Die politischen Einstellungen von Arbeitslosen. Zwischen Protest und Resignation
Ursula Feist/Dieter Fröhlich/Hubert Krieger
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Zusammenfassung
ökonomische Krisen und politische Radikalisierung sind eine historische deutsche Erfahrung; dafür steht das Trauma eines Hitler-Deutschlands, aber auch das Intermezzo der NPD in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Anfang der achtziger Jahre ist die Arbeitslosenzahl so hoch wie nie zuvor im Nachkriegsdeutschland; Prognosen sprechen von einer noch wachsenden Zahl. Wie verarbeitet das politische System die Dauerarbeitslosigkeit? Wie reagieren die Betroffenen? Auf der Grundlage von Repräsentativerhebungen aus den Jahren 1980 bis 1984 setzt sich der Beitrag mit systemimmanenter und systemkritischer Verarbeitung der ökonomischen Krisenerfahrung auseinander. Im Hinblick auf aktive Reaktionsformen innerhalb des vorgegebenen Systems werden die „Anti-Regierungshaltung" sowie die „Klientelbeziehung" als mögliche politische Verhaltensvarianten behandelt. Als systemnegierend im Sinne einer Protesthaltung wird die Neigung, sich von den etablierten Parteien abzuwenden, klassifiziert. In diesem Zusammenhang werden das Potential der GRÜNEN und ihre Attraktivität für Arbeitslose wie auch das latente Potential an den Rändern des Parteien-spektrums untersucht. Die Analyse kommt zu dem Schluß, daß die Klientelbeziehung zwischen SPD und Arbeitslosen, am Ende der sozialliberalen Regierungsära zwar belastet, heute wieder einen Großteil der Arbeitslosen in das politische System einbindet. Arbeitslose im CDU/CSU-Lager dagegen reagieren mit spürbarem Loyalitätsentzug. Als Auffangbecken für das Protestpotential bieten sich DIE GRÜNEN in ihrer ambivalenten Rolle zwischen sozialer Bewegung und systemkritischer Parlamentspartei an. Ihren Einzug in den Bundestag 1983 verdanken sie bereits der „kritischen Masse“ unter den Arbeitslosen. Seither ist das latente Protestpotential unter den Arbeitslosen gewachsen. Es ist auf der politischen Linken doppelt so groß wie auf der Rechten, weil hier offenbar ein entsprechendes ideologisches und organisatorisches Politikangebot fehlt. Aber Bonn ist nicht Weimar: Das Gesamtsystem blieb gegen politische Radikalisierung bislang immun. Die glatte Oberfläche relativer politischer Stabilität in der Bundesrepublik trotz der langanhaltenden Krise zeigt indessen erste Risse.
I. Problemstellung
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik vor einem halben Jahrhundert hatte mehrere Ursachen. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß der wichtigste Auslöser für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und für das atemberaubende Erstarken des Nationalsozialismus auf die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise zurückgeführt werden kann: sinkender Lebensstandard, fehlende Zukunftsperspektiven und vor allem Massenarbeitslosigkeit.
Abbildung 8
Tabelle 6: Wählerpotential am rechten Rand des Parteiensystems 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auwahl.
Tabelle 6: Wählerpotential am rechten Rand des Parteiensystems 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auwahl.
Daß in Deutschland ökonomische Krisen schnell als ein Versagen des politischen Systems interpretiert werden und auch heute noch eine Anti-Systemhaltung hervorrufen, schien sich in der ersten, vergleichsweise milden Rezession der Bundesrepublik Mitte der sechziger Jahre zu bestätigen: Nach jahrelanger Überbeschäftigung mit Arbeitslosenquoten um 0, 7% wies die Statistik im Jahre 1967 plötzlich 2, 1% Arbeitslose auf. In genau diese Jahre fällt auch das Erscheinen der rechtsradikalen NPD auf der politischen Bühne der Bundesrepublik: Sie war kurzfristig in mehreren Landtagen vertreten und verfehlte 1969 mit einem Stimmenanteil von 4, 3% nur knapp den Einzug 1% Arbeitslose auf. In genau diese Jahre fällt auch das Erscheinen der rechtsradikalen NPD auf der politischen Bühne der Bundesrepublik: Sie war kurzfristig in mehreren Landtagen vertreten und verfehlte 1969 mit einem Stimmenanteil von 4, 3% nur knapp den Einzug in den Bundestag. Die historische deutsche Erfahrung über den Zusammenhang von Wirtschaftskrisen und rechtsradikaler politischer Entwicklung schien sich zu bestätigen und ließ für die politische Entwicklung der Bundesrepublik im Falle einer wirklich schweren Wirtschaftskrise nichts Gutes ahnen 1).
Abbildung 9
Tabelle 7: Wählerpotential am linken Rand des Parteiensystems 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
Tabelle 7: Wählerpotential am linken Rand des Parteiensystems 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
Seit 1980 hat sich die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik ständig verschlechtert, was an der Arbeitslosenquote, die in diesem Zeitraum von 3, 8% fast kontinuierlich auf über 9% stieg, sichtbar ist. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen liegt heute deutlich über 2 Millionen; die stille Reserve wird auf weit über 1 Million veranschlagt — eine zu-rückhaltende Schätzung. Alle mittelfristigen Prognosen zur künftigen Beschäftigungssituation gehen von einem gleichbleibend hohen Niveau der Arbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre aus. Unterdessen verschärft sich die materielle Situation der Arbeitslosen: Immer mehr Arbeitslose wandern aus der Arbeitslosenhilfe ab und werden zu Sozialhilfempfängern 2).
Abbildung 10
Tabelle 8: Linkes und rechtes RAndpotential des Parteiensystems und Einschätzung der Arbeitsplatzgefährdung 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, Random-Auswahl.
Tabelle 8: Linkes und rechtes RAndpotential des Parteiensystems und Einschätzung der Arbeitsplatzgefährdung 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, Random-Auswahl.
Die zu befürchtenden Rückwirkungen der hohen Arbeitslosigkeit auf der politischen Ebene sind bisher jedoch ausgeblieben: Im rechten politischen Spektrum hat sich — entgegen den historischen Erfahrungen — bisher keine neue Partei etablieren können. Am linken Rand ist die DKP, die die klassischen Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital thematisiert, zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Allein die GRÜNEN sind dabei, das Parteiengefüge der Bundesrepublik zu verändern. Ihr zentrales politisches Angebot — Ökologie und Abrüstung — eignet sich auf den ersten Blick aber nicht als Kristallisationspunkt des politischen Protests materiell verunsicherter und bedrängter Bevölkerungsteile. Dennoch, eine glatte politische Oberfläche kann trügen; unter dieser Oberfläche können sich Bewegungen vorbereiten und neue Kräfte formieren, die später durchbrechen. Es gibt auch eine Ruhe vor dem Sturm. Und schließlich ist eine weitere Situation denkbar: ökonomisch verunsicherte Staatsbürger und materiell stark Bedrängte wie die Arbeitslosen halten ihre politischen Präferenzen unverändert bei oder schichten sie innerhalb des etablierten Parteiensystems um — oder resignieren, wenigstens vorerst.
Abbildung 11
Tabelle 9: Überschneidungen des rechten und linken Randpotentials bei Arbeitslosen 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 627 Fälle, Random-Auswahl.
Tabelle 9: Überschneidungen des rechten und linken Randpotentials bei Arbeitslosen 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 627 Fälle, Random-Auswahl.
Unsere Untersuchung der politischen Einstellung von Arbeitslosen versucht, den Einfluß der gegenwärtigen Wirtschaftskrise für bereits sichtbare Verschiebungen parteipoliti-scher Kräfteverhältnisse, aber auch für latente und möglicherweise erst spätere politische Verwerfungen zu analysieren. Hierfür stehen uns Befragungsdaten aus bundeswei. ten repräsentativen infas-Untersuchungen zwischen 1980 und 1984 zur Verfügung.
II. Das Analyseraster
Abbildung 2
Abb. 2 Das Wahlverhalten der Arbeitslosen 1980 bis 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980 bis 1984, halbjährlich ca. 14.000 Fälle, Random-Auswahl
Abb. 2 Das Wahlverhalten der Arbeitslosen 1980 bis 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980 bis 1984, halbjährlich ca. 14.000 Fälle, Random-Auswahl
Als Analyseraster verwenden wir zwei Dimensionen im Rahmen „konventioneller politischer Partizipation". Es sind dies die Dimensionen: Aktivitätsniveau und „Art" der präferierten Partei.
a) „Konventionelle politische Partizipation“ meint unter anderem politisches Engagement im Rahmen regelmäßiger Wahlen zu den verschiedenen Parlamenten. Die von uns erhobenen Parteipräferenzen sind zwar nicht mit tatsächlichen Wahlentscheidungen für die bevorzugten Parteien identisch: in der Praxis liegen nach aller Erfahrung jedoch Präferenz und tatsächliche Stimmabgabe für diese Partei nahe beieinander. Zum etablierten Wissensstand der Wahlforschung gehört ferner, daß Befragte ohne eine geäußerte Parteipräferenz eher den Nicht-Wählern zuzurechnen sind. Diese Erfahrungen erlauben es, konventionelles politisches Engagement in folgende Dimensionen aufzuteilen:
— aktiv, d. h. genannte Parteipräferenz und damit wahrscheinlicher Wähler einer Partei, sowie — passiv, d. h. ohne Parteipräferenz und damit wahrscheinlicher Nicht-Wähler. b) Parteien und ihre Politikangebote sind die Adressaten konventioneller politischer Partizipation. Hier muß unterschieden werden nach etablierten, systemkonformen Parteien und nicht-etablierten, möglicherweise systemkritischen Parteien.
Die Kombination beider Dimensionen führt nun zu folgender Typologie politischer Reaktionen auf ökonomische Krisen im Rahmen konventioneller politischer Partizipation.
Typ A entspricht der normalen Reaktion im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie: Krisenbetroffene Bürger wählen eine Partei des etablierten Parteienspektrums. Hier konkurrieren zwei Erklärungsansätze, die Antiregierungsthese und die Klientelthese, die beide in verschiedenen Zusammenhängen empirische Evidenz beanspruchen können und im Verlauf dieser Arbeit noch breitere Behandlung erfahren.
Bei Typ B bevorzugen Wähler im Prinzip eine etablierte Partei, finden sie aber letztlich nicht attraktiv und kompetent genug, um für sie zu stimmen. Hier deuten sich Verunsicherung und Resignation an Zur Operationalisierung von Typ B müßten somit weitere Indikatoren herangezogen werden, die — obwohl keine Parteipräferenz genannt wird — auf die Nähe zu einer etablierten Partei schließen lassen. Dieser Frage soll im Rahmen der Untersuchung nicht weiter nachgegangen werden.
Typ C enthält den klassischen Fall massiven politischen Protests. Aktives politisches En-gagement richtet sich auf nicht-etablierte und eventuell auch extremistische oder radikale Parteien, die Problemlösungen neuer und zum Teil grundsätzlicher Art anbieten, dabei den institutionalisierten Konfliktmechanismus im Prinzip ablehnen und das politische System insgesamt in Frage stellen. Die Nationalsozialisten der Weimarer Zeit, die NPD Ende der sechziger Jahre sowie alle orthodoxen kommunistischen Parteien lassen sich hier einordnen. Zu prüfen ist, inwieweit die Partei DIE GRÜNEN ganz oder in Teilen diesem Typ zuzuordnen wäre.
Im Typ D drückt sich gleichermaßen eine Protestaktion aus, bei der Wähler eine extreme Partei im Prinzip bevorzugen, ohne sie zu wählen. Dies kann Unentschlossenheit signalisieren, aber auch die Folge eines noch nicht existierenden Politikangebotes und eines noch fehlenden organisierten Kristallisationspunktes sein. Auf jeden Fall liegt hier ein latentes Protestpotential, das unter veränderten politischen Konstellationen aktiviert werden kann. Zur Operationalisierung werden hierbei Indikatoren verwandt, die politische Nähe zu linken und rechten Randparteien vermuten lassen.
Im Rahmen dieser Typologie werden die politischen Einstellungen der deutschen Arbeitslosen unter den Fragestellungen analysiert:
1. Wie verteilen sich die parteipolitischen Präferenzen der Arbeitslosen auf etablierte Parteien einerseits und auf nicht-etablierte und eventuell systemkritische Parteien andererseits? 2. Sind — innerhalb des etablierten Parteien-spektrums — die Parteipräferenzen der Arbeitslosen eher durch die Klientel-oder die Antiregierungsthese zu erklären?
3. Wie stark ist das Protestpotential unter den Arbeitslosen und welche Rolle spielt dabei die Partei DIE GRÜNEN als Kristallisationskern politischen Protests?
4. Läßt sich das Protestpotential der Nicht-wähler heute schon bestimmen?
III. Parteipräferenz von Arbeitslosen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre
Abbildung 3
Parteipräferenz bei Arbeitslosen und Befragten insgesamt (CDU/CSU minus SPD) sowie Arbeitslosenquote 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
Parteipräferenz bei Arbeitslosen und Befragten insgesamt (CDU/CSU minus SPD) sowie Arbeitslosenquote 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
Im ersten Halbjahr 1984 haben die Sozialdemokraten bei den Arbeitslosen einen deutlichen Vorsprung vor der Union: 45 % der Arbeitslosen präferieren die SPD; auf die CDU/CSU entfallen 24 %. Beachtlich ist auch das Abschneiden der GRÜNEN, die 13 % der Arbeitslosen hinter sich sammeln können. Die FDP ist ebenso wie die anderen Parteien mit einem Anteil von 1 % bedeutungslos.
Damit ist die Verteilung der Parteipräferenzen von Arbeitslosen auf die einzelnen Parteien im Vergleich zur Situation vor fünf Jahren im wesentlichen stabil geblieben. Im ersten Halbjahr 1980 erreichte die SPD einen Wähleranteil von 44 %. Die CDU/CSU lag mit 24% bei den Arbeitslosen abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Die GRÜNEN und die anderen Parteien erreichten damals zusammen 10 %. Neben dem Zuwachs der GRÜNEN liegt der einzig gravierende Unterschied zur Situation im ersten Halbjahr 1984 im schlechteren Abschneiden der Liberalen, die 1980 noch 4 % der Arbeitslosen auf sich vereinigen konnten. Doch diese Stabilität täuscht. Analysiert man die Entwicklung im Zeitverlauf, so werden erhebliche Verschiebungen sichtbar, insbesondere im Vorfeld der letzten Bundestagswahl. Im zweiten Halbjahr 1982 lagen CDU/CSU und SPD bei den Arbeitslosen Kopf an Kopf. Die SPD konnte zu diesem Zeitpunkt 34 %, die CDU/CSU 33 % der Arbeitslosen auf sich vereinigen. Jeder zehnte Arbeitslose entschied sich für die GRÜNEN und nur jeder fünfzigste für die FDP. Außerdem ist auffallend: Jeder fünfte Arbeitslose konnte Ende 1982 keiner Partei sein Vertrauen aussprechen. Die Verluste der Sozialdemokraten innerhalb eines Teils ihrer Stammwählerschaft am Ende der sozial-liberalen Koalition deuten auf einen Abnutzungsprozeß der führenden Regierungspartei hin, gleichzeitig profitierte davon die CDU/CSU als größte Oppositionspartei, wie auch DIE GRÜNEN als nicht-etablierte Partei. Wie lassen sich diese Prozesse innerhalb des etablierten Parteiensystems bzw. zwischen dem etablierten und nicht-etablierten Teil des Parteiensystems erklären?
IV. Reaktionen der Arbeitslosen innerhalb des etablierten Parteiensystems
Abbildung 4
Tabelle 2: Problemlösungskompetenz von Bundesregierung und SPD-Opposition 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, davon 627 Arbeitslose, Random-Auswahl.
Tabelle 2: Problemlösungskompetenz von Bundesregierung und SPD-Opposition 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, davon 627 Arbeitslose, Random-Auswahl.
Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und politischem Verhalten wird innerhalb der Politikforschung kontrovers diskutiert. Hierbei konkurrieren vor allem die , Anti-Regierungsthese" und die „Klientelthese". Ausgangspunkt beider Erklärungsmodelle ist die zunehmende Erwartungshaltung der Bürger gegenüber dem Staat und den Parteien. 1. Theoretische Ableitung: „Anti-Regierungs-“ versus „Klientelthese"
Auch wen Arbeitslosigkeit primär das Ergebnis ökonomischer Prozesse ist, die wesentlich vom Verhalten privater Akteure bestimmt werden, so ist doch mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates eine zunehmende direkte und indirekte Intervention staatlicher Stellen in den Wirtschaftsprozeß zu beobachten. Der Keynesianismus begründete die direkte makroökonomische Steuerung, während der liberale Korporatismus eher indirekte Steuerungsmechanismen herausbildete. Die Parteien haben in ihrer Selbstdarstellung diesen Prozeß verstärkt In fast allen Bundestagswahlkämpfen der Nachkriegszeit haben ökonomische Themen eine wichtige Rolle gespielt. Hierbei präsentierten sich die Parteien als fast omnipotente Institutionen, die zur Lösung schwierigster ökonomischer Probleme in der Lage sind. Jüngstes Beispiel ist die Bundestagswahl 1983, wo unter anderem der . wirtschaftliche Aufschwung“ und Lehrstellen für alle Jugendlichen versprochen wurden.
Die Reaktion der Wähler auf diesen Prozeß manifestiert sich in einer zunehmenden Erwartungshaltung im Hinblick auf die Steuerungsfähigkeit des Staates im wirtschaftlichen Bereich. Es entsteht eine ökonomische , Output“ -Orientierung, die einen reibungslosen wirtschaftlichen Ablauf als „selbstverständliche“ staatliche Leistung erwartet. Stellt sich das erwartete, weil versprochene Ergebnis nicht ein, so wird dem Staat unmittelbar die Schuld für diese ökonomische Fehlentwicklung, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, zugewiesen.
Hierauf aufbauend diversifizieren sich die beiden Erklärungsansätze. Die , Anti-Regierungsthese" vermutet eine Schuldzuweisung bei Arbeitslosigkeit gegenüber der jeweiligen nationalen Regierungspartei. Arbeitslosigkeit wird hiernach durch die Wähler als mangelnde Kompetenz der Regierung im Bereich der Beschäftigungspolitik interpretiert. Die Wähler reagieren unmittelbar mit Legitimationsentzug. Die Regierungsparteien verlieren sowohl bei den individuell betroffenen Arbeitslosen als auch in der gesamten Wählerschaft an Unterstützung. Hiervon profitieren in der Regel die etablierten Oppositionsparteien auf nationaler Ebene.
Demgegenüber hat die „Klientelthese“ zwei Varianten. Die erste Variante geht von folgendem Begründungszusammenhang aus Bei den etablierten Parteien gibt es innerhalb der verschiedenen Politikfelder (und damit auch innerhalb der Wirtschaftspolitik) Bereiche, in denen einer Partei über einen längeren Zeitraum eine höhere Sachkompetenz zugewiesen wird. Untersuchungen zeigen, daß insbesondere sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien eher eine erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zugetraut wird als bürgerlich/konservativen Parteien.
Der Grund: . Arbeitnehmerparteien“ müssen in der Regel größere Anstrengungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit machen, da ihre Wählerklientel ein größeres Arbeitsmarktrisiko als die Wählerklientel bürgerlicher Parteien trägt.
Hieraus folgt: Diejenige Partei reüssiert mit steigender Arbeitslosigkeit — unabhängig davon, ob sie Regierungsverantwortung trägt —, der die höchste Problemlösungskompetenz durch die Wähler zugewiesen wird. Dies sind in der Regel in der Bundesrepublik die Sozialdemokraten. Die zweite Variante der „Klientelthese“ betont die Bedeutung langfristiger Loyalitätsbindungen an eine bestimmte Partei; sie begründet damit die „Stammwählerthese". Diese Bindungen werden vor allem durch die politische Sozialisation vermittelt. Darüber hinaus spielt die Zugehörigkeit bzw. die Nähe zu gesellschaftlichen Großorganisationen, wie z. B. Kirchen und Gewerkschaften, eine wichtige Rolle für die Herausbildung eines Stammwählerverhaltens in der Bundesrepublik. Die Stammwählerbeziehungen zwischen Partei und bestimmten Wählergruppen ermöglichen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer „Wertegemeinschaft“ zumindest eine zeitweise Entkopplung des materiellen Resultats von Politik, das durch die eigene Partei mitbeeinflußt wird, von der Wertschätzung dieser Partei. Die Beziehung ist damit relativ enttäuschungsfest. Die Parteiloyalitäten strukturieren „die selektive Aufnahme, Bewertung, Verarbeitung und Handlungskonsequenz von Informationen über die Leistung der betreffenden Partei: Für treue Parteigänger gibt es viele Möglichkeiten, Fehlleistungen ihrer Partei durch argumentative Hilfskonstruktionen zu rationalisieren“ Der eigenen Partei wird hiernach von den Stammwählern in der Regel eine höhere Kompetenz in der Beschäftigungspolitik zugewiesen.
Die zweite Variante der „Klientelthese" folgert hieraus, daß Stammwähler auch unter Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit bzw. eigener Arbeitslosigkeit die Loyalität zu ihrer Partei nicht aufkündigen, auch wenn diese Partei Regierungsverantwortung trägt. Die , Anti-Regierungsthese“ hat hiernach nur bei den politisch ungebundenen Wählergruppen Gültigkeit, bei den Stammwählern hingegen gilt die „Klientelthese". 2. Operationalisierung der Hypothesen Die theoretischen Überlegungen zum , Anti-Regierungsverhalten" lassen sich in drei Hypothesen operationalisieren:
a) Arbeitslose wählen stärker als die Wähler insgesamt die Oppositionsparteien.
b) Mit steigender Arbeitslosigkeit verlieren die Regierungsparteien Unterstützung in der Wählerschaft und bei den Arbeitslosen. -Dieser Zusammenhang wird auch als Kontexteffekt bezeichnet.
c) Unter den Arbeitslosen wird der „Output" der Regierung schlechter beurteilt als in der Gesamtwählerschaft. Den Oppositionsparteien hingegen wird von den Arbeitslosen eine höhere Problemlösungskompetenz zugesprochen. Die erste Variante der Klientelthese führt ebenfalls zu drei Hypothesen:
a) Arbeitslose wählen stärker die SPD als die CDU/CSU, unabhängig davon, ob die SPD in .der Regierung ist. b) Mit steigender Arbeitslosigkeit gewinnt die SPD Unterstützung in der Wählerschaft und bei den Arbeitslosen.
c) Der SPD wird über einen längeren Zeitraum von den Wählern ein Kompetenzvorsprung vor der CDU/CSU in Hinsicht auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zugesprochen. 3. „Anti-Regierungsthese" oder „Klientelthese": Welches theoretische Modell hat den höheren Erklärungsgehalt?
Zur Überprüfung der Anti-Regierungsthese haben wir die Differenz zwischen der Partei-präferenz für CDU/CSU und SPD bei Arbeitslosen und Wählern insgesamt gebildet. Hiernach weisen die Sozialdemokraten mit einer Ausnahme (1. Halbjahr 1982) im gesamten Zeitverlauf ein deutliches Übergewicht gegenüber der CDU/CSU bei den Arbeitslosen auf. Dies wird an den negativen Vorzeichen in Tabelle 1 deutlich. Den höchsten Vorsprung erreichen die Sozialdemokraten vor der Bundestagswahl 1980 mit einem Wert von — 36; 18% der Arbeitslosen votieren zu diesem Zeitpunkt für die CDU/CSU, 56 % für die SPD. D. h., auch in der Zeit SPD-geführter Bundesregierungen lag die SPD in der Wählergunst von Arbeitslosen klar vor der Union. Gleichzeitig aber verringert sich der relative Vorsprung der Sozialdemokraten von 36 Punkten auf einen Gleichstand kurz vor dem Regierungswechsel im ersten Halbjahr 1982. Tabelle 1:
Welcher Trend zeigt sich, wenn man in der Zeit SPD-geführter Bundesregierungen die Parteipräferenz im Vergleich von Arbeitslosen und Wählern insgesamt analysiert? In dieser Zeit lag der CDU/CSU-Anteil bei den Wählern insgesamt höher als bei den Arbeitslosen. Die geringste Differenz zwischen beiden Gruppen wurde im ersten Halbjahr 1981 erreicht. Zu diesem Zeitpunkt lag die Union sowohl bei den Befragten insgesamt als auch bei den Arbeitslosen um vier bzw. fünf Prozentpunkte hinter der SPD. Der von der Anti-Regierungsthese prognostizierte größere Rückhalt der Oppositionspartei CDU/CSU bei den Arbeitslosen ist somit nicht zu beobachten. Damit läßt sich für die Zeit der SPD-geführten Bundesregierung die Anti-Regierungsthese zurückweisen. Die bisher beschriebene Entwicklung deutet eher auf ein politisches Verhalten der Arbeitslosen hin, das durch eine Klientelbeziehung zwischen Arbeitslosen und SPD bestimmt wird. Dennoch ist dieses Ergebnis mit gewissen Einschränkungen zu versehen, da die Unterstützung der Sozialdemokraten durch die Arbeitslosen zum Ende der sozial-liberalen Koalition nachließ. Dies wird auch deutlich, wenn man den Unterschied im Parteienindex (CDU/CSU minus SPD) zwischen den Befrag- ten insgesamt und den Arbeitslosen bis zum Regierungswechsel im zweiten Halbjahr 1982 analysiert. Die Klientelbeziehung der Arbeitslosen zur SPD verliert zu diesem Zeitpunkt erheblich an Wirkung. Betrug im zweiten Halbjahr 1980 die Differenz zwischen dem Indexwert für die Arbeitslosen (— 36) und den Wählern insgesamt (-7) noch insgesamt 29 Punkte, so hat sich der relative Vorsprung der SPD bei den Arbeitslosen im ersten Halbjahr 1982 auf 14 Punkte (Befragte insgesamt: + 14; Arbeitslose 0) reduziert.
Dieser Bindungsverlust der SPD läßt sich durch die mangelnde Kompetenzzuweisung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik im Vorfeld der Bundestagswahl 1983 erklären Im Februar 1983 glaubten 47 % der Wähler, die CDU/CSU könne am besten die Arbeitslosigkeit bekämpfen; der Anteil der SPD war auf 23 % gefallen. Die Union lag somit 24 Prozentpunkte vor der SPD. Bei der Bundestagswahl 1980 war die Differenz noch + 11 zugunsten der SPD Dennoch bleibt auch am Ende der sozial-liberalen Koalition eine abgeschwächte Klientelbeziehung der Arbeitslosen zur SPD bestehen, wie das relativ bessere Abschneiden der SPD bei den Arbeitslosen im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt zeigt. Die Klientelbeziehung kann jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über ein „Kompetenzmodell" politischen Verhaltens erklärt werden. Der langjährige Kompetenzvorsprung der SPD in der Beschäftigungspolitik war unter dem Eindruck anhaltender Massenarbeitslosigkeit dahingeschmolzen.
Die weitere Bestätigung für die Klientelthese findet sich nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982. Im zweiten Halbjahr 1983 und im ersten Halbjahr 1984 vergrößert sich die Bindung an die SPD. Im ersten Halbjahr 1984 beträgt ihr Vorsprung vor der Union bei den Arbeitslosen wiederum 21 Punkte. Ohne eine klientelistische Bindung der Arbeitslosen an die SPD hätten die Sozialdemokraten in diesem wichtigen Wählerbereich verlorengegangenes Terrain nicht so schnell zurückgewinnen können.
Die kritischere Haltung der Arbeitslosen gegenüber der momentanen Bundesregierung und das größere Vertrauen in die SPD-Opposition zeigt sich 1984 auch anhand der Bewertung der Aufgabenbewältigung von Regierung und Opposition im Deutschen Bundestag. Glaubten nur 23 % der Wähler insgesamt im ersten Halbjahr 1984, die SPD könne die anstehenden Probleme besser lösen als die amtierende Bundesregierung, so beträgt der entsprechende Anteil bei den Arbeitslosen 32 %. Dennoch, auch die Arbeitslosen sind skeptisch. 43 % trauen der SPD keine höhere Problemlösungskompetenz als der Bundesregierung zu.
Die Kritik an der Sachpolitik der Bundesregierung ist bei den Arbeitslosen heftig. 63 % der Erwerbslosen sehen eine schlechte oder eher schlechte Aufgabenbewältigung der jetzigen Bonner Koalition. Bei den Wählern insgesamt beträgt der entsprechende Anteil hingegen 45 %. 4. Kontexteffekt durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit Welche Wirkung hat der Anstieg der Arbeitslosigkeit auf das politische Verhalten von Arbeitslosen und Wählern insgesamt? Hiermit wird die Frage aufgeworfen, ob neben der persönlichen Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit auch das gesamtwirtschaftliche Ausmaß an Arbeitslosigkeit auf das individuelle politische Verhalten von Arbeitslosen und Wählern insgesamt einwirkt. Die Abschwächung der Klientelbeziehung zwischen Arbeitslosen und Sozialdemokraten kann auch durch den Anstieg der Arbeitslosenquote teilweise erklärt werden. Im ersten Halbjahr 1980 lag die Arbeitslosenquote bei 3, 8%; der Vorsprung der SPD vor der CDU/CSU betrug zu diesem Zeitpunkt bei den Arbeitslosen 20 Punkte. Im ersten Halbjahr 1982 hatte sich die Arbeitslosenquote last verdoppelt und der Vorsprung der SPD vor der Union war verlorengegangen.
In der Zeit der CDU/CSU-geführten Bundesregierung geht der Kontexteffekt von Arbeitslosigkeit ebenfalls eher zu Lasten der Regierungspartei. So betrug die Arbeitslosenquote im zweiten Halbjahr 7, 5 %; SPD und CDU/CSU lagen zu diesem Zeitpunkt bei den Arbeitslosen in der Wählergunst gleichauf. Im ersten Halbjahr 1984 war die Arbeitslosenquote um 2, 1 Prozentpunkte gestiegen, gleichzeitig hatte sich der SPD-Vorsprung als Bonner Oppositionspartei auf 21 Punkte vergrößert.
Bisher haben wir die Frage vernachlässigt, ob es einen Kontexteffekt zwischen Arbeitslosigkeit und Entwicklung der Parteipräferenzen in der Gesamtwählerschaft gibt. Hier zeigt sich vom ersten Halbjahr 1980 bis zum ersten Halbjahr 1983 eine Parallelität zwischen dem relativen Zuwachs im Vorsprung der CDU/CSU vor der SPD und dem Anstieg der Arbeitslosenquote. Da dieser Trend bis zum ersten Halbjahr 1983 und damit über den Regierungswechsel im Oktober 1982 hinweg weitergeht, spricht dies nicht für einen Anti-Regierungseffekt in der Gesamtwählerschaft. Im zweiten Halbjahr 1983 und im ersten Halbjahr 1984 kehrt sich dieser Trend um: Die CDU/CSU verliert an Popularität relativ zur SPD bei konstanter Arbeitslosenquote. 5. Anti-Regierungs-oder Klientelthese — Ein vorläufiges Resümee Auf der Individualebene kann bei den Arbeitslosen die Anti-Regierungsthese zurückgewiesen werden; auch die Klientelthese in ihrer ersten Variante wird nur teilweise bestätigt, da im Vorfeld der Bundestagswahlen 1983 der Kompetenzvorsprung der SPD in der Beschäftigungspolitik verlorenging. Dennoch bleiben klientelistische Beziehungen der Arbeitslosen zur SPD bestehen.
Diese werden durch Kontexteffekte (Entwicklung der Arbeitslosigkeit) eingeschränkt. Die Vermittlung von Kontexteffekt und Veränderung der Parteipräferenz kann hierbei über den Kompetenzverlust der SPD in der Beschäftigungspolitik im Vorfeld der Bundestagswahl 1983 erklärt werden. Dieser Bindungsverlust der SPD bei Arbeitslosen bestätigt noch einmal unsere These, wonach die SPD bei der Bundestagswahl 1983 auch im Kernbereich ihrer Klientel, wie z. B.den Arbeitslosen, Stimmen direkt an die Union verloren hat Mit dem Regierungswechsel in Bonn kann sich die traditionelle Klientelbeziehung zwischen Arbeitslosen und Sozialdemokraten wieder entfalten. , Anti-Regierungs" -und „Klienteleffekt“ sind in dieser Situation deckungsgleich. Es stellt sich die Frage: Kann das Verhalten der Arbeitslosen als Stammwählerverhalten interpretiert werden? 6. Die Wirkung traditioneller Bindungen:
Die „Stammwählerthese"
Die Ergebnisse der Wahlforschung zeigen eine traditionsbestimmte sozialstrukturelle Verortung bestimmter Wählergruppen bei den großen Parteien in der Bundesrepublik. Zur Überprüfung der zweiten Variante der Klientelthese, die davon ausgeht, daß auch in der Arbeitslosigkeit traditionelle und eher affektive Loyalitäten zu den großen Parteien erhalten bleiben, haben wir für das erste Halbjahr 1984 SPD-affine Merkmale der Sozialstruktur und CDU/CSU-affine Merkmale bei Wählern insgesamt und Arbeitslosen miteinander verglichen. Ein bedeutender Teil der Stammwählerschaft der beiden großen Parteien ist damit erfaßt. Die zentrale These in diesem Zusammenhang lautet: Arbeitslosigkeit führt bei Stammwählern nicht zu einer wesentlichen Veränderung ihrer Parteibindung, unabhängig davon, ob die eigene Partei in der Regierungsverantwortung steht.
Was zeigt nun die Analyse des SPD-affinen Bereichs, der evangelische Wähler, an-und ungelernte Arbeiter, Facharbeiter und Gewerkschaftsmitglieder umfaßt? Aus Tabelle 3 geht hervor: Der Vorsprung der SPD vor der CDU/CSU beträgt bei den evangelischen Arbeitslosen 31 Punkte, bei den an-und ungelernten Arbeitern und den Gewerkschaftsmitgliedern, die arbeitslos sind, 39 Punkte. Die Differenz zwischen den Werten bei den Befragten insgesamt und den Arbeitslosen ist am größten bei evangelischen Wählern und bei den an-und ungelernten Arbeitern. Hier ergibt sich eine Differenz von 26 bzw. 29 Punkten. Etwas schwächer ist die Differenz bei den Gewerkschaftsmitgliedern. Hier haben die Sozialdemokraten bei den Wählern insgesamt einen Vorsprung vor der CDU/9 CSU von 23 Prozentpunkten. Bei den arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern erhöht sich diese Differenz auf 39 Punkte. Vergleicht man die Werte für Gewerkschaftsmitglieder insgesamt mit denen der arbeitslosen Gewerkschaftsmitglieder, so ergibt sich ein Unterschied von 16 Punkten. Die Arbeitslosigkeit führt somit bei arbeitslosen Protestanten, arbeitslosen un-und angelernten Arbeitern sowie bei arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern zu einer Verstärkung der Klientelbeziehung an die SPD.
Die einzige Gruppe innerhalb der SPD-Stammwählerschaft, die hier eine Ausnahme macht, sind die Facharbeiter. Bei den Facharbeitern insgesamt hat die SPD 1984 einen Vorsprung von 13 Punkten vor der Union. Bei den Arbeitslosen verringert sich der entsprechende Abstand zwischen den beiden großen Parteien auf 3 Punkte zugunsten der SPD. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Der Gewinner bei den arbeitslosen Facharbeitern sind DIE GRÜNEN. Während DIE GRÜNEN bei den beschäftigten Facharbeitern einen Anteil von 5% erreichen, steigt ihr Anteil bei den arbeitslosen Facharbeitern auf 12%. Ebenfalls steigt die Ratlosigkeit und Unsicherheit unter den Facharbeitern. Bei den Befragten insgesamt können sich nur 14% für keine Partei entscheiden, bei den arbeitslosen Facharbeitern hingegen steigt dieser Anteil auf 18%. * Anders ist es im CDU/CSU-affinen Bereich (katholisch; höhere Angestellte; Abitur/Studium; kein Gewerkschaftsmitglied) Bei den katholischen Wählern, den höheren Angestellten, den Wählern mit Abitur bzw. Studium und bei den Nichtgewerkschaftsmitgliedern liegt die SPD bei den Arbeitslosen entgegen den traditionellen sozioökonomischen Bindungen eindeutig vor der CDU/CSU. Demgegenüber hat die CDU/CSU bei den katholischen Wählern insgesamt einen Vorsprung von 28 Punkten vor der SPD; bei den Wählern mit Abitur von + 16; bei den höheren Angestellten von + 33.
In der CDU/CSU-Klientel zeigt sich damit ein klarer Anti-Regierungseffekt im Jahr 1984. Das heißt, der SPD gelingt es, als Bonner Oppositionspartei einerseits ihr Stammwählerpotential unter den Arbeitslosen zu stabilisieren und sogar auszubauen und andererseits in die CDU/CSU-Klientel unter den Arbeitslosen einzudringen. Die SPD ist jedoch nicht die einzige Kraft, die vom Anti-Regierungseffekt des CDU/CSU-nahen Teils der Arbeitslosen profitiert. Auch DIE GRÜNEN profitieren von der Abwendung der Arbeitslosen von den Bonner Regierungsparteien ebenso wie von der SPD. Die zweite Variante der Klientel-these kann somit derzeit nur für die SPD-Klientel bestätigt werden.
V. Präferenz für DIE GRÜNEN: Anti-System-Protest oder politischer Denkzettel?
Abbildung 5
Tabelle 3: Parteipräferenz nach sozialstrukturellen Merkmalen bei Befragten insgesamt und Arbeitslosen 1984 (CDU/CSU minus SPD) Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, davon 627 Arbeitslose, Random-Auswahl.
Tabelle 3: Parteipräferenz nach sozialstrukturellen Merkmalen bei Befragten insgesamt und Arbeitslosen 1984 (CDU/CSU minus SPD) Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, 15489 Fälle, davon 627 Arbeitslose, Random-Auswahl.
DIE GRÜNEN sind die erfolgreichste Partei der letzten Jahre, und an ihren Stimmengewinnen haben die Arbeitslosen nachweisbaren Anteil.
Zwischen 1980 und 1984 lag die Beliebtheit der GRÜNEN unter den Arbeitslosen beständig über der Neigung aller Befragten, Grün zu wählen. Dazu hat die Präferenz für DIE GRÜNEN im Zeitverlauf in beiden befragten Gruppen zugenommen: bei den Befragten insgesamt als kontinuierlicher Anstieg von 1% auf 6%, bei den Arbeitslosen mit Brüchen auf letztlich 13%. Umgesechnet auf Wählerstimmen wirkt sich der Zuwachs bei den Befragten insgesamt am stärksten aus, da sie die Wahlberechtigten insgesamt repräsentieren. Das Wählerpotential unter den Arbeitslosen wäre allerdings zu gering veranschlagt, würde man allgemein die Prozentzahlen ihrer Präferenz für DIE GRÜNEN betrachten. Zu bedenken ist, daß sich im Beobachtungszeitraum die Arbeitslosenquote von 3, 8% auf 9, 6% fast verdreifacht hat. Welche Konsequenzen dies für die Wahlentscheidung haben kann, sollen einige Zahlen verdeutlichen. 1. Ohne die Stimmen der Arbeitslosen keine parlamentarische Repräsentanz der GRÜNEN im Bundestag?
Im März 1980 äußerten 10% der befragten Arbeitslosen ihre Präferenz für DIE GRÜNEN und für andere kleine Parteien — das sind rund 90000 der zu diesem Zeitpunkt registrierten Arbeitslosen. Im März 1984 gab es rund 2, 4 Millionen registrierte Arbeitslose, von denen 13%, das sind rund 310 000, zu den GRÜNEN neigten. Wenn die Prognosen über die Arbeitsmarktentwicklung der achtziger Jahre sich als zutreffend erweisen sollten, dann ist 1987 mit ca. 3, 5 Millionen Arbeitslosen zu rechnen Bei einer gleichbleibenden Präferenz für DIE GRÜNEN von 13% — dies ist angesichts der Sympathiezuwächse in den letzten Jahren eine eher konservative Schätzung — ergäben sich bei der Bundestagswahl 1987 allein aus dem Reservoir der Arbeitslosen eine knappe halbe Million Stimmen für diese Partei.
Nun wäre es verfehlt, die Präferenz der Arbeitslosen für DIE GRÜNEN allein auf die Tatsache der Arbeitslosigkeit zurückzuführen, denn schließlich werden DIE GRÜNEN in zunehmendem Maße auch von Nichtarbeitslosen gewählt. Ein Teil der heutigen Arbeitslosen würde auch Grün wählen, wenn er beschäftigt wäre.
Möglicherweise haben Arbeitslose bereits den Einzug der GRÜNEN in den Bundestag im März 1983 bewirkt: Im März 1983 waren rund 2, 45 Millionen Arbeitslose registriert Bei einer GRÜNEN-Präferenz von 13% ergäbe dies einen Anteil von 0, 8 % der 39, 3 Millionen gültigen Stimmen. Reduzieren wir diesen Prozentsatz um knapp die Hälfte auf ca. 0, 5%, um denjenigen Rechnung zu tragen, die auch ohne Arbeitslosigkeit DIE GRÜNEN gewählt hätten, so wäre das Wahlergebnis der GRÜNEN (5, 6%) ohne die durch Arbeitslosigkeit genuin verursachten Stimmen bereits an die kritische Fünf-Prozent-Hürde gedrückt worden. Berücksichtigt man die Zahl der Arbeitslosen insgesamt, so hätten sie im März 1983 die Fünf-Prozent-Hürde nicht übersprungen. Diese Zahlen sind bisher allein von den registrierten Arbeitslosen ausgegangen. Zu erinnern ist an die Tatsache einer stillen Reserve etwa im Umfang der Hälfte der registrierten Arbeitslosen. Wenn die nichtregistrierten Arbeitslosen auch nur annähernd ähnliche Parteipräferenzen aufweisen, dann läßt sich mit ziemlicher Sicherheit feststellen, daß die Arbeitslosigkeit und die Arbeitslosen DIE GRÜNEN über die Fünf-Prozent-Hürde und damit in den Bundestag gehoben haben. Das Protestpotential der Arbeitslosen war somit die „kritische Masse", die den GRÜNEN über die Fünf-Prozent-Hürde hinweggeholfen hat. 2. Situativer oder fundamentaler Protest?
Wie läßt sich nun der bereits heute nachweisbare Einfluß der Arbeitslosen über ihre verstärkte Parteinahme für DIE GRÜNEN auf die Stabilität der GRÜNEN-Repräsentanz in den Parlamenten und die Stabilität des politischen Systems insgesamt bewerten? Handelt es sich um ein diffuses oder ein situationsspezifisches Protestverhalten gegen die etablierten Parteien und ihre Politik, um einen fundamentalen Protest gegen das etablierte System oder um eine Warnung an die Adresse der Etablierten, ihnen die Loyalität bei weiterhin unbefriedigender Politik nicht bloß kurzfristig, sondern notfalls auch auf Dauer zu entziehen? Wenn Arbeitslose sich den GRÜNEN verstärkt zuwenden, dann kaum, weil sie hier zur Lösung der Wirtschafts-und Beschäftigungsprobleme größere Handlungspotenz vermuten, denn das politische Profil der GRÜNEN gruppiert sich um die Themen Ökologie, Frieden und postmaterielle Werte. Die Betonung postmaterieller Werte korrespondiert mit einer diffusen und widersprüchlichen Programmatik zur Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik In diesen für Arbeitslose doch eigentlich zentralen Fragen können DIE GRÜNEN keinen Kompetenzvorsprung vor den etablierten Parteien nachweisen; im Gegenteil: hier haben sie sichtbare Defizite. Wenn sie von Arbeitslosen trotzdem gewählt werden, dann liegt mit Wahrscheinlichkeit Protestverhalten vor. Fraglich und heute auch nicht schlüssig zu beurteilen ist die Qualität des Protests: Ist er prinzipiell fundamental und richtet er sich gegen das politische System, oder ist er aktuell und situationsgebunden und soll die etablierten Parteien „zur Ordnung rufen"?
Ganz gewiß sind beide Strömungen vertreten, und ihre Sympathisanten lassen sich in einer ersten vorsichtigen Skizze anhand soziostruktureller Merkmale benennen. Der „typische“ Anhänger der GRÜNEN läßt sich im Prinzip durch zwei Merkmale beschreiben: Er ist jung und hat eine überdurchschnittliche Formal-bildung. In Tabelle 5 wurden alle Befragten nach ihren Parteiaffinitäten, d. h. durch überdurchschnittliche Präferenzen für GRÜNE, SPD und CDU/CSU, aufgeschlüsselt und nach persönlichen Merkmalen, klassifiziert.
Herausragende Merkmale der Anhänger der GRÜNEN sind Abitur und Hochschulabschluß sowie Zugehörigkeit zur Altersgruppe bis maximal 34 Jahren Liegen diese Gruppen hinsichtlich ihrer GRUNEN-Affinität innerhalb der Gesamtbevölkerung bereits weit über dem Durchschnitt, so verstärkt das zu-sätzliche Merkmal Arbeitslosigkeit diese Präferenz noch einmal beträchtlich: 41% der arbeitslosen Abiturienten und Akademiker sind Anhänger der GRÜNEN Diese Gruppe enthält die üblichen Vertreter postmaterieller Werte, und ihre Affinität zu den GRÜNEN beruht auf den programmatischen Kernaussagen der Partei. Im Fall der Arbeitslosigkeit kommt situationsspezifisches Protestverhalten verstärkend hinzu.
Eher situationsspezifischer Protest und eine Denkzettelhaltung ist von Arbeitslosen zu erwarten, die nach ihren strukturellen Merkmalen bisher den etablierten Parteien zuneigten. Aus der Gruppe der SPD-affinen ist besonders hervorzuheben: Bereits in der Gruppe aller Befragten liegt die Neigung zu den GRÜNEN unter Gewerkschaftsmitgliedern mit 7% leicht über dem Durchschnitt. Arbeitslose Gewerkschafter tendieren dann mit 16% zu den GRÜNEN — eine Differenz von 9 Prozent-punkten in einer Wählergruppe, die ihre politische Heimat traditionellerweise in der SPD hat. Etwas weniger deutlich ist das Protest-verhalten bei Facharbeitern (5% bei allen Befragten; 12% bei den Arbeitslosen). Angesichts ihres hohen Anteils unter den Wahlberechtigten zeichnet sich hier trotzdem ein politisch bedeutsames Protestpotential ab.
Wähler, die traditionell der CDU/CSU nahe-stehen und die unter dem Eindruck persönlich erlebter Arbeitslosigkeit zu den GRÜNEN tendieren, sind vor allem durch die Merkmale: katholisch, höherer Angestellter, kein Gewerkschaftsmitglied zu umreißen. Hier erweist sich vor allem das klassische Scharnier des Katholizismus bei den Arbeitslosen als ein Schwachpunkt der Bindung an die christlichen Parteien. Arbeitslose Katholi. ken votieren dreimal so stark für DIE GRÜNEN wie die Befragten insgesamt.
Nach diesen Ergebnissen scheinen DIE GRÜNEN über ein relativ festes Wählerreservoir zu verfügen, das sein politisches Engagement an den programmatischen Kernaussagen festmacht. Dieses Wählerpotential wird stark erweitert durch ökonomische Krisenerfahrungen derselben Kerngruppen und erhält weiteren Zulauf aus sozialen Gruppen, deren politische Heimat traditionell in den etablierten Parteien liegt. Ihr Engagement trägt vermutlich stärkere Züge eines situationsspezifisehen Protests, verbunden mit der Erwartung, daß ihre Signale bei der jeweiligen Mutter-partei verstanden werden.
VI. Latentes Potential am politischen Rand
Abbildung 6
Tabelle 4: Parteipräferenz bei Arbeitslosen und Befragten insgesamt für DIE GRÜNEN sowie Arbeitslosenquote 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
Tabelle 4: Parteipräferenz bei Arbeitslosen und Befragten insgesamt für DIE GRÜNEN sowie Arbeitslosenquote 1980— 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), 1980— 1984, halbjährlich ca. 13000 Fälle, Random-Auswahl.
1. Gegenwärtig attraktiver: die radikale Linke Die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit hat das Parteiensystem verändert, aber anscheinend eher unter dem Druck der Forderungen nach einer neuen Politik als aufgrund der ökonomischen Krise. Trotzdem fragt sich, ab welchem Punkt ökonomische Instabilität in der Bundesrepublik auch auf das politische System übergreifen könnte, und ob dann die bisher zu beobachtenden Prozesse der politischen Integration von Arbeitslosen — sei es als „Klienten" ihrer bisher angestammten Partei, sei es als „Opponenten“ gegen die verantwortliche Regierung — außer Funktion geraten. Dahinter steht die Annahme, daß Arbeitslosigkeit auch heute, nicht nur wie in Weimar, soziale Konflikte produziert oder produzieren könnte, die politisch nicht mehr steuerbar sind und auch von dem gegenwärtigen Parteiengefüge nicht mehr absorbiert werden können.
Dennoch ist damit die Frage noch nicht beantwortet, wie groß das latente Potential an den Rändern des politischen Spektrums ist, das sich bisher noch nicht formiert hat — mangels Politik-bzw. Parteienangebot, mangels organisatorischem Kern, aufgrund noch fehlender Erfahrung von tiefer Deprivation.
In den gemachten Erhebungen seit 1980 bis heute hat das Potential, das sich am rechten oder linken Rand des Parteienspektrums sammelt, über die Zeit hinweg etwas geschwankt, mit Höhepunkten für beide politischen Extreme im Krisenjahr 1982. Linkes und rechtes Potential waren bis zu diesem Zeitpunkt, wo es auf je 7% stieg, etwa gleich groß gewesen. Seither hat sich das linksextreme Potential etwas erhöht und liegt gegenwärtig bei 8%, das des rechten Flügels bei 6%. Während der gesamten Dauer der ökonomischen Krise blieb jedoch das politische System bemerkenswert immun gegen weitere politische Radikalisierung. Für etwa 90% der Wahlberechtigten kam die Wahl einer extremen Partei, ob links oder rechts, nicht in Frage. Somit ist trotz des Anstiegs der Arbeitslosigkeit von 3, 5% auf 9, 6% kein Kontexteffekt auf das extreme politische Potential zu beobachten. Anders war die Entwicklung bei den Arbeitslosen, was einen sich von dem beschriebenen Systemtrend lösenden, eigenen Prozeß offenbart. Durchweg ist nämlich das extreme Potential unter Arbeitslosen höher als im Wählerdurchschnitt. Zwischen „links" und „rechts'gibt es dabei eine auffällige Diskrepanz. Mit Ausnahme der Krisenzeit 1981/82, wo sich die Werte anglichen, war der Anteil linksextremer Neigungen unter den deutschen Arbeitslosen zumeist doppelt so hoch wie die rechtsextreme Orientierung. Im Unterschied zum Rechtspotential ist zudem das Linkspotential in den letzten zwei Jahren in großen Schritten gewachsen und erfaßt zur Zeit 20% der Arbeitslosen gegenüber 10% auf dem rechten Rand. Mag darin zwar auch das Erstarken der GRÜNEN zum Ausdruck kommen, die nach Selbst-und Fremdidentifikation häufig als eine Partei „links von der SPD" eingestuft werden, so bleibt doch die höhere und zunehmende Tendenz unter den aus dem Arbeitsprozeß Verdrängten beachtlich, sich nach beiden Seiten vom etablierten Parteiensystem abzuwenden — mit der Folge, daß traditionelle Klientelbeziehungen abgebaut werden können und die Stabilität des politischen Systems sich abschwächt.
Mit welcher Dynamik dieser Prozeß voranschreitet, läßt sich erschließen, wenn man als ein Zwischenglied zwischen der Gesamt-ebene der Wählerschaft und den Arbeitslosen jene in die Betrachtung einschaltet, die ihren eigenen Arbeitsplatz als gefährdet ansehen. In welchem Ausmaß neigen sie den extremen politischen Rändern zu? Angst vor Arbeitsplatzverlust erzeugt eine deutlich höhere Orientierung an Parteien außerhalb des etablierten Spektrums; Arbeitsplatzgefährdete nehmen dabei zwischen der Wählerschaft und den Arbeitslosen eine mittlere Stellung ein, sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite. Das Rechtspotential wächst von 6% auf der Gesamtebene über 8% bei den Arbeitsplatzgefährdeten auf 10% bei den Arbeitslosen. Im Linksspektrum lauten die entsprechenden Zahlen: 8%, 17%, 20%.
Auch hier, im Bereich zwischen Integration im Erwerbsleben und befürchtetem oder effektivem Ausschluß aus der Erwerbsgesellschaft, ist die Linke die attraktivere politische Alternative. Offen bleibt dabei, ob eine ideo-logische Affinität der Arbeitslosen von ihrer sozialen und politischen Herkunft her diese Orientierung begünstigt oder ob — eine andere These — das fehlende Politik-und Parteienangebot auf der Rechten diesen Unterschied begründet.
Die ideologische Übereinstimmung mit Gedankengut der politischen Linken oder Rechten findet auf jeden Fall dort ihre Grenze, wo die Wahl einer rechts-oder linksextremen Partei praktisch austauschbar wird. Empirische Untersuchungen zum Rechts-und Links-extremismus sind in der Bundesrepublik immer wieder auf die Tatsache gestoßen, daß es in begrenztem Umfang ein radikalisiertes, gleichwohl ideologisch nicht festgelegtes Potential gibt, das am ehesten als diffuses, „vagabundierendes" politisches Protestpotential zu betrachten ist.
So überrascht es auch in der vorliegenden Untersuchung der Arbeitslosen nicht, wenn ähnliche Zusammenhänge festzustellen sind. Sie verweisen darauf, daß sich unter dem Rechtspotential ein größerer Anteil ideologisch ungebundener Wähler befindet, sowohl auf der Gesamtebene als unter den Arbeitslosen. 38% des Rechtspotentials hält die Wahl einer Partei links von der SPD für möglich oder hat bereits so votiert. Die entsprechende Zahl unter den Arbeitslosen beläuft sich auf zwei Drittel (61 %). Im linken Spektrum ist der umgekehrt definierte Anteil mit je 29% deutlich geringer. Dies stützt die Vermutung, daß die extreme Rechte auch deshalb weniger geschlossen in Erscheinung tritt, weil sie zur Zeit keinen adäquaten politischen Ausdruck finden kann, keine Partei, mit der sich der diffuse politische Protest ideologisch zusammenhängend artikulieren ließe, was mangels eigenem Parteienangebot dazu führt, die radikale Linke zu unterstützen.
In Anbetracht dieser sich überschneidenden Potentiale zwischen Rechts und Links kann man davon ausgehen, daß sich gegenwärtig das gesamte Protestpotential unter den Arbeitslosen, definiert als gegen jegliche etablierte Partei gerichtet, auf 24% beläuft. Im Wählerdurchschnitt beträgt es dagegen 12%. 14% der Arbeitslosen neigen dem linken Rand zu, 4% dem rechten, und 6% schließlich stehen dem ideologisch diffusen Potential nahe. Hochgerechnet auf die absolute Arbeitslosenzahl von ca. 2, 4 Millionen bedeutet dies etwa 570 000 Personen ohne Erwerbsquelle, die sich dem politischen System entfremdet haben oder potentiell entfremden; auf die Gesamtwählerschaft bezogen ist dies etwa 1, 3%.
Nicht der im extremen Parteienvotum artikulierte Protest scheint somit zur Zeit das Verhältnis der Arbeitslosen zum Parteiensystem zu charakterisieren. Die politische Bewältigung der ökonomischen Krise bei den Arbeitslosen verläuft offenbar in anderen Bahnen; nicht zuletzt in der vorgegebenen politischen Bindung. 2. Höhere Wahlenthaltungen bei Arbeitslosen?
In seiner Analyse des Wahlverhaltens von Arbeitslosen bei der Bundestagswahl 1980 kommt Rattinger zu dem Ergebnis, Arbeitslose würden eine geringere Wahlbeteiligung als die Gesamtwählerschaft aufweisen. Besonders stark ist hiernach die Wahlenthaltung von Arbeitslosen in den Stammwählerbereichen der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD Operationalisiert man die Wahrscheinlichkeit der Nichtwahl über den Indikator „keine Parteipräferenz", so läßt sich die These von Rattinger im Zeitverlauf zuerst einmal bestätigen. Im gesamten Zeitraum zwischen Anfang 1980 und Mitte 1984 ist der Anteil ohne Parteipräferenz bei den Arbeitslosen höher als bei den Wählern insgesamt. Der Unterschied zwischen dem Anteil der Nichtwähler bei diesen beiden Gruppen beträgt maximal 7 Punkte (erstes Halbjahr 1981). Diese Regel hat jedoch eine Ausnahme, dies ist das zweite Halbjahr 1980. Hier, im Umkreis der Bundestagswahl 1980, geben annähernd gleich viele Wähler insgesamt (13 %) und Arbeitslose (12 %) keine Parteipräferenz an. Es ist zu vermuten, daß die starke Emotionalisierung der Bundestagswahl 1980 bei den Arbeitslosen ihre strukturell geringere Mobilisierung kompensiert hat.
Trotz der früher klaren Beziehung zwischen Arbeitslosenstatus und höherer Wahlenthaltung ist ein Vorbehalt zu machen, da sich im Zeitverlauf nun der Unterschied zwischen dem Anteil potentieller Nichtwähler bei Arbeitslosen und Befragten insgesamt verringert. Ende 1983 und Anfang 1984 ist fast ein Gleichstand erreicht. Dieser Angleichungsprozeß ist darauf zurückzuführen, daß der entsprechende Anteil bei den Arbeitslosen zurückgegangen ist, während er bei den Befragten insgesamt konstant blieb. Ein Grund dafür könnte darin liegen, daß die Arbeitslosen DIE GRÜNEN nach der Bundestagswahl 1983 verstärkt als politische Protestpartei entdeckt haben. Der Anstieg des Wähleranteils der GRÜNEN von 10% im zweiten Halbjahr 1982 auf 13% im ersten Halbjahr 1984 könnte damit als eine stärkere Mobilisierung von Nichtwählern aus dem Reservoir der Arbeitslosen durch DIE GRÜNEN interpretiert werden. Es stellt sich die Frage, ob dies auch für diejenigen Arbeitslosen gilt, die sich eher dem rechten Randbereich des Parteiensystems zurechnen, oder ob dies nur für das Linkspotential gilt, das sich durch DIE GRÜNEN ideologisch angesprochen fühlt? Von den Arbeitslosen, die eine Wahl rechts von der CDU/CSU für möglich halten, machen 20% keine Angaben zur Parteipräferenz. Dies liegt 4 Prozentpunkte über dem Anteil bei den Arbeitslosen insgesamt. Bei denjenigen Arbeitslosen, die eine Wahl einer rechten Partei ausschließen, liegt der Anteil der potentiellen Wahlenthaltungen bei 14%. Es bestätigt sich somit die These, wonach mangelndes Angebot einer organisierten rechten Alternative im Parteien-system die Anhänger dieser politischen Richtung stärker zur Wahlenthaltung veranlaßt
Im Linkspotential läßt sich eine ähnliche Entwicklung nicht beobachten. Arbeitslose, die eine linke Randpartei potentiell wählen würden, äußern zu 16% keine Parteipräferenz. Hiermit zeigt sich aber, daß auch Teile des linken Spektrums momentan von den GRÜNEN nicht repräsentiert werden.
VII. Ausblick
Abbildung 7
Tabelle 5: Parteipräferenz für GRÜNE nach sozialstrukturellen Merkmalen bei Befragten insgesamt und Arbeitslosen 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, Random-Auswahl.
Tabelle 5: Parteipräferenz für GRÜNE nach sozialstrukturellen Merkmalen bei Befragten insgesamt und Arbeitslosen 1984 Quelle: infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet (ohne West-Berlin), Januar bis September 1984, Random-Auswahl.
Die politische Radikalisierung der Arbeitslosen ist nach der gesamten Sichtung des vorliegenden Materials offenbar ein Randphänomen, vielleicht aber nur vorerst DIE GRÜNEN erfüllen dabei unwissentlich oder unwillentlich im augenblicklichen politischen System eine eher stabilisierende Funktion, weil sie in einer Art Zwitterrolle ein zwischen systemkritisch und systemimmanent virulentes Protestpotential weitgehend noch systemkoniorm binden und integrieren.
Wie sind jedoch die mittelfristigen Perspektiven? In seiner Abhandlung „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ beschreibt Burkart Lutz die Folgen der systemischen Destabilisierung als Produkt einer langen ökonomischen Strukturkrise, wie wir sie heute in der Bundesrepublik durchleben. Im Hinblick auf einen künftigen politischen Steuerungsbedarf führt er aus, „daß im Gefolge von solchen Pro-zessen in vielfältiger Form hervorgebrachte partikulare Abschirmungs-, Überwälzungsund Ausgrenzungsstrategien, die jeweils darauf hinauslaufen, Teilbereiche oder Teilgruppen mit überdurchschnittlichem Handlungsund Durchsetzungspotential auf Kosten aller anderen von den Problemlasten und von der Verantwortung für Problemlösungen freizustellen, im Laufe der Zeit immer mächtiger werdende, zunehmend explosive Konflikt-herde entstehen. .. . Und wenn hierdurch ganze Bevölkerungsgruppen in mehreren Lebensbereichen zugleich flagrant benachteiligt werden, sind alle Voraussetzungen für offene Gewalt — in Protest und Auflehnung wie in deren Repression — und für hieraus resultierende Prozesse sozialer Desintegration gegeben.“
Dieter Fröhlich, Dr. rer. pol., geb. 1935; Privatdozent an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und wiss. Angestellter im ISO-Institut, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Nationalismus und Nationalstaat in Entwicklungsländern, Meisenheim 1970; Arbeitserfahrung und Bildungsverhalten, Frankfurt — New York; The Use of Time During Unemployment, Assen 1983. Hubert Krieger, Dr. rer. pol., geb. 1951; Mitarbeiter der Abteilung Wahlforschung bei infas; vorher sechs Jahre tätig im Bereich der Arbeitsmarktforschung, darunter zwei Jahre am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitslosigkeit, Schulbuch für die Sekundarstufe II, Düsseldorf 1981; Das Arbeitsmarktverhalten von Arbeitslosen, Köln 1982. Ursula Feist, Diplom-Psychologin, Leiterin der Abteilung Wahlforschung bei infas. Veröffentlichungen: Analysen zu verschiedenen Bundestags-und Landtagswahlen, zum Wandel des Parteiensystems, zu Parteimitgliedern und Parteieliten, zum Einfluß des Fernsehens auf das Wahlverhalten in Konkurrenz mit der interpersonalen Kommunikation.
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