Wirtschaftspolitische Optionen gegen strukturelle Arbeitslosigkeit
Gerhard Willke
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Zusammenfassung
Gegenüber der „neuen", anhaltenden Massenarbeitslosigkeit der siebziger und achtziger Jahre reichen die überkommenen, am Konjunkturzyklus orientierten Interpretationsmuster nicht mehr aus. Ökonomik und Wirtschaftspolitik stehen vor neuen Herausforderungen. In der Diskussion um die „strukturelle" Arbeitslosigkeit haben sich drei Denkschulen herausgebildet, deren Diagnosen und Therapieansätze in diesem Beitrag vergleichend untersucht werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung seit Anfang der siebziger Jahre. Die neuere Entwicklung ist durch eine deutliche Wachstumsabschwächung einerseits und durch seine in zwei Rezessionen jeweils sprunghaft angestiegene persistente Arbeitslosigkeit andererseits gekennzeichnet. Diese Symptome werden von der neoklassischen Schule als angebotsseitig bedingte Störungen intepretiert, die bei steigenden unternehmerischen Risiken die Rentabilität von Realinvestitionen schmälern und so zu einem rückläufigen Angebot an rentablen Arbeitsplätzen führen. Die post-keynesianische Schule diagnostiziert dagegen eine strukturelle Nachfrageschwäche und verweist auf Überkapazitäten, die nicht durch zusätzliche Investitionen noch vermehrt, sondern durch eine Expansion der öffentlichen und privaten Nachfrage besser ausgelastet werden sollten. In beiden Diagnosen spielt der Verteilungskonflikt eine zentrale Rolle. Ein dritter Ansatz — die post-industrielle Schule — interpretiert Wachstumsabschwächung und strukturelle Arbeitslosigkeit als Folgen ökologisch bedingter . Grenzen des Wachstums und irreversibler Veränderungen (Sättigung, Wertewandel etc.) und folgert daraus die Notwendigkeit einer umfassenden Anpassung an einen quasi-stationären Zustand, in dem menschliches Wachstum Vorrang vor wirtschaftlichem Wachstum haben soll. Zwischen diesen drei Diagnose-und Therapieansätzen bestehen tiefreichende Widersprüche. Der Beitrag der Wissenschaft könnte darin bestehen, diese Widersprüche aufzuklären und damit die Bedingungen für eine rationale Politik zu verbessern. Dazu müßten die Ansätze in theroretisch überprüfbare und empirisch entscheidbare Hypothesen transformiert werden. Im Rahmen dieses anspruchsvollen Programms wird hier der bescheidene Versuch unternommen, über eine Analyse der Arbeitsmarktströme, die zur Herausbildung der strukturellen Arbeitslosigkeit führen, einer empirischen Klärung kontroverser Positionen näherzukommen.
I. Das „neue"
Beschäftigungsproblem Im Jahre Zehn der „neuen", anhaltenden Millionen-Arbeitslosigkeit (AL = Arbeitslosigkeit) in der Bundesrepublik besteht weiter Uneinigkeit über die Ursachen dieser skandalösen Fehlentwicklung. Auch über die einzuschlagende wirtschaftspolitische Strategie zu ihrer Bekämpfung herrscht unvermindert Dissens. Allenfalls gibt es heute — nach anfänglichen Kontroversen — eine gewisse Überein-stimmung darüber, daß es sich bei der seit 1974 sprunghaft angestiegenen AL um einen „nicht-konjunkturellen" Typus handelt, der sich den auf kurzfristige Nachfrageschwankungen ausgerichteten Ansätzen der konjunkturtheoretischen Diagnose ebenso wie der zugehörigen konjunkturpolitischen Therapie entzieht.
Zwar verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik weiterhin in einem zyklischen Bewegungsmuster (vgl. Abb. 1 und 4): Gemessen an dn Abweichungen der Industrieproduktion vom Trend folgte der Rezession von 1974/75 ein kurzer Aufschwung 1975/76, danach eine leichte Abschwächung 1977. Der anschließenden kräftigeren Aufschwungphase 1978/79 folgte, akzentuiert von der zweiten Ölpreiskrise und einer depressiven Weltwirtschaft, die bislang längste und schärfste Rezession der Nachkriegszeit in den Jahren 1980/82. Aktuell befinden wir uns am Beginn einer neuerlichen Erholungsphase.
In der Entwicklung der AL schlägt sich das konjunkturelle Bewegungsmuster jedoch nur als Modulierung eines steil ansteigenden Trends nieder (vgl. Abb. Von dem Minimal-wert des Jahres 1970 — im Durchschnitt waren 149 000 Arbeitslose registriert — stieg das Niveau in zwei Sprüngen auf den aktuellen Stand von über 2, 2 Mio. (Jahresdurchschnitt 1983). Immerhin führten die beiden zyklischen Erholungsphasen zwischen 1976 und 1979 zu einer spürbaren Reduzierung des Arbeitslosenbestandes um annähernd 200 000 2). Noch deutlicher verlief die Entwicklung der Beschäftigung im Zeitraum von 1976 bis 1980. Die Zahl der abhängig Beschäftigten stieg — gemessen an der Differenz der Jahresdurchschnitte — um über eine Million Wir leben also seit dem ersten ölpreisschock von 1974 keineswegs in einer andauernden Wirtschaftskrise. Vielmehr gab es in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eine Phase, in der bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des realen BSP in Höhe von ca. % über eine Million Arbeitsplätze neu besetzt wurden 4). Allerdings wurde dieser Beschäftigungsanstieg in der darauf folgenden Rezession bis 1983 wieder vollständig zunichte gemacht: Die Zahl der abhängig Beschäftigten fiel unter den Stand von 1976 zurück (vgl. Abb. 3 und Tab. 1). Dabei bestehen charakteristische Unterschiede zwischen den einzelnen Sektoren der Wirtschaft. Im Verarbeitenden Gewerbe hat sich die Beschäftigung im Zeitraum von 1970 bis 1983 um fast 2 Mio. verringert
Selbst während der Aufschwungphasen zwischen 1976 und 1979 ergab sich in diesem Sektor kein Beschäftigungszuwachs. Dagegen wiesen der Staat und die Dienstleistungsunternehmen, also der tertiäre Sektor, durch, gängig einen ansteigenden Beschäftigungstrend auf; erst seit 1981 flachte dieser Trend, vor allem beim Staat, merklich ab
Insgesamt gesehen zeigt die Beschäftigung deutlicher noch als die AL ein zyklisches Bewegungsmuster (vgl. Abb. 3). Dabei ist in der Entwicklung der Gesamterwerbstätigkeit (Selbständige und abhängig Beschäftigte) ein fallender Trend zu beobachten, während die Entwicklung der beschäftigten Arbeitnehmer um einen relativ stabilen Trend schwankt.
Das „Neue" an der AL der siebziger und achtziger Jahre ist darin zu sehen, daß das Niveau der AL in den Rezessionsphasen sprunghaft ansteigt, während es in den Erholungsphasen nur sehr mäßig zurückgeht. Dies ist die von A. E. Ott so bezeichnete „Remanenz auf hohem Niveau" Während der Konjunkturaufschwung im Anschluß an die erste Nach-kriegsrezession von 1966/67 die AL wieder völlig zum Verschwinden brachte, ja zu einem Zustand der Überbeschäftigung führte (ALQ im Jahre 1970: 0, 7 %!), verharrte die AL nach der zweiten Rezession auf einem Niveau nur wenig unterhalb der Einmillionengrenze. Von diesem hohen Sockel aus schnellte sie dann in der dritten Rezession auf über 2, 5 Mio. hoch. Nach allen verfügbaren Vorausschätzungen wird der neuerliche Konjunkturaufschwung an diesem hohen Niveau der AL wenig ändern.
Im Konzept der konjunkturellen AL wird unterstellt, daß bei sinkendem Auslastungsgrad der Produktionskapazitäten infolge gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangels Arbeitskräfte freigesetzt werden — doch nur vorübergehend. Im anschließenden Konjunktur-aufschwung werden sie bei wieder steigendem Auslastungsgrad an die vorhandenen und nun wieder rentablen Arbeitsplätze zurückgeholt. Im Aufschwung verschwindet also, diesem Konzept zufolge, die konjunkturell bedingte AL wieder. Überträgt man dieses Muster auf die gerade skizzierte empirische Entwicklung, dann kann man folgern, daß ein Teil der beobachtbaren AL sicherlich konjunktureller Natur ist — nämlich der Teil der Gesamtarbeitslosigkeit, der in den Aufschwüngen wieder abgebaut worden ist bzw. bei Normalauslastung abgebaut worden wäre. Der überwiegende Teil der registrierten AL aber ist dann nicht-konjunktureller Art Zur Erklärung dieses Typus reicht es nicht aus, die zyklischen Auslastungs-und Nachfrageschwankungen heranzuziehen. Vielmehr müssen dazu die mittel-und längerfristig wirksamen Veränderungen auf der Angebots-und der Nachfrageseite des 'Arbeitsmarktes in die Untersuchung mit einbezogen werden.
Was die Entwicklung des Arbeitsangebots angeht, so wird im Konzept der konjunkturellen AL unterstellt, daß die Zahl der Erwerbspersonen sich im Verlaufe eines Zyklus nicht verändert. Tatsächlich war jedoch vor 1976 ein Rückgang und ist seither ein deutlicher Anstieg des deutschen Erwerbspersonenpotentials (bei rückläufiger Bevölkerungsentwicklung) zu beobachten. Zum Erwerbspersonenpotential zählen die Erwerbstätigen, die registierten Arbeitslosen und die sogenannte „stille Reserve", also Personen, die bei günstigen wirtschaftlichen Bedingungen eine Erwerbsarbeit aufnehmen würden. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (Nürnberg) ist dieses Erwerbspersonenpotential seit 1977 pro Jahr um eine Anzahl in der „Größenordnung zwischen 110 000 und 190 000 Personen" gewachsen Setzt man einen jährlichen durchschnittlichen Zuwachs von ca. 150 000 Personen an, dann ist das Arbeitsangebot seit 1977 um ca. eine Million angestiegen — und es wird noch einige Jahre lang weiter ansteigen.
Das ist nur die Angebotsseite. Erschwerend kommt auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes ein mittelfristiger Abbau der Erwerbstätigkeit hinzu. Wie Abb. 3 ausweist, vollzog sich dieser Abbau unter zyklischen Schwankungen. Insgesamt fiel die Erwerbstätigkeit in der Periode 1973 bis 1983 um ca. 1, 75 Mio.; bei den abhängig Erwerbstätigen betrug der Rückgang ca. 1 Million.
Dieses empirische Bild wirft zwei Fragen auf:
1. Wie ist der mittelfristige Rückgang der Arbeitskräftenachfrage zu erklären?
2. Aus welchen Gründen kam es zu einem anhaltenden Ungleichgewicht auf den Arbeits-und Gütermärkten?
Die erste Frage bezieht sich auf die seit Jahren geführte Kontroverse um die Ursachen der „Wachstumsschwäche" seit Beginn der siebziger Jahre. Die zweite Frage hingegen steht unter der Prämisse, daß ein funktionsfä-
tik und Zeitgeschichte, B 38/82, S. 3: Es zeigt sich, „daß bei der beobachtbaren Arbeitslosigkeit strukturelle Gründe dominieren." higes marktwirtschaftliches System „eigentlich" sowohl ein steigendes Arbeitskräfteangebot (wie in den fünfziger Jahren) als auch ein nachlassendes Wachstumstempo über wettbewerblich gesteuerte Anpassungspro-zesse beschäftigungsneutral verarbeiten können müßte Anders formuliert geht es also um die Frage: Durch welche Kräfte werden die erforderlichen Anpassungsprozesse auf den Faktor-und Gütermärkten blockiert?
II. Die Wachstums-und Investitionsschwäche: Ist sie nachfrage-oder angebotsseitig bedingt?
1. Das Problem Der Prozeß des wirtschaftlichen Wachstums verlief in der Bundesrepublik in der Form zyklischer Schwankungen um einen fallenden Trend (vgl. Abb 4). Angesichts des außergewöhnlich hohen Ausgangsniveaus (Jahre des „Wirtschaftswunders" mit zweistelligen Zuwachsraten des realen BSP) ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Trend eine negative Steigung aufweist (— 0, 22 % p. a). Aber selbst wenn man die fünfziger Jahre ausblendet und nur die Entwicklung seit 1960 betrachtet, weisen alle gesamtwirtschaftlichen Variablen — außer der AL — einen fallenden Trend auf (vgl. Abb. 5).
Aufschlußreich ist eine Unterteilung der Gesamtperiode 1960 bis 1983 in zwei Teil perioden, nämlich die sechziger Jahre einerseits, die siebziger Jahre und der Beginn der achtziger Jahre andererseits. Bei dieser Betrachtungsweise (vgl. Abb. 6) kommt der „Umbruch" seit Anfang der siebziger Jahre und die danach folgende Phase der Wachstumsabschwächung deutlich zum Ausdruck. Frappierend beim Vergleich der beiden Teilphasen ist der dramatische Abfall des privaten Konsums sowie der ausgeprägte Unterschied in Niveau und Trend der gesamtwirtschaftlichen (realen) Bruttoinvestitionen. Die Wachstums-
Abbildung 5: Trends des wirtschaftlichen Wachstums, der Bruttoinvestitionen, des privaten Konsums und der Erwerbstätigenproduktivität sowie
Abbildung 2
Abbildung 2. Niveau der Arbeitslosigkeit 1970-1983 (Jahresdurchschnitte)
Abbildung 2. Niveau der Arbeitslosigkeit 1970-1983 (Jahresdurchschnitte)
Lineare Trends der Jahreszuwachsraten aus gleitenden Dreijahresdurchschnitten berechnet.
BSP * Bruttosozialprodukt (in Preisen von 1976)
Cprivater Konsum (in Preisen von 1976)
IBruttoinvestitionen (in Preisen von 1976)
PE • Reales Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen ALArbeitslosigkeit (Jahresdurchschnitte -rechte Skala)
Daten : Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1983/84. schwäche kann somit im Kern als eine Investitionsschwäche interpretiert werden n).
Ist diese Investitionsschwäche nun auf einen Rückgang der Konsumnachfrage zurückzuführen, oder ist sie durch andere (angebotsseitige) Faktoren bedingt und der Einbruch der Endnachfrage nur eine Folge der Investitionsund Wachstumsschwäche? Genau an dieser Frage scheiden sich die Geister. Liegen die Ursachen in angebotsseitigen Faktoren wie überhöhten Produktionskosten, gestiegenen Risiken aufgrund der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, Rückgang der Flexibilität der Volkswirtschaft etc., dann wäre auch eine angebotsorientierte wirtschaftspolitische Strategie angezeigt. Ist die Ursache dagegen in einem strukturellen Mangel an Endnachfrage aufgrund partieller Sättigungserscheinungen, stagnierender Einkommen, umkämpfter Exportmärkte und staatlicher Konsolidierungspolitik zu sehen, dann käme als wirtschaftspolitische Strategie eine Steigerung der Gesamtnachfrage und/oder Maßnahmen der Ar-beitszeitreduktion und Arbeitsumverteilung in Frage.
2. Die ALPHA-Diagnose: Angebotsmangel aufgrund unzureichender Gewinne
Abbildung 4
Abbildung 7: Arbeitsmarktströme
Abbildung 7: Arbeitsmarktströme
Die in der Politikberatung etablierten Wirtschaftswissenschaftler — insbesondere der Sachverständigenrat und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, aber auch die Bundesbank und einige Wirtschaftsforschungsinstitute — vertreten die Position der angebotsseitig bedingten Investitions- und Wachstunisschwäche (vgl. Übersicht Ihre Grundthese lautet, daß Art und Umfang privatwirtschaftlicher Produktion von den Gewinnen, also von der Kapital-rentabilität abhängen. Sinkt die Rendite — aus welchen Gründen auch immer —, dann bedeutet dies für die marginalen Unternehmen und Produktionslinien, daß sie unrentabel sind und über kurz oder lang aufgegeben werden (es sei denn, es handele sich um Unternehmen und Branchen, die im Subventionsgerangel erfolgreicher sind als im Markt). Die Folge ist eine sinkende Beschäftigung.
Kommen zu sinkenden Gewinnen noch steigende Risiken hinzu — etwa durch den Wandel der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, neue Weltmarktkonkurrenz, Unwägbarkeiten der Nachfrageentwicklung, Ungewißheit über künftige Belastungen durch Lohn-und Arbeitszeitentwicklung, Umweltschutzauflagen, staatliche Eingriffe etc. —, dann werden sich die Unternehmen und die privaten Anleger mit Investitionen in Realkapital — und also auch mit dem Aufbau neuer Produktionskapazitäten und neuer, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze — zurückhalten, und zwar um so mehr, wenn ihnen attraktive Alternativen in der Form unriskanter in-und ausländischer Staatspapiere mit hoher Verzinsung geboten werden.
Das ist der Kern einer mikroökonomisch ausgerichteten Erklärung der Investitions-und Wachstumsschwäche: Angebotsseitige Störungen liegen vor „bei allem, was den individuellen Ertrag des Wirtschaftens beeinträchtigt und damit die Neigung oder die Fähigkeit zu arbeiten, zu sparen und Risiken zu übernehmen (...) einschränkt.''
Ertragsbeeinträchtigend wirken nach Auffassung der Angebotstheoretiker aber nicht nur überhöhte Lohnkosten. Ebenso schwer wiegen andere Kostenbelastungen wie die Lohnnebenkosten, die Kosten für Energie, die Kosten für Kapital (Zinsniveau), aber auch „klimatische" Belastungen wie Wachstumspessimismus, Verstaatlichungs- und Investitionslenkungsgerede, Kritik an der Leistungsethik, den Gewinnen, der Vermögensverteilung. Diese Konstellation insgesamt führt zu einer unzureichenden Investitionsneigung und zu einer Schwäche der Realkapitalbildung; und sie führt dazu, daß dort, wo noch Realkapital gebildet wird, die Investitionen aufgrund der Lohn-Zins-Relation und des Kostenminimierungsimperativs einen arbeitssparenden bias haben.
Zwei weitere Aspekte gehen in die ALPHA-Diagnose ein. Zum ersten wird auf die Ausgangssituation vor dem „Umbruch" Bezug genommen: Anfang der siebziger Jahre war in der Bundesrepublik eine Situation entstanden, in der es aus der Sicht der Bundesbank notwendig wurde, die sich beschleunigende Inflation durch einen scharf restriktiven Kurs der Geldpolitik einzudämmen. Zum zweiten wird von den supply-siders ein Nachfrage-mangel durchaus anerkannt. Dieser wird jedoch als ein „sekundärer", in der Folge verschlechterter Angebotsbedingungen entstandener Nachfragemangel interpretiert. Nach Auffassung des Sachverständigenrates ist ein Nachfragemangel dann „sekundär", wenn z. B. aufgrund „stark gestiegener Kosten (...) Investitionen unterbleiben und daraus eine Kontraktion der Einkommen mit entsprechend verminderter Gesamtnachfrage erwächst"
Die von den Angebotstheoretikern in den Vordergrund gestellten Kosten und Risiken sind, so könnte man argumentieren, nur zwei von mehreren Bestimmungsfaktoren der Ka-Übersicht 1: Die ALPHA-DIAGNOSE (Gewinnschwäche und Realkapitalmangel)
a) überhöhtes Kostenniveau — überhöhtes Reallohnniveau (im Trend über den Produktivitätszuwächsen);
— überhöhtes Niveau der Lohnnebenkosten (Sozialabgaben u. a.);
— nivellierte Lohnstruktur (Politik der Sockelbeträge);
— ansteigendes Niveau der Energie-, Rohstoff-, Umweltschutz-u. a.
— steigender Kapitalkoeffizient + rückläufiger Trend der Nettoinvestitionen — struktureller Mangel an wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen. pitalrentabilität. Daneben stünden den Unternehmen auch Preiserhöhungen und Produktivitätssteigerungen zu Gebote. Was indessen die Möglichkeit von Preiserhöhungen betrifft, so steht dem zum einen die restriktive Geldpolitik der Bundesbank, zum anderen die Preiselastizität der Nachfrage, zumal bei scharfer Importkonkurrenz, entgegen.
Bleibt der Versuch, über Produktivitätssteigerungen das steigende Kostenniveau aufzufangen. Dieser Weg führt jedoch über Rationalisierungsinvestitionen zu einer Netto-Freisetzung von Arbeitskräften. Dieser „Mengeneffekt" ist die markt-logische Konsequenz eines überhöhten Kostenniveaus für den Faktor Arbeit. 3. Die BETA-Diagnose: Nachfragemangel aufgrund unzureichender Masseneinkommen
Anders als die Vertreter der ALPHA-Diagnose (Theorie der angebotsseitig bedingten Wachstums-und Investitionsschwäche) beharren die Anhänger der BETA-Diagnose — gewerkschaftsnahe Ökonomen, die Memorandum-Gruppe, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung u. a. — auf einem im Kern keynesianischen Ansatz, nämlich auf der Theorie einer durch unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage bedingten Investitions-und Wachstumsschwäche: „Nicht die Angebots-, sondern die Nachfrageseite stellt den Engpaß dar." Die eigentlich kurzfristig ausgerichtete keynesianische Analyse wird lediglich auf die mittlere Frist übertragen. Der Kernpunkt der Diagnose ist das empirische Faktum anhaltend unterausgelasteter Produktionskapazitäten. Es mangelt demnach nicht an Realkapital, sondern an effektiver Nachfrage, um das reichlich vorhandene voll auszulasten. Die entscheidende Ursache für die Wachstumsschwäche wird in der investitionshemmenden Wirkung der Überkapazitäten gesehen
Von keinem Unternehmen, so die Argumentation, könne erwartet werden, daß es zusätzlich investiert, wenn seine sachlichen und personellen Kapazitäten nur zu 70 oder 80 % ausgelastet sind. Von daher müßten auch alle Versuche ins Leere laufen, die Investitionstätigkeit mit gewinnsteigernden Maßnahmen der „Lohnzurückhaltung" und der Lohnnebenkostensenkung anzukurbeln. Auch bei steigenden Gewinnen werde nicht investiert, solange die Nachfrage zur besseren Auslastung der vorhandenen Kapazitäten fehlt Darüber hinaus müsse „Lohnzurückhaltung" noch zu einer zusätzlichen Einschränkung der privaten Konsumnachfrage führen.
Auch die BETA-Diagnose setzt bei der Phase vor dem Umbruch an, aber nicht wie die ALPHA-Diagnose bei der weltweit in den sechziger und seit Beginn der siebziger Jahre auch in der Bundesrepublik sich beschleunigenden Inflation, sondern beim Investitionsboom der Jahre 1968— 1973, der zu einem überzogenen Aufbau von Produktionskapazitäten führte, die sich in der weiteren Entwicklung als Überkapazitäten erweisen sollten. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, insbesondere ihr gewichtigster Teil: die private Konsum-nachfrage, konnte mit der Entwicklung der Angebotskapazitäten nicht Schritt halten, weil „eine längerfristig falsche Verteilung der Jahr für Jahr geschaffenen Einkommen auf (kapazitätswirksam anzulegende) Profite und (kapazitätsauslastend zu verausgabende)
Löhne und Gehälter" die Masseneinkommen und damit die Endnachfrage systematisch beschränkte.
Eine strukturelle Verteilungsdisproportion und die zyklische Gewinnexpansion im Aufschwung führen also zur Herausbildung von Produktionskapazitäten, die aufgrund der konjunkturell nachhinkenden und strukturell unterproportionalen Lohnentwicklung nicht befriedigend ausgelastet werden können. In der Folge muß es zu einem Investitions-und Gewinnverfall kommen: „Dieses konjunkturelle Basisargument läßt sich auch mittelfristig interpretieren."
Gesamtwirtschaftlich gesehen könnten die Produktionskapazitäten natürlich auch durch eine steigende Investitionsnachfrage besser ausgelastet werden, doch genau an diesem Punkt klaffen einzelwirtschaftliche Rationalität und gesamtwirtschaftliche Erfordernisse auseinander: Was gesamtwirtschaftlich geboten wäre, nämlich eine Erhöhung der Investitionsnachfrage, welche den Auslastungsgrad erhöhen und die Einkommen schaffen würde, die dann die Konsumnachfrage beleben könnten, — genau dies wäre einzelwirtschaftlich irrational, weil es die Erweiterung bereits bestehender Überkapazitäten bedeutete. Eine Übersicht 2: Die BETA-DIAGNOSE (Nachfragemangel, Verteilungsdisproportionen, Marktversagen) a) unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage — mangelnde Konsumnachfrage aufgrund von „Lohnverzicht", steigender Abgabenlast und hoher Arbeitslosigkeit; — mangelnde Investitionsnachfrage aufgrund von Überkapazitäten in der Folge des Investitionsbooms 1968 bis 1973;
— mangelnde Staatsnachfrage aufgrund prozyklischer Haushaltskonsolidierungspolitik; — mangelnde Exportnachfrage aufgrund einer depressiven Weltwirtschaft und steigender Weltmarktkonkurrenz.
b) Sättigungserscheinungen — partielle Sättigung bei Gütern des privaten Bedarfs;
— Mangel an Produktinnovationen;
— unzureichende Deckung des steigenden Bedarfs an öffentlichen Gütern (Zukunftsinvestitionen).
c) exzessive Unternehmensgewinne — strukturelle Verteilungsungleichgewichte und konjunkturbedingte Gewinnexpansion induzieren Überkapazitäten; — in der Rezession investieren die Unternehmen mit guter Liquiditätslage nicht in Realkapital, sondern in besser rentierliche Finanztitel;
— „Gewinnsubventionierung" durch Umverteilung „von unten nach oben“ erhöht nicht die Realkapitalinvestitionen, sondern schmälert die Massen-einkommen und die Konsumnachfrage. d) Marktversagen und unzureichende staatliche Steuerungskapazität — konjunkturelle und strukturelle Un-gleichgewichte signalisieren eine Blockierung des Marktmechanismus durch den Widerspruch zwischen einzelwirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen; — diese Blockierungen können nur durch Steuerungseingriffe des Staates aufgelöst werden (Konjunktur-und Strukturpolitik); gerade bei strukturellen Ungleichgewichten reicht aber die Steuerungskapazität des Staates nicht aus;
— das Warten auf die „Selbstheilungskräfte" des Marktes ist mit unzumutbaren Kosten verbunden.
Umverteilung „von unten nach oben" würde nicht nur als Investitionsanreiz versagen, sondern würde die Masseneinkommeh schmälern und die Endnachfrage restriktiv beeinflussen. Ein Vergleich der beiden Diagnosen zeigt, daß die Gewinne jeweils eine entscheidende Rolle spielen. Ist es bei der ALPHA-Diagnose das zu niedrige Gewinniveau, mit dem — in mikroökonomischer Perspektive — die Investitionsschwäche erklärt wird, so sind es bei der BETA-Diagnose — in kreislauftheoretischer Perspektive — das überhöhte Gewinn-niveau und die zu niedrige Lohnquote, die als ursächlich für die Herausbildung von Überkapazitäten und den anschließenden Investitionsrückgang angesehen werden. Die ALPHA-Diagnose stellt die überzogenen Verteilungsansprüche der Gewerkschaften und des Staates (also der Öffentlichkeit) heraus, weil sie das Kostenniveau in die Höhe treiben und die Gewinne schmälern. Die BETA-Diagnose betont die aufgrund ökonomischer Dominanz durchgesetzten überhöhten Gewinnansprüche der Unternehmen, welche ein krisenhaftes Ungleichgewicht zwischen Kapazitäten und Nachfrage herbeiführen.
Zentrale Denkfigur der ALPHA-Diagnose ist also das mikroökonomische, unternehmerische Rentabilitätskalkül, das über die einzel-wirtschaftliche Investitionsentscheidung auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bestimmt. Kostensteigerungen, erhöhte Risiken, zusätzliche staatliche Auflagen, Absatzprobleme etc. wirken sich negativ auf dieses Rentabilitätskalkül aus: Sie beeinträchtigen „den individuellen Ertrag des Wirtschaftens". Der Niedergang der Rentabilität verweist somit auf ein mikroökonomisches Verteilungsproblem. Zentrale Denkfigur der BETA-Diagnose ist dagegen der gesamtwirtschaftliche Kreislauf. Zusammenhang, in dem ein bestimmtes Angebot nur dann hervorgebracht wird, wenn eine ausreichende Nachfrage dafür vorhanden ist (notwendige Bedingung) und wenn dabei im Durchschnitt eine befriedigende Rendite erzielt wird (hinreichende Bedingung). Das Erfordernis einer das Angebot absorbierenden Nachfrage aber verweist auf die Bedingung ausreichender Kaufkraft, und diese wiederum auf ein gesamtwirtschaftliches Verteilungsproblem. Nun stehen diese beiden Aspekte — einzel-wirtschaftliches Rentabilitätskalkül und gesamtwirtschaftliche Nachfragebedingung — theoretisch keineswegs im Widerspruch zueinander. Wohl aber müssen die Konsequenzen, die von den beiden Schulen aus ihrer jeweiligen Diagnose für die Erklärung der zentralen Fehlentwicklungen gezogen werden — hier Gewinnschwäche, dort zu niedrige Masseneinkommen, hier Realkapitalmangel, dort Überkapazitäten, hier zu wenig Marktdynamik, dort Versagen des Marktmechanismus —, doch als Gegensätze interpretiert werden, die sich nicht kurzerhand durch ein gut gemeintes „Sowohl-Als-auch" überbrücken lassen. 4. Die GAMMA-Diagnose: Grenzen des Wachstums und das Ende der Arbeitsgesellschaft
Die beiden gerade vorgestellten Diagnosen beherrschen zwar die heutige wirtschaftspolitische und -theoretische Diskussion, doch bestehen noch weitere Erklärungsansätze der neueren Wirtschafts-und Beschäftigungsentwicklung. Zumindest ein Ansatz verdient hier Erwähnung, weil er sich kritisch sowohl gegen die ALPHA-als auch gegen die BETA-Diagnose stellt, insofern er einer Wachstumsforcierung grundsätzlich abschwört. Die GAMMA-Diagnose ist wachstumspessimistisch in dem doppelten Sinne, daß ihre Vertreter ein zum Abbau der AL ausreichendes Wachstum weder für möglich noch auch für wünschenswert halten: „Es gibt keine realistisch erwartbaren Wachstumsraten, die diese (Projektion einer Millionen-Arbeitslosigkeit in den nächsten 10 bis 15 Jahren) erschüttern könnten. (...) Eine Beschäftigungspolitik, die auf . Aufschwung'setzt, mogelt sich am Problem vorbei."
Nicht wünschenswert erscheint dieser Richtung das Wachstum alter Art, weil seine Kosten in der Form menschlichen Verschleißes und umweltlicher Zerstörungen den Nutzen-zuwachs aus zusätzlichen Gütermengen längst übersteigen. Ohnehin müßten weithin unnütze, wo nicht schädliche Produkte den gesättigten Menschen mit Milliardenaufwand aufgezwungen werden, während gleichzeitig ein enormer Mangel an wirklich nützlichen Gütern bestehe, von erschwinglichem Wohnraum über attraktive Nahverkehrssysteme bis zu sozialen Dienstleistungen. Viel weniger als auf die Quantität des Wachstums komme es auf dessen Qualität an.
Die Wachstumsschwäche signalisiere eine Erschütterung der quantitativen Orientierung schlechthin. Die Verstiegenheit des Wachstumsdenkens ohne Rücksicht auf die umweltlichen und menschlichen Folgen trete immer deutlicher zutage. Dabei sei dies nur ein Element eines viel umfassenderen Wertewandels, der inzwischen die Qualität einer kulturellen Krise angenommen habe und im Bereich der Arbeit mit einer nachhaltigen Erosion des Arbeits-und Leistungsethos verbunden sei. Ins Zentrum des Wertehorizontes der Menschen rückten heute solche Normen wie Selbstverwirklichung, Ausübung einer erfüllenden und bedeutungsvollen Tätigkeit, Identität und Solidarität. Dies bedeute aber nichts anderes, als daß die Menschen zum Wachstum im herkömmlichen Sinne nicht mehr disponiert seien. Übersicht 3:
Die GAMMA-DIAGNOSE (Grenzen des Wachstums, Reduktion der Arbeit, Werte-wandel) a) weiteres Wachstum nicht machbar und nicht wünschbar — umweit-, energie-und rohstoffbedingte Grenzen weiteren Wachstums; — menschlicher Verschleiß in heutigen Produktionsprozessen (Frühinvalidisierung, Explosion des Gesundheitssektors etc.);
— Sättigungserscheinungen bei markt-gängigen Gütern.
b) Ende der Arbeitsgesellschaft — stetig sich verteuernde Arbeit induziert technischen Fortschritt, der Arbeit zunehmend überflüssig macht;
— Arbeit, zumal fremdbestimmte, verliert ihren zentralen Stellenwert in post-modernen Gesellschaften.
c) Wertewandel — das Streben nach „mehr, immer mehr" hat an Wirksamkeit verloren;
— die traditionelle Arbeits-und Leistungsethik unterliegt einer stetigen Erosion;
— Heraufkunft postindustrieller Wertorientierungen: das Streben nach Selbstverwirklichung und erfüllender Tätigkeit.
d) alternative ökonomische Reproduktion — Ausweichbewegungen in Untergrund-und Schwarzwirtschaft;
— Rückverlagerung von Dienstleistungen in den Haushalt (Eigenproduktion); — Verlagerung von Versorgungs-und Produktionstätigkeiten in „kleine Netze". Nach Auffassung mancher Vertreter dieser Richtung ist nicht nur das Wachstum, sondern ist die Arbeitsgesellschaft schlechthin am Ende Dieser Diagnose zufolge beruht die Arbeitslosigkeit auf dem hohen Preis der Arbeit, der seinerseits auf dem strukturellen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital basiert. „Der zunehmende Erfolg der Arbeitnehmer (in diesem Konflikt) ist daher die treibende Kraft der Arbeitsgesellschaft, der am Ende zu ihrer Aufhebung führt."
Noch spielt diese Diagnose — und die zugehörige Therapie — im politikrelevanten Bereich keine Rolle. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Aber man tut vielleicht gut daran, sich damit bekannt zu machen.
III. Arbeitsmarktanalyse
Abbildung 5
Tabelle 1: Daten zur Beschäftigung und zur Arbeitsmarktfluktuation Quellen: Spalte 1: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1983/84, Tab. 10 , Spalten 3, 5, 7 und 12: Bundesanstalt für Arbeit. Spalte 9: Differenz der Spalten 7 und 11. Spalte 11: Differenz des Jahresanfangs-und -endbestandes aus ANBA Spalte 14: Summe der Zu-und Abgänge (Spalten 7 und 9) bezogen auf die abhängig Beschäftigten (Sp. 1).
Tabelle 1: Daten zur Beschäftigung und zur Arbeitsmarktfluktuation Quellen: Spalte 1: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1983/84, Tab. 10 , Spalten 3, 5, 7 und 12: Bundesanstalt für Arbeit. Spalte 9: Differenz der Spalten 7 und 11. Spalte 11: Differenz des Jahresanfangs-und -endbestandes aus ANBA Spalte 14: Summe der Zu-und Abgänge (Spalten 7 und 9) bezogen auf die abhängig Beschäftigten (Sp. 1).
Wie gezeigt, gibt es zumindest drei konkurrierende und sich z. T. widersprechende Diagnosen ein und desselben Realitätsausschnittes — nämlich der Wachstumsschwäche und der strukturellen Arbeitslosigkeit —, die alle den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Wahrheit erheben. In dieser Situation böte es sich an, die verschiedenen Ansätze auf theoretisch überprüfbare und vor allem empirisch falsifizierbare Hypothesen zu reduzieren, um auf diesem Wege zwischen richtigen und falschen Aussagen unterscheiden zu können. Doch das ist in diesem Rahmen ein zu weites Feld.
Ersatzweise soll hier der Versuch unternommen werden, dem Ziel der Hypothesenprüfung durch eine empirische Analyse des Arbeitsmarktgeschehens näherzukommen. Alle Faktoren, die im Zusammenhang mit struktureller AL interessieren, ob Wachstumsabschwächung, demographische Entwicklung, technologischer Wandel etc., schlagen sich in Veränderungen der Arbeitsnachfrage einerseits und des Arbeitsangebots andererseits nieder. Diese globalen Veränderungen wirken sich ihrerseits auf eine Reihe von Arbeitsmarktströmen aus, die einer empirischen Analyse zugänglich sind, weil über sie fortlaufend erhobene Daten vorliegen.
Im folgenden geht es vor allem um die Arbeitsmarktströme, die das (trendmäßig steigende) Niveau der AL bestimmen. Im Hinblick auf das thematische Problem „strukturelle Arbeitslosigkeit" wäre zu klären, welche Stromgrößenveränderungen in den drei Rezessionen der Nachkriegsperiode zum Anstieg des Arbeitslosenbestandes auf die Zweieinhalb-Millionen-Marke geführt haben.
Ein Blick auf Tab. 1 zeigt, daß die Zahl der abhängig Beschäftigten im Trend der Jahre 1965 bis 1983 — bei zyklisch ausgeprägten Schwankungen — annähernd stabil geblieben ist (Spalte 1). Seit dem „Umbruch“ von 1973/1974 fiel die Zahl der abhängig Beschäftigten um ca. 1 Million. In jeder der drei aufeinanderfolgenden Rezessionen war der Beschäftigungseinbruch stärker: von 717 000 in den Jahren 1965/67 stieg er bis auf über eine Million in der jüngsten Rezession.
Was nun die Zahl der Beendigungen von Beschäftigungsverhältnissen betrifft (im folgenden vereinfachend Entlassungen genannt), weist die Tabelle (Spalten 3 und 4) aus, daß sie in den sechziger und den siebziger Jahren bei charakteristischen Schwankungen bemerkenswert stabil zwischen sieben und sechs Millionen pro Jahr lag. Das Besondere der Schwankungen liegt nun darin, daß die Zahl der Entlassungen in den Rezessionsjahren nicht etwa sprunghaft zunahm, sondern im Gegenteil: um durchweg über eine Millionen abnahm Dieses empirische Faktum erlaubt zunächst die Feststellung, daß die Belastung des Arbeitsmarktes in der Rezession jedenfalls nicht von einem Anstieg der Entlassungen herrührt.
Wie aber kommt es dann zu dem drastischen Anschwellen des Stromes 0? (vgl. Spalte 7).
Aufklärung bringt ein Blick auf die Spalten 5 und 6. Es sind die Einstellungen, die nicht nur zurückgehen, sondern deutlich stärker zurückfallen als die Entlassungen. In der ersten Rezession Mitte der sechziger Jahre fiel die Zahl der Einstellungen um nahezu zwei Millionen, d. h. um ca. 50 % stärker als die Zahl der Entlassungen. Noch ausgeprägter war der Rückgang der Einstellungen in der Rezession der Jahre 1973/75; entsprechend hoch fiel der Anstieg der Zugänge in die AL aus (Spalte 7).
Bezüglich der Zugänge zur AL liegt der Unterschied zwischen Rezessions-und Aufschwungsjahren darin, daß 6— 7 Mio. Entlas-'
sungen im Falle eines konjunkturellen Aufschwungsjahres zu 1, 5— 2 Mio. Zugängen führen, während die annähernd gleiche Zahl von Entlassungen in Rezessionsjahren fast eine Verdoppelung der Zahl der Zugänge in AL mit sich bringt. Dies galt bis zum Umbruch von 1973. Für die Aufschwungsjahre zwischen 1976 und 1979 zeigt sich, daß die Zahl der Zugänge anhaltend über oder knapp unterhalb der Drei-Millionenmarke blieb (Remanenz der Zugänge auf hohem Niveau). Als Zwischenergebnis läßt sich somit festhalten:
In konjunkturell schlechten Zeiten sinkt zwar die Zahl der Entlassungen, aber die Zahl der Einstellungen sinkt noch stärker, so daß die Zugänge in die Arbeitslosigkeit rapide ansteigen. Der Engpaß bei den Einstellungen zwingt einen zunehmenden Anteil der Entlassenen, statt des Weges 0 (in Abb. 7) den Weg 0 einzuschlagen, also eine bestimmte Zeit im Durchgangsstadium der Arbeitslosigkeit zu verweilen. Das Muster der Arbeitsmarktfluktuation in der Rezessionsphase ist dadurch gekennzeichnet, daß die Rate der Erwerbstätigenfluktuation (Einstellungen und Entlassungen bezogen auf die Zahl der Erwerbstätigen) abnimmt, während die Rate der Arbeitslosen-fluktuation (Zu-und Abgänge bezogen auf die Erwerbstätigen) ansteigt (vgl. Spalte 14 in Tab. 1).
Bemerkenswert ist nun, daß in Rezessionsphasen nicht nur die Zahl der Zugänge in die AL ansteigt; auch die Zahl der Abgänge aus AL (Spalte 9) weist trotz konjunkturellen Ab-schwungs eine steigende Tendenz auf. Relevant für den Bestand ist die Differenz zwischen den Jahressummen der Zu-und Abgänge, die in Spalte 11 ausgewiesen ist und der Bestandsveränderung im Jahresverlauf entspricht. Ein steigender jahresdurchschnittlicher Bestand an Arbeitslosen wird jedoch nicht allein durch den Grad der Betroffenheit (Quote der Erwerbspersonen, die im Laufe eines Jahres von AL betroffen werden) bestimmt, sondern auch von der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit, die in Rezessionsphasen zunimmt. Im Verlaufe der siebziger Jahre hat sich die durchschnittliche, bis zu einem bestimmten Erhebungsstichtag zurückgelegte Dauer der AL von vier auf über acht Monate verdoppelt
An dieser Stelle wäre noch darauf einzugehen, wie sich das Kernproblem, nämlich der große Stau vor dem Flaschenhals „Einstellungen" über die Selektionsmechanismen des Arbeitsmarktes auf die Struktur des Arbeitslosenbestandes auswirkt. Verkürzend sei hier zusammengefaßt:
Die Optionen der Wirtschaftspolitik Alternative II mehr wirtschaftliches Wachstum mehr menschliches Wachstum — offensive, marktorientierte Wachstumspolitik — mehr Zeitsouveränität — Revitalisierung der — mehr Flexibilität bezüglich mehr Marktdynamik der Arbeitsformen Markt und -Zeiten — Angebotsorientierte Stärkung der privaten — Ausbau der informellen Unternehmen Wirtschaft — Humanisierung — Arbeitsbeschaffungsprogramme der Arbeit — Zukunftsinvestitionsprogramme — Arb銘ࠚ
---------------____ A-Übersicht 7:
Die Optionen der Wirtschaftspolitik Alternative II mehr wirtschaftliches Wachstum mehr menschliches Wachstum — offensive, marktorientierte Wachstumspolitik — mehr Zeitsouveränität — Revitalisierung der — mehr Flexibilität bezüglich mehr Marktdynamik der Arbeitsformen Markt und -Zeiten — Angebotsorientierte Stärkung der privaten — Ausbau der informellen Unternehmen Wirtschaft — Humanisierung — Arbeitsbeschaffungsprogramme der Arbeit — Zukunftsinvestitionsprogramme — Arb銘ࠚ
Der unstrittige Befund aller Diagnosen lautete, daß eine nachhaltige Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums zu hoher, anhaltender AL geführt hat. Dem Typus nach ist diese „neue" AL nicht konjunktureller, sondern strukturell-wachstumsdefizienter Art In dieser Situation ist es das unstrittige Ziel aller wirtschaftspolitischen Strategien, die hohe strukturelle AL möglichst weitgehend abzubauen. Dabei steht die Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik vor einer grundsätzlichen Alternative: Sie kann entweder versuchen, den Wachstumstrend wieder umzukeh-ren, d. h. durch mehr Wachstum wieder mehr Beschäftigung zu ermöglichen, oder aber sie akzeptiert die eingetretenen Veränderungen in den Wachstumsbedingungen als irreversibles Faktum und versucht, die Beschäftigung an die neuen Bedingungen anzupassen.
Grundlage — ja integraler Bestandteil — der alternativen Strategien der Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik sind die in Teil II vorgestellten alternativen Diagnosen. Insofern in die Diagnosen selbst bereits wirtschaftspolitische Präferenzen eingehen, gehören diese untrennbar zu den Optionen der Politik — und damit zum Thema. Weithin sind die jeweiligen Strategien sozusagen der Umkehrschluß aus den Diagnosen: Wird z. B. ein überhöhtes Kostenniveau diagnostiziert, so ist als politische Maßnahme eine Reduzierung dieses Kostenniveaus indiziert. Insofern können wir uns hier kurz fassen.
Die neoklassisch ausgerichtete Schule leitet aus ihrer ALPHA-Diagnose eine wirtschaftspolitische Strategie ab, die auf eine Erneuerung der Wachstumsdynamik und eine Revitalisierung der Marktkräfte abzielt (a-Strategie, vgl. Übersicht 4). Der Kern dieser Strategie besteht darin, durch eine Verbesserung der Angebotsbedingungen wieder mehr Produktion rentabel zu machen: „Vollbeschäftigung wird es nur bei Wachstum geben" Übersicht 4:
Die ALPHA-STRATEGIE (Offensive Wachstumspolitik) a) Reduzierung der Produktionskosten — Dämpfung des Lohnkostenanstiegs;
— Korrektur der Lohnrelationen;
— Abbau der Lohnnebenkosten.
b) Reduzierung der Abgabenlast und der Auflagen — Dämpfung der Unternehmensteuern und -abgaben;
c) Revitalisierung der Marktkräfte — Anreize für mehr Mobilität und Flexibilität; — Reprivatisierung staatlicher Aktivitäten und Beteiligungen;
— Rückverlagerung der Verantwortung für Vollbeschäftigung vom Staat auf die Tarifvertragsparteien. d) Anreize für fnnovation und Wachstum — Förderung von Forschung, Technologietransfer und Innovation;
— Abbau von Unsicherheit und Stärkung des Zukunftsvertrauens durch Verstetigung der Politik;
— Festigung wachstumsorientierter Einstellungen und Wertvorstellungen. Die postkeynesianische Schule leitet aus ihrer ß-Diagnose eine gemischte Strategie ab, die sowohl Elemente der Wachstumsstimulierung durch Expansion der privaten und staatlichen Nachfrage als auch Elemente der Arbeitsumverteilung enthält (ß-Strategie, vgl. Übersicht 5). Im Kern geht es bei diesem Ansatz darum, die dominierende, aber als dysfunktional angesehene Rolle der privaten Unternehmen im Markt zurückzudrängen und die staatliche Steuerung zum Zwecke der Krisenbewältigung und Zukunftssicherung auszubauen. In manchen der diesbezüglichen Forderungen wird durchaus auch die System-frage thematisiert.
Aufgrund ihrer Heterogenität fällt es bei der postindustriellen Richtung (y-Diagnose) schwerer als bei den anderen beiden Schulen, eine geschlossene wirtschaftspolitische Strategie gegen Krise und Arbeitslosigkeit abzuleiten. Negativ gewendet läßt sich jedenfalls sagen, daß für diese Richtung eine offensive Wachstumspolitik, aber auch eine forcierte Ausweitung der privaten und staatlichen Nachfrage nicht in Betracht kommen. Im Vordergrund stehen vielmehr Maßnahmen der defensiven Anpassung an die als irreversibel angesehenen Veränderungen der Wachstums-und Umweltbedingungen sowie an die nachhaltig gewandelten Einstellungen der Menschen zu Arbeit, Leistung, Konkurrenz und Lebenswelt. Übersicht 5:
Die BETA-STRATEGIE (Wachstums-und Arbeitszeitpolitik) a) Expansion der privaten Nachfrage — „aktive Lohnpolitik" zur Erhöhung der Masseneinkommen und der privaten Konsumnachfrage;
— tarif-und steuerpolitische Umverteilung zugunsten einkommensschwächerer Schichten zur Erhöhung der Konsumquote.
b) Expansion der Staatsnachfrage — Auflage eines langfristigen Beschäftigungsprogramms im Bereich der Infrastruktur-, Sozial-und Zukunftsinvestitionen; — Ausweitung des Bereichs öffentlicher und sozialer Dienste zur Kompensation stagnierender (weil partiell gesättigter) privater Nachfrage. c) Arbeitszeitverkürzung — Zügige Einführung der 35-Stunden-woche bei vollem Lohnausgleich;
— Ausweitung von Erholungs-und Bildungsurlaub, Vorverlegung des Rentenalters, vermehrte Teilzeitarbeit. d) Ausbau der staatlichen Steuerungskompetenz — Ausweitung der Kompetenzen und des Instrumentariums für eine staatliche Struktur-und Investitionslenkung; — Intensivierung der staatlichen Einkommens-und Vermögensumverteilungspolitik.
V. Schlußbetrachtung
Der Vergleich konkurrierender Erklärungsund Therapieansätze läßt deren jeweilige Stärken und Schwächen deutlicher hervortreten. Die drei skizzierten Ansätze enthalten, jeder für sich, durchaus zutreffende diagnostische Aussagen und schlüssig daraus abgeleitete Politikvorschläge. Sie beziehen sich allerdings auf Realitätsausschnitte, die nicht deckungsgleich sind. Die Auswahl der jeweiligen Realitätssegmente ist interessengeleitet und spiegelt auch unterschiedliche politische Präferenzen wider. Nicht zuletzt deshalb wäre der Versuch abwegig, die drei dargestellten Ansätze kurzerhand zu einer Politiksynthese, zu einem optimalen „policy mix" zu verbinden. Von der Wirtschaftspolitik sind klare Entscheidungen gefordert. Sie kann nicht sowohl Übersicht 6: Die GAMMA-STRATEGIE (Defensive Politik der Anpassung) a) Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung — Reduzierung der notwendigen Erwerbsarbeitszeit und Verlängerung der freien Zeit;
— Flexibilisierung der Tages-, Wochen-, Jahres-und Lebensarbeitszeit; — mehr Teilzeitarbeit und job-sharing. b) Humanisierung der Arbeit — Reduzierung der Gesundheitsrisiken und des Niveaus der Frühinvalidisierung; — menschengerechtere und sinnerhaltende Gestaltung der Arbeit; mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz;
— Ausbau der Nachbarschaftshilfe und der „kleinen Netze".
d) Ausweitung der informellen Wirtschaft — Förderung alternativer Arbeits-und Lebensformen;
— Ausbildung eines dualen Systems aus formellem und informellem Sektor. die Rentabilität privatwirtschaftlicher Produktion als auch die Masseneinkommen erhöhen, sie kann nicht sowohl die Arbeit — und die Einkommen daraus — per Dekret gleichmäßiger auf alle Schultern verteilen als auch den Marktkräften und der privaten Eigeninitiative mehr Raum geben wollen. Die realisierbaren Optionen der Wirtschaftspolitik werden von zwei prinzipiellen Alternativen eingegrenzt:
1. Mehr wirtschaftliches Wachstum oder mehr menschliches Wachstum?
2. Mehr Markt oder mehr Staat?
Soll also die Wachstumsschwäche mit einer „offensiven Strategie" überwunden, sollen neue Wachstumsbranchen durch Innovations-und Technologietransferförderung erschlossen, soll der privatwirtschaftlichen Initiative durch Bereitstellung von „venture Capital" auf die Sprünge geholfen werden? Oder soll man eine „defensive Strategie" der Bestandserhaltung und der Anpassung an irreversibel veränderte Wachstumsbedingungen einschlagen, eine Strategie der Sicherung des erreichten Einkommens-und Wohlstandsniveaus, aber auch der gefährdeten Lebenswelt, unter bewußter Hinnahme eines — bei weiteren Produktivitätszuwächsen — sinkenden Beschäftigungsvolumens?
Und bezüglich der Alternative Markt und Staat — sollen die Staatsaktivitäten zurück-geschraubt, die Privatunternehmen entlastet und die Marktdynamik neu entfacht werden, oder liegt der zukünftige Bedarf im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und des „gesellschaftlichen" Konsums? Muß also der staatliche Sektor zu Lasten des Markt-Sektors weiter ausgebaut werden?
Aus der Kombination dieser beiden grundsätzlichen Alternativen ergibt sich eine Vierfeldermatrix (vgl. Übersicht 7), in der sich die a-Strategie und die ß-Strategie gut unterscheiden lassen, während sich die y-Strategie als diffus gegenüber der Alternative I erweist. Daraus wäre die Frage abzuleiten: Wie halten es die Vertreter der y-Strategie mit dem Staat, wie mit dem Markt? Oder gibt es für sie ein „Drittes" — „jenseits von Markt und Staat"? Eine in sich stimmige Strategie der Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik setzt am Ende grundlegende politische Entscheidungen bezüglich der beiden genannten Alternativen und damit auch zwischen den idealtypischen Strategien (vgl. Übersicht 7) voraus. Diese Entscheidungen können durch Diagnose nur gestützt, nicht aber zwingend fundiert werden. Es verbleibt ein Maß an Unsicherheit und Risiko, das politisch verantwortet werden muß.
Als entscheidende Schwäche der beiden wachstumsorientierten Optionen (a-Strategie und ß-Strategie) muß man wohl ansehen, daß sie auf eine bewußte „Veranstaltung" von Wachstum abzielen — sei es durch staatliche Setzung von Rahmendaten, sei es durch unmittelbare Ausweitung der Staatsaktivitäten —, während doch bezweifelt werden kann, ob die Wirtschaftssubjekte zu mehr Wachstum überhaupt noch disponiert sind. Es bestünde, überspitzt gesagt, die Gefahr, daß Wachstum verordnet wird, aber kaum jemand mitmacht Demgegenüber scheint die zentrale Schwäche der y-Strategie darin zu liegen, daß in ihr Bescheidung mit weniger Arbeit und stagnierenden Einkommen verordnet wird, ohne daß dies den Neigungen der Wirtschaftssubjekte entsprechen muß. Eine verordnete Beschneidung der offiziellen Arbeit könnte, überspitzt formuliert, einen „run" auf „Eigenarbeit" und in die Schattenwirtschaft auslösen bzw. verstärken.
Wäre es nicht auch denkbar, die mündigen Wirtschaftsbürger selbst herausfinden zu lassen, welche Option ihren Interessen und Dispositionen am besten entspricht? Dazu müßten dann eine Reihe von wirtschafts-, sozial-und tarifpolitischen Blockierungen aufgelöst, der Bereich der Wahlmöglichkeiten erweitert, eine größere Vielfalt an Berufsrollen, Arbeitsformen und -Zeiten zugelassen und der Grad der freiwilligen Flexibilität erhöht werden.
Diese Leitvorstellung ließe sich durch folgende Elemente kennzeichnen: — Beseitigung solcher Wachstumshemmnisse, deren Sicherungs-und Schutzfunktion entbehrlich erscheint (z. B. manche Subventionen, protektionistische „Marktordnungen" etc.);
— Verzicht auf eine „offensive", forcierende staatliche Wachstumspolitik;
— Vorrang für eine Wirtschaftspolitik der Verstetigung, der Beständigkeit und Berechenbarkeit; — Hinnahme eines „differenzierten" Wachstums ohne Wachstumszwänge bis hin zu einer Dualisierung der Wirtschaft in einen dynamischen, wachstumsorientierten Sektor und einen quasi-stationären Sektor; — Schaffung der Rahmenbedingungen für mehr Flexibilität bezüglich der Arbeitsinhalte, -formen und -Zeiten (bei Wahrung der Errungenschaften des kollektiven Schutzes);
— Schaffung der Rahmenbedingungen für die Entfaltung von „kleinen Netzen", auto-nomen Gruppen, Selbsthilfeeinrichtungen etc. bis hin zur Formen der „sozietalen Eigensteuerung"
Gerhard Willke, Dr. rer. pol., geb. 1945; Studium der Nationalökonomik und Politik in Tübingen; 1976— 1980 Assistant und Associate Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz; derzeit Habilitations-Stipendiat an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Globalsteuerung und gespaltene Konjunktur. Stabilisierungspolitik bei sektoral differenziertem Zyklus, Schriftenreihe des Europäischen Hochschulinstituts Florenz (Nr. 2), Stuttgart 1978; The Impact of the Labour Market Crisis on the Conduct of Industrial Relations, in: E. Tarantelli/G. Willke (Eds.), The Management of Industrial Conflict in the Recession of the 1970s, Publications of the European University Institute (No. 8), Alphen aan den Rijn 1981, S. 205— 234; Dimensionen der Politik, Bd. I, Teil 2: Wirtschaft — Stabilisierungspolitik und Wirtschaftsordnung, Frankfurt 1983.
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