Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung in der Volksrepublik Polen
Peter von der Lippe
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Zusammenfassung
Das Regime Jaruzelski hatte wirtschaftlich ein schweres Erbe anzutreten. Giereks Politik der Stimulierung des Außenhandels und Konsums und der Modernisierung der Wirtschaft durch kreditfinanzierten Technologieimport aus dem Westen war gescheitert. Das Ergebnis war: Verschuldung, Inflation, Abhängigkeit von Westimporten, Fehlinvestitionen, verschobene und überfällige Reformen des Preissystems und eine mit Partei und Staat zutiefst unzufriedene Bevölkerung. Die unruhige Zeit 1980/81 hat das System weiter destabilisiert. Die Militärs hatten eine gewaltige Sanierungsaufgabe zu leisten. Der Rückgang von Produktion und Produktivität konnte gestoppt werden. Die Leistungsdaten der Wirtschaft haben sich etwas verbessert. Sie sind aber immer noch sehr unbefriedigend. Lenkungskontrolle und Autorität der Führung wurden zwar wiederhergestellt, aber die Bevölkerung hat kein Vertrauen. Langfristig kann deshalb auch keine Wirtschaftspolitik erfolgreich sein. Das Land hat eine Entwicklungschance verpaßt und ist ökonomisch weit zurückgefallen. Auch für die Zukunft ist kaum Besserung zu erwarten, nicht nur aus politischen Gründen (Stimmung in der Bevölkerung), sondern auch wegen gewisser Konstanten in der Wirtschaftsordnung. Die Ordnung ist, trotz laufender Reformexperimente, ineffizient. In dem damit gesteckten Rahmen kann auch die neueste Reform, die im Beitrag beschrieben wird, kaum jemals funktionsfähig werden. Abgesehen davon, wird aus der Not des gegenwärtigen Ungleichgewichts heraus den Reformgedanken durch laufende Eingriffe genau entgegengehandelt. Man scheint sich einem System der permanenten Reform zu nähern. Das macht es praktisch unmöglich, Erfolge und Mißerfolge Verursachern zuzurechnen. Eine effektive Sanierung ist also kaum zu erwarten.
Polen geriet 1980 bis 1982 in die Schlagzeilen der Weltpresse, weil das Land politisch und ökonomisch eine für ein sozialistisches Land ganz ungewöhnliche Entwicklung durchmachte. Die folgenden Fakten sind allgemein bekannt:
— wirtschaftlicher Niedergang (seit 1979 negative Wachstumsraten des Nationaleinkommens), der sich 1980/81 rasch beschleunigte; — Arbeiterunruhen im August 1980, Gründung der freien Gewerkschaft „Solidarnoäc" unter Führung von Lech Walesa, der auch im Westen zu einer Art Symbolfigur wurde;
— langanhaltender, dramatischer Machtkampf zwischen Solidarnoäö und der in einer bis dahin für unvorstellbar gehaltenen Weise in die Enge getriebenen Partei und Erklärung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. Nach diesen dramatischen Ereignissen wird man sich fragen, woher eine solche Entwicklung kommt, die in so krasser Form anderen Ostblockstaaten bisher erspart blieb.
I. Die Eröffnungsbilanz Jaruzelskis
Diese Bilanz besteht im wesentlichen aus zwei sehr verschiedenen, aber gleichermaßen gescheiterten Entwicklungsstrategien, zahlreichen Reformexperimenten und einer Partei, die sich um jeden Vertrauenskredit bei der Bevölkerung gebracht hat. Stalinistische Entwicklungsstrategie Bis in die Mitte der sechziger Jahre entsprach das wirtschaftspolitische Leitbild ziemlich genau dem, was man „stalinistische Entwicklungsstrategie“ nennen könnte, d. h.der Versuch einer Forcierung der Industrialisierung, insbesondere Förderung der Schwerindustrie, durch Etablierung eines streng zentralistischen und dirigistischen Sowjetsystems, das sich zunehmend als Wachstumsbarriere erwies wegen:
— eines extensiven Wachstums 1) und Hangs zur Überinvestition, — der Inkaufnahme von Disproportionen und Wachstumskonflikten mit der Bevölkerung, — einer ungenügenden Ausnützung von Stimulierungsmöglichkeiten und anderen ökonomischen „Hebeln", — der Last einer unelastischen Planungs-und Lenkungsbürokratie.
Im zentralistischen System einer Befehls-oder Kommandowirtschaft obliegt den Ministerien auch die operative Leitung und Überwachung der Plandurchführung, was man auch „Lenkung" nennt. Die güterwirtschaftliche Lenkung der Betriebe erfolgt über die Festlegung von Planauflagen, Normen, Direktiven, Zuteilung von Rohstoffen, Kontrolle von Berichten, Bilanzen usw. Das System funktioniert in den Lehrbüchern gut, in der Realität aber schlecht. Die zentralen Organe werden systematisch belogen, es ist kaum möglich, Leistungsanreize sinnvoll einzubauen das Prinzip der Planerfüllung führt zur Legalisierung und Zementierung von Fehl-Entscheidungen der Zentrale und die Betriebe können sich mit dem Argument, sich plankonform verhalten zu haben, jederzeit exkulpieren. Im Grunde läuft wenig so, wie es laufen soll, und niemand ist wirklich verantwortlich zu machen. Das System geht außerdem maßlos verschwenderisch mit Material, Investitionsmitteln und der Opferbereitschaft der Bevölkerung um.
Es ist plausibel und empirisch nachweisbar, daß sich die Planer an Planerfüllungswerten der Vergangenheit orientieren. Dadurch entsteht eine Tendenz, kontraindiziert zu reagieren Überreaktionen der Planer, aber auch der Bevölkerung führen dazu, daß das System von Zeit zu Zeit aus den Fugen gerät und neu zusammengefügt wird. Das Problem ist nämlich: — Es gibt kein in sich widerspruchsfreies System/von Kennziffern (" Parametern" usw.) und es ist ein typisch bürokratisches Vorurteil, durch Vorgaben von oben allein etwas bewegen und planwidriges Verhalten a priori ausschließen zu können.
— Aus diesem Grunde wird am Lenkungssystem permanent herumreformiert. Das Wirtschaftssystem versucht sich durch ständige Reformen und Re-Reformen im Bereich der Organisation und Erfolgsbeurteilung der Betriebe zu stabilisieren. Dadurch soll auch immer wieder eine Euphorie erzeugt werden und das Bewußtsein, eine völlig neue, bessere Etappe im Aufbau des Sozialismus zu beginnen. 2. Giereks Entwicklungsstrategie Anders als später bei der Machtergreifung der Militärs 1981 war es 1970, als Gierek an die Macht kam, sehr viel einfacher zu sagen, worin das grundsätzlich Neue dieser Etappe bestand. Die ersten Jahre (bis etwa 1973/74) waren eine Zeit durchweg positiver Wirtschaftsergebnisse in allen Bereichen, verbreiteter Wachstumseuphorie und optimistischer Erwartungen. Auch im Westen waren viele auf Entspannung, Fortschritt und Machbarkeit der Konjunktur eingeschworene Politiker hellauf begeistert.
Es wird berichtet daß Gierek, der schon vor seiner politischen Karriere oft im westlichen Ausland war, beobachtet haben soll, wie fleißig, strebsam und zuverlässig dort die emigrierten Polen an westlichen Maschinen arbeiteten, und wie dynamisch, anpassungsfähig und gewandt sie sich im westlichen Geschäftsleben bewegten, während ihnen im eigenen Land eben diese Eigenschaften fehlten. Er folgerte daraus, daß das Land westliche Maschinen benötige, am Weltmarkt in Konkurrenz treten sollte und daß durch eine grundlegende Modernisierung der berühmte „take off" aus einem Entwicklungs-oder Schwellenland in ein Industrieland zu schaffen sei.
Der Investitions-Boom der Gierek-Ära war eine Konsequenz der Entdeckung des Konsums und des Außenhandels als Wachstums-faktoren. Die neuen Prioritäten waren: Anhebung des Lebensstandards, Import westlicher Technologie und Modernisierung in der Erwartung, daß die dadurch gestiegene Leistungsfähigkeit über wachsende Exporte die Verschuldung wieder auffangen werde (man zog einen Wechsel auf die Zukunft).
Aber: Die erwarteten Erfolge traten nicht ein, Investitionsausgaben, Löhne und auch Preise stiegen, der Einkommenseffekt der Investitionen war groß, aber ihr Kapazitätseffekt gering. Das Ergebnis war ein inflationärer Prozeß von einer Intensität, wie er in Ostblockländern bisher noch nicht beobachtet wurde. Inflationsursachen waren vor allem die (angesichts der Produktionskapazitäten und Vermarktungsbedingungen) weit überzogenen Investitionsaufwendungen und die Lohn-Preis-Spirale. Die „Überinvestition" (Investi-tionsquoten von weit über 30% des National-einkommens) war faktisch eine Vergeudung westlicher Kredite. Aber die Inflation wurde, ähnlich wie im Westen, zunächst verharmlost: „Wenn wir die Anreizfunktion der Löhne voll für eine dynamische Entwicklung ausnutzen wollen, so können wir nicht gleichzeitig ein Primat der Konstanz des Preisniveaus befürworten."
Schon 1975 war auch deutlich erkennbar, daß die Löhne erheblich stärker stiegen als geplant und es die Produktivitätssteigerung erlaubte. Hinzu kam, daß das Normen-und Lohndifferenzierungssystem enorm kompliziert und ungerecht geworden war. Es gab hohe Ausfallzeiten und gleichzeitig Überstundenbezahlung, so daß faktisch eine „Doppelbezahlung der geplanten Arbeitseffekte" vorlag
Die beschriebenen Prozesse wurden zudem durch ein Dezentralisierungs-Reformexperiment, das WOG-Experiment beschleunigt, und sie sind in den beiden folgenden Abbildungen erkennbar: Im Grunde liegt dem Fehlschlag der Politik Giereks eine fundamentale Irreleitung des ökonomischen Denkens zugrunde, die übrigens in unserem eigenen Lande auch verbreitet war (und ist) und die uns viel Geld gekostet hat: die totale Verdrängung des Denkens in Kosten-, Gleichgewichts-und Stabilitätskategorien zugunsten von Wachstums-und Verteilungszielen Inflation, Verschuldung, außenwirtschaftliches Ungleichgewicht werden zunächst nicht als Gefahr gesehen; sie führen dann aber zu einer progressiven Einengung des politischen Handlungsspielraums und gefährden schließlich die ursprüngliche Legitimation dieser Politik, weil Wachstum, Vollbeschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit immer teurer erkauft werden müssen. Aufgrund der politischen Strukturen werden die mit dieser Politik verbundenen Schäden in einem sozialistischen Land allerdings schnell gigantisch, und ein Umdenken in der Ökonomie ist mit sehr viel gewaltvolleren politischen Erschütterungen verbunden als bei uns.
Es kamen einige ungünstige außenwirtschaftliche Faktoren hinzu (Ölpreisschocks), aber die Probleme waren doch weitgehend „hausgemacht". Die Annahme, auf diese Weise zu einer exportfähigen Industrie zu gelangen und durch Verschuldung aus dem Teufelskreis von niedrigen Reallöhnen und Stagnation ausbrechen zu können, war, kurz gesagt, eine Fehlkalkulation. Am Schluß mußten teuer im Westen erworbene Anlagen „eingefroren" oder „reexportiert" werden. Es ist schwierig, sich eine wirkungsvollere Art der Verschwendung des Volksvermögens vorzustellen. Zur Fehlspekulation im industriellen Bereich kam auch eine solche in der Landwirtschaft hinzu Man wollte aus der archaisch anmutenden Agrarstruktur (Vorherrschen privater Kleinstbetriebe mit 4 bis 5 ha) ausbrechen und — mit der Starthilfe westlicher Kredite — mit Schweine-und Kalbfleischexport großen Stils (industriell arbeitenden Großfarmen) auf dem Weltmarkt Fuß fassen, ohne Rücksicht auf die heimische Futtermittelbasis. Obwohl Polen bereits seit 25 Jahren Getreide importiert, beschleunigte dieses Verfahren die Verschuldung noch erheblich > denn etwa die Hälfte der Primärverschuldung Polens im Westen stammt aus Getreide-und Futtermittelimporten. Um die Fehlentwicklung zu korrigieren, mußte dann erneut die Landwirtschaft durch Kürzung von Importen und Investitionen Opfer bringen, weil man (vermutlich zu Recht) eher von der Grundstoffindustrie als von der Landwirtschaft einen Beitrag zur außenwirtschaftlichen Gesundung des Landes erwartete.
Bereits Mitte der siebziger Jahre traten Schwierigkeiten bei der Realisierung des übermäßigen Investitionstempos auf. 1979 sank das Nationaleinkommen um 2, 3% (vgl. Abb. 1), die Produktion der Landwirtschaft um 8%. Die Auslandsverschuldung und der Zugang zu Krediten aus dem Westen wurde zum Problem. Inflation und drohende, noch größere Preissteigerungen durch eine Preisreform führten schließlich zu den Arbeiterunruhen im August 1980, in der bekanntlich die Gewerkschaft „Solidarno" (Solidarität) entstand. Mit der unruhigen Zeit des Machtkampfes zwischen Solidarno und der Regierung beschleunigte sich auch die wirtschaftliche Tal-fahrt: Importreduktion, Arbeitszeitverkürzung (um fast ein fünftel im Steinkohlebergbau) bei gleichzeitigen Lohnerhöhungen, Beschleunigung der Inflation, Zerfall der Arbeitsmoral und politische Desorganisation 3. Die Preisreform und andere politische Hypotheken Bekanntlich ist Gierek (aber auch vorher im Prinzip schon Gomulka) am Versuch der Preisreform gescheitert. Der Aufwand für die Subventionierung von Lebensmitteln wurde immer erdrückender (1980 über 15% des Staatshaushalts). Nur oberflächlich betrachtet laufen niedrige Löhne und niedrige Preise (durch Subventionierung) auf das gleiche hinaus wie hohe Löhne und hohe Preise; denn unter dem Aspekt des Leistungsanreizes kann der Unterschied erheblich sein. Soll der belohnt werden, der viel verdient, oder derjenige, der Geduld hat, in einer Warteschlange zu stehen? Die Subventionspolitik wirkt auch nicht auf das Güterangebot, sondern auf die Nachfrage. Es könnte sinnvoller sein, mit dem gleichen Aufwand Landwirtschaft und Konsumgüterproduktion zu subventionieren.
Die Bevölkerung hat für diese Sorgen nie viel Verständnis gehabt. Dabei ist das Problem nicht-leistungsgerechter Preise und damit nicht möglicher Wirtschaftlichkeitsrechnungen stets ein Schlüsselproblem in Polens Wirtschaft gewesen. Die Einstellung der Bevölkerung ist allerdings verständlich, weil das Mißlingen radikaler Preisreformen in früheren Jahren wesentlich zum Verfall der Autorität der Partei beigetragen hat „Unzählige Male war das Problem der Preiserhöhung für Fleischwaren . bereits als unvermeidbarer Vorgang angekündigt worden und später... blieb alles beim alten. Daher überrascht es nicht, daß die Gesellschaft nach einigen Erfahrungen dieser Art die Ankündigung einer Preiserhöhung als eine Angstmacherei betrachtet, mit der die Menschen von Zeit zu Zeit diszipliniert werden sollen."
Die wohl auffallendste Besonderheit der Aufstände, zu denen diese Politik führte, im Vergleich zu früheren Krisen (1956, 1964, 1968, 1970 und 1976) war, daß es der Partei nicht mehr gelang, mit ihren traditionellen Methoden der Krisenbewältigung wieder Tritt zu fassen. Sie konnte 1980/81 das Volk nicht mehr mit Revirements sowie ökonomischen Zugeständnissen und Versprechungen besänftigen und sich mit dem Hinweis auf individuelle Verfehlungen der bisherigen Führungsmannschaft exkulpieren. Sie verlor ihr Organisations-und Informationsmonopol und mußte sich das Aufkommen einer gesellschaftspolitischen Gegenmacht gefallen lassen. Die Partei konnte keine allgemein akzeptierte „Integrationsfigur" vorweisen, die eine „Reform von oben" hätte vorantreiben und den Glauben an die Reformfähigkeit des Sozialismus wiederbeleben können Die Übernahme der Macht durch die Militärs ist nur die Bestätigung des Umstandes, daß die Partei nach 37 Jahren Herrschaft ihre „führende Rolle" verloren hatte und die Machtpositionen der Parteioligarchie nicht anders als durch Waffengewalt aufrechtzuerhalten waren. Wenn die Partei schon nicht mehr zu retten war, dann wenigstens ihr Machtmonopol.
Dabei war es schon verständlich, daß sie ihr Vertrauenskapital in der Bevölkerung durch gewisse „Taktiken" verspielt hatte, wie:
1. das wiederholte „Einläuten" einer angeblich ganz neuen „Etappe" auf dem Wege zum Sozialismus, in der alles besser wird, als es bisher war, 2. das rasche, unüberlegte Einleiten (und ebenso rasche Beenden) von Reformen und 3. das allmähliche Abgehen von Zielvorstellungen des Sozialismus (Vollbeschäftigung, Preisstabilität usw.).
Der überraschend lange und unerbittliche Machtkampf zwischen Volk und Partei vor der Verhängung des Kriegsrechts macht deutlich, wo die entscheidenden Passiva in Jaruzelskis Eröffnungsbilanz liegen: Die fehlende innere Demokratie der Partei macht es unmöglich, sich anzupassen und zu erneuern; sie macht es vielmehr sogar wahrscheinlich, daß immer wieder dieselben Fehler gemacht werden, die das Volk nicht mehr auszubaden bereit ist. Man könnte die Eröffnungsbilanz schließen mit dem Satz: „Eine Veränderung ist absolut notwendig und gänzlich unmöglich."
II. Die Wirtschaftspolitik der Militärregierung
Abbildung 2
Abb. 2: Wachstumsraten (in %) des Preisindex für die Lebenshaltung (P) und der durchschnittlichen Netto-Nominallöhne in der vergesellschafteten Wirtschaft (L) in Polen.
Abb. 2: Wachstumsraten (in %) des Preisindex für die Lebenshaltung (P) und der durchschnittlichen Netto-Nominallöhne in der vergesellschafteten Wirtschaft (L) in Polen.
Bekanntlich wurde am 13. Dezember 1981 in Polen der „Kriegszustand" erklärt. Die Führung des Landes übernahm ein sog. „Militärrat" unter General W. Jaruzelski. Erste Sofortmaßnahmen waren — die Einführung der Arbeitspflicht (am 30. Dezember 1981) für alle Männer zwischen 18 und 45 Jahren, — das „Suspendieren" der Gewerkschaft Solidarnosc (Verbot erst im Oktober 1982) und das Verbot der bis dahin so exzessiv betriebenen Streiks, — die „Militarisierung" ganzer Industriebranchen, d. h. die Einsetzung militärischer Bevollmächtigter der Ressortministerien in den Betrieben, — drastische Preiserhöhungen um 300 bis 400% am 1. Februar 1982 bei Fortbestand der Güterrationierung und gleichzeitiger Gewährung von Kompensationszahlungen
Weitere Maßnahmen (Operationsgruppen, Inspektionskampagnen, Amtsenthebungen usw.) dienten der Wiedergewinnung der Kontrolle über den Lenkungsapparat. Eine vertrauensbildende Wirkung gegenüber der Bevölkerung versprach man sich vor allem von der Gründung zahlreicher Komitees, Räte und ähnlicher Organisationen, dem Appell an Nation und Tradition und nicht zuletzt von der Wirtschaftsreform, die mit einer Flut von Gesetzen vorangetrieben wurde.
Unter sozialem, politischem und ideologischem Aspekt gesehen mag die Zeit des Kriegsrechts in erheblich schlechterem Licht erscheinen, als wenn man sie allein vom ökonomischen Standpunkt betrachtet. Die Gemüter waren seinerzeit in Ost und West sehr erregt, und nicht wenige prognostizierten auch ökonomisch den Militärs wenig Erfolg. 1. Stabilisierungserfolge unter dem Kriegsrecht?
Schwerpunkte einer Politik der Rückgewinnung der Stabilität nach der Machtergreifung des Militärs waren die Verbesserung der Zahlungsbilanz-und Verschuldungssituation durch Kürzung der Importe und Forcierung der Exporte, die Durchsetzung der überfälligen Preisreform als Mittel zur Stabilisierung des Konsumgütermarkts und das Aufhalten des Produktionsrückgangs. Wirkliche Erfolge konnten aber nur im Außenhandel erzielt werden, weniger durch Exportsteigerung gegenüber dem Westen (1982: + 10%) als durch Drosselung der Importe (— 27, 4%). Aber dieser Erfolg war teuer erkauft, u. a. mit erneutem Rückgang des Nationaleinkommens (1982: — 8%, 1983 kann man erstmals seit 1978 wieder von Wachstum sprechen).
Die Maßnahmen dürften in Anbetracht der Ausgangssituation ohne Zweifel vernünftig und geboten gewesen sein. Man muß aber bedenken, daß sie nicht unabhängig voneinander wirkten. So ist z. B. durch eine drastische Erhöhung der Konsumgüterpreise durchaus Kaufkraft abzuschöpfen und die Nachfrage einzudämmen. Man nähert sich damit aber nicht notwendig dem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, wenn gleichzeitig auch das Konsumgüterangebot wegen einer Kür21 zung der Importe von Viehfutter, Weizen usw. die wiederum im Interesse des außen-wirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig erschien, zurückgeht.
Außerdem sind in einer Planwirtschaft ohne freien Wettbewerb die Anbieter nicht unbedingt veranlaßt, bei gestiegenen Preisen auch mehr anzubieten oder gar bessere Qualitäten zu liefern, wie der Preisminister Krasinski glauben machen wollte (die Scheinlogik des Arguments wurde von der Bevölkerung durchschaut, und der Respekt vor der fachlichen Kompetenz des Ministers ist deswegen nicht besonders groß).
Das gilt auch für die Landwirtschaft. Schon zu Giereks Zeiten konnte diese Erfahrung bei privaten Bauern gemacht werden; denn was sollten sie auch bei der allgemeinen Inflation und Knappheit an landwirtschaftlichen Betriebsmitteln mit dem Geld anfangen? a) Außenwirtschaft Mit der drastischen Kürzung der Importe wurde bereits unter Gierek begonnen Es stellte sich dabei heraus, daß dies vor allem deshalb sehr folgenreich sein mußte, weil weniger bei den Endprodukten als vielmehr bei den industriellen Vorleistungen eine erhebliche Importabhängigkeit entstanden war Damit wurde also nicht nur dem Investitionsprozeß, sondern auch der laufenden Produktion weitgehend „das Wasser abgegraben". Die Kapazitätsauslastung sank auf ca. 60%, zahlreiche Betriebe mußten stillgelegt werden und Ersatzinvestitionen unterblieben. Man schwächte so nicht nur die Exportfähigkeit und die Inlandsversorgung, sondern es kam auch zu einer „Dekapitalisierung" erheblichen Ausmaßes. Der durch den Investitionsboom unter Gierek geschaffene (zu ca. 50% aus dem Westen importierte) Kapitalstock konnte mangels Betriebsstoffen und Ersatzteilen nicht mehr produktionsfähig gehalten werden; er erwies sich auch angesichts des Ausbleibens westlicher Kredite, der Reorientierung des Außenhandels auf die RGW-Länder und des Zurückschraubens der Handels-und Kapitalverflechtung mit dem Westen zunehmend als wertlos.
Durch Forcierung der Exporte an Kohle, aber auch an Lebensmitteln und Chemikalien, mehr wohl aber noch durch den z. T. unfreiwilligen (Sanktionspolitik!) Rückgang der Importe gelang es 1982 erstmals wieder einen Handelsbilanzüberschuß gegenüber dem Westen zu erwirtschaften. 1983 ist die Situation schon wieder etwas weniger günstig. Jedenfalls war die Politik des Militärs darauf ausgerichtet, um jeden Preis eine Sanierung der Wirtschaft Polens über den Außenhandel zu versuchen.
Es fragt sich natürlich, wie aussichtsreich eine solche merkantilistische Politik auf längere Sicht ist. Dabei ist zu bedenken, daß nicht nur die Organisation des Außenhandels dieser Politik enge Grenzen setzt, sondern auch das Verhalten der polnischen Betriebe und der Vertragspartner auf den internationalen Märkten. Die traditionelle Außenwirtschaftsordnung, die allerdings, wie alles, beständig reformiert wird, ist gekennzeichnet durch — ein Außenhandels-und Valutamonopol des Staates, — ein Preisausgleichs-und Abrechnungssystem, das letztlich dazu führt, daß alle Gewinne aus dem Außenhandel abgeschöpft und alle Verluste subventioniert werden, — die straffe Lenkung durch ein Ministerium, dem einige wenige auf Außenhandel spezialisierte Betriebe direkt unterstellt sind.
Diese Ordnung ist vor allem gekennzeichnet von dem Bemühen, die Binnenwirtschaft von der Außenwirtschaft abzuschirmen und die Planungs-und Leitungsautonomie zu bewahB ren. Eine Neuerung war in letzter Zeit lediglich die Möglichkeit, daß auch Produktionsbetriebe Außenhandelskonzessionen erwerben können und in gewissem Umfang über ein eigenes Devisenkonto verfügen dürfen. Dies hat jedoch an der Praxis des Außenhandels wenig geändert. Die effektivitätssteigernde Wirkung der Maßnahme ist gering und die Erfolge im Export sind eher auf die faktisch 60prozentige Abwertung des Zloty zurückzuführen.
Das Preisausgleichssystem in Verbindung mit der Bestimmung des Devisenkurses führt dazu, daß Export-und Importpreise praktisch unbegrenzt manipulierbar sind. Alle Kosten-steigerungen im Import können auf die Inlandspreise abgewälzt werden und Exporte werden nach wie vor subventioniert.
Das zweite Problem sind die Betriebe und die Handelspartner. Die Betriebe sind mehr am Binnenhandel interessiert, bei dem die Abnehmer hinsichtlich der Einhaltung von Terminen, Preisen, Qualität usw. nicht so anspruchsvoll sind. Auf dem Weltmarkt sind die Probleme stets „— keine Konkurrenzfähigkeit unserer Waren hinsichtlich Preis, Qualität, Modernität und Ästhetik, — Schwierigkeiten der Produktionsbetriebe, sich elastisch an veränderte Wünsche ausländischer Abnehmer anzupassen"
Hinzu kommt, daß sich die „terms of trade" Polens im Handel mit dem Westen (aber auch mit dem RGW) seit 1978 ständig verschlechtert haben.
Es gab in westlichen Bankkreisen z. T. die Auffassung, daß Polen als rohstoffreiches Land seine Schulden abtragen könnte, sobald es gelingt, die inländischen Ressourcen besser zu nutzen und sich im RGW stärker einzubinden. Damit wird aber nicht nur das Ausmaß der Verschuldung, sondern es werden auch die realen Exportmöglichkeiten völlig verkannt. Einer polnischen Studie zufolge deckt der Exporterlös, optimistisch gerechnet, nur ca. 20 bis 30% des Kapitalbedarfs. Die Staatsschulden westlicher Länder betragen meist 30 bis 50% des Sozialprodukts, d. h. eine Produktion von vier bis sieben Monaten reicht (rein theoretisch) aus, um diesen Schuldenberg abzutragen. In Polen müßten demgegenüber die Exporterlöse (Westexporte) von über vier Jahren „gespart" werden, um die Schulden zurückzuzahlen. Polen kann ohne vorherige Importe fast nur Rohstoffe exportieren (Kohle, Schwefel, Kupfer, Silber). Im Durchschnitt müssen 18% der späteren Ausfuhrwerte für importiertes Material ausgegeben werden Hinzu kommen einige Besonderheiten des Kohlemarktes die sich zuungunsten Polens auswirkten. b) Produktion und Versorgung Sieht man von der Kohleförderung und einigen anderen Bereichen ab, so gelang die Bremsung der Produktionsrückgänge nur langsam. Im August 1982 erzielte man erstmals wieder positive Wachstumsraten bei der Industrieproduktion. Etwa 13% der Industriebetriebe waren im ersten Halbjahr 1982 wegen Rohstoff-und Materialmangels praktisch arbeitsunfähig, so daß in diesem Zeitraum ein Produktionsrückgang um etwa 8 bis 9% hingenommen werden mußte. Erst im vierten Quartal gelang ein Durchbruch mit + 7%. Die AnlaufSchwierigkeiten wurden, wie zu erwarten war, mit den westlichen Sanktionen begründet.
Löhne und die (zunächst noch sogar trotz abnehmender Beschäftigung sinkende) Arbeitsproduktivität klafften auch 1982 und 1983 noch erheblich auseinander, so daß es nicht überrascht, daß man die Inflation bis heute nicht in den Griff bekam, wenngleich diese Inflationsquelle etwas weniger kräftig sprudelt als 1980 und 1981.
Erfolge in der Produktion sind noch lange nicht auch Erfolge in der Konsumgüterversorgung, die u. a. dadurch gekennzeichnet ist, daß bis heute noch rationiert wird. Zu bedenken ist dabei nicht nur der chronisch unbefriedigende Zustand der Landwirtschaft (auch hier noch 1982 Produktionsrückgänge), sondern, daß die Industrie traditionell vorwiegend für sich selbst produziert. Der Material-verbrauch ist enorm und oft sogar bei Rückgang der Produktion noch gestiegen, d. h., es wird größtenteils um der Produktion willen produziert: „Das Wirtschaftssystem konnte wieder zu seiner traditionellen Funktionsweise übergehen, die seit der Entstehung der „Solidarno’ im Jahre 1980 blockiert war, d. h. zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme zuungunsten des Konsums.“ 26)
Obgleich 1982 die Getreideernte gut war (+ 7% gegenüber 1981), sind der Inlandsmarkt und der Getreideimport nicht ausreichend entlastet worden, einfach deshalb, weil die Landwirte trotz fast verdoppelter Ankauf-preise nur wenig (etwa ein Fünftel der Ernte) ablieferten und lieber Getreide zur Aufrechterhaltung der Viehwirtschaft horteten. Der staatliche Ankauf von Schlachtvieh ist 1982 um gut 10% zurückgegangen und sehr kraß sind die Produktionsrückgänge bei der Geflügelaufzucht (gut 60%), wo sich die US-Sanktionen besonders auswirkten. c) Lohnpolitik Die ihr zugedachte Rolle als Vermittlerin zwischen individuellen und gesellschaftlichen Zielen kann die Lohnpolitik nur spielen, wenn die Löhne als leistungsgerecht empfunden werden. Diese Voraussetzung war aber in den siebziger Jahren immer weniger erfüllt, weil das zentrale System der Regulierung der Löhne den Bezug zur individuellen Leistung in den Betrieben nicht mehr erkennen ließ und weil die Lohnpolitik immer mehr in den Dienst der sozialen Konfliktvermeidung und Wirtschaftslenkung gestellt wurde. Immer weniger ließ sich durch Überredung, Zwang oder rechtliche Regelungen bewegen, und immer mehr mußte man zu massiven Lohnanreizen greifen. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen steht, zumindest so lange die Inflation noch nicht in Schwung gekommen ist, außer Zweifel: das allgemeine Recht auf Arbeit (Vollbeschäftigungsgarantie), die Pflicht zur Arbeit (keine Vermögenseinkommen!), die freie Arbeitsplatzwahl, die geringe materielle Wohlfahrt und das wenig ausgebaute „soziale Netz" lassen darauf hoffen, mit Zugeständnissen bei den Löhnen, und nur damit, Anreiz zu schaffen. Hinzu kommt, daß die schlechten Erfahrungen mit meist nur versuchten Preis-reformen bei der Führung den Eindruck verstärkten, daß die Bevölkerung in materiellen Dingen keinen Spaß versteht.
In diesem System herrscht „unten" der starke Druck auf Anhebung des Lohnniveaus und „oben" das Bedürfnis nach Wachstum und damit Stimulierung der Arbeitsproduktivität.
Die Gefahr ist groß, daß beides Hand in Hand geht, daß man diesen Kräften nachgibt (darin bestand im wesentlichen Giereks Politik) und so Stabilitäts-und Egalitätsziele nachhaltig auf der Strecke bleiben. Seit 1974 stiegen die Nominallöhne ständig stärker als die Arbeitsproduktivität, die 1980 und 1981 sogar erheblich zurückging (ca. — 12%) bei gleichzeitig steigenden Löhnen (ca. 4-25%), eine Entwicklung, die man auf Dauer nicht durchhalten konnte. In den siebziger Jahren hat man außerdem potentielle Wortführer des Protests, vom Facharbeiter bis zum Intellektuellen, mit materiellen Privilegien bestochen.
Man hat nicht den Eindruck, daß die Militärs mit dieser lohnpolitischen Tradition wirklich gebrochen haben. Zwar muteten sie der Bevölkerung schon im ersten Halbjahr 1982 einen Realeinkommensverlust von ca. 30% zu aber sie haben ihre Exporterfolge im Kohlebergbau auch wieder nur durch Lohnzulagen erkauft. Ende 1983 haben sie, was Zeitpunkt und Ausmaß von Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln betrifft, recht lange nachgedacht (auch in Verbindung mit Maßnahmen für die innere Sicherheit) und im Januar 1984 mit einem Entwurf für die Preiserhöhungen gleich wieder eine Regelung für Kompensationszahlungen vorgelegt. Dabei gestand man sich auch ein, daß man so die Inflation nicht aufhalten könne. Was lohn-und preispolitisch unternommen wird, ist gewissermaßen ein Gradmesser dafür, wie sicher sich ein Regime fühlt.
Dieser Stil von Lohnpolitik hat auch moralische und politische Wirkungen: „Das begünstigte das Verständnis, daß es galt, beim Kampf um höhere Löhne gegen die Regierung zu kämpfen. Ich meine, daß diese Deformation des Denkens verheerend gewirkt und den Prozeß der Demoralisierung in der Arbeitswelt beschleunigt hat."
Es ist eine alte Erfahrung, daß jeder Staat sich in Gefahr bringt, wenn er sich in Verteilungskämpfe einmischt; aber aus dieser Lehre der Geschichte könnten, wenn überhaupt, nur die westlichen Demokratien Konsequenzen ziehen. d) Inflation, Lebensstandard Offiziell wird für 1982 eine Inflationsrate von 100, 3% ausgewiesen. Hier ist aber anzumerken, daß die Preissteigerungsrate erheblich streute (bei Lebensmitteln größere Steigerungen als bei Dienstleistungen) Offensichtlich ist auch, daß bei Rationierung ein Preisindex für die Lebenshaltung die Kaufkraftverluste erheblich unterschätzt. Bei Verdoppelung des Preisniveaus und einer nur etwa 50prozentigen Zunahme der Geldeinkünfte der Bevölkerung 1982 bleibt per Saldo ein Realeinkommensverlust von 25% (er wird jedoch meist auf ca. 30% geschätzt). Wie aus Abb. 2 zu erkennen ist, kam es in den siebziger Jahren (mit Ausnahme von 1978) durchweg zu bescheidenen Realeinkommenssteigerungen, selbst im Krisenjahr 1981. Allein das zeigt, daß für die Bevölkerung der materielle Einschnitt durch das Kriegsrecht doch ziemlich erheblich war. Für 1983 rechnet man mit einer weit weniger dramatischen Entwicklung in diesem Bereich: Lohnsteigerungen um ca. 20 bis 25% und Preissteigerungen um ca. 25 bis 30%.
Polnischen Schätzungen zufolge wird man erst 1992 den Lebensstandard der späten siebziger Jahre wieder erreichen. Zur Analyse der Entwicklung des Lebensstandards sind aber nicht nur die Zahlen über Lohn-, Preis-und Verbrauchsentwicklung wichtig, sondern auch die Veränderungen der Verbrauchs-struktur. Der Anteil der Lebensmittelkäufe an den gesamten Verbrauchsausgaben eines Arbeiterhaushalts stieg im ersten Halbjahr 1982 von 35, 2 auf 47, 2% Die Zunahme dieses ohnehin schon hohen Anteils (der bei uns etwa 25% beträgt) wirft ein Licht auf die Versorgungsprobleme. Anfang 1982 gab es in der polnischen Presse Diskussionen über Unterernährung und Lebensmittelpakete aus Deutschland Auch wenn die Ernährungsprobleme inzwischen geringer geworden sind, so ist doch die Gefahr eines bleibenden Schadens für die Volksmoral nicht zu übersehen, weil eine solche Situation Schwarzmarkt, Ausbeutung, Diebstahl, Korruption usw. fördert. e) Soziale und politische Befriedung Die Militärs mußten von Anfang an mit dem Widerstand bzw. Desinteresse der Bevölkerung rechnen. Die Beschwörung des „nationalen Konsens" und die offizielle Fortführung der „Erneuerung" haben wenig bewirkt. Akte der Repression und solche des Goodwill folg-ten aufeinander. Man ist in dieser Hinsicht nicht sehr viel weiter gekommen als zu einem sich gegenseitigen Blockieren der gesellschaftlichen Kräfte und zu einem Zustand der scheinbaren Ruhe. Die Lösung der „Gewerkschaftsfrage" wurde lange als Vorbedingung für die nationale Versöhnung empfunden und die Regierung ließ sich mit dem Gewerkschaftsgesetz auffallend lange Zeit (bis Oktober 1982). 1982 kam es noch zu vielen spektakulären und gewaltvollen Demonstrationen (z. B. am 3. 5., 13. 6., 31. 8.), an denen jeweils die Jugend überdurchschnittlich beteiligt war. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt, aber der Anteil dieser Altersgruppe an den Parteimitgliedern beträgt nur 20 %. Im Verlauf des Jahres 1983 ist es dann ruhiger geworden. Aber bekanntlich muß das nicht von Dauer sein.
Inzwischen ist aber wohl auch der Rückhalt von Solidarno in der Bevölkerung gesunken und die Annahme verbreitet, daß für den Fall, daß Jaruzelski durch Unruhen hinweggefegt werden sollte, mit bedeutend unangenehmeren Machthabern zu rechnen ist. Hinzu kam, daß sich das Militärregime als weniger repressiv erwies, als anfänglich befürchtet wurde. Die Machtergreifung erfolgte vor allem mit dem Motiv, etwas zu verhindern, nämlich den weiteren Verfall der Autorität von Staat und Partei, weniger dagegen mit genauen Vorstellungen, welchen Zustand man längerfristig herstellen wollte. Ermüdungserscheinungen auf beiden Seiten erlaubten es, zu einer gewissen Normalität und Liberalität zurückzufinden. 2. Grundzüge der neuen Reform:
„die drei S"
Die Militärregierung erhoffte durch eine Fortführung der begonnenen Reform des Wirtschaftssystems das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Zwar war von der wissenschaftlichen Reformdiskussion des Frühjahrs und Sommers 1981 nach der Einführung des Kriegsrechts nicht mehr viel zu spüren, aber es wurde doch damit begonnen, eine Fülle von Gesetzen auf den Weg zu schicken, die zumindest für den organisatorischen Teil einer „Reform“ die Weichen stellen sollten. Das Neue am reformierten System ist nämlich vor allem die Stellung und innere Struktur der Betriebe. Sie wird schlagwortartig durch „die drei S“ charakterisiert — Selbständigkeit — Selbstverwaltung — Selbstfinanzierung.
Die Reform stand jedoch von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Sie war nicht nur überfordert, wenn sie als Hebel zur politischen Befriedung dienen sollte, sie mußte auch in einem Moment eingeführt werden, wo die Hauptsorge darin bestand, das Gleichgewicht auf den Märkten wiederzufinden, insbesondere im Hinblick auf die Versorgung der Bevölkerung — also das Gleichgewicht auf den Konsumgütermärkten —, und eine effektive Umorganisation im Produktions-und Lenkungsbereich eher irritieren mußte. Mit dem Argument, die Stabilität müsse wieder zurückgewonnen werden, womit man nicht vor 1986/87 rechnet wurden dann auch Maßnahmen ergriffen, die oft auf das genaue Gegenteil dessen hinausliefen, was als Reformgedanke und Leitidee für die Zukunft gepriesen wurde. Es kamen Ausnahmeregelungen, spezielle Vorschriften für bestimmte Wirtschaftsbereiche, Vertagungen von Reformelementen und — schon im Prozeß der Reform — die Rücknahme bestimmter Neuerungen hinzu, so daß auch polnische Fachleute kaum sagen können, was schon gilt, was noch gilt oder was nicht mehr gilt. Man scheint sich mehr und mehr einem System der permanenten Reform zu nähern, in dem — meist zu Jahresbeginn — immer wieder neue Gesetze in Kraft treten, die die Wirtschaftsführung bestimmter Branchen neu regeln. Es ist dann nur schwer festzustellen, was sich tatsächlich geändert hat, und es ist kaum möglich, die Wirtschaftsentwicklung mit der Reform in Verbindung zu bringen, also nachzuweisen, daß dieser oder jener Ablauf trotz oder wegen der Reform eingetreten ist. Das weist darauf hin, daß es zunehmend schwieriger wird, den Zustand der Wirtschaftsordnung zutreffend zu beschreiben oder gar zu beurteilen. Die im Westen so beliebten globalen Charakterisierungen, wie z. B. „Zentralisierung" und „Dezentralisierung", sind z. B. bei genauer Betrachtung ziemlich wertlos. a) Selbständigkeit Unter diesem Stichwort ist vor allem die bekundete Absicht zu verstehen, den Betrieben in Zukunft weniger detailliert und umfassend vorzuschreiben, was sie tun sollen. Danach soll es weniger Kennziffern, Planvorgaben, Zielgrößen usw. geben. Die Betriebe sollen größere Freiheiten bei der Sortimentsgestaltung, Investitionsentscheidung, Preis-und Beschäftigungspolitik haben, und sie sollen vor allem den Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und ihrem wirtschaftlichen Erfolg bzw. Mißerfolg enger zu spüren bekommen. Auf der gleichen Linie liegt das wiederholt proklamierte Ziel, den bürokratischen Apparat auszudünnen und die Planung zu beschränken auf eine Art Rahmenplanung, die sich mehr auf die grundlegende, „strategische" Linie beschränkt und sich nicht mehr so sehr in den Niederungen einer „operativen" Detail-regelung bewegt
„Das Lenkungszentrum der Wirtschaft beschäftigt sich nicht mit detaillierter Vorgabe von Planaufgaben für das ganze Land an Wirtschaftseinheiten, sondern mit der Schaffung entsprechender Impulse, so daß Betriebe selbst interessiert sind, die präferierten Aktivitäten zu ergreifen". Der Plan ist...... verkürzt gesagt nicht die Summe von Befehlen, sondern eine Prognose".
Kurz umschrieben soll die Selbständigkeit die freie Wahl der Betriebe beim Was, Wieviel, Wie und Womit der Produktion beinhalten Dieser bereits in der unruhigen Zeit 1980/81 geborene Reformgedanke weckte schon damals keineswegs einhellig Begeisterung, sondern vielmehr weitgehende Befürchtungen, und zwar nicht nur in Kreisen der Bürokratie, die von der Forderung nach Entbürokratisierung naturgemäß nicht begeistert sein konnte.
Es gab 1981 in der Presse schon vor dem 13. Dezember viele Diskussionen über Vor-und Nachteile des „Wettbewerbs" im Vergleich zu einem „Versorgungsstaat" des ungarischen Systems zum jugoslawischen System sowie vor allem eine sehr verbreitete Sorge um den Arbeitsplatz. Man befürchtete Versetzungen, Umschulungen, aber auch Arbeitslosigkeit. Ähnlich wie die Preis-und Lohnpolitik wird auch die Vollbeschäftigungsgarantie in Polen recht emotional gesehen. Selbst bei sich verschlechternder Wirtschaftslage war sie nie wirklich in Gefahr. So ging z. B. 1981 die Produktion um etwa 13 % zurück, das Nationaleinkommen um etwa 15 %, aber die Beschäftigung blieb praktisch konstant
Wie die Entwicklung von Beschäftigung und Lohnfonds zeigt, waren die Befürchtungen voreilig. Eine wirkliche Dezentralisierung oder eine Verschärfung des Wettbewerbs ist nicht eingetreten. Es entstand dadurch auch kaum mehr Zwang zur Rationalität oder zur Arbeitsdisziplin. Die Lohnsumme ist wieder einmal stärker als geplant gestiegen (Ende 1982 waren es fast 13 %) was schon in der Vergangenheit wohl die wirksamste Inflationsquelle war. Die Beschäftigung ging zwar 1982 um ca. 5 % zurück, dies aber hauptsächlich wegen Herabsetzung des Pensionsalters. Der Arbeitseinsatz sank (zusätzlich durch Verkürzung der Arbeitszeit) um ca. 10%.
1983 war von diesen Tendenzen nicht mehr viel zu spüren. Die Statistiken sind widersprüchlich, aber man darf annehmen, daß die Beschäftigung nicht weiter sank. Nach einigen Quellen herrschte sogar wieder Arbeitskräfteknappheit. Der Regierung wurde u. a. empfohlen mit der „Politik der Deaktivierung des Arbeitskräftebestandes" aufzuhören. Es besteht auch seitens der Betriebe keine Veranlassung, mit Arbeitskräften zu sparen.
Mit der Entbürokratisierung ist man ebenfalls weit hinter den Hoffnungen bzw. Befürchtungen zurückgeblieben. Zwar wurden einige Ressortministerien aufgelöst und am 1. Januar 1982 die „Vereinigungen" (Zjednoczenie) abgeschafft, neu gegründet wurden aber dann die „Zusammenschlüsse" (Zrzeszenie) mit z. T.den gleichen Beamten. Der effektive Unterschied zwischen diesen beiden Organisationen mag mehr für den Experten von Interesse sein
Die Bildung von Vereinigungen (1958) als Zwischenstufe zwischen der Ministerial-und der Betriebsebene ist übrigens ein interessantes Beispiel dafür, daß mit Vokabeln wie „Zentralisierung" oder „Dezentralisierung" die wahren Sachverhalte oft nur sehr unklar beschrieben werden: Was äußerlich nach einer Dezentralisierung aussah (Schaffung einer weiteren Stufe und Entlastung der Spitze in der Planungshierarchie), war ihrer Wirkung nach nur die Schaffung eines Mediums zur besseren Ausübung des Planzwangs
Die durch das Ungleichgewicht entstandenen wirtschaftlichen Zwänge verlangten es, zumindest partiell und vorübergehend, das Gegenteil davon zu tun, was als Reformidee proklamiert war. So stellten die sog. Operationsprogramme zur raschen Mobilisierung von Reserven, Steigerung des Exports (Kohle!) und Beseitigung von Versorgungsengpässen eine massive Zentralisierung und Straffung der Lenkung dar, offensichtlich also kein Schritt in Richtung „Selbständigkeit". Reform-widrig war auch das Weiterbestehen eines Staatsmonopols beim Ankauf bestimmter wichtiger Grundstoffe. Der Idee der freien Wahl von Vertragspartnern, Lieferanten und Abnehmern läuft eine Zuteilung von Produktionsmitteln aufgrund allgemeiner Versorgungsengpässe über das „Ministerium für Materialwirtschaft" zuwider.
Man kann von mehr indirekten, mittelbaren Lenkungsinstrumenten wie Güterpreisen, Zinsen, Steuern, Rentabilität usw. keine Wirksamkeit erwarten, so lange auf fast allen Stufen der Produktion Produzentenmärkte herrschen, sich die Käufer also um die Waren reißen, egal welche Preise die Anbieter fordern. Von dieser Situation gibt es nur wenige Ausnahmen. Ein Beispiel ist, daß „der Staat" im Sommer 1983 einmal kurzfristig auf der von ihm produzierten Marmelade „sitzen blieb" und den Preis senken mußte, weil die Haushalte auf dem Standpunkt standen, auf dem heimischen Herd eine schmackhaftere und billigere Marmelade kochen zu können. Aber es gibt natürlich wenig Produkte, bei denen der Konsument relativ mühelos zur Selbst-herstellung übergehen kann.
Prinzipiell sollten die Betriebe mehr Befugnisse zur Preisfestsetzung bekommen. Das System sieht drei Preisarten vor: Amtspreise (ceny urzedowe), regulierte Preise (ceny regulowane) und Vertragspreise (ceny umowne). Die beiden zuerst genannten Preise werden auf der Basis von Selbstkosten und Gewinn-aufschlag kalkuliert, wobei der Aufschlag gewisse Steuern, Abgaben an betriebliche und staatliche Fonds, Reserven, Aufwendungen für Investitionen, Schuldendienst usw. enthalten soll. Die Unterschiede zwischen den beiden Preisarten sind in der Praxis vernachlässigbar Vertragspreise sollten dagegen grundsätzlich den Marktgegebenheiten entsprechend frei ausgehandelt werden. Von einem Gleichgewichtspreis, der den Markt räumt, kann jedoch in den seltensten Fällen gesprochen werden. Die Entstehung echter (und vermutlich prohibitiv hoher) Marktpreise wird nicht nur durch den Tatbestand aufwendiger Subventionierungen behindert, sondern auch durch die bereits erwähnte Praxis der Materialzuweisung und (ihr Pendant auf dem Konsumgütermarkt) der Rationierung durch Lebensmittelkarten. Bei Basisrohstoffen, Energie und Importwaren besteht nach wie vor eine staatliche Preisfestsetzung. Aber gleich zu Beginn des Kriegsrechts bestand die erklärte Absicht der Militärs, die Monopolisierung der Wirtschaft zurückzuschrauben, um im Zuge einer schrittweisen Wiedergewinnung des Gleichgewichts die Preisbildung zu liberalisieren. Es geht also darum, erst allmählich die Voraussetzungen einer pretialen (über Preise) Lenkung zu schaffen. So lange das aber noch nicht der Fall ist, ist für die Bevölkerung das einzige sichtbare Ergebnis der Reform das gestiegene Preisniveau.
Die Selbständigkeit ist aber nicht nur institutionell, also hinsichtlich des von der Regelung betroffenen Unternehmensbereichs stark eingeschränkt, sondern auch funktionell, was das „laufende Geschäft" betrifft. Der Staat sicherte sich quasi Prärogative und Eingriffsmöglichkeiten bei Gründung, Liquidation und Fusion von Betrieben. Das neue Selbstverständnis der Planung sieht zwar die Selbstbeschränkung auf längerfristige Planung der wichtigsten Wachstumsraten und Proportionen vor, gleichzeitig aber auch die zentrale Verantwortung im Bereich der Außenwirtschaft, der Arbeits-und Lebensbedingungen, der strukturellen und räumlichen Umgestaltung der Wirtschaft, der Landesverteidigung und der strategischen Forschungs-und Entwicklungsvorhaben. So ist durch Generalklauseln im Planungs-und Betriebsverfassungsrecht sichergestellt, daß weiterhin punktuell „von oben" eingegriffen werden kann, z. B. bei der Standortwahl, Investition, Subventionierung, Konzessionierung, Bestellung und Abberufung der Betriebsleitung usw.
Auf dieser Linie der Stärkung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung liegt auch die neu geschaffene Möglichkeit, daß die Betriebe bei inner-bzw. zwischenbetrieblichen Streitigkeiten die ordentlichen Gerichte (statt Schieds-oder Verwaltungsgerichte) anrufen können und daß sie die Möglichkeit haben, ein betriebseigenes „System der Motivation der Belegschaft" zu entwerfen, das es auch ermöglicht, Löhne zu kürzen und Arbeiter im Wettbewerb gegeneinander auszuspielen. Von beiden Möglichkeiten wurde Gebrauch gemacht, wenngleich gegen das Motivations-System,wie die Erfahrung zeigte nicht nur seitens der Belegschaft, sondern auch seitens der Betriebsleitung Vorbehalte bestanden, und zwar interessanterweise vor allem im Zusammenhang mit dem zweiten „S", der Selbstverwaltung, einem Thema, das auch die Gerichte beschäftigt. b) Selbstverwaltung Es ist für einen westlichen Beobachter nicht ganz verständlich, mit welcher Beharrlichkeit in Polen immer wieder die Forderung nach selbständiger und unabhängiger Vertretung von Arbeiterinteressen erhoben wird. Das Organ zur Wahrnehmung dieser Interessen sind die . Arbeiterräte", nicht die „Gewerkschaften", da letztere eher als ein Instrument der Partei und Wirtschaftsführung anzusehen sind, als „Transmissionsriemen", um die Arbeiter im gewünschten Sinne zu mobilisieren. Für die Arbeiterräte kann die Gegenseite nicht die Betriebsleitung sein, sondern nur die Wirtschaftsbürokratie. Da diese aber mit der Partei eine Einheit bildet, kann eine Interessenvertretung der Arbeiter nur eine Opposition gegen die Partei sein. Folglich hat auch das periodische Wiederaufleben und Wiedererstarken der Arbeiterräte im Grunde den Charakter eines allgemeinen Protests. Es überrascht daher nicht, daß dies fast gesetzmäßig im Zusammenhang mit politischen Unruhen geschah, nämlich 1944— 1946, 1956/57 und 1980/81, aber auch in etwas schwächerem Maße 1976.
Da sich durch die Arbeiterräte die wirtschaftliche Situation regelmäßig nicht verbesserte und es auch schon in den fünfziger Jahren meist zu Ausschreitungen der anarchosyndikalistischen Arbeiterschaft kam, ließ sich die Forderung nach Stärkung der Rolle der Partei jeweils auch leicht plausibel machen. Mit entsprechender Regelmäßigkeit folgte auf jede Phase der Erstarkung der Partei dann wieder die Forderung nach Entbürokratisierung und Basisdemokratie.
Der Selbstverwaltungsgrundsatz sollte die traditionelle „Führungstroika“ (Direktor, Vertreter der Partei und Vertreter der Gewerkschaft) und die Kontrolle bzw. Aufsicht durch zentrale und territoriale Lenkungsorgane zugunsten eines Systems ablösen, in dem nur zwei innerbetriebliche Kräfte ohne Einwirkung von außen Zusammenwirken sollen, der Direktor (bzw. das mehrköpfige Management) und die Belegschaft, vertreten durch — die allgemeine Versammlung der Arbeiter oder ihrer Delegierten und — den Rat aller Beschäftigten (Arbeiterrat), der mit 15 Mitgliedern die laufenden Geschäfte führt und wichtige Entscheidungs-, Kontroll-und Informationsrechte hat.
Der Arbeiterrat kann nicht nur mehr oder weniger entscheidend bei Betriebsplänen, Investitionen und Fusionen (Gründung „gemeinsamer" und „gemischter" Betriebe) mitreden, sondern auch bei der Gewinnverwendung und Bestellung und Abberufung des Direktors. Letzteres war lange Zeit ein Streitpunkt zwischen Solidarnoäö und der Regierung. Die Dimension des Problems wird erst erkennbar, wenn man bedenkt, daß das Management größerer Betriebe quasi zur „Nomenklatur" gehört und daß es den Lebensnerv der Partei berührt, wenn es ihr nicht mehr gelingt, „ihre Leute" in die betreffenden Positionen zu bringen (und zwar erfahrungsgemäß auf die todsichere Art, d. h. bei jeder „Wahl" muß doppelt und dreifach abesichert sein, daß man keine Überraschungen erlebt). Die Partei hat, im Unterschied zur DDR, ohnehin wenig Rückhalt in den Betrieben und eine gewisse Angst, in die Betriebe zu gehen. Wenn es gelingt, das Nomenklatursystem der Partei zu Fall zu bringen bzw., was ja faktisch 1981 bevorstand, durch ein solches der Solidarno zu ersetzen, dann ist das System der „Volksrepublik" im Kern getroffen. Die Reform fand hier einen klugen Kompromiß: Schaffung eines speziellen Gründungsorgans, das auch für die Besetzung des öffentlich ausgeschriebenen Direktorenpostens verantwortlich ist, und ein jeweiliges Einspruchsrecht der beiden hier vertretenen Interessengruppen, Staat und Belegschaft.
Die Befugnisse des Arbeiterrats bei der Betriebsplanung sind faktisch wenig bedeutsam, selbst wenn sie voll genutzt werden, weil entscheidende Weichen durch die staatliche Planung, durch Vorschriften über Preise, Steuern usw. gestellt werden und weil in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage (Material-knappheit, brachliegende Kapazitäten usw.) mit diesem Hebel nur wenig bewegt werden kann. Brisanter sind demgegenüber schon die Rechte bei der Gewinnverwendung, die deshalb auch die Gerichte beschäftigt haben. Es soll schon vorgekommen sein, daß der Arbeiterrat beschloß, alles, was zu verteilen war, auszuschütten.
Im Lichte der Erfahrung Jugoslawiens und der theoretischen Modellbetrachtung wird oft argumentiert, Arbeiterselbstverwaltung führe zu — einer Maximierung des Einkommens der Belegschaft, nicht aber der Gewinne, mit der Konsequenz einer inversen Angebotsreaktion — einer geringen Nachfrage nach Arbeit und sogar zur Arbeitslosigkeit, geringer Mobilität der Arbeit und einer Neigung, Arbeitsplätze als „Eigentum" zu vererben, — einer geringeren Investitions-und Innovationstätigkeit, da die Fremdfinanzierung den Lohnfonds mindert, aber auch einer Eigenfinanzierung nicht zugestimmt wird
Das Reformelement Arbeiterselbstverwaltung hat aber im Grunde mehr eine außerökonomische, moralische Funktion des immateriellen Anreizes. Es gilt, die Entfremdung der Arbeiter von der Führung, die Einstellung des „my i oni" (wir und die da oben) und das wenig verantwortungsvolle Umgehen mit dem Volkseigentum zu überwinden. Die Reform soll „Solidität, Zuverlässigkeit, hohe Berufsethik, Gerechtigkeitsgefühl" fördern. „Es müssen jetzt Bedingungen geschaffen werden, damit Rechtsvorschriften wirksam* werden. Es geht vor allem darum, eine allgemeine Atmosphäre der Anerkennung des Rechts zu schaffen. Das ist eine ganz grundlegende Voraus-Setzung.“ 52) Man kann aber fairerweise in einem System nicht mangelndes Rechtsbewußtsein beklagen, wenn man erst nach 30 Jahren erkennt, daß es nützlich ist, gewisse Gerichte einzusetzen und generell alle Gesetze zu veröffentlichen.
Ob die Arbeiterselbstverwaltung eben diesen politisch-moralischen Auftrag erfüllt, hängt entscheidend davon ab, in welchem Ausmaß Man kann aber fairerweise in einem System nicht mangelndes Rechtsbewußtsein beklagen, wenn man erst nach 30 Jahren erkennt, daß es nützlich ist, gewisse Gerichte einzusetzen und generell alle Gesetze zu veröffentlichen.
Ob die Arbeiterselbstverwaltung eben diesen politisch-moralischen Auftrag erfüllt, hängt entscheidend davon ab, in welchem Ausmaß und wie sich die Beschäftigten tatsächlich engagieren werden. Hierüber bestand bei der Einführung der Reform große Unsicherheit. Erste Erfahrungen weisen darauf hin, daß die Arbeiter ziemlich ausschließlich Lohninteressen vertreten, ihre ökonomische Einsicht nicht sehr weitreichend ist, und die Selbstverwaltungsorgane, wie schon einmal Anfang der sechziger Jahre, von der Betriebsleitung und Bürokratie überspielt werden.
Vielleicht sollte die Regierung auch auf die ideologische Wirkung der Arbeiterselbstverwaltung nicht allzu sehr vertrauen und sich an 1980/81 erinnern: Damals wurde die sicher zu Recht ungeliebte Führung beim überfälligen Versuch, das Subventionswesen abzubauen, in die Enge getrieben.
Der ungewöhnlich heftige und hartnäckige Widerstand gegen Preisreformen läßt vermuten, daß die Wurzeln tiefer liegen, und zwar in einer Wirtschaftsgesinnung, die gekennzeichnet ist durch eine widersprüchliche Mischung aus Versorgungsdenken und radikal-individualistischer Mentalität. c) Selbstfinanzierung Im Grundsatz geht es hier darum, daß der Betrieb seine Ausgaben auch selbst erwirtschaftet haben muß und daß er notfalls, nach einer gewissen Schonfrist mit Sanierungsmaßnahmen, auch das Risiko eines Konkurses zu gewärtigen hat. Die Mobilisierung eines Gewinnmaximierungsdenkens ist durchaus erklärtes Ziel. Aber auch hier sind die Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Reformmaßnahme z. Z. nicht gegeben, wenn sie überhaupt jemals gegeben sind Die finanzielle Lage der Betriebe ist sehr unterschiedlich, und durch die manipulierten Preise sind die Startbedingungen nicht vergleichbar. Es müssen aber nicht nur die Güterpreise, sondern auch der Zins eine gewisse Lenkungsfunktion ausüben können. Von einem Kapitalmarkt kann aber keine Rede sein. Nur bei weitgehender Selbständigkeit und freien Preisen besteht eine Verbindung zwischen den Mikrozielen (Gewinnstreben der Betriebe) und den Makrozielen des Plans. Die Betriebsleitung muß am Gewinn interessiert sein, was nicht selbstverständlich ist, wenn dieser eine durch Subvention und selektive Förderung und Besteuerung manipulierte Größe ist; sie muß mit der Belegschaft die Löhne frei aushandeln können und Spielräume „beträchtlicher Autonomie nutzen können hinsichtlich ihrer finanziellen Erfolge" 54). Es gibt aber weder Spielräume noch einen erkennbaren Kausalzusammenhang zwischen der Unternehmenspolitik und dem finanziellen Ergebnis. Auch der Konkurs ist dann keine echte Bedrohung, wenn der Betrieb für die Versorgung unentbehrlich ist (das Versorgungsargument spielt eine ähnliche Rolle wie bei uns das Arbeitsplatzargument).
Der Selbstfinanzierung bei den Investitionen wurde früher immer mit dem Argument entgegengetreten, daß sich so Strukturen herausbilden könnten, die ungeplant sind. Das Kapital solle nicht in die rentabelsten Branchen wandern, sondern in die Branchen, die vom Standpunkt der gesellschaftlichen Bedürfnisse (die von den Planern definiert werden) die nützlichsten sind 55). Man hat deshalb oft der Subventionierung aus dem Staatshaushalt und dem Bankkredit als Mittel der Investitionsfinanzierung den Vorzug gegeben. Es läßt sich jedoch empirisch zeigen, daß hinsichtlich der Charakteristika des Investitionsprozesses (es wird zu viel, auch mehr als geplant für Investitionen ausgegeben, aber der reale Effekt ist gering) kein signifikanter Unterschied zwischen den Finanzierungssystemen (Selbstfinanzierung, Subventionen, Kredit) besteht 56). Die Befürchtung, die Bäume des Gewinnstrebens könnten in den Himmel wachsen, stand bei der Reform des Steuersystems Pate. Es sind im wesentlichen vier Arten von Steuern, die der Betrieb zu zahlen hat: Umsatzsteuer (differenziert nach Waren und Dienstleistungen), Lohnsummensteuer, Grundsteuer und Einkommensteuer, deren Progression sowie Bemessungsgrundlage zunächst Gegenstand vieler Fachdiskussionen unter Ökonomen war Die Zielsetzung der Einkommensteuer ist, ähnlich wie bei der Steuer auf den Lohn-fonds (Lohnsumme), die Begrenzung des inflationär ansteigenden Lohnniveaus. Auf die fatale Rolle, die der Lohnfonds als Inflationsherd spielt, wurde bereits eingegangen.
Das Steuersystem ist nicht nur fiskalisch bedeutsam (Umsatz-und Einkommenssteuer finanzieren zusammen zu ca. 90% den Staatshaushalt), es hat theoretisch auch eine wichtige Lenkungsfunktion. Es kann aber diese Funktion kaum wahrnehmen. Einige Beispiele zu dieser Problematik:
Bei der Diskussion über die Wiedereinführung der 1982/83 ausgesetzten Vermögenssteuer bestand die Absicht, den wirtschaftlichen Umgang mit Vermögen zu fördern (ähnliche Ziele verfolgte man schon öfter mit Abschreibungsrichtlinien, Zinsen auf das Anlagevermögen usw.). Aber woher kommt das Vermögen (bzw. Gewerbekapital), wenn die Gewinnverwendung nicht frei ist? Ist es nicht vielmehr das zufällige Ergebnis vorangegangener Materialzuteilungen und Subventionen Zwar konnte 1982/83 das „Finanzergebnis" der Betriebe (nach Steuerabzug) deutlich verbessert werden nachdem es 1981 noch negativ war, aber die Wirkung der Einkommenssteuer (sie schöpfte 65— 66% des Gewinns ab) auf das Verhalten der Betriebe war gering. Man kann sich von ihr nur eine Angleichung der Rentabilitäten versprechen. Interessanterweise scheint aber gerade das wünschenswert zu sein: „Eine normale, gesunde Wirtschaft ist charakterisiert durch eine relative Gleichheit der Rentabilitäten (der Betriebe)." Man fragt sich natürlich, was man sich dann von der Selbstfinanzierung verspricht
III. Weitere Aussichten
Es ist offenbar gelungen, aus der desorganisierten Defizitwirtschaft wieder eine organisierte Defizitwirtschaft zu machen. Natürlich interessiert die Frage, wie es nun weitergehen wird. Die vernünftige Antwort scheint mir zu sein: vermutlich nicht sehr viel anders als bisher.
Die Bevölkerung wird sicher auch in Zukunft mit Recht unzufrieden sein. Aus der Sicht der Führung ist es eben ein Volk, das nicht zu dem Regierungssystem paßt (nicht umgekehrt).
Der Dreijahresplan 1983— 1985 wurde, obgleich geplant ist, 1985 „nur" 96% der Industrieproduktion und 85% des verwendeten Nationaleinkommens von 1980 wieder zu erreichen, allgemein als recht ehrgeizig empfunden. Er sah eine Steigerung der Industrieproduktion für 1983 um 15% vor, sowie ein Anti-Inflations-und Sparprogramm. Die damit eingeführte Luxussteuer auf Autos, „Datschas", Jagdgewehre usw. dürfte zwar populär, aber fiskalisch wenig bedeutsam sein. Zum Sparprogramm gehörten vor allem Vorgaben zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Senkung des Materialverbrauchs bei der Produktion Ein Novum ist auch, daß der Sejm erstmals gewisse Richtwerte hinsichtlich der Auslandsverschuldung, Investitionsaufwendung und des Staatshaushaltes verkündete. Bemerkenswert an der tatsächlichen Entwicklung ist nicht so sehr, daß sie hinter der ehrgeizigen Planung zurückblieb sondern daß man, wie schon in früheren Zeiten, versuchte, sie vorwiegend auf extensivem Wege (also durch vermehrten Einsatz von Produktionsfaktoren) zu erreichen. Dabei ist das gewaltige Niveau angefangener, unvollendeter und auch liquidierter Investitionen sowie der Rückgang der Investitionsaufwendungen bis 1982 eine zusätzliche materielle und psychologische Belastung. Ein „Aufschwung" ist also nicht nur praktisch aus eigener Kraft zu schaffen, sondern muß auch mit einer desillusionierten und verarmten Bevölkerung erreicht werden der riesige Fehlinvestitionen und Verschwendungen nicht verheimlicht werden können. Die Aufgabe der Führung ist auch politisch sehr schwierig; sie wird von innen und außen mit Argwohn beobachtet, und es gibt keine gesellschaftliche Kraft mehr, der das Volk vertraut, weil Jaruzelski jeden Widerstand zermürben und lähmen konnte (und vielleicht auch mußte).
Von der Reform sollte man nicht allzuviel erwarten. Es ist inzwischen auch im Westen eine weit verbreitete Erkenntnis, daß ein Großteil der gut gemeinten Reformvorstellungen von Partei und Staatsführung durch Beharrlichkeit und Boykottpolitik des riesigen Beamtenapparates sabotiert wird. Die Stärke der Bürokratie liegt vor allem darin, daß sie ihre Existenzberechtigung in einer Zentralverwaltungswirtschaft nie wirklich in Frage gestellt sieht und es sich deshalb vermutlich als einzige Institution leisten kann, in langen Zeiträumen zu denken.
Das zentralistische System fördert auch keine unternehmerischen Fähigkeiten. Jede Reform ist mit einer Anlernphase für Betriebsleiter und für die Ministerialbürokratie verbunden. Und ehe diese Phase beendet ist, wird meist das Reformexperiment schon wieder abgeblasen. Es hat sich gezeigt, daß sich am flexibelsten die Arbeiter auf eine neue Situation einstellen können, danach die Betriebsleiter und am langsamsten die Ministerien. Wenn man, wie es den Anschein hat, immer mehr zu einer jährlichen Teilreform (mit neuen Gesetzen am Jahresanfang) übergeht, so werden sich in den Betrieben immer mehr Talente zur kurzfristigen Ausnutzung von Gesetzeslükken herausbilden
Es überrascht daher nicht, daß die Reform der Militärs in zurückhaltender und „abwartender" Haltung aufgenommen wurde. Es dominiert die kurzfristige Perspektive; man betrachtet die Reform als vorübergehende und scheinbare Veränderung Nach wie vor sind die Betriebe der Meinung, daß das Betriebsergebnis nicht von der Leistung des Betriebes, sondern von „Außenfaktoren" abhängt
Das Land war eigentlich immer schon reformfreudig. Auslöser von Reformen kann „die Ansicht sein, daß das alte, kompromittierte System keine Verbesserung der Situation herbeiführen könne" Aber auch einem neuen System wird man eines Tages wieder die Schuld für eine Fehlentwicklung in die Schuhe schieben können.
Zumindest früher hatten Reformen auch, ähnlich wie Pläne, einen voluntaristischen Aspekt (unter „voluntaristischer Planung" versteht man u. a., ohne Angabe von Gründen, eine optimistische Planvariante auszuwählen, weil ein Plan ja auch, selbst wenn er unrealistisch ist, eine Mobilisierungsfunktion hat Diese Rolle kann die Reform aber wohl immer weniger spielen. Denn die Partei hat ja u. a. auch dadurch Vertrauenskapital verspielt, daß sie wiederholt eine völlig neue Etappe im Aufbau des Sozialismus verkündet hatte, ohne daß sich für die Bevölkerung sichtbar etwas änderte.
Was die konkreten Pläne für die nahe Zukunft betrifft, so sind m. E. zwei Probleme zu sehen, die zugleich das Dilemma beschreiben:
Kurzfristig:
Das sicher aus wachstumspolitischen Gründen berechtigte Gefühl, der Plan 1986— 1990 könne nicht mehr so einseitig unter dem Motto der „Verteidigung des Konsums" ste-hen, könnte erneut zur Forcierung der Investitionen verleiten, was dann wieder Konflikte mit der Bevölkerung heraufbeschwört.
Langfristig:
Die Erblast Giereks ist noch nicht überwunden; denn auf lange Sicht bedeutet die Desinvestition (erst 1983 gab es wieder positive Wachstumsraten der Investitionen) und der Rückzug aus dem Westgeschäft, wo man sich als „gospodarka hinterlandu" (Hinterlands-wirtschaft) fühlte ökonomisch und technologisch einen Fehlstart ins 21. Jahrhundert. Manche Polen haben das Gefühl, daß ihr Land die Chance verpaßt hat, die ihm zu Giereks Zeit geboten war.
Peter Michael von der Lippe, Dr. rer. pol., Diplom-Volkswirt, geb. 1942; Studium der Volkswirtschaftslehre in München und Marburg/Lahn; seit 1976 Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Essen, Gesamthochschule. Veröffentlichungen u. a.: (zusammen mit H. D. Westerhoff) Die Kapitalbildung in Polen. Eine ökonometrische Studie, in: Working Papers des Osteuropainstituts München, 1982; Ordnungspolitische Ursachen von Wachstumszyklen in Polen und das Scheitern von Wirtschaftsreformen, in: Integration im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), Marburg 1982; (zusammen mit V. Heese) Askese bei leerem Kochtopf. Polens Wirtschaft im Spiegel der polnischen Presse, in: Die Politische Meinung, (1982) 197, S. 23ff; (zusammen mit H. D. Westerhoff) Ein ökonometrisches Modell des Investitionsprozesses in der Volksrepublik Polen, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 1983; Marxismus in Polen, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, (1983) 1; (zusammen mit V. Heese und R. Kosfeld) Investitionszyklen in Polen, voraussichtlich Berlin 1984.
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