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Neuere Probleme bei der Erforschung des Dualen in der beruflichen Bildung | APuZ 49/1981 | bpb.de

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Neuere Probleme bei der Erforschung des Dualen in der beruflichen Bildung

Harald Brandes, Eckart Rosemann Eckart Harald Brandes Rosemann

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bei der Konfrontation von Anspruch und Wirklichkeit in der beruflichen Bildung erweist sich das bisher verwendete Konzept von Dualität als begrenzt. Das überschreiten der hergebrachten Erkenntnisgrenzen setzt viele neue Einsichten frei. Nach der Beantwortung der Kantschen Frage „Was kann ich wissen?" wird in Übereinstimmung mit den neuesten Entwicklungen in der modernen Physik deutlich, daß auch in der Berufsbildungsforschung oft verlachter Kinderglauben der Realität näher ist als hochgezüchtete Forschungsmethoden.

Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die geradeste ist. (Lessing)

I. Die betriebliche Ausbildung hält noch stand

Leider verleitet ein auf den ersten Blick so populäres Thema wie „Der Nikolaus als solcher und mit Bezug auf.. “ leicht zu vordergründigen Parallelen.

Anhand des Nikolaus'kann man beispielsweise den Mut zur Erziehung ebenso propagieren wie alternative Kultur (Äpfel und Mandeln sind bekanntlich Grundbestandteile eines gepflegten Müslis).

In bezug auf unsere Fragestellung wäre es nur allzu leicht gewesen, eine Dualität von Rute (negativ) und Geschenksack (positiv) zu konstruieren, was nicht zuletzt im Trend der Zeit läge ).

Es ist ein bekanntes Phänomen, daß in Zeiten, in denen gründliche Reflexion geboten ist, die Sehnsucht nach einfachen Lösungen zunimmt. Die Geschichte der Menschheit bietet uns viele Beispiele für das Aufkeimen eines solchen irrationalen Verhaltens. Generationen von Heranwachsenden haben aber auch in ihrer eigenen Lebensgeschichte dieses Wechselbad von Scheinwelt und Realität leidvoll erfahren müssen. So mußte Brutus nach dem gutgemeinten Mord an seinem Adoptivvater Caesar einsehen, daß blinder Eifer nur schadet, denn der Verteidigung der römischen Republik hatte er damit einen Bärendienst erwiesen. Obwohl der allgemeine Stand des Wissens seit den Tagen Caesars gestiegen ist, sind die Verhaltensweisen der heutigen Jugendlichen in vielen Fällen unverändert geblieben. Es liegt an dieser Stelle zwar nahe, zum Beleg Beispiele heranzuziehen, die effektheischend durch alle Medien gezerrt Wir wollen werden. hier jedoch nicht von.den Jugendlichen reden, die in Liverpool Läden plündern, in Berlin Häuser besetzen und in Bonn durch Demonstrationen den Straßenverkehr behindern. Diese Auswüchse sind allein schon aufgrund ihrer geringen quantitativen Bedeutung für eine solide Argumentation ungeeignet, denn selbst der größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik blieben rund 99, 7% der Wohnbevölkerung fern. Wir wählen hingegen einen Lebensbereich, mit dessen Problemen die überwältigende Mehrheit zu kämpfen hatte, von dessen Auswirkungen sie

INHALT I. Die betriebliche Ausbildung hält noch stand II. Die Enge des herkömmlichen Dualitätsbegriffes III. Dualität als umfassender Begriff von beruflicher Bildung und Berufsbildungsforschung IV. Der komplexe Forschungsgegenstand erfordert angemessene Methoden V. Entwicklungstendenzen und Schlußfolgerungen noch immer betroffen ist und der ihren weiteren Lebensweg wesentlich bestimmt: die berufliche Erstausbildung.

Anstatt das komplexe System der beruflichen Bildung gedanklich zu durchdringen, versuchen viele Jugendliche ohne jeglichen Realitätssinn in dieses empfindliche Gebilde einzudringen. Mit jugendlichem Ungestüm gefährden sie das von Funktionären und Beamten feinsinnig hergestellte Gleichgewicht. Systemimmanente Kräfte sorgen allerdings dafür, daß die betriebliche Berufsausbildung nicht das chaotische Schicksal der Hochschulen teilt.

Leider hat die Hochschulausbildung durch Überlastung des Lehrkörpers eine ungute Entwicklung genommen. So führen z. B. bürokratische Gängelungen dazu, daß ein Abiturient sich bereits vor Beginn des Studiums entscheiden muß, ob er Zahnarzt oder Arzt werden will. Solche verfrühten Festlegungen behindern die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen. Erfreulicherweise ist es den Verantwortlichen für die berufliche Bildung unterhalb der Fachoberschulebene bisher gelungen, dem Druck standzuhalten:

Dem Schüler des Berufsgrundbildungsjahres wird die Möglichkeit geboten, die ganze Breite der potentiellen Betätigungs-und Müßiggangsfelder kennenzulernen. Anschließend hat er nicht selten die Gelegenheit, auf Schulen und Lehrgängen seine breiten Grundkenntnisse über die Berufswelt aus sicherer Entfernung zu vervollständigen.

Es fragt sich, wie lange dem Druck aber noch standgehalten werden kann. Nur Besinnung auf das Grundsätzliche ist in der Lage, auf Dauer zu helfen, die Abwehrmauern entgegen jugendlichem Anspruchsdenken zu festigen. Die Grundlage der betrieblichen Ausbildung, das „Duale", darf nicht leichtfertig aufgegeben werden.

II. Die Enge des herkömmlichen Dualitätsbegriffes

Auch Wohlmeinende verkennen leider zu oft die Notwendigkeit einer klaren Begriffsbildung. Sie leisten damit — wenn auch unbewußt — einer schleichenden Aushöhlung Vorschub. Der herkömmliche Dualitätsbegriff in der beruflichen Bildung beschränkt sich leider auf das hergebrachte Begriffspaar Schule und Betrieb bzw.

Theorie und Praxis.

Der ganze Reichtum des Dualen erschließt sich aber nur dem, der, von den Quellen ausgehend, die Vielfalt seiner Erscheinungsformen entfaltet. Die dem Dualen innewohnende Widersprüchlichkeit und ausgleichende Kraft gilt es freizulegen. Warum wurde bisher vergessen, daß — einerseits das Institutionenpaar Bund und Länder sowohl für Auszubildende als auch Ausbilder öffentliche Verantwortung trägt, obwohl andererseits die Kompetenzen unangefochten in privater Hand liegen, — einerseits während der Lehre Ausbildungsleistungen von den Betrieben erbracht werden, und die Jugendlichen andererseits dem Markt knappe Arbeitsplätze entziehen, — einerseits das jugendliche Individuum durch körperliches Training Widerstandskraft entwickeln kann und andererseits durch geistige Formung soziale Anpassung erlernt, — einerseits berufliche Bildung an der Naht-stelle von Allgemeinbildung und Erwerbstätigkeit objektiv wichtig ist, obwohl andererseits die veröffentliche Meinung eine distanzierte Neutralität ihr gegenüber hinter Ignoranz versteckt?

Diese wenigen Beispiele für die der betrieblichen Ausbildung wesentliche Dualität sind beileibe nicht erschöpfend. Sie müssen aber genügen, werfen sie doch zugleich ein helles Schlaglicht auf die avantgardistische Rolle der Berufsbildungsforschung.

III. Dualität als umfassender Begriff von beruflicher Bildung und Berufsbildungsforschung

Bereits nach dem bisherigen Aufriß der Problemlage können wir uns erfolgversprechend unserer Einstiegsfrage zuwenden. Der beschriebene hohe Komplexitätsgrad des dualen Forschungsgegenstandes fordert geradezu zwei typische Reaktionsformen heraus:

a) eine dem komplizierten Gegenstand gerecht werdende gründliche Reflexion (richtig). b) eine dem Durchschlagen des Gordischen Knotens ähnliche Kurzschlußreaktion (falsch).

Die innere Konstruktion des dualen Systems erzeugt demnach mit Notwendigkeit auch die Struktur der dem Untersuchungsgegenstand entsprechenden Forschungsweise, also auch der Fehlmeinungen. Der falsche und der richtige Weg stehen sich dual gegenüber. Es ist an dieser Stelle fast überflüssig zu betonen, daß auch der richtige Weg, die gründliche Reflexion, wiederum durch und durch dualen Charakter haben muß. Wie wirkt sich das im Forschungsprozeß aus? Unter analytischen Gesichtspunkten läßt sich diese Frage in drei Teilaspekte aufteilen:

Zum einen gilt es, die Berufsbildungsforschung dem Gegenstand angemessen zu organisieren. Es mußten notwendigerweise zwei Dienststellenteile des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung geschaffen werden, was 1976 gelang, entsprechend dem deutschen Dualismus in Bonn und Berlin. Zum anderen ist — wie bereits gesagt — die Forschung selbst in jeder Hinsicht dual zu betreiben. Zum dritten müssen die Forschungsergebnisse dual wiedergegeben und dargestellt werden, was mit der Einführung des Berufsbildungsberichtes ebenfalls in Bundesregierung bereits die Tat umgesetzt wurde. Schon an dieser Stelle muß aber bedauernd auf eine „Undualitat" hingewiesen werden: Der Bericht wird einmal im Jahr erstellt; leider nicht zweimal oder einmal in zwei Jahren. Es gibt jedoch Kräfte, die hier auf Abhilfe sinnen und entsprechende Vorschläge immer wieder mit Nachdruck vorbringen.

Ein dezidiertes Eingehen auf die Forschungsorganisation ist deswegen notwendig, weil durch sie die Entscheidungen über die materielle Ausstattung festgeschrieben werden. In dieser Hinsicht ist die Position der Berufsbildungsforschung leider keineswegs gesichert, aber auch nicht hoffnungslos.

Wie immer in Zeiten des Umbruchs, wenn Neuerungen an die Oberfläche dringen wollen, hat die fortgeschrittenste Forschungsrichtung gegen Neid und Unwissenheit zu kämpfen. Das hat objektive Gründe. So kann sich die Festkörperphysik noch immer nicht damit abfinden, daß sie ihre Spitzenposition an die Berufsbildungsforschung abgeben mußte. Während nämlich die Festkörperphysik sich lediglich eindeutig-körperlichen Forschungsgegenständen verschrieben hat, beschäftigt sich die Berufsbildungsforschung bereits mit den Verästelungen des Dualen.

Man muß zwar zugeben, daß die Zusammenhänge kompliziert sind und daß für deren Durchdringen von Außenstehenden Zeit und Geduld aufgebracht werden muß. Dennoch ist auch vor dem Hintergrund der Sparbeschlüsse ein gewaltsames administratives Eingreifen in diesen Bereich völlig unangemessen. Während die Festkörperphysik weitgehend ungeschoren bleibt, steht das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung im Zentrum der Angriffe. Hinter der offen vorgetragenen Forderung, das Bundesinstitut auf einen Dienststellenteil zu beschränken, verbirgt sich in Wahrheit ein Angriff auf das Duale und somit auf das duale System. Dies ist objektiv festzustellen, wenn auch die Befürworter des einstelligen Bundes-instituts sich und andere vom Gegenteil überzeugen wollen. Dieses Phänomen ist an sich unerklärlich. Wir stoßen an dieser Stelle auf das charakteristisch Unfaßbare, das allen, die sich ernsthaft mit dem dualen System beschäftigen, immer wieder begegnet: der irrationale Faktor, der dem Berufsbildungssystem wesens-immanent ist.

Bevor wir nun im nächsten Schritt näher auf das Darstellungsproblem eingehen, indem wir dem Bericht über das Duale, dem Berufsbildungsbericht, die ihm gebührende Stelle zu -

weisen, seien für die wenigen Mitbürger, die mit diesem Bericht nicht vertraut sind, einige Vorbemerkungen erlaubt. In der Geschichte der Menschheit ist häufig zu beobachten, daß von der Kunst Wege gebahnt werden, die die Wissenschaft dann frischen Sinnes beschreiten kann. So ist denn der heutige Stand der Berufsbildungsforschung eigentlich nur zu begreifen, wenn man sich an den Fortschritt der Malerei in diesem Jahrhundert erinnert. Kein geringerer als Picasso — aber auch Braque ist hier zu nennen und zu loben — muß zu den Wegbereitern der Berufsbildungsforschung gezählt werden. Vor allem in der Darstellung standen Picasso, Braque und die Verfasser des Berufsbildungsberichtes vor dem gleichen Problem. Wie kann man das Kunststück fertig bringen, alle wesentlichen Aspekte und mehrdimensionalen Ansichten auf ein zweidimensionales Medium zu übertragen, also auf Papier, Leinwand oder ein ähnlich geeignetes Material? Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bewältigten die Maler diese Aufgabe, indem sie die Ansichten, die ein Beobachter von einem Gegenstand gewinnen kann, wenn er diesen einen Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, so Wiedergaben, als könnte der Betrachter diese Ansichten von einem Standpunkt aus gewinnen. Sie malten z. B. eine Schale so, daß sie nicht nur von vorne, sondern auch von hinten und von oben gleichzeitig zu sehen ist. Das Ergebnis ihrer Bemühungen war der Kubismus.

Diesen Gedanken hat die Berufsbildungsforschung intuitiv aufgenommen, wenn auch festgestellt werden muß, daß sie bisher nicht über den einfachen Dualismus hinaus gekommen ist. Aber bereits dieser erste Schritt in die richB tige Richtung bietet ausreichend Gelegenheit, bisherige Beschränkungen wie Ketten abzuschütteln und die Einheit von Inhalt (duales System) und Form (Berufsbildungsbericht) herzustellen. Anhand einiger weniger Beispiele kann das gezeigt werden.

So stellt die Bundesregierung einerseits fest: „ 1980 wurden 669350 Ausbildungsplätze nachgefragt; 697 348 Ausbildungsplätze wurden angeboten. Damit überstieg das Angebot an Ausbildungsplätzen die Nachfrage 1980 global um 4, 2% .. (S. 7). Andererseits wird in demselben Bericht in konsequenter Verfolgung des dualen Darstellungsprinzips auch gesagt, daß „jährlich rund 115000... ohne qualifizierte Ausbildung in Schulen, Betrieben oder anderen außerschulischen Ausbildungseinrichtungen bleiben .. " (S. 4). Offensichtlich werden hier zwei Realitäten angemessen dual beschrieben. Bei Durchsicht der bisherigen Berufsbildungsberichte fällt auch auf, daß einerseits in den Jahren zwischen 1976 und 1980 alle formalen Vorwände und Notwendigkeiten vorlagen, um durch einen finanziellen Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht-ausbildenden Betrieben mehr Ausbildungsplätze zu schaffen, andererseits das Instrumentarium nicht angewendet wurde und dieser Tatbestand im Berufsbildungsbericht auf die bewährte duale Weise dem Publikum plausibel gemacht werden konnte.

Bevor der Leser nun voreilige Schlüsse zieht, möchten wir daran erinnern, daß das duale Darstellungsprinzip vom zuständigen Ministerium bisher nur unbewußt angewendet wird. Der bereits erwähnte irrationale Faktor in der beruflichen Bildung ist auch hier wieder wirksam und fast mit Händen zu greifen, ohne daß wir seiner endgültig habhaft werden konnten.

IV. Der komplexe Forschungsgegenstand erfordert angemessene Methoden

Die Methodenproblematik wird oft unterschätzt. Ganze Generationen von Wissenschaftlern haben sich angewöhnt, methodische Vorkapitel oder den obligatorischen Anhang in wissenschaftlichen Veröffentlichungen einfach zu überschlagen. Solche Handlungsweise rächt sich immer dann, wenn man ausgetretene wissenschaftliche Trampelpfade verlassen muß, weil der Forschungsgegenstand es förmlich erzwingt. Um wieder einen Vergleich aus der Malerei heranzuziehen: Die Arbeit mit der tradierten Methodik in der Berufsbildungsforschung wäre vergleichbar mit einem Absinken der modernen Kunst auf das Niveau des röhrenden Hirsches. Um den Stellenwert der Reflexion über Methodenprobleme für unsere Arbeiten zu verdeutlichen, geben wir im folgenden unseren eigenen Erkenntnisprozeß mit allen seinen Umwegen und Irrtümern wieder.

Unser methodischer Ausgangspunkt vor einigen Jahren läßt sich am besten mit dem Leibniz-Wort „Möglich ist das, was widerspruchsfrei ist" charakterisieren. Vom Kopf auf die Füße gestellt, bedeutet das: Alles was möglich ist, ist auch widerspruchsfrei. Da dem dualen System die Existenz nicht abgesprochen werden kann, folgte für uns damals daraus, daß es auch widerspruchsfrei sein muß. Die Kraft des Faktischen sorgte allerdings recht bald dafür, daß wir Dinge wahrnahmen, die vom theoretischen Standpunkt eigentlich völlig unmöglich waren. Das führte bei uns zeitweise zu einer maßlosen Protesthaltung, die den Blick für das Wirkliche vermissen ließ. Es war dann die Beschäftigung mit der Methodik, die uns die für den Forschungsprozeß notwendige Nüchternheit im Umgang mit dem Widerspruch zurückgab. Im Verlaufe dieses Bewußtwerdungsprozesses wurde uns klar, daß die Widersprüchlichkeit in ihrer spezifischen Ausformung des Dualen keine ärgerliche Randerscheinung, sondern konstituierendes Element der beruflichen Bildung ist!

Wie löst man nun einen Widerspruch auf? Auch in der Beantwortung dieser Frage schlugen wir zunächst einen Irrweg ein. Wir verfolgten die Diskussion in der modernen Logik und stießen auf originelle Lösungswege. So bekämpfen die Verfechter der sog. intuitionistisehen Logik die wohlbegründete Auffassung, daß es neben „wahr“ und „falsch“ kein Drittes gäbe („tertium non datur"). Die öffentliche Diskussion um den dritten Weg in der beruflichen Bildung („triales System") belehrte uns allerdings alsbald eines besseren. Ein solches Dreiersystem hat in der Berufsbildung keinerlei Existenzberechtigung. Der entscheidende Durchbruch bei der Bewältigung des anstehenden Problems gelang uns erst bei einem Rückgriff auf die Klassiker des Altertums. Den wesentlichen Anstoß bekamen wir durch die berühmte Antinomie des Kreters Epimenides, der gesagt hat, daß alle Kreter Lügner sind. Mit vergleichbaren Problemen ist die Berufsbildungsforschung fast täglich konfrontiert, konnte sie bisher aber nicht methodisch sauber lösen. Es war eben ein verhängnisvolles Versäumnis der Berufsbildungsforschung, die bereits vor hundert Jahren einsetzende Antinomieforschung in der Mathematik ignoriert zu haben. Was die Mathematiker zum Thema „Überleben mit dem Widerspruch" bisher erarbeitet haben, erweist sich nämlich als direkt auf das duale System anwendbar:

a) Für den Hausgebrauch akzeptieren die Mathemiker einfach den Widerspruch. Sie wenden dann eben die sogenannte „naive“ Mengenlehre an. Entsprechend könnte man sich in vielen Bereichen mit einer „naiven" Berufsbildungsforschung zufrieden geben.

b) In der Mengenlehre kennzeichnete der 1. Unvollständigkeitssatz des österreichischen Mathematikers Kurt Gödel einen entscheidenden Einschnitt, der von den Sozialwissenschaftlern bisher unverständlicherweise völlig außer acht gelassen worden ist. Er besagt — etwas verkürzt —, daß alle gebräuchlichen logischen Systeme nie vollständig sein können, d. h., daß nicht alle Tatbestände eindeutig mit dem Prädikat „wahr" oder „falsch" belegt werden können. Probleme wie bei der Antinomie des Epimenides gibt es also notwendigerweise in allen Theorien. Sie können nur durch eine „Meta-Theorie" gelöst werden, die z. B. festlegt, ob der Kreter Epimenides zu den Lügnern gehört oder nicht.

Welche Lehren kann man nun daraus für das duale System ziehen? Die erste wichtige Schlußfolgerung lautet, daß man das Duale in der berufliche Bildung nicht nur hinnehmen darf, sondern sich ausdrücklich dazu bekennen muß. Die Widersprüchlichkeit, an der sich die Gemüter unverständiger Menschen erhitzen, ist folglich kein Mangel, sondern ein Kennzeichen aller in sich logischen Systeme. Aufgabe der Berufsbildungsforschung kann es also auch nicht sein, sensationell den Dualismus zu enthüllen, wie es von sogenannten „Enthüllungsstatistikern" immer wieder versucht wird. Sie hat ihn vielmehr einzubetten und mit der jeweils nächsthöheren Metatheorie zu erklären. Zum uns bekannten einfachen dualen System gesellt sich so völlig zwanglos das nächsthöhere duale System. Da auch dieses wiederum im besten Sinne des Wortes (nach Kurt Gödel) dual sein muß, scheint nach unseren derzeitigen Forschungsergebnissen dieser Prozeß ins Unendliche zu führen.

V. Entwicklungstendenzen und Schlußfolgerungen

„Neuere Probleme bei der Erforschung des Dualen in der beruflichen Bildung" haben wir . diesen kurzweiligen Bericht aus der Werkstatt der Berufsbildungsforschung genannt. In der Tat sind einige Probleme angesprochen worden, die in der Wissenschaft im engeren Sinne neu sind, nicht hingegen in der Kunst im weitesten Sinne, die die Wissenschaft als eine auf Wissen und Übung gerichtete Tätigkeit umfaßt (Brockhaus). Festzuhalten bleibt nochmals, daß das Duale in der Berufsbildung in das Bewußtsein der Beteiligten gehoben werden muß und seine Prinzipien allgemein akzeptiert werden müssen.

Für den Forscher ist es immer wieder ein erhebendes Erlebnis und höchstes Glück, den Forschungsgegenstand in seiner Totalität zu durchdringen und dabei das Bewußtsein zu haben, Wege zu beschreiten, die vor ihm noch kein anderer Mensch gegangen ist. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß uns bei der Berufsbildungsforschung die Kant'sche Frage „Was kann ich wissen?" immer wieder bewegt. Als wir gedanklich vor der unendlichen Reihe von dualen Systemen standen, die einander sukzessive bedingen, konnten wir uns dem Rätselhaften und doch in sich Logischen dieses Gebildes nicht verschließen. Was ist das ewig Duale, das diesen Prozeß erzeugt? Muß man vor ihm Angst haben, oder dürfen wir hoffen? Welche Folgen ergeben sich zwangsläufig, wenn konsequent analysiert wird? Doch sicherlich zweierlei:

a) Das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung bekäme einen dritten, einen vierten, viele Dienststellenteile (einen davon bestimmt in Karlsruhe). Der Berufsbildungsbericht er-schiene dreimal, viermal, vielmal im Jahr.

b) Mit Sicherheit könnte der Punkt erreicht werden, an dem der Faktor, den wir bisher aus Sprachlosigkeit den „irrationalen" nennen mußten, für uns einen höheren Konkretheitsgrad annehmen wird. Solche Vorstellungen haben nichts mit naivem Kinderglauben zu tun, der wahrscheinlich an dieser Stelle einen Nikolaus erwarten würde. Wir sehen uns vielmehr in einer Linie mit den modernen Physikern, die den Totalitätsanspruch des Wissens, der die Sphäre des Glaubens zurückdrängt, längst aufgegeben haben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Harald Brandes, Dipl. -Soziologe, geb. 1942. Eckart Rosemann, Dipl. -Volkswirt, Dipl. -Mathematiker, geb. 1943. Beide Autoren sind Mitarbeiter im Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung (Dienststellenteil Bonn). Bisher sind sie nur durch Veröffentlichungen zur quantitativen Berufsbildungsforschung hervorgetreten. Die Beschränktheit statistischer Untersuchungsmethoden wurden ihnen dabei schmerzlich bewußt. Mit dem vorliegenden Beitrag vollziehen sie die lange geplante Wendung zum begriffskritischen Ansatz. Wolfgang Arnold, geb. 1942; Dipl. -Psychologe, 1970— 1977 Planungsabteilung der Bundeszentrale für politische Bildung, davon zwei Jahre Erwachsenenbildner in Kenia, seit 1977 Leiter der hessischen Landeszentrale für politische Bildung.