferat des DGB-Vorsitzenden auf dem Programmkongreß.

Die Sachkapitel waren jedoch nicht kontrovers und wurden nur in wenigen Punkten ergänzt. Sie waren sorgfältig in den gewerkschaftlichen Gremien beraten worden. Viele Beobachter, die hier große Redeschlachten er-wartet haben mögen, vergessen, daß ein Gewerkschaftskongreß meist nicht Anfang, sondern Endpunkt langer vorhergehender Diskussionen ist.

Auch wenn das Grundsatzprogramm '81 vor allem den bisherigen Stand gewerkschaftlichen programmatischen Denkens zusammenfaßte, ohne wesentliche neue Ziele zu entwickeln, so ist doch durch die Umgruppierung der Kapitel mehr Gewicht auf die Gewerkschaften als autonome Kraft und auf die Ausrichtung an den Mitgliederbedürfnissen gelegt worden. Die vorhergehenden Grundsatzprogramme von 1949 und 1963 hatten noch fast ausschließlich Forderungen an den Staat gerichtet. Im neuen Programm beginnen die Sachkapitel nicht wieder mit den Wirtschaftspolitischen Grundsätzen. Am Anfang stehen Forderungen zu den Arbeitnehmerrechten: Recht zum Zusammenschluß in Gewerkschaften, die sich ihre Aufgaben selber stellen, Unantastbarkeit des Streikrechts, Kampf gegen die Aussperrung. Es folgen Grundsätze zum Arbeitsverhältnis und ein gänzlich neuer Abschnitt zur Humanisierung der Arbeit und erst dann die Grundsätze des Wirtschaftens.

Ebenso bedeutsam ist die durchgängige Betonung des Prinzips der Mitbestimmung, der Demokratisierung aller Lebensbereiche, in fast allen Kapiteln des Programms. Die Forderung nach einer Erweiterung der Mitbestimmung wurde durch den Kongreß noch nachdrücklicher formuliert, als es in dem den Delegierten vorliegenden Entwurf schon der Fall war, und zwar sowohl die paritätische Mitbestimmung im Unternehmen nach dem Modell der Montanmitbestimmung als auch die Einflußnahme der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften im überbetrieblichen gesamtwirtschaftlichen Bereich. Hier geht es den Gewerkschaften nicht um neue ideologische Spielwiesen. Was gebraucht wird, sind neue Möglichkeiten der Abstimmung zwischen privaten und öffentlichen Bedürfnissen, zwischen Wachstum und Beschäftigung, zwischen technologischem Wandel und sozialem Fortschritt, die mit den überkommenen Mitteln offensichtlich nicht zu lösen sind.

Solche Gewichtsverlagerungen werden allerdings aus der äußeren Systematik des neuen Grundsatzprogramms nur bedingt deutlich.

Die frühere Grobgliederung in Wirtschaftspolitische, Sozialpolitische und Kulturpolitische Grundsätze ist aufgegeben worden zugunsten von 31 Abschnitten, die großenteils den Unterpunkten des 63er Programms folgen, die also von den wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten ausgehen, dann sozialpolitische Probleme behandeln, auf die Bildungspolitik eingehen und am Schluß die gewerkschaftlichen Auffassungen zu Wissenschaft, Medien und Kultur wiedergeben.

Die Einzelabschnitte des neuen Grundsatz-programms haben die folgenden Überschriften:

1. Arbeitnehmerrechte 2. Arbeitsverhältnis 3. Humanisierung der Arbeit 4. Grundlagen des Wirtschaftens 5. Vollbeschäftigung 6. Gerechte Einkommens-und Vermögens-verteilung

7. Kontrolle wirtschaftlicher Macht 8. Mitbestimmung 9. Wettbewerb und Planung 10. Volkswirtschaftlicher Rahmenplan 11. Investitionslenkung 12. Öffentlicher Haushalt, Finanz-, Steuer-und Geldpolitik 13. öffentliche und freie Gemeinwirtschaft 14. Energiepolitik 15. Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit

16. Ausbau des Systems der sozialen Sicherung

17. Gesundheitswesen 18. Geldleistungen der sozialen Sicherheit 19. Finanzierung der sozialen Sicherung 20. Soziale Selbstverwaltung 21. Arbeits-, Sozial-und Verwaltungsgerichtsbarkeit

22. Sicherung der Wohnungsversorgung 23. Umweltschutz 24. Internationale Sozialpolitik 25. Bildungsgrundsätze und Bildungsplanung 26. Berufliche Bildung 27. Weiterbildung 28. Schule und Hochschule 29. Wissenschaft und Forschung 30. Presse, Funk und Fernsehen 31. Kunst und Kultur.

Die Gewerkschaften bieten in ihrem Grundsatzprogramm keine Patentrezepte an, aber ihre Vorschläge zu früher Information, zur Einschaltung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf allen Ebenen, zur Bindung politischer Entscheidungen an soziale und beschäftigungsmäßige Auflagen können nur von solchen kritisiert werden, die den Sprengstoff von Arbeitslosigkeit und Arbeitsintensivierung nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Delegierten solcher Kongresse, die als Vertrauensleute, Betriebsräte und Gewerkschaftssekretäre täglich mit diesen Problemen umgehen, wissen, wovon sie reden. Sie denken nicht in ideologischen Gesamtkonzepten; das neue Programm geht von konkreten Mitgliederbedürfnissen aus, es will Mindestbedingungen setzen, die dem Schutz der Arbeit dienen, und es will die Beteiligung der Arbeitnehmer an der Gestaltung der Zukunft durch Tarifpolitik und Mitbestimmung offenhalten. Die Kraft zu einer solchen Perspektive finden die Gewerkschaften nur durch solidarische Organisation, die nicht im Widerspruch zur Freiheit des einzelnen steht, sondern die diese zur Voraussetzung hat.

Mehr Auseinandersetzungen als um die Sachkapitel hatte es jedoch im Vorfeld des Kongresses um die Präambelgegeben, die den Einzelabschnitten vorangesetzt ist. Die Diskussion konzentrierte sich dabei auf wenige inhaltliche Punkte:

— Auf das Verständnis von Einheitsgewerkschaft und in Verbindung damit auf den Toleranzbegriff; — auf die Stellung der Gewerkschaften im Rahmen der Verfassung in Verbindung mit dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes bzw.dem Gemeinwohl oder Gesamtwohl. Betrifft die große Frage der Einheitsgewerkschaft mehr das Binnenverhältnis, so ist die Diskussion um den zweiten Punkt mehr auf das Außenverhältnis gerichtet.

Beide Probleme wurden übrigens nicht nur in den Gewerkschaften diskutiert, besonders scharfe Polemiken wurden von außen, von politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen an die Gewerkschaften herangetragen, besonders der Vorwurf von der „kommunistischen Unterwanderung".

Was die Einheitsgewerkschaft angeht, so hatte der Bundesvorstand des DGB neue Formulierungen vorgeschlagen, die mit der Ergänzung zur Verfolgung in der Nazidiktatur und zum Toleranzbegriff verabschiedet wurden: „Die Einheitsgewerkschaft ist aus den Erfahrungen der Arbeitnehmer vor und während der Weimarer Republik und der Verfolgung in der Nazidiktatur entstanden. Sie hat die historischen Traditionen, politischen Richtungen und geistigen Ströme der Arbeiterbewegung, vor allem der freiheitlich-sozialistischen und der christlich-sozialen Richtungen, in eine gemeinsame Organisation zusammengeführt. Sie erübrigt konkurrierende Gewerkschaften. Die interne Vielfalt der Meinungen verpflichtet auf der Grundlage von Toleranz zu einer eigenständigen und unabhängigen Willensbil-düng, die die gemeinsamen Interessen aller Arbeitnehmer zum Ausdruck bringt. Weltanschauliche und politische Ideologien, die die Gewerkschaften für ihre Zwecke mißbrauchen wollen, sind mit dem Gedanken der Einheitsgewerkschaft unvereinbar."

Hinter den Diskussionen stand folgendes Problem: Erstmals in der Nachkriegszeit wurden sich die Gewerkschaften bewußt, wie gefährdet die Errungenschaft der Einheitsgewerkschaft, aber auch wie notwendig sie war. Einerseits hatte die aggressive Politik der Unternehmer seit Anfang der siebziger Jahre den Gewerkschaften gezeigt, daß sie nur solidarisch und geschlossen gegen eine Politik der Reformfeindlichkeit und der Aussperrungen bestehen konnten. Andererseits hatten die politischen Kräfte aller Gruppierungen versucht, die Gewerkschaften mit mehr Druck als bisher auf sich zu verpflichten, was von der Einheitsgewerkschaft DGB Augenmaß und Distanz verlangte. Und drittens mußten sich die Gewerkschaften insbesondere mit den Kommunisten auseinandersetzen.

Der Vorwurf kommunistischer Unterwanderung — vom DGB weder von der Zahl kommunistischer Mitglieder noch von dem Einfluß auf die gewerkschaftliche Politik als berechtigt angesehen — war insofern organisationspolitisch bedeutsam, als die DKP mit dem Anspruch auftritt, die Interessen der Arbeitnehmer authentisch zu bestimmen, was natürlich mit dem Selbstverständnis der Einheitsgewerkschaft, ihre Ziele autonom und selbständig zu bestimmen, substantiell nicht vereinbar ist. Zudem gab es Befürchtungen, daß Kommunisten mit Methoden leninistischer Kaderpoli-B tik ihren Einfluß weit über ihre zahlenmäßige Bedeutung ausdehnen könnten. Die kommunistische Gewerkschaftspolitik hatte bereits Anfang der dreißiger Jahre mit ihrer Gegnerschaft zu den Freien Gewerkschaften das Verhältnis belastet. Wegen dieses „gebrochenen Verhältnisses" der Kommunisten zu den Gewerkschaften betont das neue Programm vor allem die freiheitlich-sozialistischen und die christlich-demokratischen Richtungen als Ursprünge der Einheitsgewerkschaft. Zugleich wendet sich der DGB jedoch auch gegen Positionen, die als kommunistisch abgelehnt werden, obwohl sie seit jeher zu den gewerkschaftlichen Mitteln der Wirtschaftspolitik gehören, wie bestimmte Formen der Wirtschaftslenkung oder der Vergesellschaftung, auch wenn sie gleicherweise von Kommunisten vertreten werden.

Durch die Formulierung „vor allem", die andere Einflüsse nicht ausschließt, durch den Hinweis auf die gemeinsame Verfolgung in der Nazidiktatur, die Christen, Sozialisten und Kommunisten gleicherweise betraf, und durch die Wiederaufnahme eines allerdings qualifizierten Toleranzbegriffs („eigenständig und unabhängig") konnten alle Gewerkschafter — auch solche, die wie die christlichen Kollegen auf den Toleranzbegriff wegen ihrer Minderheitenposition nicht glaubten verzichten zu können — zur Annahme dieser Passage bewogen werden.

Wenn man das Grundsatzreferat des DGB-Vorsitzenden zu diesem Punkt und die Beiträge auf dem Kongreß selbst zu dieser Frage der Einheitsgewerkschaft noch einmal nachliest, dann wird man dem DGB eine klare Position nicht absprechen können, und zwar gerade deshalb, weil er die Problematik deutlich ins Bewußtsein gehoben hat. Im übrigen zeigt dieses Beispiel aber auch, daß eine Programmanalyse als bloße Textuntersuchung wenig sinnvoll ist. Die Bedeutung der Formulierungen erschließt sich nur aus der historischen Betrachtung und dem Gesamtzusammenhang gewerkschaftlicher Politik.

Der zweite große neue Komplex in der Präambel betrifft die Selbstverständigung über die gewerkschaftliche Rolle in Staat und Gesellschaft im Rahmen des Grundgesetzes und des Sozialstaatspostulats. Auch hier hatten die Gewerkschaften lange Jahre geglaubt, daß ihre Aufgaben und ihre Legitimation als autonome Interessenvertretung der Arbeitnehmer nicht in Frage gestellt würden. Die harte Politik der Unternehmer und die konservative Tendenzwende, bei der teilweise schon Reformpolitik als über die Verfassung hinausgehend bezeichnet wurde, bei der die gegebene Form der Marktwirtschaft als verfassungspolitisch gewollt dargestellt und bei der die gewerkschaftliche Autonomie einer einschränkenden Interpretation unterworfen wurde — all das veranlaßte die Gewerkschaften, ihr Verhältnis zum Grundgesetz ausdrücklich in das neue Programm '81 aufzunehmen.

Der Text spricht für sich selbst. Die Gewerkschaften definieren sich als zentralen Bestandteil unserer Demokratie; sie weisen darauf hin, daß die Verwirklichung der sozialen Grundrechte und der Interessen der Arbeitnehmer eine ständige Aufgabe darstellt, die nur von sich selbst bestimmenden starken Gewerkschaften auf der Grundlage solidarischer Organisation zu leisten ist. Wer dieses Bekenntnis zu den Normen des Grundgesetzes, zum sozialen Rechtsstaat, zum Parlamentarismus und zum Mehrparteiensystem verfolgt, wer diese Aussagen auf die konkrete gewerkschaftliche Politik der letzten Jahrzehnte bezieht, der wird aus stilistischen Änderungen des Gesamtwohl-oder Gemeinwohlbegriffs schwerlich andere politische Inhalte ableiten können. Die Gewerkschaften sehen sich als Teil des Ganzen, aber sie müssen sich auch dagegen wehren, daß andere Gruppen, wie nicht zuletzt die Unternehmer, jedes Ziel, das die augenblicklichen Zustände ändern will, als gegen das Gemeinwohl verstoßend diffamieren.

Nimmt man alles zusammen, so macht das neue Programm einen soliden Eindruck. Es hat sich von Totallösungen abgewendet, es ist selbstbewußt und vorsichtig zugleich, es ist ein Wegweiser, aber kein Meilenstein. Dies hängt eng mit der Willensbildung in demokratischen Großorganisationen zusammen, die nicht nur den Bedarf für Handeln sehen, sondern auch an der Verantwortung dafür tragen.

Gewerkschaftsorganisation und Programmdiskussion

Es wurde bisweilen kritisiert, daß der DGB-Bundesvorstand einen Entwurf vorgelegt habe, der so angelegt sei, daß er durch Ausgewogenheit und Kompromisse keine große Alternative mehr zulasse. Das ist sicher richtig und sogar beabsichtigt Denn wie sollte man anders sinnvoll verfahren?

Der Bundesvorstand ist ein demokratisch legitimiertes Gremium, das in der gewerkschaftlichen Organisation verankert ist. Und diese Organisation ist nicht nur eine „Verwaltung", sie bewahrt zugleich die gewerkschaftlichen Traditionen. Ob es um Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, Streik und Aussperrung ging oder geht — immer hat die gewerkschaftliche Organisation eine wesentliche Rolle gespielt, und so muß es in einer Einheitsgewerkschaft auch sein. Das schließt nicht aus, daß das Problembewußtsein unterschiedlich entwickelt ist und daß in einem längeren Diskussionsprozeß nicht noch gewisse Veränderungen oder neue Schwerpunktsetzungen eingebracht werden können. Der Entwurf mußte jedoch von jenen eingebracht werden, die in demokratischer Legitimation für die Gesamtlinie gewerkschaftlicher Politik verantwortlich sind.

Dabei kann man gewerkschaftliche Programme nicht für sich allein nehmen, man muß sie in ihrer geschichtlichen Entwicklung beurteilen: Sie bauen auf Vorhandenem auf, und sie sind vorsichtig bei der Aufnahme völlig neuer Ziele und Prinzipien. Dies hängt nicht zuletzt mit der Struktur der Gewerkschaften als differenzierter Massenorganisation zusammen. Je mehr Interessen und politische Auffassungen bei der Formulierung eines Grundsatzprogrammes ausgeglichen werden müssen, desto schwieriger ist es, neue und in ihrer Bedeutung für einzelne Mitgliedergruppen nicht überschaubare Wege einzuschlagen. Aus diesen Gründen hat man auch die ursprüngliche Absicht einer völligen Neuformulierung des Grundsatzprogrammes aufgegeben und sich auf eine unterschiedliche, weitgehende Fortentwicklung des Düsseldorfer Programms von 1963 beschränkt. Die Akzente zeigen sich vor allem an den Veränderungen.

Manchmal hört man selbst in der innergewerkschaftlichen Diskussion, daß ein wissenschaftlich konsistentes Programm notwendig sei, also eine Perspektive, bei der alle Forderungen nach dem letzten Stand der Wissenschaft aufeinander bezogen werden müßten. Diesen Ansprüchen könne der neue Entwurf nicht genügen. Hier müssen Mißverständnisse ausgeräumt werden. Einmal ist „Wissenschaft“, wie mittlerweile zur Genüge bekannt ist, durchaus nicht frei von Interesse; viele Argumente werden im wissenschaftlichen Gewände vorgetragen, um die damit verbundenen Interessen zu verschleiern. Zum anderen kann es nicht letztes Ziel einer Programmdiskussion sein, ein wissenschaftliches Ergebnis zu erzielen. Ein Grundsatzprogramm ist kein wissenschaftliches Papier, sondern ein politisches Dokument. Sein Wert bemißt sich danach, wie es von den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern als Grundlage gewerkschaftlicher Arbeit anerkannt wird — was im übrigen nicht ausschließt, daß es nicht nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht werden kann und daß Wissenschaftler nicht Vorschläge für Veränderung machen und Hinweise auf Widersprüche geben können.

Die Grundsatzprogramme haben diese Aufgabe einer gemeinsam akzeptierten Plattform bisher erfüllt. Das zeigen nicht zuletzt die Mitgliederzahlen, die Ergebnisse von Betriebs-und Personalratswahlen, bei denen gewerkschaftlich organisierte Kandidaten große Mehrheiten erreicht haben. Zugleich muß man aber bedenken, daß in der Nachkriegszeit die Einheitsgewerkschaft lange nicht so hart angegriffen worden ist, denn politischer Druck der Konservativen und harte Reaktionen der Unternehmer haben sich in den letzten Jahren seit der Krise enorm verschärft. Verbale Solidarität genügt nicht mehr, jetzt kommt es auf praktizierte Zusammenarbeit an, die ein entsprechend entwickeltes Bewußtsein voraussetzt. Die Tatsache, daß erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg ein Programm wirklich breit in den Gewerkschaften diskutiert worden ist, ist vielleicht Ausdruck der veränderten konkreten Bedeutung eines gewerkschaftlichen Grundsatzprogramms.

Das Grundsatzprogramm enthält in erster Linie gewerkschaftliche Ziele und weniger eine ausführliche Analyse der Lage. Dabei muß ei-B nerseits Klarheit darüber bestehen, daß Ziele nur in bezug auf eine konkrete Situation diskutiert werden können. Sonst kann man sie beliebig verwenden, ja sogar manipulativ mit ihnen operieren. Andererseits kann die Einigung über eine Lageanalyse viel innergewerkschaftliche Kraft erfordern, ohne daß dies in jedem Fall schon eine Einigung in bezug auf Ziele und Mittel bedeuten müßte.

Diesen Zwiespalt findet man auch im Programm wieder, da manche Abschnitte eine etwas breitere Aussage zur Lage, manche nur Ansätze einer Lageanalyse und manche nur Zielformulierungen enthalten, die jedoch ihrerseits als indirekte Lagebeurteilungen eingeschätzt werden könnten. Die Präambel enthält eine allgemeine Analyse des Standorts der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, die im politisch-gesellschaftlichen, nicht aber im ökonomischen Bereich wesentliche Änderungen gegenüber dem Programm von 1963 aufweist. Diese Beurteilungen lassen sich allerdings aus Kongreßmaterialien und den Äußerungen der führenden Gewerkschafter unschwer zusammenstellen.

In jedem Fall kann eine Diskussion programmatischer Ansätze in Verbindung mit einer Beurteilung der konkreten Lage zu eher realistischen und umsetzbaren Vorstellungen führen als eine von der Realität losgelöste Diskussion etwa über Sozialisierung und Wirtschaftsplanung. Die einfache Forderung z. B„ die Basis in den Diskussionsprozeß mit einzubeziehen, muß präzisiert werden: Die Basis der Dachorganisation DGB sind vor allem seine 17 Gewerkschaften, daneben die lokalen und regionalen Gliederungen des DGB. Die Basis der 17 Gewerkschaften sind deren lokale und bezirkliche Untergliederungen; deren Basis wiederum sind die ehrenamtlich tätigen Kollegen in Betrieben, Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen; deren Basis wiederum sind die Mitglieder. Man könnte noch andere Aufgliederungen nach funktionellen Aufgaben, Personengruppen oder Regionen vornehmen, man könnte als Basis auch die gewerkschaftspolitisch aktiven Kollegen bezeichnen. Stets bleibt, daß die Bestimmung dessen, was Basis ist, vom eigenen Standort innerhalb der Organisationsebenen, aber auch von unterschiedlichen politischen Auffassungen abhängig ist.

Die Programmdiskussion wurde von der Gewerkschaftsstruktur bestimmt. Der gleiche Entwurf wurde auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Gliederungen der Gewerkschaften zum Teil unter jeweils anderen Gesichtspunkten diskutiert, die sich aus dem jeweiligen Problemzusammenhang ergeben.

So können auf zentraler gewerkschaftlicher Ebene Probleme des Standorts der Gewerkschaften in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und Strategien gegenüber Parteien, Regierungen, Verwaltungen und Rechtsprechung eine besondere Rolle spielen sowie damit verbundene inhaltliche Schwerpunkte wie Einheitsgewerkschaft, Streik und Aussperrung, Wirtschafts-, Sozial-und Bildungspolitik der Medien von hoher Bedeutung sein, um einige Beispiele zu nennen.

Die verschiedenen Aspekte stellen sich jedoch auf den einzelnen DGB-Ebenen und in Personengruppen mit jeweils anderen Schwerpunkten dar: Aus lokaler und regionaler Sicht gewinnt die Möglichkeit zu dezentralisierten Ansätzen oder die konkrete Ausführung mancher Forderungen vielleicht größere Bedeutung, aus der Sicht der Personengruppen hat bei Arbeitern, Angestellten und Beamten das Thema Einheitsgewerkschaft durchaus unterschiedliche Facetten, wobei alle diese Gruppen antragsberechtigt waren. In jedem Fall zwingt die Auseinandersetzung mit einem Programmentwurf stets zu der Abwägung, wie konkrete Interessen einzelner Gruppen und Bereiche mit der Solidarität für die Gesamtorganisation verbunden werden können.

Die 17 Mitgliedsgewerkschaften, die den DGB konstituieren, hatten ohne Zweifel das größte Gewicht in der innergewerkschaftlichen Willensbildung. Auch wenn die DGB-Gliederungen über Antragsrechte verfügen, so stellen doch die Gewerkschaften die Delegierten der Kongresse, ihre Stimmen geben den Ausschlag. Es liegt nahe, daß einzelne Gewerkschaften je nach Mitgliederstrukturen, Branchenentwicklungen, Betriebsgrößen, Rationalisierungsintensitäten usw. unterschiedliche Schwerpunkte aufgreifen. Dies entscheiden sie in eigener Autonomie; eine Vielfalt von Fragen muß dabei nicht die Aufgabe einheitlicher Zielvorstellungen bedeuten. Führt man sich die Komplexität der Gewerkschaftsorganisation vor Augen, die ja ein Spiegel der Differenziertheit des Arbeitslebens ist, dann wird die außerordentliche Bedeutung der innergewerkschaftlichen Demokratie deutlich. Eine Vielzahl von Interessen, die jeden Arbeitnehmer in seiner beruflichen Entwicklung und in seinem Status bei der Arbeit direkt und indirekt berühren, müssen abgestimmt werden. Das ist kein mechanischer Prozeß, es ist eine politische Willensbildung im wahrsten Sinne des Wortes, an deren Ende „der“ gewerkschaftliche Standpunkt steht. Diese Differenzierung und Differenziertheit der Arbeitnehmer bedeutet aber auch, daß gewerkschaftliche Programme, zumal Grundsatzprogramme, nicht nur eine einzige Stoß-richtung aufweisen können: Sie steuern in vielen Fällen nicht genau bestimmte Punkte an, sie legen Bandbreiten fest; sie enthalten oft nicht ein Ziel, sie lassen mehrere Optionen offen, oder sie legen keine Zielsetzung fest, sondern definieren Voraussetzungen und Bedingungen für eine gewerkschaftliche Einflußnahme.

Der DGB-Vorsitzende hat mehrfach darauf hingewiesen, daß gewerkschaftliche Politik in den Gewerkschaften und für die Gewerkschaften entwickelt und festgelegt wird. Das bedeutet, daß nicht individuelle Auffassungen — etwa von Betriebsräten, Vertrauensleuten oder spezifischen Organisationsebenen — mit dem Anspruch vertreten werden können, jeweils die repräsentative Auffassung der entsprechenden Gruppe vorzutragen. Vielmehr muß die Auseinandersetzung in den Gremien geführt werden. Nur die dort erfolgte Entscheidung kann eine gewerkschaftlich verbindliche sein. Die Grundsatzprogrammdiskussion kann einen heilsamen Anstoß geben, mehr politisch als nur administrativ zu diskutieren und fachliche Orientierungen stärker mit politischen Perspektiven zu verbinden. Aber in einer Einheitsgewerkschaft sind die demokratisch gewählten Gremien die entscheidenden Instanzen.

Bei Diskussionen um gewerkschaftliche Programme wird gelegentlich das Argument verwendet, daß die Gewerkschaften durch die starke Kritik bestehender Zustände, etwa an Rationalisierung, Dequalifikation oder Arbeitsbedingungen, doch nur zum Ausdruck brächten, daß ihre bisherige Politik keinen Erfolg gehabt hätte. Man solle deshalb im eigenen Interesse mit mehr Augenmaß kritisieren. Eine solche Schlußfolgerung ist sehr zwei-schneidig. Denn Tatbestände, die in den Augen der Mitglieder kritikwürdig sind, werden natürlich nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß die Gewerkschaften sie verschweigen. Die Kraft der Gewerkschaften beruht gerade darauf, daß sie die konkreten Nöte ihrer Mitgliedschaft anpacken. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen und die Erfolge gewerkschaftlicher Kandidaten bei Wahlen zu Betriebs-und Personalräten zeigen, daß dies bisher gelungen ist.

Umfragen machen im übrigen deutlich, daß die Arbeitnehmer sehr wohl zu schätzen wissen, welche Erfolge die Gewerkschaften mit ihnen und für sie im allgemeinen und insbesondere in den letzten Jahrzehnten erreicht haben. Jeder ältere Mensch, der Einkommen, Arbeitszeit, Urlaub, Arbeitsbedingungen, Rechte im Betrieb oder soziale Absicherungen etwa im Generationenabstand vergleicht, sieht den außerordentlichen Fortschritt, der erreicht worden ist. Gleichzeitig haben durch die Wirtschaftskrise Mitte der siebziger und Anfang der achtziger Jahre alte Forderungen wie Vollbeschäftigung und Sicherheit der Arbeitsplätze einen neuen Stellenwert erhalten.

Neue Probleme, zumindest Probleme, die sich in dieser Schärfe neu stellen, haben sich durch die Einführung neuer Technologien ergeben, die ihrerseits weitreichende Auswirkungen auf das Angebot an Arbeitsmöglichkeiten, auf Arbeitsinhalt, Qualifikation und Arbeitsbedingungen haben. Wenn die Gewerkschaften auf solche Fehlentwicklungen und Mißstände hinweisen, dann kommen sie nur ihrer Pflicht nach.

Schlußbemerkung

Man mag einwenden, daß das neue Grundsatzprogramm kein Bild der Gesellschaft im Jahr 2000 entwerfe, daß es die eigentlichen Zukunftsaufgaben vernachlässige, daß es keine konkrete Utopie im Sinne eines alternativen Gesellschaftssystems enthalte.

Richtig ist, daß das Grundsatzprogramm '81 des DGB weder ein Endziel anstrebt, daß es nicht einen einzigen zentralen Punkt benennen kann, von dem aus alle Probleme industrieller Arbeit zu lösen wären, noch daß es eine durchgängige „geschlossene" Lageanalyse anbietet. Es begreift die Zukunft als eine Aufgabe ständiger Gestaltung, aber es hat für die überschaubaren nächsten Jahre die gewerkschaftlichen Ziele klarer, nüchterner und genauer formuliert, als das in früheren Jahren der Fall war. Das Bild einer völlig anderen Gesellschaft wird nicht entwickelt, aber der Weg für Weiterentwicklungen wird auch nicht versperrt. Aber vielleicht liegt in einem Ansatz, der von menschlichen Bedürfnissen und Ansprüchen ausgeht, der eine Vorstellung von humaner Arbeit, von Entfaltung im Berufsleben, von qualifizierter Tätigkeit oder von Beteiligung am gesellschaftlichen Leben entwickelt, eine konkrete Utopie neuer Art — eine Utopie, die Demokratie als Prozeß begreift, die das Fortschreiten zu neuen Zielen vom Bewußtseinsstand und der Mobilisierungsfähigkeit der Mitglieder abhängig macht und die den Aufbau von Institutionen allein nicht mit Veränderungen der Gesellschaft gleichsetzt.

Vor allem können die Gewerkschaften mit ihrer Betonung solidarischen Handelns für die menschliche Entfaltung einen Sinn nennen, der auch Jugendliche trotz aller zeitweiligen Probleme anzuziehen vermag. Denn die Auswüchse von ökonomischem Individualismus in der Marktwirtschaft werden nur durch die Solidarität erträglich, weil sie Freiheit in der abhängigen Arbeit schafft. Dies ist vielleicht die größte Herausforderung für die Gewerkschaften der Zukunft — und das Grundsatzprogramm weist dazu den richtigen Weg.

Zu bedenken ist indes, daß Gewerkschaften keine Ersatzparteien sind; sie können nicht den Nord-Süd-Konflikt lösen; die Steuerungsprobleme unserer Industriegesellschaft sind von ihnen nicht allein zu bewältigen. Sie bleiben die Organisation industrieller abhängiger Arbeit, aber sie sehen durchaus die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Das Programm findet seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen im Potential einer demokratischen, auf freiwillige Mitgliedschaft angelegten Organisation.

Bemerkung zur Literatur Wie von allen anderen DGB-Kongressen wird auch vom Vierten Außerordentlichen Kongreß, der im März 1981 das neue Programm beschlossen hat, ein Wortprotokoll veröffentlicht, das bei allen gewerkschaftlichen Einrichtungen und Bibliotheken eingesehen werden kann und das der DGB in begrenzter Zahl auch an Interessenten abgibt.

Die gewerkschaftliche Diskussion ist in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ seit 1976 zu verfolgen, zusammenfassend und dokumentierend insbesondere in den Heften:

11/76 Gesamtentwicklung programmatischen Denkens,

1/80 Überblick über den Programmentwurf und Text des Entwurfs, 2/81 Vorschau auf den Kongreß und 5/81 Grundsatzreferat auf dem Programmkongreß, Bericht und Dokumentation.

Einige Buchveröffentlichungen aus gewerkschaftlicher Sicht, zum Teil mit weiteren Literaturangaben: Heinz O. Vetter, Gleichberechtigung statt Klassenkampf. Gewerkschaftspolitik für die achtziger Jahre, Köln 1980; ders., Mitbestimmung — Idee, Wege, Ziel, Köln 1980; ders.; Aus der Geschichte lernen — die Zukunft gestalten, Köln 1980 (alle im Bund-Verlag erschienen).

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerhard Leminsky, Dr. rer. pol., geb. 1934; seit 1960 im Wirtschafts-und sozialwissenschaftlichen Institut des DGB (Grundsatzfragen gewerkschaftlicher Politik); von 1971 bis Mai 1981 außerdem Chefredakteur der „Gewerkschaftlichen Monatshefte"; seit 1980 Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung, dem Studien-und Mitbestimmungsförderungswerk des DGB. Veröffentlichungen zu den Schwerpunkten der wissenschaftlichen Arbeit.