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Die Rolle der katholischen Kirche Polens nach dem Ende der „Erneuerung" | APuZ 6/1984 | bpb.de

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APuZ 6/1984 Artikel 1 Die Rolle der katholischen Kirche Polens nach dem Ende der „Erneuerung" Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung in der Volksrepublik Polen Polen — unser unruhiger Nachbar

Die Rolle der katholischen Kirche Polens nach dem Ende der „Erneuerung"

Dieter Bingen

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Zusammenfassung

Nach der Verhängung des Kriegsrechts wahrte die katholische Kirche die Kontinuität ihres öffentlichen Wirkens im Sinne von Vermittlung und Mäßigung. Unterdessen wirkten sich die Machtkämpfe innerhalb des Staats-und Parteiapparats auch auf das Verhältnis zwischen Kirche und Behörden aus. Die Kirche kam zunehmend selbst in die Schußlinie als Ausgangspunkt gegen das Kriegsrecht gerichteter Aktionen. Angesichts dessen strebten Primas Glemp, der Papst und Premier Jaruzelski eine Kompromißformel an, die den zweiten Papstbesuch im Juni 1983 ermöglichen sollte, ohne daß dabei die Kirche als moralische und nationale Autorität und die politische Führung als Inhaberin des Gewaltmonopols das Gesicht verlören. Regierung und Partei erhofften sich von dem Papstbesuch einen entscheidenden Fortschritt bei der „Normalisierung" der politischen Lage, eine Erhöhung des nationalen und internationalen Prestiges der Regierung und die endgültige politische Neutralisierung der Kirche — durch denselben Papst, der nach allgemeiner Überzeugung indirekt entscheidenden Anteil an der Politisierung von Gesellschaft und Klerus hatte. Die polnische Kirche ersehnte sich von der Papstvisite eine versöhnende Wirkung und eine moralische Aufrichtung der Gesellschaft. Die Opposition wünschte sich eine moralische Unterstützung für ihren politischen Widerstand gegen die politische Führung. Aber was kann die Kirche in einer Zeit wirklich bewirken, da wirtschaftliche undsoziale Spannungen in Polen weiter zunehmen, von der Regierung der „authentische" Dialog verweigert wird und Resignation in weiten Kreisen der Bevölkerung vorherrscht? Wahrscheinlich zeigen die Hirtenbriefe und Kommuniques der polnischen Bischöfe, Interventionen, um das „Schlimmste" zu verhindern, und Bemühungen, die eigene öffentliche Position in Verhandlungen mit der Regierung langfristig abzusichern, den einzig gangbaren Weg der Kirche in Polen. Auffallen muß heute — in der Nach-„Solidarität" -Zeit — die Machtlosigkeit der Kirche im Hinblick auf eine sichtbare Bewegung der politischen Verhältnisse in Polen. Kurzfristig ist sie keine systembedrohende Gefahr, betätigt sich in einem gewissen Sinne systemstabilisierend. Der Verlauf des Papstbesuchs, die ausgebliebenen Folgen im Sinne von Eröffnung eines neuen Dialogs zwischen Regierung und Gesellschaft und die jüngsten Arrangements zwischen Kirche und Staat bestätigen dies.

I. Standortbestimmung

Die Bedeutung der katholischen Kirche Polens im politischen System und im Alltag der Volksrepublik Polen wurzelt in der Rolle und im Selbstverständnis der größten Glaubensgemeinschaft des Landes in dessen neuerer und neuesten Geschichte. Die Rolle der katholischen Kirche als einzige die historischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen erhaltende Organisation in der Zeit der Teilungen (1795— 1918) liegt bereits lange Zeit zurück, bleibt aber im historischen Bewußtsein auch der jüngsten Generation. Die Solidarität der Kirche mit dem Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror in Polen, dem annähernd 3 000 Priester zum Opfer fielen — das waren 20% des damaligen Klerus —, ist noch lebendige Geschichte. Der Beitrag der Kirche beim Wiederaufbau Polens und bei der Eingliederung der aus dem ehemaligen Ostpolen in die West-und Nordgebiete umgesiedelten Bevölkerungsteile kann gar nicht überschätzt werden. Ausschlaggebend für die weiterbestehende und nach neueren wissenschaftlichen Untersuchungen wieder zunehmende Identifizierung mit der Kirche in der Intelligenz, Arbeiterschaft und bäuerlichen Bevölkerung, also den wichtigsten gesellschaftlichen Schichten, ist jedoch die Haltung der Bischöfe und des niederen Klerus in den beinahe 40 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegenüber den wichtigsten politischen, gesellschaftlichen und moralischen Fragen im Realsozialismus der Volksrepublik Polen.

Die Zeit des Stalinismus (1949— 1956), vor allem aber die Wellen halbherziger Liberalisierungen (1956/57, 1971, 1980/81) und anschlie-ßend erneut eintretender Einschränkungen staatsbürgerlicher Rechte (1958, 1973/74, 1982/83) ließen die katholische Kirche im Bewußtsein der großen Mehrheit der Polen zum wichtigsten Hort polnischen Eigenbewußtseins und zum anerkannten Fürsprecher der Nation gegenüber der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) und den staatlichen Behörden werden

Die katholische Hierarchie setzte sich wie in allen Nachkriegskrisen Polens auch in der Zeit der „Solidarität" für die Verhinderung von Gewaltanwendung zwischen Behörden und Bevölkerung und für das Maß an Unabhängigkeit ein, das für Polen unter den gegebenen politischen Bedingungen möglich erschien. Sie sah sich deshalb in der komplizierten Zwangslage, der regierenden Partei auf dem Wege der „sozialistischen Erneuerung“ durch Moderation der gesellschaftlichen Konflikte mit der staatlichen Macht zu helfen. Das heißt, die bisweilen dramatischen Mißverständnisse innerhalb des polnischen Klerus sowie zwischen Teilen des Klerus und Teilen der Bevölkerung, die seit der Verhängung des Kriegsrechts über Polen bis heute auftreten, hatten ihre Ursprünge in der Schwierigkeit einer neuen Standortbestimmung in der politischen Landschaft nach den „Gesellschaftlichen Vereinbarungen" von Danzig, Stettin und Jastrzebie vom Sommer 1980 und nicht zuletzt in der Interpretation der katholischen Theologie als direkte politische Handlungsanweisung, quasi als Parteiprogramm der national und freiheitlich gesinnten Polen gegen eine als fremdbestimmt perzipierte politische Herrschaft. Dieses Mißverständnis, das so alt ist wie die nationale Tragödie Polens im 19. und 20. Jahrhundert, * war bereits 1980 latent vorhanden, wurde aber von der allseitigen Zustimmung zu den Prinzipien der „Solidarität" (als Gewerkschaft und als Programm) überdeckt.

Ungeachtet der schon in der Anfangszeit der „Solidarität" aufgetretenen Zweifel an konkreten Aktionen und Verlautbarungen der Bischöfe waren die katholische Kirche und das bisweilen mystisch verklärte Idol des Papstes aus Polen eine moralische Rückenstärkung für die systemsprengenden Emanzipationsbestrebungen in der polnischen Gesellschaft.

Die Friktionen und Verständigungsschwierigkeiten mit der Bevölkerung bei der Erklärung dessen, was nach theologischem Verständnis Aufgabe der Kirche ist und was den politischen und gesellschaftlichen Kräften überlassen bleiben muß, boten der politischen Führung Chancen, in den Klärungsprozeß einzugreifen, der innerhalb der kirchlichen Institutionen sowie zwischen Kirche und Nation einsetzte und nach der Verhängung des Kriegsrechts zu schmerzlichen Einsichten aul allen Seiten führte. Die Situation und Position der Institution Kirche in der Phase der Restauration der alten Machtverteilung seit dem 13. Dezember 1981 ist demnach nicht über Nacht entstanden. Die Rolle der Kirche nach der Verhängung des Kriegsrechts möglichst objektiv beschreiben heißt, ungeachtet der Verhaltensunsicherheiten und Schwankungen eine übergeordnete Verhaltensnorm der katholischen Kirche, oder besser: der Kirchenführung verdeutlichen, die von Primas Jözef Glemp in der Kontinuität der „Politik" Stefan Wyszyhskis, wenn nicht erreicht, zumindest doch erstrebt wird.

II. Kontinuität in Mäßigung und Vermittlung

Nach der Verhängung des Kriegsrechts hatte der polnische Episkopat die Kontinuität seines öffentlichen Wirkens gewahrt, die seit dem „Tauwetter" im Herbst 1956 zu beobachten ist. Am Abend des 13. Dezember 1981 warnte Primas Glemp in einer Predigt Regierung und Gesellschaft vor einem Blutvergießen In der unübersichtlichen Situation der ersten Stunden unter dem Kriegsrecht trug der Aufruf des Primas sicher dazu bei, politisch sinnlose Opfer zu vermeiden. In den folgenden Tagen und Wochen kam es jedoch in der Öffentlichkeit zu Mißverständnissen bezüglich der natürlich politisch verwertbaren Theologie Glemps anläßlich von verschiedenen Botschaften des Primas an die Bevölkerung. So geschah es auch im Zusammenhang mit seiner Rundfunkpredigt am 24. Januar 1982 In der Predigt sprach er sich gegen die Beteiligung von Priestern an den „Bürgerkomitees der nationalen Rettung" (OKON) aus, die den neu geschaffenen Militärrat politisch unterstützten. Gleichzeitig stellte Glemp jedoch fest, daß für Laien die Möglichkeit bestünde, sich an einem authentischen öffentlichen Leben zu beteiligen. Die Tatsache, daß sich der Primas einer weitergehenden Kritik an den Komitees enthielt, schlachteten die staatlichen Massenmedien propagandistisch aus In der Öffentlichkeit sollte der Eindruck entstehen, Glemp halte die neue Sammlungsbewegung für ein authentisches Forum des gesellschaftlichen Lebens. In der informierten Öffentlichkeit war aber bekannt, daß die katholische Kirche starke Vorbehalte gegen die „Bürgerkomitees" hegte, zumal Vertreter derjenigen katholischen Laienorganisationen, die das Vertrauen des Episkopats und der Gläubigen genossen, teilweise noch interniert waren, oder die Vereinigungen waren suspendiert (z. B. die Klubs der katholischen Intelligenz = KIK).

Die katholische Kirche bemühte sich fortlaufend darum, den tiefen Riß, der durch die Gesellschaft ging, zu verkleinern. Von einem sozialpolitischen Rat katholischer Laien wurden Thesen zur Aufnahme eines neuen Dialogs vorgestellt. Die am 5. April 1982 verabschiedeten Thesen enthielten programmatische Leitsätze für einen Ausweg aus der Sackgasse Schon in der Einleitung wurde darauf verwiesen, daß im August 1980 eine große Hoffnung auf Erneuerung des politischen und sozialen Lebens im polnischen Volk entstanden sei. Jetzt herrsche eine tragische Lage, und es bestehe die Gefahr, daß sich dieser Zustand noch verschlimmere. Deshalb sei es unbedingt notwendig, der Nation neue Perspektiven und eine Motivation zu geben. Ein neuer Verständigungsversuch sei unerläßlich. Als Voraussetzung dafür müßte zugesichert werden, daß alle 1980 geschlossenen gesellschaftlichen Vereinbarungen gültig blieben und ohne Abstriche erfüllt würden. Entgegen den Hoffnungen des sozialpolitischen Rates bzw.des Episkopates konnten die Thesen nicht öffentlich diskutiert werden. Die Vorschläge der Laienkatholiken, die die volle Unterstützung des Primas hatten, blieben ohne jede offizielle Reaktion.

Unterdessen ging der Machtkampf zwischen dem ideologisch ausgelaugten und politisch vorläufig entmachteten Parteiapparat und dem neuen Machtzentrum um General Jaruzelski weiter, der auch auf das Verhältnis der Behörden zur katholischen Kirche und zur damals suspendierten „Solidarität“ ausstrahlte. Seit Anfang Mai 1982 nahmen die Auseinandersetzungen zwischen der Opposition und den Sicherheitsorganen zu. In immer kürzeren Abständen und drohenderem Ton wurde die Kirche aus dem Parteiapparat heraus als Ausgangspunkt der gegen das Kriegsrecht gerichteten Demonstrationen angegriffen. In Moskau schrieb die Regierungszeitung „Izvestija" am 13. Juli 1982, die meisten Demonstrationen hätten nach Gottesdiensten in den Kirchen begonnen; die sich häufenden Versuche, die Kirche in regierungsfeindliche Aktionen zu verwickeln, seien alarmierend.

Angesichts dieser auch für den Handlungsspielraum der Kirche bedrohlicher werdenden Lage setzte sich im polnischen Episkopat eine Tendenz durch, die Regierung Jaruzelski als das „kleinere Übel“ anzusehen. In den ersten Tagen nach dem 13. Dezember 1981 galt eine sowjetische Invasion als das „größere Übel“; einige Monate später hatten die Partei-konservativen diese Stelle eingenommen. Im Sommer 1982 deutete der gegenseitige Umgang von Kirche und Behörden darauf hin, daß Primas Glemp, der Papst und Premier Jaruzelski eine gemeinsame Kompromißformel anstrebten, die den seit Frühjahr 1982 von der Kirche für den August des Jahres angekündigten zweiten Papstbesuch in Polen möglich machen sollte, ohne daß dabei die Kirche und die polnische Führung das Gesicht verlören. Das bedeutete beispielsweise für die Kirche, daß sie sich genötigt sah, die vom Kriegsrecht geschaffenen Realitäten zu akzeptieren, deren Anerkennung sie bisher — zumindest nach außen — verweigert hatte. So kam es einen Monat nach dem vom Primas verurteilten Verbot der „Solidarität" am 8. November 1982 zu einem spektakulären, da zu diesem politisch kritischen Zeitpunkt nicht erwarteten Treffen zwischen Glemp und Jaruzelski, in dessen Verlauf der während des ganzen Jahres diskutierte Besuch von Papst Johannes Paul II. für den 18. Juni 1983 angekündigt wurde.

III. Versuchte Einflußnahme vor dem Papstbesuch

Die katholische Kirche Polens appellierte seitdem wiederholt an die Behörden, anläßlich der geplanten Papstvisite „würdige Bedingungen" zu schaffen. Dazu gehörten eine Amnestie für alle nach dem Kriegsrecht Verurteilten und andere Maßnahmen, die — wie die Bischöfe es ausdrückten — die Wiederherstellung der vollen sozialen Gerechtigkeit ermöglichten. Ein Hirtenbrief diesen Inhalts wurde am 30. Januar 1983 in allen Kirchen

Polens verlesen. Die ganze Nation sollte nach dem Wunsch der Bischöfe in dem Besuch des Papstes einen neuen Versuch der moralischen Erneuerung sehen. Polen erlebe das Drama der inneren Zerrissenheit, der Ungerechtigkeit und der Verletzung menschlicher Grundrechte und die Unterdrückung der Menschenwürde. Gegen daraus resultierenden Haß in den Herzen sei nur die Waffe der Vergebung und der Rückkehr zur nationalen Harmonie und Eintracht wirksam In dem Hirtenbrief bestätigten die Bischöfe, daß Papst Johannes Paul II. am 18. Juni 1983 seinen zweiten Polenbesuch beginne. Damit schufen sie noch vor den für März anberaumten Gesprächen zwischen Regierung und Kirche über die Dauer und das Programm der Reise vollendete Tatsachen. Dieser Schachzug entsprang möglicherweise der Befürchtung, daß bestimmte Kräfte in der Partei die Regierung zu einem Rückzug veranlassen könnten, da sie den Papstbesuch als einen destabilisierenden Faktor im Prozeß der „Normalisierung" der innerpolnischen Verhältnisse und als Ermunterung der Opposition ansehen würden. Andererseits konnten die Behörden nach diesem Schritt der polnischen Bischöfe ihrerseits Forderungen aufstellen, „entsprechende Bedingungen" für den Papst-besuch zu schaffen. Das geschah dann auch wenige Tage später in einem Interview von Regierungschef Jaruzelski für die ungarische Parteizeitung „Npszabadsag" Mit den Bedingungen meinte der General vor allem die Umstände, unter denen der Besuch verlaufen sollte. Deutlicher wurde der Vertraute Jaruzelskis, der stellvertretende Ministerpräsident Rakowski, in einem Interview des Ungarischen Fernsehens. Auf den Papstbesuch in Polen angesprochen, sagte Rakowski, der Papst und die Bischöfe wüßten, daß der Erfolg der Reise von „sozialer Ruhe vor und während des Besuches" abhänge. „Wir hoffen, daß von keiner Kirche irgendwelche Kundgebungen ausgehen." Der politischen Opposition warf er vor, ihre „antisozialistischen Aktivitäten" vor allem über die Kirchen fortzuführen. Die jüngsten Kundgebungen gegen die Regierung seien stets von Kirchen ausgegangen. Das zeige, daß sich viele Menschen „nicht in den Kirchen versammeln, um zu beten, sondern um die Kirche für ihre eigenen Zwecke zu benutzen"

Der Hirtenbrief der polnischen Bischöfe war gleichzeitig in Polen und in Rom veröffentlicht worden, wo sich Primas Glemp aufhielt, um am 2. Februar 1983 die Kardinalswürde zu empfangen Die Kardinalsernennung konnte möglicherweise zur Festigung der geistlichen Autorität des Primas innerhalb des polnischen Klerus und in der Bevölkerung beitragen. Denn Glemps politisch zurückhaltender und theologisch begründbarer Kurs in der aktuellen Situation war im Lande umstritten. In der ersten Predigt als Kardinal setzte sich der Primas ausdrücklich mit der an ihn herangetragenen Kritik auseinander und verteidigte den versöhnlichen Kurs der Kirche. Die Bibel müsse Richtschnur des Handelns sein, „auch wenn dies heute nicht mehr jedem genehm ist" -Damit wies Glemp vielfach erhobene Forderungen nach einer militanteren Haltung der Kirche in politischen Fragen zurück. Sicherlich entsprach dieser Standpunkt den Ansichten des Papstes. Schließlich sollte für seine Polenreise ein günstiges Klima geschaffen werden.

In der ersten Märzwoche kam es offenbar zu einer weitgehenden Einigung über die Dauer der Papstvisite (16. bis 23. Juni 1983), wie sich aus der Predigt Kardinal Glemps am 6. März entnehmen ließ. In ihr beschrieb er mit einem Vergleich die dramatischen Umstände, unter denen ungeachtet der bisher getroffenen Übereinkünfte der Papstbesuch stattfinden würde. Die Reise nach Polen sei nicht weniger problematisch als die Pilgerfahrt nach Mittelamerika (u. a. nach Nicaragua). Der Heilige Vater komme auf diesen besonders spannungsgeladenen und gefühlsreichen Boden, der „nicht weniger, wenn nicht sogar mehr mit nicht nur religiösen, sondern auch gesellschaftlichen Problemen belastet" sei als Mittelamerika

Konnten das unterschiedliche Selbstverständnis und die teils sich überschneidenden, teils widerstreitenden Interessenlagen von Kirche, Staat und Opposition deutlicher zutage treten als im Vorfeld des Papstbesuches in Polen, der in einer postrevolutionären Phase stattfinden würde? Wie konnte die Kirche mit einigem Erfolg zwischen Staatsmacht und Bevölkerung vermitteln, wenn die Positionen so unvermittelbar waren? Regierung und Partei erhofften sich von der zweiten Reise des Papstes nach Polen einen entscheidenden Fort-schritt bei der „Normalisierung" der politischen Lage, eine Erhöhung des nationalen und internationalen Prestiges der Regierung Jaruzelski und die endgültige politische Neutralisierung der Kirche in der polnischen Krise — durch denselben Papst, der auf vielfache Weise entscheidenden Anteil an der Politisierung von Gesellschaft und Kirche hatte.

Dennoch stellte sich die Frage, warum sich die Jaruzelski-Regierung auf die mit dem Papstbesuch zweifellos verbundenen Risiken einließ. Trotz der nach außen getragenen positiven Erwartungen sah die politische Führung ihm — eingedenk der Erfahrungen von 1979 — auch mit großem Unbehagen entgegen, beschwor er doch die Gefahr neuer Unruhe, oppositioneller Massenbewegungen und der Solidarisierung mit der „Solidarität" herauf, die die Schritte zur „Normalisierung" innerhalb weniger Tage zunichte machen konnte. Aber die Einladung an den Papst aus Polen war der Preis, der an die katholische Kirche zu zahlen war, für die besonnene Haltung des polnischen Episkopats vor und nach der Verhängung des Kriegsrechts und für ein Arrangement, das der polnischen Führung den einzigen authentischen Repräsentanten der Gesellschaft, der Nation, erhielt — einen „Partner", ohne dessen moderierende und moderate Haltung in den latenten und manifesten Krisen Polens seit 1956 das Land praktisch nicht zu regieren ist, will man sich nicht nur auf Bajonetten ausruhen. Das war und bleibt ein „Pakt" mit einer Kraft, die ihrer Ideologie nach „antisozialistisch" (i. S.des marxistisch-leninistischen Sozialismus) ist, die man, da man sie nicht vernichten kann, wie die politische Opposition, an sich zu ziehen sucht.

Der ideologische Rückzug bis zum Papstbesuch wurde nirgends deutlicher als auf dem 12. Plenum des Zentralkomitees der PVAP zwei Wochen vor der Ankunft des Papstes, auf dem die positive Rolle der katholischen Kirche in der tausendjährigen Geschichte Polens erstmals offiziell von einem kommunistischen Parteigremium derart uneingeschränkt gewürdigt wurde. Parteichef Jaruzelski sagte dazu in seiner Schlußrede vor dem ZK: „... heute gehört es noch einmal unterstrichen, daß wir den Sozialismus in einem Land mit einer tausendjährigen christlichen Tradition aufbauen, die stark verbunden ist mit der komplexen Geschichte von Nation und Staat, und mit einem tief verwurzelten und weit verbreiteten religiösen Glauben..."

Die Klugheit der katholischen Kirche in Polen lag darin, die Gefahren der Vereinnahmung zu sehen und andererseits sich nicht gegen eine Zusammenarbeit mit den Behörden zu sperren, wenn es um die Stärkung bestimmter moralischer Grundwerte und die Erhaltung der Möglichkeiten der Kirche für die Verbreitung ihrer Lehre und der christlichen Werte geht, die zugleich das stärken sollen, was die Kirche unter der nationalen Substanz versteht, d. h. die geistige Abwehrkraft gegen den Atheismus und die leninistische Ideologie.

Die polnische Kirche erhoffte sich von der Papstvisite eine versöhnende Wirkung und eine moralische Aufrichtung der Gesellschaft. Papst und Kirche sorgten sich um die moralische und gesellschaftliche Destabilisierung, die die Gültigkeit der bisher von der ganzen Nation und allen gesellschaftlichen Schichten anerkannten Werte in Frage zu stellen drohte. — Die Opposition wünschte sich eine zumindest verschlüsselte moralische Unterstützung für ihren politischen Widerstand gegen die staatlichen Autoritäten und für die abwartende Haltung weiter Kreise der Intelligenz, die allgemein als innere Emigration bezeichnet wird.

IV. Mahnungen des Papstes zu Vertrauen und Versöhnung

Mit der Schlagzeile „Pilger der Hoffnung" empfing die katholische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny" den Papst in seiner Heimat Im dazugehörigen Leitartikel beschrieb der Chefredakteur des Blattes den psychischen Druck, der auf der achttägigen päpstlichen Reise nach Polen lastete: „Bei der ganzen in unserem Lande traditionsreichen Treue gegenüber dem apostolischen Stuhl gab es in der Geschichte unserer Nation keine solche Situation, in der mit der Person des Nachfolgers Petri solch große Hoffnungen verbunden gewesen wären. In der Erwartung der Ankunft Johannes Pauls II. gibt es ein tiefes Bewußtsein der ungeheuren historischen Bedeutung dieses Ereignisses — und eben eine irgendwie schwer zu beschreibende große Hoffnung. Die erste Pilgerreise Johannes Pauls II. nach Polen war ebenfalls ein Ereignis von ungeheurer Bedeutung mit den bekannten weitreichenden Konsequenzen im Leben unserer Nation. Die gegenwärtige Pilgerreise wird trotz vieler Ähnlichkeiten ganz anders sein. Bloß vier Jahre sind seit der damaligen ersten Reise eines Papstes in unser Vaterland vergangen, gleichwohl kommt Johannes Paul II. in ein völlig anderes Land. Da ist zwar dieselbe Nation, dasselbe nationale und christliche Selbstbewußtsein, aber eine völlig andere gesellschaftspolitische Situation, ein anderes Bewußtsein der Gesellschaft, andere Erwartungen."

Noch am Vorabend seiner Polenreise hatte der Papst den religiösen Charakter des Besuches in seinem Heimatland bekräftigt. Er sprach die Hoffnung aus, „daß diese Pilgerreise der Wahrheit und Liebe, der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Versöhnung und dem Frieden dienen möge"

Der Papst traf am Juni auf dem War-schauer Flughafen ein und wurde dort vom polnischen Staatsoberhaupt Jablonski und Kardinal Glemp willkommen geheißen. Während Jablonski in seinem Grußwort der Über-zeugung Ausdruck gab, daß der Papstbesuch ein Beweis für die „weit fortgeschrittene Normalisierung des Lebens im Lande" sei, setzte der Papst bereits mit seinen ersten Worten auf polnischem Boden einen anderen Akzent. Er führte u. a. aus: „Ich bitte die, die leiden, mir besonders nahe zu sein. Ich bitte darum im Namen der Worte Christi: „Ich war krank, und ihr besuchtet mich; ich war im Gefängnis, und ihr kamt zu mir'. Ich kann nicht selbst alle Kranken, Gefangenen und Leidenden besuchen, aber ich bitte sie, daß sie mir im Geiste nahe sind." 16)

Bei seinem Zusammentreffen mit General Jaruzelski am nächsten Tag bekräftigte Johannes Paul II.seine Erwartung, daß die gesellschaftliche Erneuerung in Polen fortgeführt wird. Die Erneuerung gemäß den August-Vereinbarungen 1980 sei „unerläßlich". Sie sei notwendig, um den guten Ruf Polens in der Welt aufrechtzuerhalten, aber auch um die innere Krise zu überwinden und um den Polen selber weitere Leiden zu ersparen Besonderen Wert legte der Papst in seiner Ansprache vor den Regierungsvertretern auf die Wiederaufnahme des Dialogs in Polen, um dadurch den Frieden in der Gesellschaft sicherzustellen. Wo der Dialog zwischen Regierung und Volk fehle, da sei der soziale Friede bedroht oder sogar überhaupt nicht vorhanden. „Das ist wie ein Kriegszustand", fügte der Papst hinzu

Der Höhepunkt der Reise des Papstes war der Aufenthalt in Tschenstochau, auf dessen „Hellem Berg" (Jasna Gra) seit 1382 ein Marien-Gnadenbild verehrt wird. Die 600-Jahr-Feier der Verehrung war der ursprüngliche Anlaß der Pilgerreise Johannes Pauls II. Die Ansprachen hier und in Kattowitz enthielten die stärksten politischen Akzente in der Reihe der zahlreichen päpstlichen Botschaften in den acht Tagen seiner Triumphfahrt durch Polen, die — mit unterschiedlichen Akzenten versehen — von einem tiefen Pathos geprägt waren. Der Papst — durch sein Charisma ein großer Menschenfänger — verband hier in Polen das christliche Evangelium und dessen weltumspannende (katholische) Geltung mit dem national-polnischen Sendungsbewußtsein in einer Weise, die nicht-polnischen Beobachtern unter den konkreten historisch-politischen Bedingungen Polens vielleicht gerade noch als vertretbar erscheinen konnte, wenn durch die besondere Hinwendung nach Polen nicht die anderen weltumspannenden Aufgaben der Kirche und des Papsttums vernachlässigt wurden

In seinem „Appell von Jasna Göra" rief der Papst die polnische Jugend zu „fundamentaler zwischenmenschlicher Solidarität" auf. Er stellte die Frage, warum die Freiheit für Polen einen so hohen Preis habe, und gab dann selbst die Antwort, daß gerade das, was etwas koste, einen Wert darstelle. Den Jugendlichen versicherte Johannes Paul II. abschließend, daß er ihre Leiden, ihre Schwierigkeiten, ihr Gefühl der Ungerechtigkeit und Demütigung, das Fehlen von Zukunftsaussichten „und vielleicht auch die Versuchung zur Flucht in irgendeine andere Welt" kenne. Er forderte sie auf, sich davon nicht überwältigen zu lassen, denn „von Euch hängt das Morgen ab" 20). In Kattowitz übte der Papst die direkteste Kritik an den politischen Zuständen in seiner In Kattowitz übte der Papst die direkteste Kritik an den politischen Zuständen in seiner Heimat. Hier gebrauchte er erstmals das Wort „Solidarität" auf die verbotene Gewerkschaft bezogen und erinnerte an die Vatikan-Audienz für eine „Solidarität" -Delegation im Januar 1981

Einen Tag vor Abschluß seiner Polenreise bestätigte der Papst in Krakau (22. Juni) seine Landsleute nochmals in ihrem „rechtmäßigen Kampf" für Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. Die Zusammenkunft mit Lech Walesa, über deren Zustandekommen seit Tagen gerätselt worden war, fand am selben Tag in der Hohen Tatra südlich von Krakau statt. Mit General Jaruzelski, der das grüne Licht für diese private Begegnung offensichtlich während der Unterredung mit dem Papst in Warschau gegeben hatte, traf der Gast aus Rom überraschend ein zweites Mal auf der Krakauer Königsburg zusammen. Das auf Wunsch des Generals anberaumte Gespräch galt vermutlich der Fortentwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in Polen und den zukünftigen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und dem Vatikan-staat im Lichte der Ereignisse der letzten Tage.

Der Verlauf und die Ergebnisse der päpstlichen Visite konnten von der Regierung ungeachtet der mit Überraschung und Befremden aufgenommenen scharfen Akzente mancher päpstlichen Botschaft und ungeachtet der bewußt einkalkulierten Manifestationen zugunsten der „Solidarität" und der von der großen Mehrheit der Bevölkerung geteilten Werte als Bestätigung des von der Jaruzelski-Gruppe eingeschlagenen Weges zur „Stabilisierung" und „Normalisierung" der Verhältnisse in Polen bewertet werden, wie dies auch mittels der offensiv kommentierenden Regierungsverlautbarungen und der staatlich gelenkten Massenmedien geschah. Das Risiko des Papstbesuches auf sich zu nehmen, hatte sich für die Warschauer Führung zumindest kurzfristig gelohnt. Politisch bewegte sich hinsichtlich des vom Papst verlangten Dialogs mit den gesellschaftlichen Kräften, vor allem mit der Arbeiterklasse, nichts in Richtung Öffnung. Die Regierung bot dagegen den „Dialog" mit den von der politischen Führung einseitig definierten und eingesetzten „Partnern" an.

Schon seit der Begegnung zwischen Regierungschef Jaruzelski und Kardinal Glemp am 25. April 1982 war der Kirchenführung klar, daß es für die „Solidarität" keinen Platz mehr in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen Polens geben würde und damit auch zumindest für absehbare Zeit einer öffentlichen Rolle für den Gewerkschaftsführer Walesa die Basis entzogen war. Es lag nicht in der Macht des Papstes, die Grundsatzentscheidungen der polnischen Führung rückgängig zu machen. Deshalb entbehrte es auch der Logik, davon zu sprechen, daß Johannes Paul II.den Gewerkschaftsführer geopfert habe. Der Papst und die Kirche hatten ihn nicht zum Vorsitzenden der „Solidarität" bestimmt oder Wasas Charisma aufgebaut, sie konnten ihn auch nicht opfern 22), um eines Arrangements zwischen Kirche und Staat willen.

V. Nach dem Papstbesuch: die „Normalisierung" geht weiter

Vier Wochen nach der Rückkehr von Papst Johannes Paul II. nach Rom stellte sich die Frage, wem diese Reise diente, in neuer Aktualität. Am 21. Juli 1983 war das suspendierte Kriegsrecht in Polen aufgehoben worden. Auch wenn der Zusammenhang zwischen dem Papstbesuch in Polen und der Beendigung des Kriegsrechts nicht zu eng gesehen werden sollte, bleibt anzumerken, daß die politischen Entscheidungen der polnischen Führung in einer gesellschaftlichen Atmosphäre gefällt wurden, die von der Pilgerreise des Papstes geprägt war. Der politische Fahrplan der Machtstabilisierung von Regierung und Nomenklatura in Warschau traf sich günstig mit den Wünschen und Bedürfnissen der katholischen Kirche in Polen. Insofern kann doch eine direkte Verbindung zwischen dem seelsorgerisch motivierten Ereignis des Papstbesuchs und dem politischen Ereignis der Kriegsrechtsaufhebung hergestellt werden. Schließlich sollte der allenthalben konstatierte Zenith kirchlichen Einflusses in der polnischen Tagespolitik an den Einwirkungsmöglichkeiten auf die gesetzgeberischen Begleitmaßnahmen bei der Rückkehr Polens zur „Normalität" gemessen werden können; denn an die Stelle des Kriegsrechts traten neue Sondergesetze.

Das erste Gesetzespaket wurde am 21. Juli 1983 unter dem umständlichen Titel „Gesetz über besondere juristische Regelungen im Zeitraum der Überwindung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Krise sowie über die Änderung verschiedener Gesetze" im Sejm verabschiedet. Die Sondergesetze schrieben insbesondere in den politisch sensiblen Bereichen der Betriebe, Schulen und Hochschulen manche Einschränkungen des Kriegsrechts fort oder verschärften sie gar noch. Die meisten Bestimmungen wurden bis Ende 1985 befristet, können aber unter Umständen schon Ende 1984 vom Staatsrat, dem kollektiven Staatsoberhaupt, außer Kraft gesetzt werden

Im Verlauf der Sejm-Debatte hatte der Abgeordnete J. Zablocki von der PZKS (Polnische Katholische Gesellschaftliche Vereinigung), die von den drei im Parlament vertretenen christlichen/katholischen Gruppierungen (PAX, ChSS, PZKS) noch am ehesten einen Zugang zur polnischen Kirchenhierarchie besitzt, bekanntgegeben, daß Primas Glemp brieflich erhebliche Bedenken gegen die Sonderregelungen geltend gemacht hatte Dem Vernehmen nach trafen daraufhin Vertreter der Kirche und der Regierung noch dreimal zusammen, um über Abänderungen in dem Gesetzeswerk zu sprechen. Aufgrund der kirchlichen Interventionen wurde die Beratung und Verabschiedung einiger besonders umstrittener Teile der Sondergesetze, wie die Verschärfung des Strafrechts und des Zensur-gesetzes, auf die Sejm-Sitzung am 28. Juli verschoben. Den Einwendungen der katholischen Kirche gegen den Vorschlag der Regierung, Rekruten der polnischen Armee auch für den Dienst in den bewaffneten Einheiten der Miliz oder im Gefängniswesen einzusetzen, entsprach der Sejm und strich den betreffenden Gesetzesartikel. — Wo konnte das Versagen des polnischen Parlaments als demokratisches Kontrollorgan von Regierung und Behörden deutlicher zutage treten als in den entscheidenden Tagen vor dem 21. Juli 1983, als nicht der Sejm, sondern, wie so oft in den vergangenen dreißig Jahren, die katholische Kirche die Interessen der Gesellschaft vertrat. Die Kirche konnte hier Änderungen durchsetzen, verfügte aber nicht über die Macht, den Geist der Gesetze zu ändern, der von dem prinzipiellen Mißtrauen der Regierenden gegenüber den Regierten geprägt ist. Nun mochten Kirche und Gesellschaft hoffen, daß die Gesetze weniger strikt angewendet werden, als dies theoretisch möglich ist.

Es war symptomatisch für die zahlreichen polnischen Paradoxien, die in keinem anderen „sozialistischen" Land vorstellbar sind, daß es J. Turowicz von der katholischen „Tygod-nik Powszechny" erlaubt war, in seiner Zeitung scharfe Kritik an den Sondergesetzen zu üben Turowicz schrieb, die bis 1985 geltenden Sonderregelungen bedeuteten 900 lange Tage „eines schmerzlichen Übergangsstadiums". Durch die Gesetzesänderungen bliebe eine Reihe von Beschränkungen des Kriegs-rechts in Kraft. Neue Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten seien vorgesehen. Die Möglichkeit eines gewerkschaftlichen Pluralismus sei auf unbestimmte Zeit vertagt, die Autonomie im höheren Bildungswesen, die Versammlungs-und Koalitionsfreiheit würden beträchtlich eingeschränkt. Der einzige Weg zum gesellschaftlichen Frieden führe über den Dialog zwischen Macht und Gesellschaft, wie ihn der Papst während seiner Pilgerreise gefordert habe. In den vergangenen 585 Tagen des Kriegsrechts habe sich nur die Stimme der Macht und ihrer Anhänger Gehör verschafft. Das sei noch kein Dialog, schrieb Turowicz.

VI. Neue Schärfen zwischen Staat und Kirche im Herbst 1983

Nach einer gewissen atmosphärischen Entspannung im Zusammenhang mit dem Papst-besuch verschärften sich im Herbst 1983 wieder die Reaktionen aus den Reihen der Partei auf die gesellschaftliche und ideologische Rolle der Kirche, wie in den Junitagen unübersehbar war. Dazu kam eine Verschlechterung der wirtschaftlich-sozialen Situation in Polen Die neuen Spannungen veranlaßten die Kirche wiederum zu einer aktuellen Formulierung dessen, was sie im Interesse einer Entspannung der allgemeinen Lage für unerläßlich hielt.

So sahen sich die polnischen Bischöfe dazu verpflichtet, im Anschluß an ihre 197. Plenarkonferenz am 16. und 17. November 1983 in einem vorsichtig formulierten Kommunique über die aktuelle wirtschaftliche, soziale und politische Situation im Lande Klage zu führen Die Bischofskonferenz machte die politische Führung Polens für die Verschlechterung der wirtschaftlich-sozialen Lage verantwortlich. Sie sprach sich gegen die geplanten Preiserhöhungen für 1984 aus und verurteilte die andauernde politische Repression. Der polnische Episkopat äußerte seine seelsorgerische Sorge über die um sich greifende Armut. Zu einer grundlegenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage konnte es nach Ansicht der Bischöfe nur durch die Wiederherstellung des Vertrauens und das Ende der politischen Unterdrückung kommen. In diesem Kontext sprachen sich die Bischöfe für die Einstellung der politischen Prozesse gegen die KSS-„KOR" -Führung und „Solidarität" -Spitzenfunktionäre sowie für die Freilassung der politischen Häftlinge aus. Nicht erwähnt wurden in dem Kommunique die jüngsten Anschuldigungen der polnischen Führung und Massenmedien gegen katholische Gemeindepriester und Bischöfe. Die polnischen Bischöfe äußerten in ihrer Erklärung die Hoffnung, daß der umstrittene kirchliche Agrarfonds im nächsten Jahr seine Arbeit aufnehmen könne. Der durch Spenden der westlichen katholischen Kirchen und durch Beiträge westlicher Regierungen zu finanzierende Fonds soll der privaten Landwirtschaft, Handwerksbetrieben und dem Kleingewerbe zugute kommen und dort zur Selbsthilfe anregen

Verdeutlicht wurden die Ursachen der Spannungen wenige Wochen vor dem Jahresende 1983 durch sich häufende Meldungen über neuerliche Versorgungsengpässe. Die erneuten Rationierungen von Butter und anderen Fetten seit November gaben dem allgemeinen Gefühl weiteren Auftrieb, daß Polen noch weit von einer stabilen Versorgung entfernt war und daß der Winter eine neue Herausforderung an die Geduld der Bevölkerung stellen würde. Dazu kam die rigorose Preispolitik der Regierung, die — begleitet von einer konsequenten Wirtschafts-und Reformpolitik — durchaus Sinn machen würde und prinzipiell eine Notwendigkeit zur Entlastung des aufge8) blähten Staatshaushalts darstellte. Da aber die Ziele der Wirtschaftspolitik und der Preis-reform seit 1982 im wesentlichen verfehlt wurden erfahren weite Kreise der Bevölkerung, insbesondere junge Familien und Rentner, die Effekte der Wirtschaftspolitik als Pauperisierung. Die soziale Differenzierung nimmt zu. Unruhe und Verbitterung in der Bevölkerung schwollen im Spätherbst 1983 ebenfalls an.

Wie ernst die Regierung die Situation einschätzte, ging aus einem vertraulichen Brief des Amtschefs im Büro des Ministerrats hervor. In dem Schreiben wurde eine Zunahme der öffentlichen Unzufriedenheit im Zusammenhang mit dem unlängst veröffentlichten Entwurf über Preiserhöhungen zum Jahreswechsel festgestellt. Dies bedeute eine „ernste Gefährdung der gesellschaftspolitischen Lage". Deswegen sollten alle Entscheidungen unterbleiben, die hier verschärfend wirken könnten; dazu gehörten nach diesem Schreiben: Beschränkungen bei der Versorgung des Marktes, Veränderungen der Arbeitsbedingungen, disziplinarische Maßnahmen, scharfe Erklärungen in unpopulären Fragen. Ausdrücklich sollten auch mit Mitgliedern „Konflikte der Kirche“ vermieden werden

Im Oktober und November 1983 hatte die offiziell führende politische Kraft der Volksrepublik Polen, die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, in zwei Plenarsitzungen des Zentralkomitees Antworten auf die drängendsten politisch-ideologischen und wirtschaftlichen Fragen an der Jahreswende 1983/84 gesucht. Die Vorschläge zur Überwindung der Krisen-erscheinungen fallen in dem Exekutivorgan der polnischen Kommunisten anders aus als die Mahnungen der nicht direkt politisch agierenden katholischen Kirche. Das ist selbstverständlich. Festzuhalten bleibt aber, daß sowohl von der politischen Elite als auch von der Kirchenführung die zwei Hauptprobleme, die schließlich nach der Einführung des Kriegsrechts nach offizieller Lesart bald prinzipiell geregelt werden sollten, weder als geregelt noch in absehbarer Zeit als überwindbar erachtet wurden.

Die von der Jaruzelski-Gruppe erstrebte politische und ideologische Stabilisierung Polens steht noch aus. Von einer ganz anderen Warte kritisiert auch die katholische Kirche in Hirtenbriefen und Kommuniques die anomale politische Situation im Lande. Die Vorsicht der Bischöfe, die sich in dem erwähnten. Kommunique darin ausdrückte, daß sie mit keinem Wort auf die Einleitung von Strafverfahren gegen einzelne politisch aktive Priester eingingen, war sicher auch diktiert von dem Bemühen, die labile Situation nicht noch zusätzlich anzuheizen, und von der Befürchtung, selbst als Institution zunehmend in die Schußlinie der offiziellen Propaganda zu geraten. Es ist nicht die Angst vor einer generellen Repressionspolitik gegenüber der Kirche, die zudem erfolglos bleiben müßte und im Gegenteil die Kirche weiter von innen stärken würde, sondern die Furcht vor einer selektiven Vorgehensweise der Staatsorgane im Verhältnis zur katholischen Kirche, die ihre Einheit und Macht bedrohen könnte

Genügte es nicht, daß sich die polnische Regierung über 69 „extremistische" Geistliche bei Kardinal Glemp beschwert hatte und den Primas aufforderte, ihre Tätigkeit zu zügeln?

Religionsminister A. Lopatka soll in seinem 16 Seiten umfassenden Schreiben an Glemp auch zwei Bischöfe, Tokarczuk aus Przemysl und Kraszewski aus Warschau, namentlich genannt haben. Zudem seien Priester aufgeführt worden, gegen die eine Untersuchung wegen „Mißbrauchs der Religionsfreiheit zum Schaden der Volksrepublik" eingeleitet wurde: u. a.der Beichtvater von L. Walesa, H. Jankowski, und der Vikar J. Popieluszko von der Stanislaw-Kostka-Kirche in Warschau Daß die Behörden den Konflikt mit der Kirche aber nicht unbedingt suchen und vorsichtig taktieren, machte folgendes Beispiel aus der jüngsten Zeit deutlich: Der besagte Vikar Popieluszko konnte am Barbara-Tag (4. Dezember 1983) ungestört vor vielen tausend Gläubigen in seiner Pfarrkirche die Messe lesen, nachdem zwei Tage zuvor Vertreter des Sicherheitsdienstes vergeblich versucht hatten, ihm eine gerichtliche Vorladung für denselben Tag auszuhändigen. Der Vikar erinnerte in der Messe an die Ideale der „Solidarität". Er beschwor die Freiheit, für die es nicht nur zu beten, sondern auch zu kämpfen gelte. Zwei oberschlesische Bergarbeiter überreichten dem Priester ein Kreuz aus Steinkohle, eine Erinnerung an die Opfer, die es in den ersten Tagen nach der Verhängung des Kriegszustands unter streikenden Grubenarbeitern gegeben hatte. Schon seit Wochen lösten sich Arbeiter bei der Bewachung des Priesters ab und lagerten auf Schlafsäkken im Flur des Gemeindehauses 33). Wenn es die Behörden auf eine Kraftprobe anlegten, wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, das Problem des „extremistischen" Wenn es die Behörden auf eine Kraftprobe anlegten, wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, das Problem des „extremistischen" Priesters und seiner „Leibgarde" zu lösen.

Die politisch engagierten Priester bringen nicht nur die Behörden in eine mißliche Lage, wenn sie einer direkten Konfrontation mit der Kirche aus dem Wege gehen wollen, sie verlangen auch von der Kirchenführung Solidarität gegenüber einer sehr heterogenen Priesterschaft. Glücklich ist der polnische Episkopat, zumindest seine überwältigende Mehrheit, über die „Solidarität" -Priester sicher nicht, zumal sich die Kirche seit Herbst 1983 einem schärferen Wind in den Massenmedien und von der Basis der PVAP, soweit sie überhaupt aktiv war, ausgesetzt sah.

Das den ideologischen Grundproblemen der polnischen Kommunisten gewidmete 13. Plenum des Zentralkomitees der PVAP (14. /15. Dezember 1983) gab einige Hinweise darauf, was Polens Kommunisten an der Kirche am meisten mißfällt. Zahlreiche Stimmen aus dem Parteivolk verlangten eine härtere Gangart gegenüber Kirchenkreisen, die sie als kämpferisch antikommunistisch empfanden. Ein als privater Landwirt bezeichnetes Mitglied des ZK klagte mit bewegten Worten über den aggressiven Ton, den manche Land-pfarrer neuerdings gegenüber in der Gemeinde bekannten Parteimitgliedern anschlügen. Es komme vor, daß Geistliche von der Kanzel herab fragten, wieso sich in der Kirche Kommunisten befänden, die das Parteibuch in der Tasche trügen. Im offiziellen Referat des Politbüros fanden sich vergleichbar scharfe Töne gegen die Kirche nicht. Im Gegenteil unterstrich der Sprecher des ZK, Politbüro-mitglied J. Czyrek, daß in Zukunft auch Katholiken stärker bei der Vergabe von verantwortungsvollen Positionen im Staatsdienst berücksichtigt werden sollten 34). Ob die kritischen Stimmen zum Thema Kirche „bestellt" waren oder nicht, der Parteiführung konnten sie zumindest willkommen sein. Mit ihnen ließen sich gegenüber der Kirchenhierarchie strengere Maßnahmen gegen unbequeme Ortsgeistliche begründen, die nach Ansicht der Kommunisten den Rahmen zugestandener kirchlicher Freiheit weit überschritten. Die Bedeutung der ZK-Kritik an „kämpferischem Klerikalismus" und „Mißbrauch der Religion für politische Zwecke" für das zukünftige Verhältnis zwischen Staat und Kirche sollte nicht überbewertet werden. Die Partei mußte nach dem Papstbesuch — nicht zuletzt gegenüber der Sowjetunion und der kommunistischen Weltbewegung — demonstrieren, daß sie noch Ideologieträger ist und nicht abgedankt hat.

VII. Atmosphärische Entspannung an der Jahreswende 1983/84

Ausschlaggebend für das weitere Verhältnis zwischen Kirche und Staat blieb das beiderseitige Interesse an einer Fortsetzung der Kontakte und an Ergebnissen, die einen Abbau der gesellschaftlichen Spannungen fördern könnten.

So wurde für den 5. Januar 1984 das seit langem geplante und immer wieder verschobene Treffen zwischen Kardinal Glemp und General Jaruzelski anberaumt 35). Die letzte Begegnung hatte am 6. Juni 1983 unmittelbar vor dem Papstbesuch stattgefunden. Die lange Pause hatte mehrere Gründe: Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten auf Seiten der Regierung und Partei, die auf dem Ideologie-Plenum der PVAP im Oktober 1983 und in Polemiken der Massenmedien zum Ausdruck kamen, spielten hier eine Rolle. Welche Bedeutung sollte und konnte man der Kirche zugestehen? Wie war mit dem wachsenden „Klerikalismus" umzugehen? Noch in der letzten Dezember-Ausgabe der Wochenzeitung „Polityka" hatte der stellvertretende Premier M. Rakowski einen scharfen Angriff auf Primas Glemp veröffentlicht Rakowski beschuldigte die katholische Kirche, mit ihrem Schweigen zu den Ereignissen im Jahre 1981 die Verhängung des Kriegsrechts heraufbeschworen zu haben. Der Primas habe noch zuletzt die verbotene „Solidarität" und den Arbeiterführer Wasa gegen seine, Rakowskis, Bezeichnung der Gewerkschaft als destruktive Kraft in Schutz genommen. Wenn die „moralischen Autoritäten" — gemeint ist die katholische Kirche —, die heute die Regierung kritisieren, 1981 die Anarchie und deren Boten mit Entschiedenheit verurteilt hätten, wäre dem Lande die Verhängung des Kriegs-zustands erspart geblieben.

In dieser auch durch persönliche Betroffenheit und Dünnhäutigkeit emotionalisierten Situation lenkte General Jaruzelski schließlich ein, zumal er in der sehr kritischen wirtschaftlichen und sozialen Situation neue Konflikte mit der Kirche vermeiden wollte. Erleichtert wurde der Schritt auf die Kirche zu durch den Primas, der, um die seit Herbst 1983 verhärtete Situation nicht weiter zu verschärfen, in seinem ersten Konzept der Weihnachtsbotschaft die Priester ermahnte, auf politisches Engagement zu verzichten Aufgrund des negativen Echos im Klerus mußte er die Mahnung jedoch abschwächen, bevor sie auf den Kanzeln verlesen wurde Die Regierung aber hatte, ohne von der bevorstehenden Korrektur zu wissen, eine Konzession gemacht, indem sie dreißig politischen Häftlingen über die Weihnachts-und Neujahrstage Hafturlaub gewährte.

Im Anschluß an die fünfstündige Unterhaltung zwischen General Jaruzelski und Kardinal Glemp wurde ein Kommunique veröffenlicht, wonach die wichtigsten Entwicklungen des vergangenen Jahres besprochen worden seien. Beide Seiten bewerteten den Papstbesuch vom letzten Juni positiv und sprachen sich für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Polen und dem Vatikan aus.

Ihrer gemeinsamen Sorge über die Aufrüstung gaben sie in einer langen Passage Ausdruck. Durch die Dreikönigspredigt Glemps am folgenden Tag verfestigte sich der Eindruck, daß hier der Primas seinem Gastgeber einen Wunsch erfüllt hat., In der Predigt warf er „europäischen Ländern mit langer katholischer Kultur" vor — hiermit konnten nur westeuropäische Länder gemeint sein —, sie strotzten von tödlichen Waffen. Nach diesem Kommunique verstärkte sich in Warschau der Eindruck, daß die polnische Regierung zunehmend darauf dringt, mit dem Vatikan diplomatische Beziehungen aufzunehmen, auch wenn das Kommunique keinen direkten Bezug darauf nahm. Die katholische Kirche wiederum sorgte sich um das Schicksal der elf Aktivisten der „Solidarität" und des Komitees zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung — „KOR" in der Untersuchungshaft. Sie bemüht sich um eine Haftentlassung der wichtigsten politischen Gefangenen der Regierung unter noch zu klärenden Bedingungen. Insbesondere erwartet die Kirche aber endlich die Billigung des geplanten Landwirtschaftsfonds durch die Behörden

Am Anfang des Jahres 1984 stehen Kardinal Glemp und Regierungschef Jaruzelski unter dem Druck von Kräften, die mehr Konfrontation verlangen. Beide müssen diesem Druck bisweilen nachgeben, wie es die letzten Monate und Wochen bewiesen. Anscheinend sind aber Kirchenführung und Regierung darum bemüht, zu einem Modus vivendi zu kommen, der offenlegen würde, daß noch nicht alle Chancen für einen neuen „Dialog" vertan sind.

VIII. Schlußbetrachtung

Die letzten zwei Jahre sind an der katholischen Kirche nicht spurlos vorübergegangen. Ihr seelsorgerisches Selbstverständnis ist einer harten Prüfung, Verständnislosigkeit und Anfeindungen von verschiedenen Seiten ausgesetzt. Zwar ist sie nun wieder — wie vor der Zeit der „Erneuerung" 1980/81 — einzige moralische Institution für eine politisch desillusionierte Nation. Ihr religiöses Gewicht hat in der allgemeinen Perspektivlosigkeit sogar noch zugenommen. Aber die Stellungnahmen ihrer Bischöfe zur politischen Lage sind nicht nur für die eine Seite politisch verwertbar. Sie sind insbesondere im Klerus und in der politischen Opposition umstritten.

Die „Solidarität" war seinerzeit zwar moralisch von der Kirche unterstützt und mit kirchlichen Beratern versehen worden. Andererseits läßt die katholische Kirche sich als Glaubensgemeinschaft nicht vollständig in das Weltliche einbinden. In einem bemerkenswerten Artikel räsonierte der international bekannte Soziologe J. Szczepahski über die delikate Situation der Kirche, indem er ausführte: „Man muß jedoch daran erinnern, daß sie eine katholische oder allumfassende Kirche ist und sich ihre Interessen nicht vollständig mit den Interessen der polnischen Nation decken, daß sie ungeachtet ihres ganzen Engagements in den polnischen Angelegenheiten auf die eigenen Interessen achten muß, die sich aus ihrer Universalität und ihrem Engagement in vielen Kontinenten, Ländern und politischen Systemen ergeben ... Außerdem: . Mein Reich ist nicht von dieser Weit'. Die Kirche muß folglich weit in die Zukunft blicken, gleichzeitig jedoch mit aktuellen Kräftekonstellationen rechnen, und kann sich nicht vollständig engagieren, weder zugunsten der Macht, noch zugunsten der . Solidarität'oder der Opposition. Sie muß alle Vorschläge abwägen unter dem Gesichtspunkt, was wesentlich für ihre grundlegenden Funktionen ist.. .“

Was kann die Kirche also in einer Zeit bewirken, da wirtschaftliche und soziale Spannungen in Polen weiter zunehmen werden, von der Regierung der „wirkliche Dialog" fortgesetzt verweigert wird und Resignation über das Gefühl, daß es keinen wirklichen Ausweg aus der Krise gibt, weite Kreise der Bevölkerung, insbesondere die Jugend, erfaßt? Die Hirtenbriefe und Kommuniques der polnischen Bischöfe, dazu punktuelle diplomatische Interventionen, um das „Schlimmste" zu verhüten, zeigen wahrscheinlich den einzig gangbaren Weg für die Kirche als Institution. Dazu gehört auch die praktische Solidarität mit der Bevölkerung. Ob diese Solidarität so weit gehen sollte wie bei den politisch aktiven Priestern, wird auch in Zukunft im polnischen Episkopat umstritten bleiben. Zugleich werden sich Polens Bischöfe aber weigern, als verlängerter Arm der staatlichen Behörden zu dienen und politische Unbotmäßigkeit an der Kirchenbasis autoritativ zu unterbinden.

Bei allem religiösen und moralischen Einfluß muß heute, in der Nach-„Solidarität" -Zeit, die Machtlosigkeit der katholischen Kirche auffallen, die politischen Verhältnisse in Polen sichtbar zu bewegen. Kurzfristig ist sie keine systembedrohende Gefahr. Eher trägt zumindest die Kirchenhierarchie durch ihren spezifischen Realismus unter bestimmten Bedingungen zu einer Stabilisierung des Systems bei, ohne die Ursachen seiner Schwäche beheben zu können oder zu wollen. Der Verlauf des Papstbesuchs, die ausgebliebenen Folgen im Sinne einer Öffnung des politischen Systems und die jüngsten Arrangements zwischen Kirche und Staat bestätigen die komplexe Rolle der katholischen Kirche eindrucksvoll. Da sie als authentische, gesellschaftliche Gestaltungsfunktion ausübende Kraft der polnischen Nation, die von Regierung und Partei respektiert werden muß, auf unabsehbare Zeit Monopolist bleiben wird, hat sie eine Schwächung ihrer Position infolge kurzfristiger politischer Enttäuschungen nicht zu fürchten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Spoeczestwo polskie w drugiej poowie lat siedemdziesiatych. Raporty z bada pod red. Z. Sufina, Warszawa czerwiec 1981, S. 335; St. Pajka, in: Wie wspölczesna, (1983) 5, S. 124 ff.; auch: Z. Kawecki, Modzie o roli kocioa, in: Argumenty, (4. 12. 1983) 49, u. v. a.

  2. Vgl. auch: D. Bingen, Die Kirche in der polnischen Krise, in: Herder-Korrespondenz, (1983) 4, S. 184— 188.

  3. Radio Warszawa, 13. 12. 1981.

  4. Radio Warszawa, 24. 1. 1982.

  5. Vgl. Trybuna Ludu vom 25. 1. 1982 u. a.

  6. Übersetzung in: Herder-Korrespondenz, (1982) 6.

  7. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 2. 2. 1983.

  8. Näpszabadsag vom 5. 2. 1983.

  9. Die Welt vom 23. 2. 1983; vgl. auch A. Lopatka in: Prawo i Zycie, (2. 4. 1983) 14.

  10. Vgl. Herder-Korrespondenz, (1983) 2, S. 52.

  11. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 2. 1983.

  12. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 3. 1983.

  13. Trybuna Ludu vom 3. 6. 1983.

  14. Tygodnik Powszechny, (19. 6. 1983) 25.

  15. Kathpress, (16. 6. 1983) 114.

  16. Tygodnik Powszechny, (26. 6. 1983) 26.

  17. Ebd.

  18. Ebd.

  19. Vgl. D. Bingen, Allen etwas gegeben. Polen nach dem Papstbesuch, in: Herder-Korrespondenz, (1983) 8, S. 372— 377.

  20. Die Botschaften des Papstes sind abgedruckt in: Tygodnik Powszechny, (26. 6. 1983) 26 und (3. 7. 1983) 27.

  21. Ebd.

  22. Ausführlicher dazu: D. Bingen, Polen nach dem Papstbesuch. Mit Sondergesetzen zurück zur Normalität, in: Herder-Korrespondenz, (1983) 9, S. 398 bis 400.

  23. Diariusz Sejmowy. Sprawozdanie z 39 posiedzenia plenarego Sejmu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w dniu 20— 21 lipca 1983 r., Nr. 8/83.

  24. Tygodnik Powszechny (31. 7. 1983) 31.

  25. Vgl. D. Bingen, Winter in Polen, in: Herder-Korrespondenz, (1984) 1, S. 12— 15.

  26. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 21. 11. 1983.

  27. Agence France Press vom 18. 11. 1983.

  28. So der Wirtschaftssekretär des ZK, Manfred Gorywoda, im Rechenschaftsbericht des Politbüros auf dem 14. ZK-Plenum der PVAP (18. — 19. 11. 1983), vgl. Trybuna Ludu vom 19. /20. 11. 1983.

  29. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 12. 1983.

  30. Ausführlicher dazu: D. Bingen, Polen: Kirche unter Druck, in: Herder-Korrespondenz, (1983) 5, S. 202- 204.

  31. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 21. 11. 1983.

  32. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 12. 1983.

  33. M. F. Rakowski, Spotkanie w stoczni, in: Polityka, (31. 12. 1983) 53.

  34. Die erste Fassung der Weihnachts-und Neujahrsbotschaft des Primas ist abgedruckt in: Kierunki, (Weihnachten 1983) 52, S. 1 und 2.

  35. Die korrigierte Fassung findet sich in: Tygodnik Powszechny, (25. 12. 1983) 52, S. 1 und 2.

  36. Dazu auch: A. Nacken, Ist der Schuh zu groß für die Kirche? Das Hilfsprogramm für die polnische Landwirtschaft und die Chancen seiner Verwirklichung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 1. 1984.

  37. J. Szczepanski, Alternatywy, in: Odra, (1982) 1— 8, S. 6— 9.

Weitere Inhalte

Dieter Bingen, Dr. phil., geb. 1952; Studium der Politischen Wissenschaft, Verfassungs-, Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn; längere Forschungsaufenthalte in Polen 1977, 1981 und 1983; 1980— 1981 Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft; seit 1981 wissenschaftlicher Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Bundesrepublik Deutschland aus polnischer Sicht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22/78; Die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Politik aus polnischer Sicht 1969— 1976, Königstein/Ts. 1980; Zehn Jahre Vertrag mit Polen, in: Osteuropa, (1981) 3; Die katholische Kirche im polnischen Sozialismus, in: Polen — Das Ende der Erneuerung? Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im Wandel, hrsg. v. A. Uschakow, München 1982; Solidarno — eine polnische Gewerkschaft und gesellschaftliche Bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/82; Die Bonner Deutschlandpolitik 1969— 1979 in der polnischen Publizistik, Frankfurt/M. 1982; Die Rolle der Sowjetunion in der Polenkrise, in: Sowjetunion 1982/83. Ereignisse, Probleme, Perspektiven, hrsg. v. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, München 1983.