„Viel Lärm um nichts" -oder: Wie ist es um die Politische Bildung bestellt?'
Kurt Gerhard Fischer
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Zusammenfassung
Verfolgt man in den letzten Jahren das publizistische Geschehen um die Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, so gewinnt man den Eindruck von hohen Ansprüchen, von schulpolitisch Gewichtigem. Angesichts dieses Eindrucks und dervehement verfochtenen Streitigkeiten darf die Frage erlaubt sein, welche Realität im Schulalltag alledem korrespondiert? Ein Überblick über die Stundenzahl für das Fach Politische Bildung in den einzelnen Bundesländern zeigt schon allein die große Diskrepanz zwischen der theoretischen wie politischen Diskussion dieses Faches und dem tatsächlichen Angebot von Politischer Bildung in den Schulen. Als Reaktion auf diese im Grunde makabre Situation sollte aber weder Zynismus noch resignativer Pragmatismus treten, sondern eine realistische Argumentation, die Schule und Unterricht weder über-noch unterbewertet. Sie sollte nüchtern den Beitrag von Politischer Bildung und Sozialkunde für die Sozialisation zukünftiger demokratischer (oder undemokratischer) Bürger möglichst auf empirischer Basis sichtbar machen und alle Mitverantwortlichen vor bündige Entscheidungsalternativen stellen — Eltern wie Kultusminister, Parteien und Verbände. Politik-Didaktiker sind nicht die Prügelknaben der Nation, denen man alles zumuten und alles unterstellen kann; Politische Didaktik als Theorie und Praxis ist keine Feuerwehr, an die jedermann seine Auf-und Anforderungen stellen darf, wenn es zu größeren Konflikten kommt. Aber selbst wenn man unreflektiert solche Ad-hoc-Einsätze als legitime Aufgabe für den Politik-Unterricht forderte oder hinnähme, bliebe noch die Frage offen: wann und wo soll dies in den Schulen geschehen? „Demokratie" ist hierzulande immer noch eine zarte, alltäglich gefährdete „Pflanze". Demokratisches Bewußtsein und demokratisches Verhalten — und damit die Politische Bildung — benötigen Zeit und nochmals Zeit. Wer diese verweigert, möge nicht über „die heutige Jugend" schimpfen.
Verfolgt man gerade in den letzten Jahren das publizistische Geschehen um die Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, so gewinnt man den Eindruck von hohen Ansprüchen, Bedeutung, von schulpolitisch und schulpraktisch Gewichtigem.
Angesichts dieses Eindrucks, angesichts nicht zuletzt auch der vehement verfochtenen Streitigkeiten und des Höhenflugs einiger Mitdenker darf die Frage erlaubt sein, welche Realität alledem korrespondiert.
Abbildung 4
Politik-Unterricht an den Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Real-schulen 5 2/6 6 4 5 7 3 4 2 4 5 Gymnasien 2/4 1/3 14 (mit Geschichte) 4 2 7 7 ?
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Politik-Unterricht an den Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Real-schulen 5 2/6 6 4 5 7 3 4 2 4 5 Gymnasien 2/4 1/3 14 (mit Geschichte) 4 2 7 7 ?
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Damit es kein Mißverständnis gibt: „Realität" meint hier in aller Trivialität und Banalität die Realsituation des Unterrichtsfaches oder der Unterrichtsfächer für die Politische Bildung, gleichviel, wie auch immer sie, von Land zu Land im Zeichen von Kulturföderalismus unterschiedlich etikettiert, heißen mögen.
Da gibt es einmal das „Spezialfach" der Politischen Bildung unter Kennzeichnungen wie Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Weltkunde, Welt/Umwelt, Politik/Sozialkunde, Wirt-schaft/Politik, Wirtschafts-und Rechtslehre. Da gibt es Integration oder Koordination nahelegende Etiketten wie Gesellschaftslehre (Geschichte, Erdkunde, Politik), Welt-/Umweltkunde (Erdkunde, Geschichte, Sozial-kunde). Daneben treten alle jene Fachetikettierunfen, die ökonomisches als Lerninhalte-Akkumulation erkennen lassen, zum Beispiel Arbeitslehre, Polytechnik/Arbeitslehre und ähnliches. Es kann kein Zweifel bestehen: Alle diese Fächer, auch wenn sie unter so apolitisch scheinenden Etiketten angeboten werden wie „Arbeitslehre/Technisches Werken/Textilarbeit" oder „Haushalts-und Wirtschaftskunde", sind ebenso politisch wie autonomer Geschichtsund Erdkundeunterricht. Für sie gilt auf eine andere Weise als für alle anderen Fächer, daß einem jeden das Politische immanent ist. Dennoch wird sich kein Politikdidaktiker damit befreunden oder abfinden können, wenn ihm «von Amts wegen" gesagt wird, in diesen Fächern finde in so großem Maße so intensiv Politische Bildung statt, daß auf ein eigenständiges Fach verzichtet werden könne oder daß der Stundenanteil für dieses Fach, etwa im Verlauf der Sekundarstufe — mehr oder minder erheblich — empfindlich gekürzt werden könne 1).
. Arbeitslehre" ist immer auch Tun, und dabei sollte es zumal für die Hauptschulen und die Hauptschüler auch bleiben, so sehr das curriculare Gebot der „Vertiefung", der Herstellung von Zusammenhängen mit der industrialisierten Arbeitswelt und anderem zu begrüßen ist.
Nur ein Teil der Unterrichtsstunden einer „modernen" Arbeitslehre ist ex definitione Politische Bildung.
Und welcher Art kann das politisch Bildsame etwa sein, wenn makro-und mikroökonomisches Modelldenken in gehöriger Verdünnung den Schülern zugemutet wird? Welches politische Bewußtsein ist als „Nebeneffekt" einer Haushaltskunde zu gewärtigen, die sich am Hausmütterchen, gar an den drei K der vordemokratischen Frauenrolle orientiert?
Unpolitisch sind die Verhaltensweisen gewiß nicht, die durch Tun und durch Belehrung nahegelegt werden! Ob sie jedoch mit ein wenig Gewißheit solche Verhaltensweisen sind, die weibliche Bürger in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat unserer Tage qualifizieren?
Auch „Rechtslehre" läßt sich derart apolitisch unterrichten, nämlich als eine Abfolge von „Einführungen in..", daß die Schüler zwar wissen, daß es ein BGB, ein StGB und noch man-ches andere dicke Buch gibt, ohne daß ihnen bewußt würde, daß sie von Geburt an, weil von Natur aus, Grundrechtsträger sind. Was geschieht, wenn Rechtskunde als elementarisierte Propädeutik des geltenden positiven Rechts gelehrt wird, ist politisch bildungswirksam; aber wieder stellt sich die oben schon angedeutete Frage, welche Vorstellung vom Bürger gemeint ist Es wäre ungerecht, nicht auch Neuestes zu erwähnen: Innovationsfreudig, wie die Kultusminister der Länder unseres Bundesstaates nun einmal sind, steht den Schülern ein neues Fach ins Haus: „Ethik-Unterricht“ wird, vermutlich wiederum unter das föderalistische Prinzip charakterisierenden unterschiedlichen Bezeichnungen, die Palette jener Fächer ergänzen und erweitern, die Politische Bildung betreiben, deren Lehrern im besonderen der Voraufbau von Verhaltensweisen für den zukünftigen Staatsbürger anbefohlen ist.
Diese Skizze mag den Eindruck vermitteln, es sei alles wohlbestellt um die Handbietung durch die öffentliche Schule, um aus den Menschen der heutigen Schülergeneration zünftige Demokraten zu machen. Indes: der Eindruck trügt!
Legt man nämlich der Analyse von Politischer Bildung in unseren Schulen einmal nicht die Vielfalt von Etiketten oder theoretisch-didaktischer Ansätze zugrunde, sondern den Anteil des Fachs der Politischen Bildung im engeren Sinne am Gesamtdeputat von Fächern und Unterrichtsstunden, so kommt man zu — gelinde formuliert — erschreckenden Erkenntnissen. Einige Zahlenangaben können dies belegen: Einer von der „Ständigen Konferenz der Kultusminister" erstellten Übersicht — Stand: Januar 1980 — kann zwar entnommen werden, daß für die Summierung von Schülerwochenstunden in den Hauptschulen von „Fachbereichen" ausgegangen wird: Deutsch — Fremdsprachen — Mathematik — Naturwissenschaftliches Aufgabenfeld — Gesellsch. Aufgabenfeld (so steht es in dem hier herangezogenen Papier; dem Leser bleibt überlassen, die Abkürzung je nach Geschmack aufzulösen entweder in „gesellschaftswissenschaftliches“ oder in „gesellschaftliches" Aufgabenfeld; ziemlich unsinnig sind beide Termini) — Musisches Aufgabenfeld — Sport — Religion — Arbeitslehre — Sonstiges — Wahlpflichtfächer — Arbeitsgemeinschaften. Dennoch wird daran festgehalten, von Ausnahmen abgesehen, Geschichts-, Erd-und Sozialkunde „autonom" auszuweisen und mit höchst unterschiedlichen Stundendeputaten zu versehen.
Hierbei handelt es sich um die Summe aller Schülerwochenstunden pro Fachbereich in den Klassenstufen 5— 9 der Hauptschule. (1): einschließlich Arbeitslehre, desgl.
Wir haben den Nachweis der Einzelfächer des legendären Aufgabenfeldes so danebengestellt, daß zumindest für die Hauptschule die Gewichtung der Lernangebote erkennbar wird; (3) bedeutet: davon 4 Stunden Weltkunde 2).
Daß diese Übersicht Rätsel und Rätselhaftes enthält, bemerkt jedermann auf den ersten Blick, der auch nur einigermaßen mit den Realitäten in diesem oder jenem Bundesland vertraut ist. Hierauf kann an dieser Stelle nicht detailliert eingegangen werden: cum grano salis gibt sie einen Überblick für die Hauptschulen in unserem Staat.
Die unübersehbare Vorliebe für Erdkunde läßt darauf schließen, daß es in unseren Haupt-schulen zentral darum geht, künftig-zünftige Seefahrer, Welteroberer oder, wenn schon dies alles nicht, vermutlich Wetterfrösche zu bilden. Die Benachteiligung von Sozialkunde hingegen ist so eklatant, daß vermutet werden darf, unsere Kultusminister vertrauen den modernen, raffinierten Instrumenten zur Herstellung von Massenloyalität mehr als dem Vehikel Schule; wer erwartet, daß bei einer derartigen Disqualifizierung der Politischen Bildung „mündige Staatsbürger" als Ergebnis vorgezeigt werden könnten; aber auch: wer der Schule, dem Politik-Unterricht politische Apathie, Werteverfall und anderes, aber ähnliches in die Schuhe schiebt, macht es sich zu bequem, indem er — oder sie — Ursache und Wirkung vertauschen. Und wer annimmt, daß die, wie auch immer in ihrer Wissenschaftshaltigkeit zu qualifizierenden Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, etwa zum Thema „Die Deutsche Frage“ oder „Europa", mehr als Makulatur sind oder jemals werden könnten, kennt die Schule nicht.
Machen wir es doch einmal konkret: Da gibt es also Bundesländer, deren Hauptschüler während 1 fünf Schuljahren insgesamt drei Schülerwochenstunden Politische Bildung über sich ergehen lassen müssen. Auch in diesen Bundesländern gibt es Ferien, gibt es Feiertage, gibt es anderweitig begründeten — oder auch manchmal unbegründeten — Unterrichtsausfall, gibt es Lehrermangel und Lehrerwechsel, gibt es zu große Klassen und so weiter. Man muß sehr optimistisch sein um zu unterstellen, daß den Hauptschülern in diesen Bundesländern sage und schreibe (Jahre)
x 1 Wochenstunde zu 45 Minuten, abzüglich oben genannter Schulprobleme sowie zusätzlich abzüglich aller Alltagsprobleme (mangelnde Motiviertheit der Schüler, Erledigung klassenorganisatorischer Angelegenheiten und so weiter) x 35 Unterrichtswochen (nochmals: abzüglich oben aufgelisteter Probleme, die nicht in der „Macht" von Lehrern oder Schülern liegen) Politik-Unterricht zuteil wird. Das heißt also: 105 Unterrichtsstunden Politische Bildung sind hierzulande genug!
Angesichts dieses katastrophalen Mißstandes — man kann es nicht vornehmer charakterisieren, wenn einem denn daran gelegen ist, seinen Lebensabend und das Leben seiner Kinder und Enkelkinder in der Obhut der „formalen Demokratie" zu wissen — wirken sowohl die Bekundungen unserer Politiker hinsichtlich der Erwartung einer „kritisch-loyalen“ Jugend als auch die meisten Veröffentlichungen zur Theorie der Politischen Bildung der letzten Jahre schlicht realitätsfern. Denn was ist in diesen wenigen Stunden „beizubringen"? Wie kann Wissen, Erkenntnis und Einsicht, wie können demokratieadäquate Verhaltensweisen voraufgebaut respektive gefördert, wie kann Konfliktlösung durchdacht und geübt, wie kann rationale Analyse der gesellschaftlichen Strukturen geleistet, wie kann irgendeines der blumigen „obersten Lernziele" — „Emanzipation" und/oder — die Alternative ist unsinnig, übrigens — „Rationalität" — wenigstens in den Reflektionshorizont der jungen Menschen gebracht werden, die eines Tages die Mehrheit des Staatsvolkes und damit des Wahlvolkes stellen werden?
Nicht die politische Apathie der jungen Staatsbürger ist verwunderlich, sondern jene der Eltern und ihrer Organisationen: Die Eltern von heute haben noch Erinnerungen an die harten Jahre des Wiederaufbaus, wissen noch, unmittelbar vermittelt durch ihre Väter und Mütter, was Nazismus, was Krieg, was Hunger, Vertreibung heißt — aber mir ist kein Fall eines Elternvereins bekannt, der zugunsten von mehr Politik-Unterricht Kultusminister bestürmt hätte. Hoffen die Mütter und Väter unserer derzeitigen Hauptschüler, daß der politische Schlendrian der letzten Jahrzehnte mit Gottes Hilfe weitergehen wird, bis sie ihre Rente oder Pension in Ruhe verzehrt haben und ihre letzte Ruhestätte politisch ungeschoren fanden?
Doch nicht nur Eltern scheinen hinsichtlich unserer politischen Zukunft von beängstigender Apathie beherrscht zu sein: Wo bleiben die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Kammern, wo bleiben schließlich die politischen Parteien in den Landesparlamenten, die letztlich zu entscheiden haben, was, d. h. auch, welche Fächer an unseren Schulen mehr oder weniger unterrichtet werden?
Nun könnte jemandem jetzt einfallen, was — abgesehen von einer Minderheit — vor zwei Jahrzehnten niemand laut ausgesprochen hätte: Wenn nur die „Besseren" (ton ariston) genügend politisch gebildet werden und sind, läßt sich „formale Demokratie" aufrechterhalten. Zynisch wäre solche Denkungsart zwar, aber sie ist nicht von der Hand zu weisen: Hennis und Giesecke und manche andere haben sie jedenfalls angebahnt 3). Wie also steht es in den Gymnasien und in den Realschulen in unserem Staat um das Unterrichtsfach der Politischen Bildung? Das Ergebnis kann vorweggenommen werden, der empirische Erweis mag folgen: jedenfalls steht es um keinen Deut besser, eher schlechter, wenn man einmal vom Kurse-Wesen der gymnasialen und gesamtschulischen Sekundarstufe 2 absieht. Wie es in concreto um Kursangebote steht, die Politisches thematisieren, bedürfte einer empirischen Erhebung; nicht minder interessant dürfte sein zu wissen, ob und in welchem Umfang und unter welchen Themen einschlägige Kursangebote von den Gymnasiasten „angenommen“ wurden. Diesen „freien Markt" zu durchforsten, wäre eines kleinen Forschungsvorhabens würdig.
Im Blick auf die Sekundarstufe 1 der Realschulen und Gymnasien stellt sich, vergleichend zur Tabelle 1 kompiliert, die Situation in den einzelnen Bundesländern wie folgt dar:
Von „Politik-Unterricht" ist hier unbeschadet der unterschiedlichen Etikettierungen in diesem oder jenem Bundesland die Rede. Die 14 Schülerwochenstunden in der Sekundarstufe der Berliner Gymnasien erklären sich aus der Zusammenfassung mit Geschichte. Vermutlich sind die Doppelzahlen wie „ 2/4", „ 2/6" sowie „ 1/3“ als „je nachdem“ zu interpretieren. Es sei schließlich ausdrücklich festgestellt, daß diese Übersicht Fehler enthalten kann, da das ihr zugrundeliegende Material die Situation des Unterrichtsfaches so unübersichtlich darstellt, daß nur interpretativ Aussagen zustande kommen können: Eine Mehrzahl von Verklammerungen, teilweise nur mit Geschichte, teilweise mit Geschichte und Erdkunde auch aus solchen Bundesländern, die seit Jahren lautstark gegen „hessische“ Lösungsversuche eines integrierten Faches „Gesellschaftslehre" opponieren, läßt viel Spielraum, um je nach Position und Situation nachweisen zu können, daß zu viel oder auch zu wenig Politik-Unterricht stattfindet.
Dies dürfte jedenfalls feststehen: Im Vergleich mit Erdkunde und Geschichte ist Politik-Unterricht in allen Bundesländern unterrepräsentiert. An einigen Beispielen kann dies verdeutlicht werden: ,
Ausgewählt wurde für diese Tabelle keinesfalls nach politischen Gesichtspunkten, sondern ausschließlich nach solchen der Übersichtlichkeit: In den hier vorgestellten Ländern weiß man wenigstens, woran man ist, wie unerfreulich auch immer das Resultat zugunsten Politischer Bildung in einem eigenständigen Unterrichtsfach sein mag. Welche rationale Erklärung sich hinter Entscheidungen wie den folgenden verbirgt, wäre zweifellos interressant zu erfahren: In den Bremer Gymnasien meint man zwar, den Schülern der Sekundarstufe 1 vom 5. bis 10. Schuljahr 12 Schüler-wochenstunden Erdkunde zumuten zu müssen, aber mit vier Sozialkundestunden im Blick auf den Fortbestand unseres Staates als eines demokratischen Gemeinwesens auskommen zu können; in Schleswig-Holstein stellt sich das Verhältnis noch unfaßlicher dar, nämlich 12 Erdkunde-zu 0 Sozialkunde-Schülerwochenstunden. Angesichts der hier skizzierten Lage der Politischen Bildung im öffentlichen Schulwesen der politischen Bildung" hindurchzieht; zwar erfährt auch Hennis ein bißchen Kritik, aber dann liest man doch in der ersten Auflage von Gieseckes „Didaktik .. „Hennis Vorschlag, den vernünftigen politischen Reaktionen größeres Gewicht beizumessen, scheint mir daher ein sehr realistischer Vorschlag zu sein" (S. 63). Und man erfährt etwas vom Unterschied zwischen Elite und Plebs, wenn man den Anregungen Gieseckes folgt, für letztere Sozialkunde, für erstere aber zusätzliche Arbeitsgemeinschaften einzurichten. der Länder unseres Staates mutet die Diskussionsebene in zahlreichen Büchern und Aufsätzen geradezu makaber an: Wenn maximal eine Schülerwochenstunde pro Schuljahr in den Sekundarstufen 1, sei es in der Hauptschule, in der Realschule oder im Gymnasium, zur Verfügung steht, wirkt die Auseinandersetzung um Fragen nach einem oder einer Mehrzahl oberster Lernziele ebenso absurd wie etwa jene um die wissenschaftstheoretische Durchdringung von Theorie-Konstrukten der Politischen Didaktik; liegen Empfehlungen und Beschlüsse der „Ständigen Konferenz der Kultusminister" ebenso neben der Realität wie alle „modernen", d. h. nicht „gedruckten Lehrervortrag" demonstrierenden Schulbücher; sind alle Verdächtigungen, daß die Schule, daß „linke“ Lehrer — was auch immer das sein mag! — und „linke“ Schulbücher Kinder und Jugendliche Verderbern, lächerlich.
An die Stelle makabrer Hochgestochenheiten sollte aber keineswegs resignativer Pragmatismus treten, wie ihn einige Politik-Didaktiker seit einigen Jahren verkünden, sondern eine realistische Argumentation, die Schule und Unterricht weder über-noch unterbewertet, die den Beitrag der Sozialkunde zur politischen Sozialisation zukünftiger demokratischer oder undemokratischer Bürger, möglichst auf empirischer Grundlage, sichtbar macht und alle Mitverantwortlichen vor bündige Entscheidungsalternativen stellt, Eltern wie Kultusminister, Parteien und Verbände. Seit Jürgen Habermas'„Student und Politik“ sind zahlreiche empirische Erhebungen durchgeführt worden, die an dieser Stelle nicht zu referieren sind. Eines ist ihnen gemeinsam: Ein Zusammenhang von „politischem Verhalten" und quantitativem wie qualitativem „mehr oder weniger" an Politischer Bildung ist nachweisbar.
Wenn diese Verallgemeinerung auf Grund der Kenntnis zahlreicher empirisch angelegter «Effektivitätsuntersuchungen" des sozialkundlichen Unterrichts aufrechterhalten werden kann, so dürften alle Theoretiker und Praktiker der Politischen Didaktik unbeschadet ihrer posititionellen Unterschiede dafür eintreten können, ihre Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Zukunft des Gemeinwesens, dem sie als Angestellte und Beamte, als Lehrer und Forscher dienen, von einer angemessenen Berücksichtigung des Politik-Unterrichts in allen Ländern, in allen Schularten und -formen, von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe 2, im Beruflichen Bildungswesen wie in Gymnasien und Gesamtschulen abhängig zu machen.
Politik-Didaktiker sind nicht die Prügelknaben der Nation, denen man in einem Atemzug alles zumuten und alles unterstellen kann, und Politische Didaktik als Theorie und Praxis ist keine Feuerwehr, an die sich mit schöner Selbstverständlichkeit jedermann in unserer Gesellschaft wenden kann mit Auf-und Anforderungen: sorgt gefälligst dafür, daß antisemitische Ausschreitungen, Schmierereien und dergleichen mehr nicht wieder vorkommen; haltet das Bewußtsein von der einen deutschen Nation in den Köpfen der nachwachsenden Generation wach; bugsiert in die Köpfe der Schüler europäisches Bewußtsein hinein; verhindert, daß anläßlich von öffentlichen Vereidigungen der Rekruten der Bundeswehr Krawalle stattfinden und so weiter. Selbst wenn man unreflektiert solche Zuschreibungen als legitime Aufgaben des Politik-Unterrichts hinnähme, bliebe die Frage offen: wann und wo soll dies in unseren Schulen geschehen? Die gemeinsame Argumentation aller Politik-Didaktiker sollte indes auf einer anderen Ebene angesiedelt werden; sie sei abschließend skizziert und damit zur Diskussion gestellt: „Demokratie“ ist hierzulande eine nach wie vor junge, zarte, alltäglich gefährdete „Pflanze". Demokratisches Bewußtsein und demokratisches Verhalten ist hierzulande eine Sache mehrerer Generationen, da nur allmählich die verinnerlichten Normen und Verhaltensweisen, die — harmlos gesagt — wenig mit demokratieadäquatem Sichdarleben gemein haben, die aber auch ein Bestandteil des historisch Vermittelten im Kontext deutscher Sondergeschichte sind, zurücktreten zugunsten angemessener Normen und Verhaltensweisen. Ohne demokratische Politische Bildung wird dieser Prozeß nicht nur ungebührlich verschleppt, er ist alltäglich bedroht: Das Aufkommen einer politischen Rechten extremistischen Zuschnitts im Zusammenhang mit der Rezession der sechziger Jahre, das Ausflippen linker Bekenntnishaftigkeit in Gruppen und Grüppchen mit totalitärer Ideologie und Bereitschaft zur Gewaltanwendung in den siebziger Jahren, das Anwachsen neonazistischer Klüngel in unseren Tagen sollte nachdenklich machen: Nicht zu viel, nicht politisch einseitige Politische Bildung, sondern arationales und irrationales Unbehagen an gesellschaftlich-politischer Wirklichkeit sind dafür verantwortlich zu machen. Aus A-und Irratio-nalität kann aber nur intentionale politische Sozialisation herausführen, in deren Mittelpunkt das Lernen von rationalen Problemlösungen steht Das will und muß vielfach geübt, geprobt, bewährt werden. Deshalb bedarf Politik-Unterricht nicht nur einer auf der Höhe unserer Tage stehenden „Didaktik und Methodik", bedarf er nicht nur sachkompetenter, das heißt sozialwissenschaftlich gründlich vorgebildeter und zu permanenter Weiterbildung stimulierter Lehrer, sondern auch und vor allem in erster Linie: Politische Bildung braucht Zeit, Zeit und nochmals Zeit. Wer ihr diese verweigert, möge nicht über „die heutige Jugend“ schimpfen.
Auf der Grundlage solcher Überlegungen und Analysen, wie sie hier vorgetragen wurden, haben der Bundesvorstand der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung und der Bundesvorstand der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft gemeinsam im Frühjahr 1980 der Kultusminister-Konferenz ein Memorandum über die Situation des Unterrichtsfaches „Politische Bildung" vorgelegt. In diesem Memorandum wird u. a. auf die Gefahren eines Abdrängens dieses Faches an den Randbereich schulischer Leistungen und der damit verbundenen Konsequenzen für die demokratische Entwicklung unserer Gesellschaft aufmerksam gemacht: „— Die Be-und Verarbeitung primärer Sozial-erfahrungen durch Kinder in den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit bedarf der systematischen und organisierten Lernhilfe; diese schulische Aufgabe muß bereits in der Primarstufe einsetzen, bedarf der Kontinuität, die nur durch durchgängigen , sozialkundlidien'Unterricht gewährleistet werden kann, und sie muß insbesondere im 5. /6. Schuljahr intensiv verfolgt werden, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Hilfe bei der Entwicklung von Wertebewußtsein. Primäre Sozialerfahrungen und ihre Verarbeitung im Sinne des Aufbaus kognitiver Strukturen darf nicht dem Zufall überlassen bleiben oder rhapsodisch oder nur stakkatohaft erfolgen.
— Nicht nur, aber auch in Ansehung der Tatsache, daß wir, im televisiven Zeitalter lebend, alltäglich vermittelt mit Politischem konfrontiert werden und auch Kinder sich diesem medialen Bombardement nicht entziehen können, ist vom frühestmöglichen Zeitpunkt Informations-und Interpretationshilfe zur Bewältigung dieser Konfrontation geboten.
— Es dürfte unter allen Politikern der Bundesrepublik Deutschland Einigkeit darüber erzielbar sein, daß Individuen, Gesellschaft und Staat im weltweiten Zusammenhang vor Problemen stehen, die mit den politischen Aufgaben der letzten Jahrzehnte kaum mehr vergleichbar sind und deren Bewältigung u. a. ein gewandeltes, gar ein neues gesellschaftspolitisches Bewußtsein der Bürger verlangen. Minimalistische Politische Bildung ist außerstande, zu dieser Bewußtseinsbildung wie auch zu ihr entsprechenden wertorientierten Verhaltensweisen einen Beitrag zu leisten, ohne den der Bestand von Demokratie in der Bundesrepublik gefährdet ist.
— Die Randstellung und mangelnde Kontinuität der Politischen Bildung wirken sich auch auf die Bewertung dieses Faches und der Politik überhaupt bei den Heranwachsenden aus ..
Trotz des geringen Stellenwertes Politischer Bildung in der Schule wird deren Wirkung von Politikern und Öffentlichkeit z. T. überschätzt. Während früher Hakenkreuzschmierereien und das Aufkommen der NPD mit der Forderung nach mehr Politischer Bildung beantwortet wurden, wird heute die oft nur partiell oder überhaupt nicht stattfindende Politische Bildung für Radikalisierungstendenzen bei Schülern und Jugendlichen verantwortlich gemacht. Dazu kommt, daß der Politischen Bildung immer neue Aufgaben zugewiesen werden, ohne daß deren Anteil in den Stundentafeln erweitert wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Politische Bildung für manche Politiker eine Alibifunktion oder die Rolle eines „Schwarzen Peters" einnimmt. Fehlentwicklungen und Defizite im demokratischen Bewußtsein können nicht auf zu viel, sondern eher auf zu wenig an Bemühen um Politische Bildung zurückgeführt werden. Der zuerst von C. P. Snow 1959 geäußerten Kritik am Bildungsbewußtsein ist nicht nur’ auch heute noch zuzustimmen; der beklagten Kluft zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz ist ergänzend hinzuzufügen, daß jene „Dritte Kultur" nur mangelhaft ausgeprägt ist, die ihre Wurzeln vor allem in den Sozialwissenschaften hat. Wie die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert um ihre Anerkennung als Bildungsgüter ringen mußten, so ringen derzeit die Sozialwissenschaften um pädagogisch-didaktische Anerkennung. Während aber die Massenmedien ihre „Ergebnisse" und Methoden alltäglich benutzen, popularisieren und verbreiten, verhält sich das Bildungssystem eher abwartend gegenüber der historischen Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen Grundbildung.
Kurt Gerhard Fischer, Dr. phil., geb. 1928 in Leipzig; Studium der Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Sozialwissenschaften; Prof, für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Gießen. Veröffentlichungen bis 1972 s. B 29/72; neuere Veröffentlichungen: Überlegungen zur Didaktik des Politischen Unterrichts, Göttingen 1972; Problem Bildung — Strukturen und Tendenzen (Hrsg. Dieter Cwienk und K. G. Fischer), Stuttgart 1974; Theorie und Praxis von Consensus und Dissensus, Hannover 1974; (Hrsg.) Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung, Stuttgart 19804; (Schulbuch; Hrsg.) Mensch und Gesellschaft, Stuttgart 1973 u. ö.; (Lehrer-handbuch, Hrsg.) Mensch Gesellschaft Politik, Stuttgart 1974 u. ö.
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