Versorgungslücken, drastisch sinkende Realeinkommen und eine Inflationsrate von 50 v. H. — durch diese Stichworte sind wesentliche Probleme umrissen, mit denen Jugoslawien an der Jahreswende 1983/84 zu kämpfen hat. Doch nur wenigen Jugoslawen ist bewußt, daß die gegenwärtige Krise ihre Wurzeln in der heute oftmals nostalgisch verklärten Tito-Ära hat. Die verfehlte Wirtschaftspolitik in der Spätphase dieser Ära ließ die Auslandsverschuldung derart kraß ansteigen, daß die äußere Liquidität der SFRJ zu Beginn der achtziger Jahre ernsthaft gefährdet war. Ohne umfangreiche Finanzhilfe der USA und ihrer Verbündeten wäre Jugoslawien ein ähnliches Schicksal wie Polen und Rumänien nicht erspart geblieben. Unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds ergriff die jugoslawische Bundesregierung energische Sofortmaßnahmen, um den Devisenabfluß zu stoppen. Doch die damit eingeleitete und in der Presse mit sehr viel Vorschußlorbeeren bedachte Wirtschaftsreform ist offensichtlich ins Stocken geraten. Gegenwärtig zieht sich durch alle politisch relevanten Gremien der Gegensatz zwischen den Zauderern, die spöttisch als „Kosmetiker“ des Systems bezeichnet werden, und den Radikalen, die rasche und klare Lösungen anstreben. Der politische Entscheidungsprozeß ist damit blockiert, zumal die Partei ihren Führungsaufgaben nicht mehr gerecht wird. Es ist schwer zu prognostizieren, wann die wirtschaftlich begründete Unzufriedenheit der Bevölkerung in eine politisch motivierte umschlagen wird. Fest steht jedoch, daß eine deutliche Verschlechterung der gegenwärtigen Situation die Toleranzgrenze weiter Bevölkerungsschichten überschreiten würde. Nach wie vor akut ist das Kosovo-Problem, das die Einheit des Vielvölkerstaats zu untergraben droht. In Jugoslawiens südlichster Provinz, die zu fast 80 v. H. von Albanern bewohnt wird, war es im Frühjahr 1981 zu blutigen Unruhen unter irredentistischem Vorzeichen gekommen. Auch zweieinhalb Jahre danach ist die Lage in Kosovo keinesfalls stabilisiert. Serben und Montegriner wandern ab; die totale Albanisierung der Provinz ist vorhersehbar. Obwohl Belgrad alle Anstrengungen unternimmt, wird es zunehmend schwieriger sein, den Verbleib Kosovos in der jugoslawischen Föderation zu sichern.
I. Das schwere Erbe der Tito-Ära
„Was sind zur Zeit die wesentlichen Probleme Jugoslawiens?" Würde man unter diesem Titel eine Umfrage unter jugoslawischen Bürgern starten, so könnte man sicher sein, daß 90v. H. aller Befragten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes an erster Stelle nennen würden. Ebenso sicher könnte man sein, daß zahlreiche Jugoslawen in den Stoßseufzer ausbrechen würden: „Wenn Tito noch lebte, wäre es nicht so weit mit uns gekommen!" Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die wirtschaftliche Misere Jugoslawiens, die in der hohen Auslandsverschuldung, drastisch sinkenden Realeinkommen und einer kaum zu zügelnden Inflation zum Ausdruck kommt, ihre Wurzeln in der heute oftmals nostalgisch verklärten Tito-Ära hat.
Gerade in der Spätphase dieser Ära (1975— 1980) schlug Jugoslawien ähnlich wie Polen einen expansiven Kurs in der Wirtschaftspolitik ein. Man kaufte unter Inanspruchnahme immer umfangreicherer Hartwährungskredite Industrieausrüstung im Westen und hegte dabei die allzu optimistische Erwartung, die mit Hilfe dieser Maschinen produzierten Güter auch im EG-Bereich und in den Entwicklungsländern absetzen zu können. Durch kontinuierlich steigende Exporte sollte der entstandene Schuldenberg wieder abgebaut werden. Dabei schwebte den jugoslawischen Wirtschaftspolitikern vor, die hochentwickelten westlichen Länder zu kopieren, die ihre umfangreichen Importe von Erdöl und wichtigen Rohstoffen durch Exportüberschüsse in den Bereichen Maschinenbau, Chemie, Automobil-und Leichtindustrie finanzieren. Doch die Rechnung ging nicht auf.
Die Märkte der Hartwährungsländer blieben den jugoslawischen Industrieprodukten weitgehend verschlossen. 1979 erreichte Jugoslawiens Handelsbilanzdefizit die Rekordmarke von 6, 4 Mrd. US-Dollar, was gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um mehr als zwei Mrd. Dollar bedeutete. Das Handelsbilanzdefizit konnte nicht wie in früheren Jahren durch eine entsprechende Steigerung der Einnahmen aus dem Nichtwarenverkehr — Tourismus, Überweisungen der Gastarbeiter, Transportleistungen und andere Dienstleistungen für das Ausland — aufgefangen bzw. gemildert werden. Während die Nettodeviseneinnahmen aus den Invisibles 1976 noch 61 v. H.des Handelsbilanzdefizits abdeckten, waren es 1979 nur noch 31 v. H. Die so entstandene Zahlungsbilanzlücke mußte folglich mit Auslandskrediten geschlossen werden. Äußerst negativ wirkten sich zudem Faktoren aus, die außerhalb des Verantwortungsbereichs der jugoslawischen Wirtschaftspolitik lagen: der zweite ölpreisschock (1979), die dadurch bedingte Rezession in den westlichen Abnehmerländern und die alle Schuldnerländer überaus empfindlich treffenden Zins-sprünge auf den westlichen Kapitalmärkten
Als Titos Nachfolger im Mai 1980 die politische Verantwortung übernahmen, traten sie ein schweres Erbe an. Die Gesamtproduktion Jugoslawiens war merklich zurückgegangen. Sie stieg 1980 nur um 5 v. H., verglichen mit einer jährlichen Steigerungsrate von durchschnittlich 7 bis 8 v. H. in den vorangegangenen drei Jahren. Bei einer Inflationsrate von nahezu 40v. H. gingen die Realeinkommen der Beschäftigten um 8, 1 v. H. zurück. Infolge eines im August 1979 verhängten Preisstopps wurde das Land von einer Versorgungskrise geschüttelt, die, wenngleich in temporär gemilderter Form, zu einer Dauererscheinung werden sollte. Nicht nur Milch, Fleisch, Kaffee und Südfrüchte waren Mangelware, es fehlte auch an Waschpulver, Kohle, Heizöl und Medikamenten. Auf dem Höhepunkt der Krise wurde in Belgrad eine Liste von fast 2 000 (!) Einzelartikeln erstellt, die permanent nicht vorhanden waren 2). Sehr viel gravierender für die wirtschaftliche Entwicklung Jugoslawiens war jedoch die wachsende Auslandsverschuldung, die sich im Frühjahr 1980 bereits der 18-Milliarden-Dollar-Grenze näherte.
II. Problem Nummer eins: die Auslandsverschuldung
Abbildung 2
Quelle: Ekonomska Politika vom 7. 11. 1983 Tab. 2 Zinsen für Auslandskredite
Quelle: Ekonomska Politika vom 7. 11. 1983 Tab. 2 Zinsen für Auslandskredite
Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, daß Jugoslawiens Auslandsverschuldung gerade in den letzten fünf Jahren der Tito-Ära lawinenartig gewachsen ist:
Zu den obigen Zahlen ist zu bemerken, daß die derzeitige Auslandsverschuldung der SFRJ von der jugoslawischen Nationalbank höher angesetzt wird als von den westlichen Gläubigerländern. Dieses Paradox findet seine Auflösung darin, daß eine höhere Gesamtverschuldung höhere Refinanzierungskredite bedingt, die Jugoslawien jetzt wie im kommenden Jahr benötigt. Nach westlichen Schätzungen dürfte die Gesamtverschuldung Jugoslawiens bis Ende 1983 ca. 21, 6 Mrd. US-Dollar betragen
Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Zinsen, die Jugoslawien in den vergangenen zehn Jahren für Auslandskredite zu zahlen hatte.
Jugoslawien zahlte im Verlauf der letzten zehn Jahre an Zinsen für Auslandskredite insgesamt 8, 320 Mrd. US-Dollar, dadurch wurden 13, 1 v. H. vom Wert des jugoslawischen Gesamtexports in dieser Periode (63, 474 Mrd. US-Dollar) aufgezehrt. Auf die letzten drei Jahren betrachtet hat sich diese Relation erheblich verschlechtert. Auf die Zinszahlungen von durchschnittlich 1, 359 Mrd. US-Dollar per anno entfiel folgender Anteil am Wert aller jugoslawischen Exporte:
1980: 14, 3 v. H.
1981: 19, 3 v. H.
1982: 20, 0 v. H.
Offizielle Schätzungen gehen davon aus, daß Jugoslawien 1984 und 1985 jeweils 2 Mrd. US-Dollar an Zinsen zu zahlen haben wird Die Gesamtbelastung aus Zins und Tilgung wird für das kommende Jahr auf nicht weniger als 5, 2 Mrd. US-Dollar angesetzt
Heute ist allgemein bekannt, daß Jugoslawien hart an der Grenze der äußeren Liquidität steht und ohne westliche Finanzhilfe nicht in der Lage wäre, seine Auslandsschulden zu bedienen. In westlichen Bankkreisen traten erste Zweifel an der Bonität Jugoslawiens erst 1980 vor dem Hintergrund der Polen-Misere auf. Sie wurden zunächst mit dem Argument zerstreut, Jugoslawien sei schließlich Gründungsmitglied des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank sowie assoziiertes OECD-Mitglied und genieße daher im Westen ein ganz anderes Credit Standing als das Ostblockland Polen. Hellhörig wurde man allerdings bei den Banken, als sich Mitte 1981 herausstellte, daß die Auslandsverschuldung Jugoslawiens pro Kopf der Bevölkerung höher lag als diejenige Polens. Indiz für das aufkeimende Mißtrauen war die Tatsache, daß Jugoslawien im Herbst 1981 eine 400-Millionen-Dollar-Anleihe am Eurodollarmarkt nicht unterbringen konnte. Die jugoslawischen Liquiditätsprobleme ließen sich nicht länger verheimlichen, als einige Regionalbanken der SFRJ die bei westlichen Kreditoren aufgenommenen Anleihen nicht mehr pünktlich bedienen konnten. Im Februar 1982 erhielt Jugoslawien vom IWF 700 Millionen US-Dollar; diese Summe war Teil eines vom IWF früher eingeräumten Stand-by-Kredits von insgesamt 2, 2 Mrd. US-Dollar. Damit hatte Jugoslawien die höchste Kreditsumme erhalten, die der IWF jemals einem Entwicklungsland zur Verfügung gestellt hat. Im selben Jahr erhielt Jugoslawien einen Finanzkredit aus Kuwait von 250 Millionen US-Dollar sowie weitere 150 Millionen US-Dollar von deutschen Banken Als Jugoslawiens Kreditbedarf damit immer noch nicht gestillt war, begann man in westlichen Bankkreisen offen davon zu sprechen, auch Jugoslawien werde den Weg Polens und Rumäniens gehen müssen, d. h., es werde nicht darum herumkommen, bei den westlichen Kreditgebern die Umschuldung zu beantragen
Daß es nicht dazu kam, ist auf die tatkräftige Unterstützung westlicher Regierungen und Banken zurückzuführen. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten waren naturgemäß an einem stabilen Jugoslawien interessiert und keinesfalls bereit, tatenlos zuzusehen, wie dieses Land in eine schwere wirtschaftliche Krise mit unabsehbaren politischen Konsequenzen geriet. Gleichzeitig kam die jugoslawissche Regierung in Zugzwang. Sie mußte beweisen, daß sie nicht nur westliche Finanzhilfe entgegennehmen, sondern daß sie alles in ihren Kräften Stehende tun würde, um die Liquiditätsprobleme des Landes zu meistern. Die jugoslawische Regierung wurde diesen Erwartungen gerecht, indem sie im Oktober 1982 ein rigoroses Austerity-Programm einführte. Der Herbst 1982 markierte deutlich eine Wende in der jugoslawischen Wirtschaftspolitik und schuf die ersten Ansätze für die dritte Wirtschaftsreform in der SFRJ. Von nun an wurde die Erhaltung der äußeren Liquidität zum obersten Ziel, dem alle anderen wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen waren.
Der Westen honorierte diese Haltung mit weiterem Entgegenkommen. Im sogenannten Zürcher Abkommen vom 17. Januar 1983 gewährten die westlichen Gläubiger Jugoslawien einen Zahlungsaufschub für die anfallenden Tilgungsraten in Höhe von 1, 7 Mrd. US-Dollar. Bei der Zinszahlung war die SFRJ in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mit 130 Mio. US-Dollar in Verzug geraten. Daraufhin erarbeiteten die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, der IWF, die Weltbank, ein Konsortium westlicher Banken sowie Vertreter 15 westlicher Regierungen ein Kreditpaket von 4, 5 Mrd. US-Dollar im laufenden Jahr für Jugoslawien Das Paket gliedert sich wie folgt auf: 2 Mrd. US-Dollar entfallen auf die Geschäftsbanken, 600 Millionen auf den IWF und die Weltbank, 500 Millionen auf die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und 1, 4 Mrd. US-Dollar auf westliche Regierungen
An die Annahme dieser Finanzhilfe waren Bedingungen geknüpft, zu deren Erfüllung Jugoslawien drei Bundesgesetze neu zu verabschieden hatte. Die drei Gesetze beinhalten eine Umstrukturierung des innerjugoslawischen Banken-und Devisensystems. Seit dem Sommer dieses Jahres ist die Nationalbank Jugoslawiens der einzige Partner für die westlichen Gläubiger. Zuvor waren dank der Abtretung von Bundeskompetenzen an die sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen auch regionale Banken berechtigt, Kredite im Ausland aufzunehmen. Jetzt hat die Nationalbank die vollständige Kontrolle des Devisenverkehrs übernommen und tritt gemeinsam mit der Föderation als Garant für die Auslandsverschuldung auf. Entsprechend den neuen Gesetzen haften für die Auslandsschulden jedes einzelnen Betriebes alle mit diesem Unternehmen im Rahmen der Selbstverwaltung zusammengeschlossenen Unternehmen, dann die Gebietskörperschaften (Landkreis bzw. Republik) und schließlich als letzter Garant der jugoslawischen Staat sowie die Nationalbank. Während es früher die erste Pflicht eines Unternehmens war, die Auszahlung der persönlichen Einkommen der Beschäftigten sicherzustellen, rangiert diese Verpflichtung jetzt eindeutig hinter den kommerziellen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland. Nationalbank und Bundesregierung sorgen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür, daß die Bedienung der Auslandsschulden pünktlich erfolgt. Wird nämlich ein Zahlungstermin um 15 Tage überschritten, so haftet der jugoslawische Staat mit seinem Auslandsvermögen
Trotz dieser Maßnahmen bleibt die Verschuldungssituation der SFRJ äußerst angespannt.
Jugoslawische Quellen sprechen offen davon, daß das Land auch 1984 Überbrückungskredite benötigen wird. In welchem Ausmaß diese gewährt würden, werde allerdings entscheidend von den Ergebnissen der Stabilisierungspolitik dieses Jahres abhängen Im November erklärten Vertreter der jugoslawischen Nationalbank, die SFRJ bemühe sich für 1984 um ein Finanzhilfepaket in ähnlicher Höhe wie 1983, um die fälligen Rückzahlungen auf Auslandskredite leisten zu können
III. Die gebremste Wirtschaftsreform
Das Austerity-Programm, das die jugoslawische Bundesregierung im Oktober 1982 überwiegend auf dem Verordnungsweg erließ, markierte einen ersten Wendepunkt in der jugoslawischen Wirtschaftspolitik. Den ausländischen Kreditoren und der eigenen Bevölkerung sollte demonstriert werden, daß die SFRJ nicht länger bereit war, einem weiteren Anstieg der Auslandsverschuldung tatenlos zuzusehen.
Die Maßnahmen der Regierung waren darauf gerichtet, den Devisenabfluß aus Jugoslawien so weit wie möglich zu beschränken. Für Auslandsreisen wurde die Depotpflicht eingeführt. Jeder Jugoslawe, der ins Ausland reisen wollte, mußte bei einer dazu ermächtigten Bank oder Postsparkasse 5 000 Dinar hinterlegen. Dieser Betrag — immerhin gut ein Drittel eines durchschnittlichen Monatsverdienstes, wird erst nach Ablauf eines Jahres ohne Verzinsung zurückgezahlt. Bei der herrschenden Inflationsrate mußte jeder Reisende mit einem realen Verlust von 50v. H. rechnen. Gleichzeitig erlassene Verordnungen und Gesetze zielten darauf ab, den Schwarzhandel mit Devisen zu unterbinden. Drastische Maßnahmen zur Einsparung von Energie wurden ergriffen. Die Rationierung des Benzins, regelmäßige Stromsperren und die Reduzierung der Temperatur in öffentlichen Gebäuden und fernbeheizten Wohnblocks sorgten für einen harten Winter in Jugoslawien. Der Dinar wurde um 20 v. H. abgewertet, um die Konkurrenzfähigkeit der jugoslawischen Exportwirtschaft zu erhöhen. Ein genereller Preisstopp sollte für stabile Verhältnisse auf dem Binnenmarkt sorgen. Scharfe Importrestriktionen sollten dazu beitragen, daß die geplante Reduzierung der Anlageinvestitionen tatsächlich verwirklicht wurde
Die energischen Maßnahmen der Regierung kamen der Arbeit der nach ihrem Vorsitzenden benannten Krajgher-Kommission zuvor. Diese Kommission war bereits im Herbst 1981 vom Partei-und Staatspräsidium ins Leben gerufen und damit beauftragt worden, ein „Programm zur langfristigen Stabilisierung der jugoslawischen Wirtschaft“ auszuarbeiten.
Die Tätigkeit dieses aus 300 Fachleuten für das Wirtschafts-und Rechtssystem bestehenden Gremiums fiel ebenfalls recht langfristig aus, zumindest in Anbetracht der prekären wirtschaftlichen Lage des Landes. Der mit Spannung erwartete Schlußteil des Stabilisierungsprogramms wurde der Öffentlichkeit erst am 15. Juli 1983 vorgelegt.
Das sechzehn Zeitungsse Juli 1983 vorgelegt.
Das sechzehn Zeitungsseiten füllende Papier ist eher ein Katalog von Wunschvorstellungen als ein konkretes Programm zur Wirtschaftsreform. In den einleitenden Bemerkungen wird festgestellt, Jugoslawien befinde sich in einer Wirtschaftskrise; folglich müsse die gegenwärtige Praxis grundlegend geändert werden. Als Rezept gegen die übermäßige Auslandsverschuldung, die gestörten Verhältnisse im Bereich der Reproduktion und dadurch hervorgerufene Mißstände wird empfohlen, „die Bedingungen dafür zu schaffen, daß der Arbeiter seine Existenz und Perspektive in seinem Unternehmen sowie in allen Formen des Selbstverwaltungsprozesses sieht". Das Programm spricht sich für eine freie Preisbildung anhand der Marktgesetze, die Einheit des jugoslawischen Marktes sowie eine verbesserte Planung aus, ohne jedoch konkrete Schritte zur Erreichung dieser Ziele zu nennen 14). Jugoslawische Kritiker merkten an, die Zielsetzungen des Programms seien zweifellos zu begrüßen, das eigentliche Problem aber liege in seiner Operationalisierung 15).
Unter dem Druck des IWF, der westlichen Regierungen und Banken unternahm die jugoslawische Bundesregierung schließlich erste Schritte zur Verwirklichung des Stabilisierungsprogramms. Unter Federführung von Ministerpräsidentin Milka Planinc wurde eine Kommission gebildet, der neben den Regierungschefs der Republiken und autonomen Provinzen weitere hohe Funktionäre sowie Wissenschaftler angehören. Auf der ersten Sitzung der Kommission, die Mitte Juli stattfand, wurde beschlossen, spezielle Arbeitsgruppen zu bilden, die neue Gesetze, Vorschriften und Analysen erarbeiten sollen. Vorsitzende dieser Arbeitsgruppen sind die zuständigen Fachminister, die Präsidenten der entsprechenden Bundeskomitees sowie weitere Regierungsmitglieder. Nach dem Plan der Bundesregierung soll das Stabilisierungsprogramm in zwei Etappen verwirklicht werden. In der ersten sind konkrete und dringliche Maßnahmen zu treffen, um ungünstige Entwicklungen im Bereich der Wirtschaft zu stoppen. Dabei geht es um die Bedienung der Auslandsschulden, die Erhöhung der Exporte in Hartwährungsländer, die Eindämmung der Inflation und die Beseitigung der Binnenverschuldung. Gleichzeitig sollen die dringlichsten Veränderungen im Bereich des Wirtschaftssystems vorgenommen werden. Davon betroffen sind das Steuersystem, das Preisbildungssystem, das System des Außenhandels und die Währungspolitik. Nach Bewältigung dieser Aufgaben soll 1985 ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm in Angriff genommen werden
Anfang Dezember dieses Jahres läßt sich konstatieren, daß noch keine der im Juli angekündigten Sofortmaßnahmen auch nur im Ansatz verwirklicht wurde. Die Regierung sah sich bisher nicht in der Lage, den Delegierten des Parlaments ein Programm zur monetären und Kreditpolitik, zur Steuer-und Preispolitik vorzulegen. Ebensowenig konnte die Resolution über die wirtschaftliche Entwicklung Jugoslawiens im kommenden Jahr präsentiert werden. Auf der X. Sitzung des ZK des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) (25. Oktober 1983) erklärte der Vizepräsident der Regierung, Zvone Dragan: „Ich muß sagen, daß es uns nicht einmal in der Bundesregierung selbst gelungen ist, die erheblichen Meinungsunterschiede zu überwinden. Es gibt noch zahlreiche offene Fragen, materieller und sonstiger Natur.“ Einigkeit über die praktischen Schritte zur Verwirklichung der Reform besteht weder zwischen den Teilrepubliken und autonomen Provinzen, noch innerhalb der Partei, ja nicht einmal unter den führenden Männern der Wirtschaft. Jetzt zeigt sich, daß es ein Fehler war, das Programm zur wirtschaftlichen Stabilisierung in derart abstrakter und von konkreten Sachgehalten weitgehend gereinigter Form zu präsentieren, daß unterschiedlichen, ja sogar diametral entgegengesetzten Interpretationen Tor und Tür geöffnet sind.
Die in der jugoslawischen Presse mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte Wirtschaftsreform ist offensichtlich ins Stocken geraten.
Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Motor der Reform war bisher die Bundesregierung, deren Handlungsfähigkeit durch die Verfassung ohnehin stark eingeschränkt ist. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens, vom Gesellschaftssystem her die einzige Quelle der politischen Macht im Lande, beschränkte sich auf ständig wiederholte Lippenbekenntnisse zu den Zielen der Reform. Es ist kennzeichnend für die politischen Verhältnisse der Nach-Tito-Ära, daß die kollektive Führung der Partei weitgehend abseits steht, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen, das für die Geschicke des Landes von existentieller Bedeutung ist. Das Parteipräsidium wird seinen Führungsaufgaben nicht mehr gerecht, da sich ein wesentlicher Teil der politischen Macht auf die BdK-Führungen der Teilrepubliken und autonomen Provinzen verlagert hat. Die regionalen Parteiführungen haben primär die Interessen ihrer Republik im Auge und sind bestrebt, alle Entscheidungen zu blockieren, die auf eine Stärkung der Zentralgewalt hinauslaufen.
Die jugoslawische Bundesregierung sieht sich in einer schwierigen Lage. Jede ihrer wirtschaftspolitischen Entscheidungen ist zustimmungsbedürftig. Wenn nur eine einzige Republik oder autonome Provinz ihr Veto einlegt, kann eine beschlossene Maßnahme nicht durchgeführt werden. Die einzige Möglichkeit, die der Regierung bleibt, ist es, mit ihrem Rücktritt zu drohen. Von diesem Mittel, das naturgemäß nur sehr sparsam eingesetzt werden kann, hatte Ministerpräsidentin Milka Planinc im Juli dieses Jahres Gebrauch gemacht, als es darum ging, die Annahme des westlichen Finanzhilfepakets mitsamt den dazugehörigen Auflagen durchzusetzen. Gegenwärtig zieht sich durch alle wichtigen Gremien im politischen Entscheidungsprozeß der Gegensatz zwischen den Zauderern, die spöttisch als „Kosmetiker des Systems" bezeichnet werden, und den „Radikalen“, die rasche und klare Lösungen anstreben und alles andere als „faulen Kompromiß“ verwerfen. Bisher haben sich in dieser Auseinandersetzung die „Zauderer" durchgesetzt, da selbst dringliche Entscheidungen nicht getroffen werden konnten. Offensichtlich haben eine Reihe der politisch Verantwortlichen in Belgrad den Eindruck, die äußere Liquidität des Landes sei — zumindest vorerst — gesichert, so daß man nicht mehr unter unmittelbarem Druck oder Entscheidungszwang stehe. Daß diese Einschätzung der Dinge den wirtschaftlichen Realitäten des Landes nicht unbedingt gerecht wird, zeigen aber die bisher vorliegenden Ergebnisse des jugoslawischen Außenhandels.
IV. Die Entwicklung des jugoslawischen Außenhandels
Zunächst sei daran erinnert, daß dem jugoslawischen Außenhandel für die Erhaltung der äußeren Liquidität des Landes besondere Bedeutung zukommt. Die Einnahmen aus dem Nichtwarenverkehr — Tourismus, Transport, Überweisungen der Gastarbeiter — haben ein Niveau erreicht, das kaum noch steigerungsfähig erscheint. Will Jugoslawien seine Deviseneinnahmen erhöhen, so kann dies nur durch ein kräftiges Anwachsen seiner Exporte in die Hartwährungsländer erreicht werden. Der deutliche Anstieg der Ausfuhren in den RGW-Bereich, wie er in den Jahren 1980/81 zu beobachten war, ist keine Lösung; denn der Handel mit den drei wichtigsten Partnern dieser Wirtschaftsregion — der UdSSR, der CSSR und der DDR — wird nach wie vor nach dem Clearing-System abgewikkelt. Erzielte Überschüsse werden nicht in Devisen bezahlt, sondern durch vermehrte Warenlieferungen ausgeglichen. Unter dem Gesichtspunkt der Devisenersparnis kommt dem Warenaustausch zwischen Jugoslawien und seinem größten Handelspartner — der Sowjetunion — dennoch erhebliche Bedeutung zu. Die SFRJ bezieht aus der UdSSR mehr als 50v. H. ihrer Erdölimporte sowie beträchtliche Mengen an Kohle und Erdgas. Diese Produkte, für die Jugoslawien auf dem Weltmarkt in harter Währung bezahlen müßte, erhält es von der UdSSR gegen Lieferung von Maschinen, Schiffen und Konsumgütern
Im vergangenen Jahr exportierte Jugoslawien in die Länder mit konvertibler Währung Waren für 5. 9 Mrd. US-Dollar, gleichzeitig beliefen sich die Einfuhren aus dieser Region auf 9, 6 Mrd. US-Dollar, das ergab ein Handelsbilanzdefizit mit dem konvertiblen Währungsgebiet von 3. 7 Mrd. US-Dollar. Nach Berücksichtigung der Einnahmen aus den unsichtbaren Transaktionen verblieb in der Leistungsbilanz ein Minus von 1. 4 Mrd. US-Dollar Sicherlich kein erfreuliches Ergebnis für ein Land, das alle Anstrengungen darauf richtete, seine Auslandsschulden zu verringern. Der ehrgeizige Plan für 1983 sah vor, die Ausfuhren ins konvertible Gebiet um 20v. H. zu erhöhen. Trotz der laufenden Anpassung des Wechselkurses der einheimischen Währung, die zwischen dem August 1982 und dem gleichen Monat dieses Jahres gegenüber dem US-Dollar um 95 v. H. an Wert verlor, kann das Planziel aller Voraussicht nach nicht erreicht werden. Bis Ende Oktober 1983 konnten die jugoslawischen Exporte in das konvertible Gebiet nur um 14 v. H. gesteigert werden. Immerhin sanken die Importe aus dieser Region um 12 v. H. Die Einnahmen aus dem Tourismus erhöhten sich im Vergleich zum Vorjahr um 29 v. H., gleichzeitig gingen jedoch die Überweisungen der jugoslawischen Gastarbeiter um 33 v. H. zurück. Nach ersten Hochrechnungen wird Jugoslawiens Leistungsbilanz 1983 nicht den geplanten Überschuß von 50 Mio. US-Dollar, sondern ein Defizit von ca. 680 Mio. US-Dollar aufweisen Die einschneidenden Importrestriktionen, die den Devisenabfluß auf das notwendige Mindestmaß beschränken sollten, hatten allerdings auch negative Konsequenzen. Im Oktober dieses Jahres waren 53 v. H. aller jugoslawischen Industriebetriebe ungenügend mit Rohstoffen und Reproduktionsmaterialien versorgt. Produktionsstillstände ließen sich nicht vermeiden Zur relativ positiven Exportbilanz bis zum Oktober trugen jedoch auch . Ausfuhren" bei, die wirtschaftlich wenig sinnvoll, jedoch durch die angespannte Liquiditätssituation des Landes erzwungen waren. Um die fälligen Zinsen für Auslandskredite zahlen zu können, exportierte Jugoslawien Erdöl, Kunstdünger, Speiseöl und Zucker, also Produkte, die im eigenen Lande absolute Mangelware sind. Die jugoslawische Mineralölfirma INA, unter deren Regie die bescheidene Eigenförderung Jugoslawiens (3 Mio. t jährlich) steht, exportierte im Juli 1983 eine halbe Million t Rohöl, 226 000 t Erdölderivate und 140 000 t Kunstdünger, um einen Auslandskredit pünktlich bedienen zu können Das derartige „Exporte" spätestens im nächsten Jahr als Reimporte in der Statistik auftauchen, dürfte sicher sein.
V. Leben mit der Wirtschaftskrise
Der restriktive wirtschaftliche Kurs, den Jugoslawien seit fast zwei Jahren verfolgt, ver-langt der Bevölkerung schwere Opfer im Bereich des Realeinkommens und des Konsums ab. Auf die Frage: „Wie geht es Ihnen?“ — hört man heute in Jugoslawien nicht selten die Antwort — „Danke für die Nachfrage, bald wird es uns allen noch schlechter gehen!"
Die Realeinkommen sanken 1980 um 7. 5 v. H., 1981 um 5 v. H. und 1982 um nochmals 2. 5 v. H. In diesem Jahr werden sie nochmals um mehr als 10 v. H. zurückgehen Die Verbraucherpreise stiegen von Januar bis September 1983 um 42. 8 v. H., auf das ganze Jahr gerechnet muß mit einer Preissteigerungsrate von mindestens 50 v. H. gerechnet werden Das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen lag im Juli dieses Jahres bei ca. 16 000 Dinar. Eine ungefähre Vorstellung von der geringen Kaufkraft dieses Einkommens erhält man, wenn man sich die Preise für folgende Waren vor Augen führt: Ein Kilogramm Zitronen kostete im Oktober 224 Dinar, für Mandarinen und Tomaten lag der Preis bei 180 Dinar bzw. 150 Dinar Angesichts derartiger Preisverhältnisse ist es nicht erstaunlich, daß die persönlichen Einkommen durchschnittlich nur zu 62v. H. zum Budget eines privaten Haushalts beitragen. Der Rest setzt sich aus folgenden Komponenten zusammen: Schwarzarbeit, Nebenerwerbslandwirtschaft, Überweisungen aus dem Ausland, Abhebungen vom Sparkonto
Inzwischen erklärt der Gewerkschaftsbund offen, der soziale Frieden in Jugoslawien sei gefährdet. Man müsse besondere Maßnahmen einleiten, um den Lebensstandard der ärmsten Kategorien der Bevölkerung zu schützen. Dabei geht es um den Teil der Arbeiterschaft, der keine anderen Einnahme-quellen hat als den am Arbeitsplatz verdienten Lohn. Eingestuft als am Rande des Existenzminimums lebend wurden darüber hinaus folgende Gruppen: Rentner, Sozialhilfeempfänger, Schüler, Studenten, Arbeitslose. Neben der Erhöhung des Kindergelds für Bedürftige und Mietbeihilfen fordern die Gewerkschaften staatliche Preissubventionen für folgende Grundnahrungsmittel: Brot, Mehl, Milch-und Milchprodukte, Speiseöl und Fette, Zucker, Fleisch und Fleischkonserven. Darüber hinaus sollen die wichtigsten kommunalen Dienstleistungen subventioniert werden
Die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft zeigte sich auch darin, daß die Anzahl der Streiks im ersten Halbjahr 1983 merklich anstieg. Bekanntlich sind Streiks in Jugoslawien weder verboten noch ausdrücklich gestattet. Kommt es in einem Betrieb zur Arbeitsniederlegung, so erklärt die zuständige regionale Parteiführung regelmäßig, die Arbeiter hätten für eine bessere Durchführung der Selbstverwaltung in der Praxis gestreikt. Gleichzeitig muß sich die Gewerkschaft den Vorwurf gefallen lassen, sie habe versagt. Im ersten Halbjahr 1983 gab es in ganz Jugoslawien 172 Streiks, an denen ca. 12 000 Arbeiter teilnahmen. Bisher gibt es jedoch keinerlei Verbindung oder Abstimmung unter den Streikkomitees, so daß ein Streik in der Regel auf ein Unternehmen beschränkt bleibt. Nach Angaben der Gewerkschaft gibt es jetzt erstmals Streiks, die nicht auf Lohnerhöhungen oder die Beseitigung von Mißständen im Betrieb zielen, sondern der „Unzufriedenheit mit der allgemeinen Situation" entspringen. Gleichzeitig warnen die Gewerkschaften, die Motivation zur Arbeit sei durch den niedrigen Lebensstandard ernstlich gefährdet
Die Arbeitslosenrate in Jugoslawien liegt gegenwärtig bei 12 v. H. bezieht man die 675 000 in Westeuropa lebenden Gastarbeiter in diese Rechnung ein, so erhöht sich die Rate auf 20v. H. Wegen des Zustroms von Jugendlichen und zurückkehrenden Gastarbeitern (ca.
80 000 jährlich) rechnet man für das kommende Jahr mit 1. 26 Millionen Arbeitslosen
Der ausländische Besucher kann den Eindruck gewinnen, als sei die Versorgungslage in Jugoslawien gut. Die Schaufenster der Geschäfte sind wohlgefüllt, die Käuferschlangen, die noch im Oktober das Straßenbild prägten, sind verschwunden. Doch der Schein trügt. Nicht das Warenangebot, sondern die Preise sind so stark gestiegen, daß die meisten Produkte für den Durchschnittskäufer unerschwinglich teuer sind. Anfang November wurde das Bezugsschejnsystem für Zucker, Kaffee, Speiseöl und Waschmittel aufgehoben. Solange das Bezugsscheinsystem existierte und diese Waren im Preis relativ günstig lagen, waren die Regale der Geschäfte leer. Jetzt, da die Regale wohlgefüllt sind, hat kaum jemand Geld, um diese Produkte zu kaufen
Noch zu Beginn der siebziger Jahre stellten die Jugoslawen voller Stolz fest, sie hätten jetzt in ihrem Lebensstandard das Niveau Italiens aus den fünfziger Jahren erreicht. Innerhalb von zehn Jahren werde es gelingen, mit Italien gleichzuziehen. Diese optimistische Prognose kann längst nicht mehr aufrechterhalten werden. Jugoslawien steht heute auf dem gleichen Entwicklungsniveau wie Portugal, mit dem Unterschied, daß der Pro-Kopf-Verbrauch in Portugal derzeit um 20v. H. höher liegt. Nach offiziellen Hochrechnungen werden die Jugoslawen 1990 ihren Lebensstandard von 1980 erreichen Es ist außerordentlich schwer vorherzusagen, ob die wirtschaftlich begründete Unzufriedenheit der Bevölkerung in eine politisch motivierte Umschlägen wird; denn ein außerordentlich hohes Maß an Geduld ist die gemeinsame Eigenschaft aller jugoslawischen Völker. Dennoch bleibt festzustellen, daß eine deutliche Verschlechterung der gegenwärtigen Situation die Toleranzgrenze weiter Bevölkerungsschichten überschreiten würde.
VI. Das Kosovo-Problem
Die anhaltende Wirtschaftsmisere hat aus dem Bewußtsein mancher Jugoslawen die Tatsache verdrängt, daß in der südlichsten Provinz des Landes ein politischer Unruhe-herd existiert, der — zumindest langfristig — die Einheit des Vielvölkerstaats zu untergraben droht. Die Provinz Kosovo, die eine gemeinsame Grenze zum Nachbarland Albanien aufweist, wird nicht zu Unrecht als das „Armenhaus Jugoslawiens" bezeichnet. Tatsächlich erinnern die grundlegenden Charakteristika Kosovos mehr an ein Land der Dritten Welt als an eine Region in Europa. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt unter 1 000 US-Dollar und beträgt damit nur ein Drittel des jugoslawischen Durchschnitts. Die Geburtenrate ist mit 27, 4 pro Tausend die höchste in Europa. Die Analphabetenrate ist im Vergleich zum nationalen Durchschnitt doppelt so hoch. Als ein jugoslawischer Ökonom die hochentwickelte Republik Slowenien mit Kosovo verglich, traf er die Feststellung: „Bei uns gibt es Westdeutschland und Indien innerhalb eines einzigen Landes!
Die Albaner stellen derzeit fast 80v. H.der Bevölkerung Kosovos. Die 1, 7 Millionen Albaner Jugoslawiens, die auch Teile der Republiken Montenegro und Mazedonien bewohnen, sind aus einem Staat, der sich Jugoslawien, d. h. „Land der Südslaven", nennt, eigentlich schon per definitionem ausgeschlossen. Sie sind keine Slaven, sprechen eine Sprache, die den übrigen jugoslawischen Völkern unverständlich ist, und bekennen sich zudem in ihrer Mehrheit zum Islam. Bis zum Sturz von Innenminister Rankovi (1966) wurden die Albaner in Jugoslawien grausam unterdrückt. Ihre nationalen Rechte standen nur auf dem Papier. Serbische Beamte und die von Serben geleitete Geheimpolizei übten die Herrschaft in Kosovo aus, das als . Autonomes Gebiet Kosmet" (Kontraktion aus Kosovo und Metohija) Teil der Republik Serbien war. Zwei Jahre nach RankoviC Sturz kam es in Kosovo und in den übrigen von Albanern besiedelten Gebieten zu heftigen Demonstrationen unter nationalistischem Vorzeichen. Um der wachsenden Unruhe in dieser Region zu begegnen, fand sich Tito zu Konzessionen bereit. Kosovo wurde in den Status einer autonomen Provinz erhoben, die dominierende Rolle der Serben, die damals noch 30v. H.der Bevölkerung stellten, war ein für alle Mal dahin.
In den Jahren zwischen 1968 und 1980 vollzog sich dann fast unbemerkt von den Augen der jugoslawischen Öffentlichkeit die weitere Albanisierung der Provinz. Es wurden enge Kontakte zu Tirana hergestellt, die Provinz begann, ein Eigenleben zu führen, auf das die Republik Serbien, zu deren Bestand sie ja gehörte, kaum noch einen Einfluß hatte. Die Rückständigkeit Kosovos, die in Übervölkerung und Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kam, bildete einen guten Nährboden für antiserbische und antijugoslawische Propaganda. Im April 1981 brachen in der Provinz schwere Unruhen aus. Tausende von Demonstranten zogen durch die Hauptstadt Priätina und fünf weitere Städte, demolierten Autos, Schaufenster und öffentliche Gebäude. Die Parolen der Demonstranten, die durch Lautsprecher, Transparente und Flugblätter verbreitet wurden, lauteten: „Wir wollen eine Republik Kosovo" — „Wir sind Albaner und keine Jugoslawen" — „Wir fordern ein Großalbanien". Bei den anschließenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften wurden nach offiziellen Angaben neun Menschen getötet und 257 z. T. schwer verletzt.
In Wirklichkeit dürften diese Zahlen um ein Vielfaches höher gelegen haben. Nach Belgrader Version waren die Demonstrationen das Werk einiger weniger radikaler Gruppen, denen es gelang, Leichtgläubige zu verführen und Widerstrebende zur Teilnahme zu bewegen. Daß es sich im Frühjahr 1981 jedoch um einen allgemeinen Aufruhr der albanischen Bevölkerung handelte, ist inzwischen erwiesen. Der über die Provinz verhängte Ausnahmezustand konnte selbst ein Jahr nach den Ereignissen noch nicht aufgehoben werden
Auch heute, gut zweieinhalb Jahre nach den Demonstrationen in Kosovo, stellt die Zeitschrift Komunist, das offizielle Organ des BdKJ, fest, man könne mit der Sicherheitslage in der Provinz bei weitem nicht zufrieden sein. Der „innere Feind", der nach wie vor eine Vereinigung Kosovos mit dem Mutterland Albanien anstrebe, sei in den meisten Landkreisen weiterhin sehr aktiv. Er verbreite überall seine Pamphlete und Parolen und schrecke weder vor Sabotage noch vor sonstigen gewaltsamen Aktionen zurück Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden in Kosovo neun „feindliche Gruppen" mit insgesamt 170 Mitgliedern festgenommen. Konstatiert wurde, daß die Aktivität proalbanischer Gruppen im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen hat
Es liegt auf der Hand, daß Jugoslawiens Beziehungen zum Nachbarland Albanien seit den blutigen Unruhen völlig vergiftet sind. Wechselseitige Polemiken sind an der Tagesordnung; das Niveau der Auseinandersetzungen erinnert an die Propaganda im Gefolge der Kominformkrise. Enver Hoxha tritt zwar nicht offen für eine Vereinigung Kosovos mit dem Mutterland Albanien ein, doch er unterstützt nachdrücklich die Forderung der Kosovo-Albaner nach einer eigenen Republik innerhalb der jugoslawischen Föderation. Diese Forderung läßt sich durch gewichtige bevölkerungspolitische Argumente untermauern. Die Bevölkerungsdichte der Albaner in Kosovo ist höher als die der Montenegriner in Montenegro, zudem gibt es in ganz Jugoslawien mehr Albaner als Mazedonier. Dennoch hat diese Forderung keinerlei Chance auf Verwirklichung, zumal sie in Resolutionen des BdKJ als „konterrevolutionär" verurteilt wurde. Der Republikstatus für Kosovo wird in Belgrad lediglich als das logische Durchgangsstadium für eine Vereinigung mit Albanien angesehen.
Gerade die Serben wären jedoch niemals bereit, auf Kosovo zu verzichten, das in ihrem nationalen Selbstverständnis eine entscheidende Rolle spielt. Kosovo war das Herzstück des mittelalterlichen serbischen Reiches; daher ist die Vorstellung, daß die „Wiege des serbischen Staates" für immer verlorengeht, für jeden Serben unerträglich. Mit um so größerer Sorge betrachtet man gerade in Belgrad eine Entwicklung in Kosovo, die sich in jüngster Zeit mit immer rascherem Tempo vollzieht: die Abwanderung der Serben aus dieser Provinz. Noch 1961 betrug die numerische Relation zwischen Albanern und Serben in Kosovo 67 : 24, 1981 lag sie bei 77, 5 : 13. Was bei den Serben besondere Verbitterung hervorruft, ist die Tatsache, daß diese Verschiebung nicht allein auf die höhere Geburtenrate der Albaner zurückzuführen ist. Der serbische Bevölkerungsanteil ist einem massiven Druck zur Abwanderung ausgesetzt. Die Palette dieser Pressionen reicht von sozialer Ächtung über die Beschädigung serbischen Eigentums bis hin zu offener physischer Gewalt. Allein im ersten Jahr nach den Unruhen von 1981 verließen 11 000 Serben ihre Heimat
Die Forderung nationalistisch gesinnter Albaner nach einem „ethnisch reinen" Kosovo ist in zahlreichen Landkreisen der Provinz bereits verwirklicht. In 666 von insgesamt 1 435 Gemeinden (am ehesten dem deutschen Landkreis vergleichbar) lebt inzwischen kein einziger Serbe oder Montenegriner mehr. In weiteren 150 Gemeinden sank der serbische Bevölkerungsanteil auf 3v. H. ab. In 197 Gemeinden der Provinz lebt kein einziger Albaner. In den Städten Priätina, Prizren, Pec, Titova Mitrovica, Djakovica, Uroäevac und Gniljane — in denen ein Viertel der Gesamtbevölkerung Kosovos lebt — verminderte sich der Anteil der Serben und Montenegriner in den letzten zwei Jahrzehnten von 31, 3 auf 16, 6 v. H. Seit den Unruhen vom April 1981 ist in diesen Städten eine Art freiwilliger . Apartheid" zu beobachten. In den Kaffeehäusern sitzen entweder nur Albaner oder nur Serben und Montenegriner, ein gemischtes Publikum wie in früheren Jahren gibt es nicht mehr. Auch in Schulen und Kindergärten herrscht strikte Trennung entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit. Selbst beim abendlichen „Corso" durch die Fußgängerzonen der Städte beanspruchen Albaner drei Viertel der Straße, während ein Viertel den Serben Vorbehalten bleibt. Die beruflichen Kontakte zwischen Serben und Albanern werden demonstrativ auf das absolute Minimum beschränkt. Hier gibt es — zumindest in der jüngeren Generation — auch ein objektives Hindernis: die nicht mehr gegebene Zweisprachigkeit. Bis zum Schuljahr 1967/68 war die serbokroatische Sprache Pflichtfach in den Schulen Kosovos, während die albanische Sprache den Status eines Wahlfachs hatte. Danach wurde das Prinzip der Freiwilligkeit proklamiert, das noch heute gilt. Zwar nehmen albanische wie serbische Schüler am Unterricht in der Nicht-muttersprache teil, doch sind die Ergebnisse bei einer einzigen Wochenstunde und nicht sehr ausgeprägtem Lerneifer dürftig
Berücksichtigt man den von albanischen Nationalisten gewaltsam geförderten Trend zur Abwanderung der Serben und Montenegriner aus Kosovo, so ist damit zu rechnen, daß Angehörige dieser Völker im Jahr 2000 nur noch eine verschwindend kleine Minderheit in Kosovo darstellen werden. Die sich abzeichnende totale Albanisierung der Provinz macht ihren Verbleib in der jugoslawischen Föderation — langfristig gesehen — immer unwahrscheinlicher. Gegenwärtig ist man in Belgrad noch zu großen finanziellen Opfern bereit, um die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz auf einem erträglichen Niveau zu halten. Die politische Führung in Belgrad machte zudem durch den massiven Einsatz von Militär und Polizei deutlich, daß sie nicht gewillt ist, jemals ihre Zustimmung zum Ausscheiden Kosovos (geschweige denn der übrigen von Albanern besiedelten Gebiete) aus der jugoslawischen . Föderation zu geben. Schon jetzt ist allerdings zu erkennen, daß Belgrads traditionelle Konzeption, den albani-sehen Nationalismus durch innerjugoslawische Wirtschaftshilfe zu neutralisieren, gescheitert ist. Nach den Ereignissen vom April 1981 dürfte selbst den größten Optimisten klar geworden sein, daß es niemals gelingen wird, die Kosovo-Albaner in staatstragende Jugoslawen zu verwandeln. Die jugoslawien-feindliche Haltung, die ein Großteil dieser Albaner an den Tag legt, bedeutet jedoch nicht, daß sie den Anschluß an Albanien anstreben. Die fehlende persönliche Freiheit, die Allmacht der Geheimpolizei und die totale Unterdrückung der Religion lassen den Staat von Enver Hoxha wenig attraktiv erscheinen. Sollten sich die Verhältnisse im Albanien der Nach-Hoxha-Ära aber liberalisieren, so würden die irredentistischen Bestrebungen in Kosovo mit Sicherheit einen starken Aufschwung nehmen.
Es ist jedoch keineswegs so, daß sich die 1, 7 Millionen jugoslawischen Albaner die Wiedervereinigung mit ihren 2, 5 Millionen Landsleuten einzig und allein als eine Art „Heimkehr ins Reich" vorstellen können. Gerade die äußerst selbstbewußten Kosovo-Albaner sehen das Zentrum des nationalen Lebens nicht unbedingt in Tirana. Bereits während der Unruhen des Jahres 1968 wurde der Gedanke laut, Kosovo könne die Rolle eines „Piemonts" Albaniens spielen, d. h.der Kristallisationskern eines künftigen albanischen Staates werden.