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Polen — unser unruhiger Nachbar | APuZ 6/1984 | bpb.de

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APuZ 6/1984 Artikel 1 Die Rolle der katholischen Kirche Polens nach dem Ende der „Erneuerung" Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung in der Volksrepublik Polen Polen — unser unruhiger Nachbar

Polen — unser unruhiger Nachbar

Klaus Reiff

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Polen hat zur Zeit mit enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Zahl der Familien mit niedrigen und niedrigsten Einkommen erhöht sich fortlaufend, was bedeutet, daß Preisreformen, die mit Erhöhungen verbunden sind, in Zukunft immer mehr Menschen existentiell treffen. Trotz einer ausgezeichneten Ernte 1983 hat sich die Versorgungslage kaum gebessert, da ein erheblicher Teil der polnischen Agrarprodukte in den Export fließt, um die dringend benötigten Devisen für das Land zu beschaffen. Im Vergleich mit anderen westlichen, aber auch sozialistischen Ländern ist die absolute Produktivität der Landwirtschaft aber ohnehin sehr niedrig. Die in Gang gesetzte Wirtschaftsreform, welche auch die anderen Sektoren der polnischen Wirtschaft erfaßt, trifft in Polen kaum auf Optimismus, da vermutet wird, daß die Wirtschaftsbürokratie die meisten Ansätze blockiere und verhindere. Ob eine wesentliche Änderung der Lage durch die geplante Reorientierung der Außenwirtschaft Polens auf die RGW-und Entwicklungsländer erreicht werden kann, muß angesichts der inzwischen erreichten Verflechtung mit den westlichen Märkten bezweifelt werden. Als wichtigste gesellschaftliche Kraft ist zur Zeit die Katholische Kirche in Polen anzusehen. Die neuen Gewerkschaften haben mit ihren 3, 7 Millionen Mitgliedern bisher nicht den erhofften Organisationserfolg erreicht, zumal die Regierung ihnen auch wenig Profilierungschancen beläßt. Die „Solidarität" muß bereits als Geschichte gewertet werden, und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hat erhebliche Schwierigkeiten, ihrer Bürokratie und inneren Opposition Herr zu werden. Einzig die Polnische Bauernpartei gewinnt zur Zeit sowohl bei ihren Mitgliedern als auch in der Regierung an Boden. Insgesamt ist festzustellen, daß heute in Polen kaum jemand Hoffnungen hat, daß die angekündigten Reformen für positive Änderungen sorgen könnten. Wenn man eine halbwegs zutreffende Zukunftsprognose über den weiteren Weg Polens geben will, so läßt sich sicher nur eines feststellen: daß unserem unruhigen Nachbarn sicherlich bald wieder der Geduldsfaden reißen wird. Die Intervalle zwischen den Unruhen in Polen werden immer kürzer.

Auch wenn das Thema „Polen" heute nicht mehr die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht, so geht doch im Innern unseres Nachbarlandes das Ringen um den zukünftigen Weg und die Überwindung der jahrelangen Krise weiter. Angesichts des hohen Schwierigkeitsgrades der zu lösenden Probleme, vor allem im wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich, der fortdauernden Vertrauenskrise zwischen politischer Führung und Bevölkerung, der vielfach anzutreffenden Resignation, aber auch eines nicht erlahmenden Widerstandsgeistes, ist auf absehbare Zeit nicht damit zu rechnen, daß Polen zur Ruhe kommt.

Das Bild Polens heute stimmt nicht, wenn man es ausschließlich aus der Sicht Walesas, der „Solidarität" und des Widerstandes im Untergrund betrachtet. Andererseits ist auch das von den polnischen Medien verbreitete Bild dieses Landes nicht vollständig, oftmals einseitig und schief, nicht selten widersprüchlich, je nach politischem und gesellschaftlichem Standort der keinesfalls durchgängig als regimekonform anzusehenden Presse. In Polen ist die Grauzone zwischen Schwarz und Weiß im Vergleich zu anderen Ländern riesig. Das schafft Widersprüche und Verständigungsschwierigkeiten vor allem bei jenen Beobachtern, die noch immer glauben, in Polen ginge es zu wie in jedem kommunistischen Land.

Es ist nicht allein die Rolle der katholischen Kirche, die hier aus dem Rahmen fällt, auch nicht die der privaten Bauern, die fast 80 % des Bodens bewirtschaften. In dieses Bild der Widersprüchlichkeiten eines kommunistischen Landes gehören ein weit von parteilichen Bevormundungen freies künstlerisches und kulturelles Leben, eine nicht nur auf die Wochenzeitung „Polityka" beschränkte lebhafte publizistische Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen des Landes (trotz nach wie vor existierender Zensur) und für diese Gesellschaftsordnung geradezu erstaunliche Vermögensunterschiede in der Bevölkerung. Polen geht im Lager der Warschauer-Pakt-Staaten längst schon seinen eigenen Weg. Das nicht erst seit 1956 zu verzeichnende Aufbegehren des Volkes dokumentiert seinen unbändigen Freiheitsdrang, der sich in Geschichte und Gegenwart stets der Führung des Landes entgegensetzte, um ihr Zugeständnisse abzutrotzen, den Besatzern aber unter Einsatz des eigenen Lebens klarmachte, daß Polen Polen bleibt. Es wäre nun geradezu erstaunlich, wenn Polen im Kommunismus seinen Widerstands-und Widerspruchsgeist aufgegeben hätte. So sind denn nun die Verhältnisse in Polen anders als in den kommunistischen Bruderländern, eben spezifisch polnisch, und es hat den Eindruck, daß man in Polen Wert darauf legt, dies zu beachten.

I. Soziale Probleme und Lebensstandard

Die Widersprüchlichkeiten dieses Landes, gerade auch in seiner derzeitigen tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, sind faszinierend, aber für Deutsche wie für andere Nachbarn Polens nur schwer verständlich. Da sahen sich 1982 die Behörden gezwungen, 482 Verfahren gegen Millionäre einzuleiten, bei denen man Eigentum im Wert von 552 Millio35 nen Zloty beschlagnahmte und außerdem Immobilien im Wert von 1, 26 Milliarden Zloty vorläufig konfiszierte. Auf ihren privaten Devisenkonten hatten polnische Bürger bis Ende Oktober 1983 insgesamt 230 Millionen US-Dollar angesammelt, doppelt soviel wie zum selben Zeitpunkt des Vorjahres. Auf einem freien Markt in Krakau beschlagnahmte die Miliz im vorigen Dezember Schwarzmarkt-Waren im Wert von über 2 Millionen Zloty, die meisten davon stammten aus dem Westen.

Und die andere Seite der Medaille: Der frühere Arbeitsminister Rajkiewicz schätzt die einkommensschwächste Bevölkerungsschicht in Polen auf 7 bis 8 Millionen Menschen. Das sind mehr als 20% der Gesamtbevölkerung. Bei über 13 % der Bevölkerung, etwa 5 Millionen Bürgern, liegt das Einkommen sogar unter dem sozialen Minimum.

In konkreten Zahlen sehen die Einkommens-verhältnisse so aus: Das Durchschnittseinkommen in den Arbeiter-und Angesteilten-Haushalten belief sich nach Angaben des Statistischen Hauptamtes vom Oktober vorigen Jahres auf 6. 800 Zloty pro Kopf bei einem auf die gesamte Volkswirtschaft berechneten Durchschnittseinkommen von 12. 892 Zloty.

Die höchsten Durchschnittslöhne werden mit 14. 752 Zloty in der Industrie gezahlt. Im Bereich Volksbildung sind es 10. 190 Zloty durchschnittlich pro Monat und im Gesundheitsdienst 9. 993 Zloty. Aber: Im ersten Halbjahr 1983 hat sich im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres die Zahl der Familien mit niedrigem Einkommen erhöht. 5, 4 Millionen Bürger verdienten monatlich weniger als 6 000 Zloty, das derzeitige Einkommensminimum. Hinzu kommen noch 2, 5 Millionen Rentner. Die niedrigste Rente liegt monatlich bei 5. 000 Zloty (Stand November 1983), die Durchschnittsrente beträgt 7. 062 Zloty. Dies sind Einkommen, die angesichts der anhaltenden Preiserhöhungen (offizieller und heimlicher) allzuoft nicht mehr ausreichen, den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Auch deshalb sind Preiserhöhungen in Polen stets Anlaß für heftige Unmutsreaktionen der Bevölkerung bis hin zu Auseinandersetzungen auf der Straße gewesen. Und die Preiserhöhungen sind allemal erheblich. Zuletzt stiegen am 1. Oktober vorigen Jahres die Mieten in allen nicht von Genossenschaften gebauten Wohnungen um glatte 100 %. Betroffen waren davon etwa 10 Millionen Bürger. Da fällt bei der Bevölkerung schon nicht mehr ins Gewicht, daß der Staat mit sozialen Hilfen die größten Härten zu lindern sucht. Immerhin waren im Jahre 1982 insgesamt 10, 2 % der Arbeiterfamilien und 18, 6% der Rentner und Pensionäre Empfänger staatlicher Sozialhilfe. Auch 14 % der jungverheirateten Ehepaare steckten in solchen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, daß sie Sozialhilfe in Anspruch nehmen mußten.

Es ist unbestreitbar, daß beispielsweise bei Lebensmitteln und Dienstleistungen Preiserhöhungen längst überfällig sind. Seit Februar 1982 hat der Staat die Lebensmittelpreise mit 189 Milliarden Zloty subventioniert. Jetzt geht man radikal an einen Abbau dieser Subventionen, die zu einer erheblichen Belastung des Staatshaushaltes geworden sind. Während in den letzten Jahren die Subventionen bei Lebensmitteln noch etwa 150% betrugen, sind sie nach der Preiserhöhung vom Februar 1982 deutlich auf 30 % gesunken und sollen in Zukunft nur noch 20 % betragen.

Bereits im September letzten Jahres kündigte Preisminister Krasinski unumgängliche Preis-erhöhungen bei Lebensmitteln für 1984 an und wies darauf hin, daß seit der letzten Anhebung der Preise für Brot und Getreideprodukte zweieinhalb Jahre vergangen sind. In dieser Zeit, so der Minister, seien aber die Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte von der Regierung erhöht worden, nicht zuletzt, um die Bauern dazu zu bewegen, den staatlichen Aufkaufstellen für landwirtschaftliche Erzeugnisse mehr anzubieten. Eine zwangsweise Ablieferungspflicht besteht nämlich bei den polnischen Bauern nicht.

Die Ankündigung neuer Preiserhöhungen, die Wiedereinführung der Rationierung bei Fetten und die weitere Kürzung der monatlichen Benzinrationen trieben das Stimmungsbarometer in Polen Ende vorigen Jahres wieder dem Siedepunkt zu. Die Regierung war deshalb gut beraten, anders als in früheren Jahren, behutsamer vorzugehen. In sogenannten gesellschaftlichen Konsultationen wurden die von den Experten der Regierung ausgearbeiteten Varianten der Preiserhöhung zur Diskussion gestellt.

Wie die Bevölkerung allerdings diese „gesellschaftlichen Konsultationen" einschätzte, zeigte sich bei einer Aktion der Tageszeitungen, die mittels eines in den Blättern abgedruckten Fragebogens von ihren Lesern erfahren wollten, welcher der Varianten sie den Vorzug geben. Nur 40 000 zurückgesandte Fragebögen zeigten deutlich das mäßige Interesse an der Konsultation. Ihre Auswertung durch die Preisforschungsstelle ergab, daß die meisten Einsender sich dafür aussprachen, lieber schrittweise kleinere Preiserhöhungen vorzunehmen als einmalig eine große. Ohne allerdings Zahlen zu nennen, berichtete die Warschauer Zeitung „Zycie Warszawy", eine Umfrage habe ergeben, daß die Notwendigkeit der anstehenden Preiserhöhung für Lebensmittel nur von einer kleinen Gruppe der Befragten akzeptiert worden sei. Sie sei zahlenmäßig noch geringer als bei einer ähnlichen Umfrage vor den Preiserhöhungen im Jahre 1981.

Das unüberhörbare Grollen in der Bevölkerung veranlaßte die Regierung, die zum Jahresbeginn 1984 geplante Preiserhöhung schrittweise und in geringerem Umfang als geplant zu realisieren. Damit bleibt aber zugleich die Rationierung bei Fetten, Fleisch, Zucker, Mehl und Reis erhalten. Molkereiprodukte und Wodka (650 Zloty für einen halben Liter) sind demgegenüber weiterhin frei erhältlich. Neben Lebensmitteln besteht die Rationierung bei verschiedenen Industriewaren fort. So können Waschmaschinen, Kühlschränke, aber auch Baby-Kleidung nur mit einem Bezugsschein gekauft werden.

Was an Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel in diesem Jahr vorgesehen ist, reizt allerdings erneut den Volkszorn. Ohnehin hat man in den letzten drei Jahren Preissteigerungen in Größenordnungen zwischen 600 und 700 % hinnehmen müssen. Der Preis für 250 Gramm Butter stieg von 17, 50 auf 77 Zloty, für einen Liter Milch von 2, 90 auf 12 Zloty. Vor fünf Jahren kostete der Doppelzentner Kartoffeln noch 150 Zloty, heute 1. 200 bis 1. 400 Zloty. Für eine 60 qm große Drei-Zimmer-Eigentumswohnung werden heute bereits 3 Millionen Zloty auf dem freien Wohnungsmarkt verlangt — eine für die meisten Polen unerschwingliche Summe. Daß die Preise für Lebensmittel jetzt im Durchschnitt „nur" um etwa 50 % steigen sollen — Fleisch um ca. 30 % und Fette um etwa 25 % —, kann die Gemüter keineswegs beruhigen.

II. Landwirtschaftliche Produktion und Leben auf dem Lande

Polens Bauern konnten im vergangenen Jahr eine ausgezeichnete Ernte einbringen, manch einer spricht von einer Rekordernte für das Land. Seit 180 Jahren hat man auf polnischem Boden nicht so viel Zucker produziert wie bei der letzten Kampagne, die bis zum 6. Januar 1, 9 Millionen Tonnen Zucker erbracht hat. Auch die Getreideernte kann sich sehen lassen. In den niederschlesischen Wojewodschaften konnten 34 Doppelzentner pro Hektar geerntet werden. Das sind 3 Doppelzentner mehr als 1982. In der Wojewodschaft Legnica (Liegnitz) wurde nach Angaben der dortigen Agrarexperten die zweitbeste Getreideernte seit Kriegsende eingebracht.

In dieser Wojewodschaft gehören 51, 2% der Anbaufläche den Einzelbauern, 42, 8 % den Staatsbürgern und 6 % Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die Privatbauern lieferten 60 % des geplanten Aufkaufs bei Getreide und damit 30 % mehr als vorgesehen. Die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe konnten ihr Ablieferungssoll nicht erfüllen.

Grund für die erhöhte Getreideablieferung der Privatbauern waren die günstigeren Auf-kaufpreise des Staates. Dennoch wird Polen nach Angaben des stellvertretenden Ministerpräsidenten Madej gezwungen sein, 4 Millionen Tonnen Getreide und Futtermittel zu importieren.

Angesichts dieser hervorragenden Ernteergebnisse stellen sich die Bürger in Polen zu Recht die Frage, wo dieser Segen bleibt. Eine plausible Antwort ist nirgends zu erhalten. Wahrscheinlich geht ein erheblicher Teil der polnischen Agrarprodukte in den Export, um Märkte zu halten und dringend benötigte Devisen für das Land zu beschaffen. Und dies wird wohl auch auf absehbare Zeit so bleiben müssen. Längst überfällige Reformen im Agrarbereich, eine rationellere Bewirtschaftung und eine bessere Ausstattung der Betriebe mit Maschinen, Pestiziden und Düngemitteln sind jedoch dringend erforderlich, um die Leistungsfähigkeit der polnischen Landwirtschaft zu steigern und damit nicht zuletzt auch zu einer besseren Lebensmittelversorgung des Landes beizutragen. Voraussetzung dafür ist aber auch eine dringend notwendige Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Lande.

Die Warschauer Wochenzeitung „Przeglad Tygodniowy" malte vor einiger Zeit ein ziemlich düsteres Bild vom Leben im polnischen Dorf. Dort haben 90 % der Wohnhäuser kein fließendes Wasser. Man versorgt sich aus dem Brunnen. Die Hälfte dieser Häuser droht einzustürzen, da sie baufällig sind. 40 % der Landbevölkerung Polens lebt unter dem sozialen Minimum. Auf einen Dorfarzt entfallen mehrere tausend Patienten. Da es auf dem Lande kaum Telefone gibt, ist es bei einer schweren Erkrankung nahezu unmöglich, rechtzeitig Hilfe zu holen. 15 bis 18 Stunden arbeiten die Frauen heute in der Landwirtschaft. Ihre Arbeitszeit verlängert sich ständig. Noch in den dreißiger Jahren arbeiteten sie nur 13 Stunden.

Die allgemeinen Lebensbedingungen in den polnischen Dörfern liegen unter dem Niveau eines mittelmäßig entwickelten europäischen Landes. Nach Angaben der Wochenzeitung gibt es nicht einen einzigen Bereich, in dem die Bedürfnisse der Landbevölkerung auch nur zufriedenstellend geregelt wären.

Nur 12 % der Bürger auf dem Lande leben auf hohem Niveau, was immer man darunter verstehen mag. Katastrophal ist die Situation der vier Millionen Jugendlichen auf dem Dorfe. Tausende von Dorfkindern erreichen jährlich keinen Abschluß der Grundschule, was auf eine zivilisatorische Rückständigkeit der Eltern, Lehrermangel oder Überbelastung in der Landwirtschaft zurückzuführen ist. Nur 3 % der Dorfkinder absolvieren die Hochschule.

Mangelhafte Zukunftsaussichten, kein Kulturleben und die verbreitete Meinung, die Industrie habe Vorrang vor der Landwirtschaft, verursachen eine Abwanderung der begabten Dorfjugend in die Städte.

Die relativ niedrige Produktivität der polnischen Landwirtschaft ist nach Meinung des Blattes auf die Vernachlässigung des Agrarwesens durch eine falsche Entwicklungsstrategie und schlichte Unfähigkeit der politischen „Zentrale" zurückzuführen und kann nicht binnen kurzer Zeit beseitigt werden. So ist die Produktivität der polnischen Landwirtschaft zehnmal niedriger als in den USA und fünfmal niedriger als in den entwickelten europäischen Ländern. Der Düngemittelverbrauch liegt in Griechenland und Jugoslawien viermal höher als in Polen. Bei allen Vergleichen im landwirtschaftlichen Bereich bleibt Polen hinter den sozialistischen und westlichen Ländern zurück. Unter Hinweis auf den Kampf gegen die „Kulaken" Anfang der fünfziger Jahre macht das Blatt die „ideologische Verbissenheit der politischen Führung" für die problematische Situation auf dem Lande verantwortlich. Die seit über 30 Jahren in Polen betriebene absurde Agrarpolitik, so heißt es weiter, sei gekennzeichnet von einer dramatischen Unterinvestierung der Landwirtschaft, strukturellem Chaos, verzweifelt niedriger Produktivität und einer Abwertung des Berufsprestiges der Landwirte.

Kein Wunder, daß die polnische Regierung dem Landwirtschaftsprojekt der katholischen Kirche gegenüber aufgeschlossen ist. Um aber dieses Projekt in Gang setzen zu können, bedarf es zunächst der Verabschiedung eines Stiftungsgesetzes durch das Parlament. Episkopat und Regierung haben bereits Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich mit den Realisierungsmöglichkeiten dieses Projektes befassen, das mit einem Finanzvolumen von mehreren Milliarden DM ausgestattet werden soll. Aufgebracht werden soll dieser Betrag u. a. von den katholischen Kirchen im Westen.

III. Wirtschaftsreformen und Aufwärtstrend?

Daß ohne Reformen im Agrarbereich, die inzwischen begonnen werden, auch diese Milliarden-Spritze für die polnische Landwirtschaft verpufft, ist allen Einsichtigen in Warschau klar. Dies gilt selbstverständlich auch für die anderen Bereiche der Wirtschaft Polens, die dringend der Reform bedürfen, wenn Polen wirklich aus dieser tiefen Krise herauskommen will. Der Sejm, das polnische Parlament, hat schon längst die Gesetze zur Wirtschaftsreform verabschiedet, die die Regierung unter Assistenz zahlreicher Experten aus Theorie und Praxis erarbeitet hatte. Allerdings gehen die Meinungen unter den Fachleuten erheblich auseinander, wenn es um die Beurteilung der bisherigen Ergebnisse dieser Reform geht.

Minister Braka, der Bevollmächtigte der polnischen Regierung für die Wirtschaftsreform, beurteilt die Lage optimistisch und vertritt die Auffassung, daß die Reform bereits Ergebnisse zeige. Er verweist darauf, daß bis August 1983 die Industrieproduktion um 8, 5 %, der Export um 17 % und die Arbeitsproduktivität um 12% im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres gestiegen seien.

Das Statistische Hauptamt machte zum Jahresende etwas differenziertere Angaben. Danach sind in der Industrieproduktion Tendenzen einer ständigen Steigerung feststellbar. Während der Aufkauf von Lebendvieh zurückging, konnte bei Geflügel eine Zunahme festgestellt werden. Das Statistische Haupt-amt sprach zwar von einem Nachlassen der rückläufigen Tendenzen in der Viehzucht, doch ist klar, daß sich die Fleischversorgung in Polen auf absehbare Zeit nicht durchgreifend verbessern wird. Das Amt stellte ferner fest, daß weniger Wohnungen fertiggestellt wurden, bei Im-und Export steigende Ziffern zu verzeichnen sind und die Einkommen der Bevölkerung stärker stiegen als die Preise.

Eine große Zahl von Wirtschaftsexperten teilt den Optimismus von Minister Baka nicht. Sie sprechen schon heute von einem Scheitern der Wirtschaftsreform, da vor allem die Wirtschaftsbürokratie diese Reform blockiere und sie damit praktisch verhindere. Sie bezweifeln die Richtigkeit der von den Statistikern vor-39 gelegten Zahlen oder vertreten die Auffassung, daß nicht die Wirtschaftsreform Grund für ein allmähliches Ansteigen der Produktionsziffern sei, sondern eine allgemeine Erholung der Wirtschaft des Landes.

Es hat tatsächlich den Anschein, als ob die Talsohle nunmehr durchschritten sei und sich ein bescheidener Aufwärtstrend zeige. Die Kohleförderung, für die Wirtschaft Polens von ausschlaggebender Bedeutung, hat 1983 die Marke von rund 190 Millionen Tonnen erreicht und liegt damit um 6, 5 Millionen höher als 1982. Allerdings gibt es inzwischen auf den attraktiven Märkten im Westen Absatz-schwierigkeiten. Die polnischen Behörden machen es sich zu einfach, wenn sie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes und die nur schwach ausgeprägte Aufwärtsentwicklung den Sanktionen des Westens anlasten. Eine Arbeitsgruppe des Instituts für Volkswirtschaft in Warschau hat für den Zeitraum von zwei Jahren einen durch die Sanktionen verursachten finanziellen Schaden in Höhe von 10, 5 Milliarden US-Dollar errechnet.

Zweifellos hat die polnische Wirtschaft durch die Restriktionen westlicher Länder deutliche Einbußen erlitten. Kein Wunder, daß man in der Warschauer Führung laut über eine „Reorientierung" nachdenkt. Der stellvertretende Ministerpräsident Madej erklärte, was darunter zu verstehen ist: Eine gewisse Verschiebung der wirtschaftlichen Bindungen Polens von den entwickelten kapitalistischen Ländern weg zugunsten der RGW-und Entwicklungsländer. Er sprach von zwei Etappen, in denen diese „Reorientierung" vollzogen wird. Die erste Etappe lief in den Jahren 1982/83 und erfaßte Sofortmaßnahmen unter dem Einfluß aktueller Ereignisse. In der jetzt beginnenden zweiten Etappe, die auch das Planjahrfünft 1986 bis 1990 umfassen wird, beruhe die „Reorientierung" auf einer starken Kooperation der Industrie Polens mit der der übrigen sozialistischen Länder. Einige Industriezweige Polens werden ihren Export ausschließlich auf Abnehmer im RGW ausrichten, die — so der stellvertretende Ministerpräsident — für Po-B len günstige Konditionen anbieten. Im Zuge der „Reorientierung" soll die technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Entwicklung eigener Konstruktionen und Technologien im Rahmen des RGW vorangetrieben werden.

Polnische Wirtschaftsexperten zweifeln daran, ob eine solche „Reorientierung" auf die RGW-Länder angesichts des riesigen Technologie-Imports aus dem Westen, insbesondere in den siebziger Jahren auch aus der Bundesrepublik Deutschland, überhaupt möglich ist. Man verweist aber darauf, daß die Schwierigkeiten bei der Zulieferung von Halbfabrikaten aus dem Westen und nicht zuletzt auch das Ausbleiben von Ersatzteilen westlicher Lieferfirmen zu erheblichen Problemen geführt haben, die der Westen im Interesse einer Fortsetzung der bisherigen wirtschaftlichen Kooperation und auch im Hinblick auf die Begleichung der polnischen Schulden im Westen beseitigen helfen sollte.

Es bleiben Polen ohnehin genügend wirtschaftliche Sorgen, bei denen eine Hilfe von außen nicht möglich ist. Realistischerweise hat man radikale Streichungen bei den Investitionsvorhaben vorgenommen. Bereits in den Jahren 1980/81 hatte die Regierung entschieden, Investitionen mit einem Volumen von 1, 5 Billionen Zloty einzustellen, denn ihre Fertigstellung hätte noch weitere 1, 1 Billionen Zloty verschlungen. Zur Fortführung der nicht eingestellten Investitionen wurden 1982 insgesamt drei Billionen Zloty ausgegeben.

Arbeitszeit und Arbeitsproduktivität sind für die polnischen Wirtschaftsplaner weitere Belastungen bei den Bemühungen, aus der Krise herauszukommen. Beide liegen so niedrig wie in keinem anderen Land Europas. Während man bei uns noch über die 35-Stunden-Woche diskutiert, besteht sie in Polen bereits faktisch. Zwar beträgt die nominale Arbeitszeit 42 Stunden pro Woche, tatsächlich wird aber nur 34 Stunden gearbeitet, was den stellvertretenden Ministerpräsidenten Rakowski zu der Feststellung veranlaßte, man verhalte sich in Polen so, als wäre man ein zweites Kuwait. Aus unterschiedlichen Gründen fehlen in polnischen Betrieben täglich etwa 1, 2 Millionen Menschen am Arbeitsplatz.

Polnische Arbeiter sind keineswegs faul oder dumm. Das Gegenteil stellen sie auf Baustellen in der Bundesrepublik Deutschland und als Schwarzarbeiter unter Beweis. Sie verfügen zudem in der Regel über eine sehr gute handwerkliche Ausbildung. Offensichtlich ist ihnen aber angesichts leerer Geschäfte und galoppierender Inflation in Polen die Motivation zu hartem Arbeiten abhanden gekommen. Ein weiteres Problem belastet die Wirtschaft Polens: die hohe Fluktuation der Arbeitskräfte. Ende Juni vorigen Jahres waren beispielsweise 316 500 freie Arbeitsplätze registriert. 90 % von ihnen gingen auf Arbeitsplatzwechsel zurück. Bei nur 10 % handelt es sich um neugeschaffene Arbeitsplätze. 1983 haben schätzungsweise etwa zwei Millionen Personen ihren Arbeitsplatz gewechselt. Auf 10 Arbeitssuchende entfielen im Juni 1983 insgesamt 475 offene Stellen. Es fehlt allenthalben an Arbeitskräften im Lande. Heute von Arbeitslosigkeit in Polen zu sprechen, entspricht nicht den Tatsachen. Zudem gibt es eine gesetzlich verankerte Arbeitspflicht. Die Wirksamkeit dieses Gesetzes steht allerdings auf einem anderen Blatt.

IV. Das gesellschaftliche und politische Kräftespiel

1. Die neuen Gewerkschaften Die neuen Gewerkschaften können aufgrund ihrer eigenen Probleme nur wenig tun, um Arbeitsmoral und Produktivität zu verbessern. Zwar sollen nach offiziellen Angaben mittlerweile etwa 3, 7 Millionen Arbeiter den Gewerkschaften beigetreten sein, doch der stillschweigende Boykott, das Abwarten, was wird, ist bei den Arbeitern nach wie vor vorherrschend. Sie sind noch immer mißtrauisch gegenüber ihrer von oben verordneten Interessenvertretung. Es wird noch eine Weile dauern, bis der größte Teil der Arbeiter dieses Mißtrauen aufgibt. Aber in dem Maße, wie die neuen Gewerkschaften unter Beweis stellen, daß sie nicht Werkzeug der Regierung und der Partei, sondern Interessenvertretungen der Arbeiterschaft sein wollen, wird die Zahl der beitrittswilligen Werktätigen wachsen. Die jüngste Gewerkschaftskritik an den geplanten Preiserhöhungen, ihre Forderungen nach höheren Löhnen, gehen bereits in die Richtung einer Vertrauenswerbung bei den Arbeitern. Der Erfolg bleibt abzuwarten. Da verwundert es, daß die Regierung jetzt den neuen Gewerkschaften Knüppel zwischen die Beine wirft, wenn diese ihren Pflichten bei der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen nachkommen: Gewerkschaftsminister Ciosek riet den Gewerkschaftsfunktionären jüngst in Jelenia Gora (Hirschberg), anstatt „phantastische Lohnforderungen" zu stellen, sollten sie sich lieber um eine höhere Arbeitseffektivität in den Betrieben kümmern.

Während bei den Bergleuten der Organisationsgrad relativ hoch liegt, gibt es Betriebe und Wojewodschaften, vor allem in den neuralgischen Regionen Polens, die nur bescheidene Ziffern aufweisen können. So gehören in der Warschauer Automobilfabrik FSO von den 16 000 Beschäftigten nur 1600 Belegschaftsmitglieder der neuen Gewerkschaft an. Auch die 1900 Rentner des Unternehmens, die sich ebenfalls zu einem Beitritt entschlossen haben, können dieses Bild nicht verbessern. Nur etwa 20 % der Arbeiterschaft in den Warschauer Ursus-Traktorenwerken sind Gewerkschaftsmitglieder geworden, und auf der Danziger Lenin-Werft sind es gar nur 14 %. In der ganzen Wojewodschaft Danzig bringen es die neuen Gewerkschaften auf nicht mehr als 19 %. Einen ähnlich schwachen Organisationsgrad verzeichnet man auch in den Betrieben von Wroclaw (Breslau) und Niederschlesien.

Die polnische Führung hat ihr Konzept der Neugründung von Gewerkschaften nach dem Verbot im Zusammenhang mit der Verhängung des Kriegsrechts konsequent durchgezogen. Genauso konsequent ging sie bei der Zerschlagung der bis 1981 existierenden Gewerkschaften vor, wobei man auch nicht die einst der Führung genehmen Branchengewerkschaften schonte. Während aber diese dem Vergessen bereits anheimgefallen sind, bleibt die Erinnerung an die „Unabhängige, selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität" in der Bevölkerung Polens lebendig. 2. Die Solidarität und der Untergrund Es ist verständlich, daß sich sehr viele Polen mit dem Verbot der „Solidarität" nicht abfinden. Zu viele Hoffnungen waren mit dieser Massenbewegung verknüpft, die weniger eine Gewerkschaft, als vielmehr allgemeiner Ausdruck des Verlangens nach grundlegenden Veränderungen in Polen war. Heute, zu Beginn des Jahres 1984, zwei Jahre nach der Verhängung des Kriegsrechts, bleibt als bittere Realität festzuhalten: die Gewerkschaft „Solidarität" existiert nicht mehr, sie wird im kommunistischen Polen auch nicht wieder auferstehen. Ihre nur kurze Existenz ist bereits Geschichte, ihr Vorsitzender Lech Wale-sa schon zu Lebzeiten eine historische Figur.

Allerdings: der Wille zum Widerstand, die Bereitschaft zum Aufbegehren sind nicht erloschen. Das machen die Aktionen des Untergrunds deutlich, die aber kaum koordiniert und bar jeder langfristigen Konzeption sind. Bis zum Jahresende hatten sich nach offiziellen Angaben etwa 500 bisher im Untergrund tätige Personen den Behörden gestellt, um die Amnestie in Anspruch zu nehmen. Ein nicht gerade beeindruckendes Ergebnis. Denn wenn man diese Zahl umrechnet auf die 49 Wojewodschaften, so entfallen auf jede Wojewodschaft nur etwa zehn Personen, die ihre Untergrundaktivitäten aufgegeben haben.

Hauptmotiv für die Tätigkeit des Untergrunds, der keineswegs nur untergetauchte „Solidaritäts" -Mitglieder umfaßt, ist der Wille, den Monopolanspruch der Partei zu brechen. Man will beweisen, daß es in Polen nach wie vor eine unabhängige Presse gibt, daß Schriftsteller in unabhängigen Verlagen publizieren können, daß weiterhin eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung existiert. So werden denn nach wie vor Informationsblätter verschiedener Art und Richtung publiziert, meldet sich „Radio Solidarnoöc" über den Äther, werden Bücher gedruckt und vertrieben, gibt es Geheimtreffen der untergetauchten „Solidaritäts" -Funktionäre mit ihrem Vorsitzenden Waea. Ein Vertreter der Untergrund-„Solidarität" sagte in einem Interview mit dem „Tygodnik Mazowsze", dem illegalen Informationsdienst der Gewerkschaft: „Es ist unser größter Sieg, daß heute, nach 35 Jahren Kommunismus, ein Untergrund besteht, der seine eigene Presse in tausenden von Exemplaren Auflage her-ausgibt, der mit der polnischen Unabhängigkeits-Emigration Kontakt hält. Und die Polizei, die über unbeschränkte Mittel verfügt und hunderte von Menschen losschickt, ist nicht imstande, Bujak festzunehmen." 3. Die Kirche Die katholische Kirche Polens war schon im Herbst 1982 zum Untergrund auf Distanz gegangen, als Primas Glemp bei der feierlichen Eröffnung des akademischen Jahres an der Katholischen Universität Lublin auf die Sinnlosigkeit einer Fortsetzung des Untergrundkampfes hinwies. Für die Kirche war das Thema „Solidarität" spätestens mit dem offiziellen Verbot der Gewerkschaft durch die Behörden erledigt. Nüchterner und weniger emotional bemüht sich die Kirchenführung im Interesse der Nation, das sachliche Gespräch mit Partei und Regierung zur Überwindung der Krise nicht abreißen zu lassen. Und wenn, wie unlängst geschehen, Primas und General fünf Stunden an einem Tisch sitzen, dann spricht nicht der Kommunist mit dem Repräsentanten der Kirche, sondern ein Pole mit einem Polen, um die Probleme des gemeinsamen Vaterlandes einer Lösung näher-zubringen.

Die katholische Kirche Polens hat im Vergleich zu anderen kommunistischen Staaten zweifellos eine unangefochten starke Stellung gegenüber Partei-und Staatsbehörden. Aus dieser Position heraus agiert sie zurückhaltend, umsichtig und klug. Realistisch genug, erkennt der Episkopat die durch Ideologie und Bündnis gesetzten Grenzen und vermeidet unnötige Kontroversen mit der Staatsmacht.

Gleichwohl zögert die Kirche nicht, Bedrängten Schutz zu gewähren, Hilfe zu leisten, wo sie erbeten wird. So hat sie jenen Künstlern die Gotteshäuser geöffnet, deren Werke nicht zuletzt aufgrund ihrer politischen Aussage in staatlichen oder in einer der zahlreichen privaten Galerien nicht gezeigt werden dürfen. Die Kirche übernahm die Rolle eines Mäzens, und die Bischöfe riefen in zahlreichen Wojewodschafts-Städten „Katholische Kulturzentren" ins Leben. Die Kirche stellt nicht nur die Ausstellungsräume zur Verfügung, sondern sie kauft auch Werke der Künstler an und vermittelt sie an private Sammler. Den Schriftstellern gewährt sie ebenfalls gezielte materielle Hilfe.

Dies war der Hintergrund für eine Attacke des Kirchenministers Lopatka im Oktober vorigen Jahres, der in einem Zeitungsartikel schrieb, es bestehe die reale Gefahr, daß kirchliche Kultur und insbesondere die der katholischen Kirche über ihren Rahmen innerhalb der nationalen Kultur hinaus wolle. Es sei eine Tendenz sichtbar geworden, die ganze nationale Kultur Polens der kirchlichen Kultur unterzuordnen und aus der nationalen Kultur fortschrittliche und revolutionäre Elemente zu eliminieren. Regierungssprecher Urban sprach von Bestrebungen der Kirche, die polnische nationale Kultur von der sozialistischen Kultur anderer Staaten, insbesondere der in den Nachbarstaaten, zu trennen.

Partei und Regierung hatten damit weithin erkennbar klargemacht, daß sie die gegen die ideologischen Grundlagen des kommunistischen Staates gerichteten kulturellen Aktivitäten der Kirche bemerkt hatten und nicht akzeptierten. Dabei blieb es dann auch. Bis jetzt ist nicht bekanntgeworden, daß die Kirche eines ihrer Kulturzentren in den Wojewodschaften hat schließen müssen. 4. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP), deren politische Führungsrolle in der Verfassung der Volksrepublik Polen festgeschrieben ist, kann in ihrem gegenwärtigen Zustand dieser Verpflichtung nur noch mühsam nachkommen. Zu sehr hat die massenhafte Absetzbewegung ihrer Mitglieder seit 1980 die Partei geschwächt Man spricht davon, daß die PVAP um etwa eine Million Mitglieder auf ca. 2, 5 Millionen geschrumpft ist. Wahrscheinlich liegt aber die tatsächliche Zahl noch wesentlich niedriger.

Als Beispiel für den desolaten Zustand der PVAP mag die Wojewodschaft Legnica (LiegB nitz) in Niederschlesien gelten. Hier haben seit 1980 zwei Drittel der Mitglieder die kommunistische Partei verlassen. Von den heute 26 000 eingeschriebenen Parteimitgliedern gehören 6 000 zum Militär, zur Miliz und zu den Staatssicherheitsorganen, weitere 6 000 sind Rentner und 2 000 Mitglieder stellen die Parteiorgane. 14 000 Mitgliedern dieser Herkunft stehen 12 000 aus den Kreisen der Arbeiterschaft, Bauern und Intelligenz gegenüber. Für eine Arbeiterpartei eine mißliche Situation.

Aus Kreisen der PVAP ist zu hören, daß die Partei eigentlich nur noch aus ihrer Bürokratie bestehe und in vielen Bereichen praktisch nicht mehr existent sei. In den meisten Industriebetrieben könne von aktiver Parteiarbeit keine Rede mehr sein. Die Parteibürokratie zeige sich selbstherrlich, da sie einer wirkungsvollen Kontrolle nicht mehr unterliege. Die Macht der Partei beruhe heute auf der Stützung durch das Militär, das ihr diese Macht mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 gesichert habe.

Angesichts dieses problematischen Zustands fällt es der PVAP schwer, sich mit den ideologischen Gegnern und ihrer eigenen inneren Opposition auseinanderzusetzen. Die Opposition im Innern ist heute gefährlicher als jene Kräfte, die offen oder im Untergrund gegen das Regime agieren. Sie hemmt den Prozeß der Erneuerung in Polen, begrenzt die positiven Auswirkungen von Reformen, sabotiert de facto Beschlüsse und Verordnungen der Führung und mißbraucht die Absichten der zentralen Machtorgane. Diese innere Opposition ist ein Teil des zentralen Apparats auf der Ebene der Wojewodschaften und Gemeinden. Sie versteht die Normalisierung in Polen nur als Wiedergeburt eines unfähigen Systems der Machtausübung aus den „guten alten Zeiten“ vor dem August 1980: Diese Feststellungen trifft das Mitglied des Landes-rates der sog. „Patriotischen Bewegung für die nationale Wiedergeburt" (PRON), Prof. Mikolaj Kozakiewicz, in einem Aufsatz des Regierungsorgans „Rzeczpospolita". Und er beklagt auch, daß diese „innere Opposition" PRON und ihr Programm der Verständigung nur als eine neue Möglichkeit für die Wiederherstellung des ancien regime ansehe. Die Hauptgefahr für die Erneuerung in Polen, für den Kurs der Verständigung, gehe von diesen Kreisen aus.

Jaruzelski hat in seiner Eigenschaft als Erster Sekretär der PVAP keinen leichten Stand, sich gegen diese innerparteilichen Oppositionsgruppen durchzusetzen. Andererseits wittern jene parteilichen Gruppierungen, die unter der politischen Führung der PVAP agieren, Morgenluft. Partei, polnisch „partia", durfte sich bisher ausschließlich die Kommunistische Partei PVAP nennen. Die anderen Parteien mußten die Bezeichnung „stronnictwo" benutzen. Nun aber hat das Plenum der Bauernpartei (ZSL) eine Statutenänderung beschlossen, derzufolge sie sich künftig ebenfalls „Partia" nennen wird. Es ist zu vermuten, daß eine solch grundsätzliche Entscheidung nicht ohne Wissen und Billigung der PVAP-Führung erfolgte. 5. Andere Gruppen in der Regierungskonstellation Der Parteiführung wird nicht entgangen sein, daß die Bauernpartei in jüngster Zeit nicht nur an Einfluß, sondern auch an Mitgliedern gewonnen hat und bei der vor allem in ländlichen Regionen lebenden Bevölkerung Polens mehr und mehr als Alternative zur PVAP angesehen wird. Als national gesonnene und nicht-marxistische Partei ist sie für Gläubige wählbar, die nach wie vor entscheidende Wählergruppe auf dem Lande. Bei den in diesem Jahr anstehenden Kommunalwahlen in den Wojewodschaften dürften für die Kandidaten der PVAP die Chancen auf dem Dorf schlecht sein, denn bei diesen ersten Wahlen nach den August-Ereignissen von 1980 und der Zeit des Kriegsrechts werden viele Wähler Lust verspüren, der PVAP einen anständigen Denkzettel zu verpassen und Widerstand und Ablehnung beispielsweise durch Nichterscheinen an den Wahlurnen deutlich zu machen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß sich 'die PVAP der Bauernpartei bedient, um ihre derzeitige Schwäche zu überdecken und mit ihr über die Runden zu kommen. Auch aus einem weiteren Grunde wird dieses Näher-rücken beider Parteien für die PVAP wichtig:

Sollte das Landwirtschaftsprojekt der Kirche wirklich zustande kommen, wird der Einfluß des Klerus auf dem Lande noch stärker zunehmen. Bei der PVAP befürchtet man sogar, daß mit diesem Projekt die Basis für eine christliche Partei in Polen geschaffen werden könnte.

In Warschau schließt man deshalb nicht aus, daß eine solche Verbindung zwischen PVAP und Bauernpartei zustande kommt. Gerüchte wollen sogar schon von Überlegungen wissen, den Vorsitzenden der Bauernpartei, Malinowski, zum Nachfolger Jaruzelskis im Amt des Ministerpräsidenten zu machen, wenn der PVAP-Chef im Rahmen der geplanten Verfassungsreform das Amt eines Präsidenten der Volksrepublik Polen übernimmt.

Es mag das gewachsene Selbstbewußtsein der Bauernpartei und möglicherweise auch ein vorbereitender Schritt gewesen sein, die den Parteivorsitzenden Malinowski, derzeit stellvertretender Ministerpräsident, veranlaßten, den Charakter der gegenwärtigen Regierung als einer Koalitionsregierung unter Einschluß der Bauernpartei herauszustellen. Die Stärkung des, wie er sich ausdrückte, „Koalitionssystems der Machtausübung" in Polen gehöre zu den wesentlichen qualitativen Änderungen, die sich gegenwärtig in Polen vollzögen. Sie gehörten zum Reformprogramm, das darauf hinauslaufe, universelle Prinzipien des Sozialismus mit der Tradition Polens zu verbinden. Malinowski verwies in diesem Zusammenhang auf die 100jährige Geschichte der Arbeiterbewegung in Polen und die 90jährige Tradition der Bauernbewegung dieses Landes.

Der Parteivorsitzende versäumte nicht, die politische Bedeutung der Bauernpartei anhand der von ihr gehaltenen Positionen im politischen Leben Polens darzustellen. So stellt die Bauernpartei in der Regierung neben dem stellvertretenden Ministerpräsidenten den Gesundheitsminister und den Minister für Forsten und Holzindustrie sowie acht stellvertretende Minister. Im Sejm ist sie mit 114 Abgeordneten vertreten und besetzt das Amt eines Sejm-Vizemarschalls. Schließlich gehören in der Provinz neun Wojewoden und 34 Vizewojewoden, die Chefs der Regional-verwaltungen, zur Bauernpartei.

Malinowski unterstrich, daß es mit der PVAP keine politischen Differenzen gebe, gestand aber ein:, daß man im Bereich der Landwirtschaft doch unterschiedliche politische Auffassungen habe. Der Parteichef betonte die Partnerschaft seiner Partei mit der kommunistischen Partei und erweckte den Eindruck, als ob man mit der PVAP gleichen Ranges sei. Nachsichtig sprach er davon, daß der Wiederaufbau der Partnerschaft mit der PVAP ein Prozeß sei, der zwar an der Basis nicht immer gelänge, auf der höchsten Ebene aber reibungslos funktioniere. Man arbeite gemeinsam mit der PVAP daran, diesem „Modell der Partnerschaft" auch auf niedrigster Ebene feste Grundlagen zu geben.

Die Demokratische Partei (SD), ebenfalls in der Warschauer Regierungskoalition vertreten, kann so selbstbewußt nicht mehr auftreten. Ihre Bemühungen um Kräfte, die zur Gewerkschaft „Solidarität" gehörten oder in der Reformbewegung von 1980/81 weit vorn marschierten, hat ihr die PVAP übelgenommen und sie dies durch eine weitere Begrenzung ihres politischen Spielraums auch spüren lassen. Der politische Einfluß der Demokratischen Partei, wenn er jemals bestanden haben sollte, ist heute gleich Null.

In den Jahren 1980 und 1981 mag die Demokratische Partei gehofft haben, unter Ausnutzung der Reformbewegungen ihre auch damals schon geringe Bedeutung zu erweitern. Sie wurde inbesondere an den Hochschulen aktiv, wo es ihren Parteimitgliedern gelang, in größerem Maße leitende Positionen zu besetzen. In dieser Zeit wurde das Verlangen nach Selbständigkeit der Hochschulen und Unabhängigkeit von Lehre und Forschung besonders nachdrücklich vorgetragen. Die Führung in Warschau war gezwungen, Konzessionen zu machen und konnte dennoch der Unruhe an den Hochschulen nicht Herr werden. Dies alles wirkte sich nach dem Umschwung am 13. Dezember 1981 negativ für die Demokratische Partei aus. Inzwischen ist ein großer Teil ihrer Leute aus den Leitungen der Hochschulen verschwunden, andere haben sich schnell den veränderten Verhältnissen im Lande angepaßt.

Zu den Widersprüchlichkeiten in Polen gehört, daß in der Regierungskoalition auch Katholiken vertreten sind, die die sogenannte PAX-Organisation repräsentieren. . Man würde es sich zu einfach machen, diese Gruppierung schlicht als Regime-Katholiken zu bezeichnen. Sie sind zweifellos die ungeliebte Konzession an die gesellschaftlichen Verhältnisse eines kommunistischen Staates besonderer Art, der den Machtfaktor Kirche nicht negieren kann. Sie vertreten keineswegs die Kirche und nicht unbedingt kirchliche Positionen in der Regierung. Immerhin sah aber die PAX-Organisation unter Führung ihres damaligen Vorsitzenden und Staatsratsmitgliedes Ryszard Reiff in der Reformbewegung der „Solidarität" eine große Chance für eine Erneuerung in Polen. Ihre keineswegs regimekonformen Aktivitäten in dieser Zeit und das kategorische „Nein" ihres Vorsitzenden Ryszard Reiff zur Verhängung des Kriegs-rechts, als einziges Mitglied des Staatsrates übrigens, verlangen eine differenziertere Betrachtungsweise dieser katholisch-politischen Organisation. Allerdings kam dann auch bei PAX nach dem 13. Dezember das große Aufräumen, das nicht zuletzt auch ihrem Vorsitzenden das Amt kostete.

V. Fazit

Zweifellos ist seit der Aufhebung des Kriegs-rechts in Polen einiges in Bewegung gekommen, keineswegs nur mit negativer Tendenz. Vieles wird im Westen nicht wahrgenommen, weil es nicht ins Schema paßt, das man für das kommunistische Polen als gültig ansieht. So erwecken dann Informationen Überraschung, die, wie die geplante Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Vatikan, Folgen einer inneren Entwicklung sind.

Ohnehin ist in Polen alles anders als bei seinen kommunistischen Nachbarn, was keineswegs zur Beliebtheit der Polen im Bündnis beiträgt. Für Außenstehende wie auch für Polen bleibt manche Erscheinung oder Entwicklung unverständlich, so wenn trotz heftigster Kontroversen mit den USA „Kommissar Columbo" im staatlichen Fernsehen gezeigt wird und das Repertoire der Kinos zu einem großen Teil aus amerikanischen Filmen besteht. Der Besucher aus dem Westen kann auch nicht begreifen, daß angesichts der Benzinra-tionierung die Zahl der Autos aus polnischer und westdeutscher Produktion ständig steigt und Verkehrsstauungen auch in Warschau in den Hauptverkehrszeiten zum üblichen Bild gehören.

Polen wird noch auf längere Frist mit seinen Widersprüchlichkeiten, mit den tiefgreifenden Problemen in Wirtschaft und Gesellschaft zu kämpfen haben. Die Hoffnung, daß Reformen im Lande in absehbarer Zeit für positive Änderungen sorgen könnten, hat in Polen heute kaum jemand. Es liegt sicherlich sowohl am System als auch an den Polen selbst, wenn die Fortschritte auf dem Weg aus der Krise bisher so bescheiden geblieben sind. Eine halbwegs zutreffende Prognose darüber, wie es in Polen weitergehen wird, läßt sich nur in einem Punkt abgeben: unserem unruhigen Nachbarn wird sicherlich bald wieder der Geduldsfaden reißen. Die Intervalle zwischen den Unruhen in Polen werden immer kürzer.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus Reiff, geb. 1941 in Thorn/Weichsel; nach Tätigkeit als politischer Redakteur bei der Hessischen Allgemeinen in Kassel und beim Deutschlandfunk in Köln 1972— 1979 Leitung des Europareferats der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn; 1980— 1983 Botschaftsrat für Presse-und Öffentlichkeitsarbeit an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau.