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„Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik | APuZ 20-21/1986 | bpb.de

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APuZ 20-21/1986 „Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik Kontinuität und Wandel in der Geschichtsschreibung der DDR. Das Beispiel Preußen Posthume Zeitgenossenschaft -Anmerkungen zur Rezeption Friedrichs II. von Preußen

„Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik

Karl-Ernst Jeismann

/ 37 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Deutung der Geschichte ist in der Bundesrepublik wieder ein Thema politischen Streites geworden. Vordergründig lassen sich die Fronten zwischen der unterschiedlichen Inanspruchnahme von Geschichte mit den Schlagworten „Emanzipation“ und „Identität“ bezeichnen. Dahinter steht die zugespitzte Frage, ob man sich mit der Geschichte zu befassen habe, um sich von ihr zu lösen oder um sich in ihr zu verstehen und aufgehoben zu fühlen. Der Gegensatz entstand, als der frühe politische Grundkonsens der Bundesrepublik in den späten sechziger Jahren in Frage gestellt wurde. Jener Grundkonsens hatte noch die stille Übereinkunft eingeschlossen, sich durch kontroversen Rückgriff auf Geschichte nicht behelligen zu lassen. Nunmehr aber wurde im Rückgriff auf ältere Traditionen der deutschen Geschichte das politische und soziale System in Frage gestellt, seine historische Herkunft kritisiert und Geschichte als die Lehre vom Irrweg in den Dienst des „realutopischen“ Zukunftsentwurfes einer neuen Gesellschaft gestellt. Das provozierte Widerstand. Der Gefahr einer ihrer historischen Identität durch pure Traditionskritik und verführerische Zukunftsvision beraubten Gesellschaft wurde die Forderung nach Besinnung auf die bildenden und bindenden Kräfte der Geschichte entgegengestellt. Diese beiden Grundmuster des Verhaltens zur Geschichte im Kontext der politischen Selbstvergewisserung lassen sich an einer Reihe unterschiedlicher Stellungnahmen zur deutschen Geschichte im politischen und publizistischen Raum wiederfinden. Es zeigt sich jedoch bei fundamentalen historisch-politischen Fragen, daß die Alternative von „Emanzipation“ und „Identität“ zu kurz greift. Es sind vielmehr unterschiedliche Identifikationstraditionen, die sich auf diese Weise gegenübertreten. In Wahrheit steht hinter der vereinfachten Alternative ein spannungsreiches historisches Beziehungsgefüge, das durch die Vielfalt der deutschen Geschichte begründet ist und erklärbar wird. „Deutsche Geschichte“ als identifizierbares Kommunikationsnetz ist ein Spannungsgefüge unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Identitätsstränge. Gefährlich für den politischen Umgang mit Geschichte und für die Existenz der Nation als historisch-politischer Größe ist nicht diese Spannung, sondern der ebenfalls aus der deutschen Geschichte bekannte Versuch, eine bestimmte Identitätsanforderung zu verabsolutieren und andere auszuschließen. Nicht „Geschichtsbilder“ sind gefragt, sondern ein die Balance unterschiedlicher Identitäten aushaltendes, Gegensätze verarbeitendes Geschichtsbewußtsein als Element politischen Denkens. Nur ein differenziertes Geschichtsbewußtsein kann eine politische Kultur schaffen, die Identitäten bewahrt, Identitäten anderer Art begreift und Identitätsansprüche daraufhin zu prüfen fähig ist, ob man sie sich zu eigen machen kann oder sich von ihnen emanzipieren muß.

i.

„L’Allemagne fdrale se penche sur son passe“. Unsere Nachbarn nehmen es aufmerksam zur Kenntnis: Eine Gesellschaft, die sich bislang weder um ihre Vergangenheit noch um ihre Zukunft zu kümmern schien — wenn man für das eine den Grad des öffentlichen Geschichtsbewußtseins und für das andere die Geburtenrate als Maßstab nimmt —, beugt sich wieder über den Spiegel ihrer Vergangenheit! So eröffnete der Leiter der Mission Historique Franaise in Göttingen, Etienne Francois, einen scharfsinnigen Bericht für seine Landsleute in der Revue d’Histoire. Er konnte eine stattliche Reihe von Belegen anführen: ehrgeizige Verlagsprojekte für vielbändige Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte, ein sich sprunghaft steigerndes historisches Interesse in vielen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Gruppen, eine erstaunliche Ausweitung der etablierten Forschung in bislang vernachlässigte Gebiete mit neuen Methoden, das Phänomen der „Alltagsgeschichte“ und der nicht-professionellen „Geschichtswerkstätten“.

Erstaunlich für den französischen Beobachter ist, daß diese neue Hinwendung der Nation zur Geschichte die verschiedenen Lager, Gruppen, methodischen Schulen keineswegs diskursiv zusammenführt, sondern die „divisions politiques“ kraß hervortreten läßt. Am deutlichsten zeigen sie sich dort, wo über die Konzepte der Präsentation nationaler Geschichte für die Öffentlichkeit gestritten wird — also bei den Planungen für die beiden neuen Geschichtsmuseen in Berlin (für die gesamte deutsche Geschichte) und in Bonn (für die Geschichte der Bundesrepublik).

Von der Potenzierung dieses inneren deutschen Streites um die Geschichte durch die Konkurrenzsituation zur DDR einmal abgesehen, deren Zugriff auf „Tradition und Erbe“ zielstrebig und kompetent sich verstärkt, geht es in der Bundesrepublik ganz elementar um die Frage, ob die deutsche Geschichte kritisch mahnend, warnend oder gar anklagend von ihrer dunklen Seite als Last, oder ob sie bestätigend oder gar harmonisierend von ihrer hellen Seite als Schatz der Nation darzustellen sei. Der Lokalstreit in Göttingen um die Gestaltung der Rathaustüren demonstrierte dem französischen Beobachter diesen Gegensatz am Ort ad oculos; die Auseinandersetzung um die richtige Art, des vierzigsten Jahrestags der deutschen Kapitulation zu gedenken, war eine differenziertere Entsprechung der kommunalen Frontstellung im nationalen Rahmen.

II.

Hinter diesem Kampf um die Sicht der deutschen Geschichte verbirgt sich eine widersprüchliche Beurteilung der deutschen Gegenwart und eine unterschiedliche Option für die Zukunft. Dies ist in jeder Nation normal — die Frage ist nur, ob sich diese Widersprüche auf der Basis einer fundamentalen Gemeinsamkeit des Selbstverständnisses entwickeln, die es erlaubt, sowohl die Deutung der Gegenwart wie die Option für die Zukunft als Variationen der Geschichte des gleichen Subjekts zu begreifen, oder ob unversöhnlich einander gegenüberstehende „Geschichtsbilder“ die Auszehrung des Grundkonsenses der Nation als historischer und also eine Gefährdung ihrer Substanz als politischer und kultureller Gemeinschaft ankündigen.

Wer in den fünfziger oder sechziger Jahren den „Verlust der Geschichte“ beklagte und sich von der „Wiedergewinnung der historischen Dimension“ als selbstverständliche Folge eine Sicherung der nationalen Identität erhofft hatte, muß seine Erwartungen korrigieren. Zwar scheint die Geschichte „gerettet“ — sei es durch Gerichtsbeschluß für den Unterricht wie in Hessen, sei es durch kulturpolitisches Engagement oder durch ein neuerwachtes öffentliches Interesse. Wann hat z. B. je ein Berufsverband — die Philologen — „die Geschichte“ zum Schwerpunktthema des Jahres gemacht! Aber all dies führte nicht zu einer Beschwörung der historischen Gemeinsamkeit der Deutschen. Vielmehr löste es ein neues Feld-geschrei aus: „Geschichte — aber richtig“. So glossierte die FAZ am 19. Februar 1986 die Ankündigung des Philologenverbandes und meinte, daß alle Bemühungen um Geschichte in der Schule nichts nützen, wenn die Lehrer nicht in großen Vorlesungen die Zusammenhänge der Geschichte zu sehen gelernt hätten und also sie zu lehren fähig geworden seien. Das ist der Ruf nach Sinnstiftung statt spezialisierter Einzelforschung, nach dem zusammenhängenden Geschichtsbild: Als „Die Qual mit der Geschichte“ bezeichnete ein Leitartikel der „Zeit“ vom 10. Januar 1986 das Fehlen eines nationalen Konsenses im Umgang mit der Geschichte. Einer unserer engagiertesten Historiker hat im gleichen Monat eine „neue Polarisierung des Geschichtsbildes in der Bundesrepublik Deutschland“ diagnostiziert (H. Mommsen). Aber während er zugleich auf eine „übergreifende Erfahrung gemeinsamer Geschichte“ verwies und darin „die konsensstiftende Funktion historischer Erinnerung“ erblickte, befand ein Fachkollege, daß es gerade nicht kontrovers genug hergehe und die Polarisierung schärfer pointiert werden müsse.

Unschwer lassen sich in diesem Streit, betrachtet man seine gröbsten und daher politisch und publizistisch wirksamsten Aufgipfelungen anläßlich geschichtlich evozierender Ereignisse oder Veränderungen, die Gegensätze zwischen den sich eher als konservativ oder als progressiv empfindenden Lagern festmachen — wobei von Links und Rechts im extremen Sinne nicht gesprochen werden kann, weil die radikalen Gruppierungen auf der Rechten ein subkutanes neonazistisches Geschichtsbild pflegen, die marxistisch, syndikalistisch oder anarchistisch linken Gruppierungen ihre Sektenkämpfe um die Auslegung des historischen Materialismus austragen, während das orthodoxe kommunistische Geschichtsbild von der offiziellen DDR-Sprachregelung in sichere Obhut genommen worden ist. Der eigentlich bedeutende Dissens um das Bild der deutschen Geschichte in der Bundesrepublik verläuft zwischen den großen politischen Lagern und ihren Sympathisanten, weist viele Differenzierungen und Übergänge auf, reicht erkennbar auch in die Geschichtswissenschaft und den Geschichtsunterricht hinein. Man kann ihn an den zwei Schlagworten der Überschrift festmachen: Unter den wie Feld-zeichen gebrauchten Schlagworten „Emanzipation“ und „Identität“ vollzog sich seit den späten sechziger Jahren der Wiedereinzug der Geschichte in das politische Bewußtsein der Bundesrepublik.

III.

Die folgenden Bemerkungen sind nur ein Zwischenruf zu dieser Diskussion ohne den geringsten Anspruch systematischer oder gar erschöpfender Beschreibung der Themen und Positionen. Der Begriff „Geschichtsbewußtsein“ wird hier in einer spezifischen Zuspitzung verstanden. Es geht nicht um die Breite der historischen Forschung innerhalb und außerhalb der Universitäten, um die Fülle der organisierten historischen Interessen, um die bunte und breite Rolle der „Geschichte in der Alltagswelt“ (R. Schörken); das Interesse an Geschichte überhaupt, das Geschichtsverständnis und die Geschichtskenntnis in der Gesellschaft sind in ihrer Vielfalt nicht zu erfassen oder gar zu beschreiben. Hier geht es nur um jenen Punkt, an dem das öffentliche politische Selbstverständnis der Gegenwart sich mit der Deutung der Vergangenheit unmittelbar verbindet, wo es sich auf die Geschichte beruft und sich von dort her Orientierung, Legitimation, Selbstgewißheit erhofft oder besorgt. An diesem Schnittpunkt erwächst nach Theodor Mommsens Wort dem Historiker die Pflicht der „politischen Pädagogik“, stellt sich die Publizistik in den Dienst historischer Aufklärung, interpretieren sich Parteien, Verbände, Firmen, Institutionen als entstandene, sich in der Veränderung gleichbleibende Gebilde, stellt sich der Staat selbst in Denkmälern, Jubiläen, Ausstellungen, symbolischen Zeichen und Gesten in die Kontinuität seiner die Generationen übergreifenden Existenz, befindet er als Schulherr darüber, wie mit der Lehre der Geschichte das Bewußtsein der Besonderheit und Zusammengehörigkeit seiner Bürger begründet wird.

Dieses Geschichtsbewußtsein ist nicht in die individuelle Beliebigkeit des einzelnen gestellt; es ist auch nichts, was angeboren oder natürlich sich entwickelt; es ist immer das Ergebnis funktionaler und intentionaler Erziehung, entsteht durch Erfahrung in der Umwelt und durch Lehre, durch Zeichen und Erzählung, wird im weitesten Sinne des Wortes „gelernt“. Diesem Lernprozeß kann sich niemand entziehen, ob er darauf reflektiert oder nicht. In ihm stellt sich jenes Mindestmaß von Sinndeutung des zeitlichen Prozesses her, auf das einzelne wie die Gesellschaft insgesamt angeB wiesen sind, um sich selbst begreifen und erklärbar halten zu können. Geschichtsbewußtsein in diesem engeren Sinne spiegelt also den intellektuellen, moralischen, emotionalen Zustand der Gesellschaft, in der es sich formt, ist Bestandteil und Ausdruck ihrer „politischen Kultur“. Gemessen am gelehrten Geschichtsverständnis handelt es sich um recht grobe Muster der Selbstdeutung — ihre einfache Struktur erzeugt jedoch Plausibilität und breite öffentliche Wirkung.

IV.

Die Feststellung, daß es in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik an Geschichtsbewußtsein gemangelt habe, ist ungenau. Auch die Verweigerung, aus bestimmten Epochen unmittelbare politische Verbindungslinien zur eigenen Zeit zu ziehen, sich in ihrer Kontinuität zu begreifen, ist noch in der Negation eine Form von Geschichtsbewußtsein. Last und Schuld der Geschichte können ein Ausmaß erreichen, daß „Bewältigung“ nur durch „Verdrängung“ möglich erscheint. Die These, daß der materielle und politische Neubau eines als Rechts-und Sozialstaat funktionierenden Gemeinwesens nur mit dem Blick auf Gegenwart und Zukunft, nicht aber in radikaler Abrechnung mit der Vergangenheit möglich war und allen noch so berechtigten politisch-moralischen Einwänden zum Trotz mit fast instinktivem Lebenswillen so begonnen wurde, hat einige pragmatische Plausibilität für sich (H. Lübbe).

Das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik baute sich auf in voluntativer, aber auch praktisch-politischer Emanzipation von der deutschen Geschichte seit 1933 und zugleich in einer ebenso voluntativen, selektiven Interpretation der Geschichte der ersten deutschen Republik. Das der Kanzlerzeit Ludwig Erhards zugeschriebene Wort „Wir sind wieder wer“ enthält in seiner simplen Plakativität genau diese Bedürfnisse an Geschichtsbewußtsein des „Modells“ Bundesrepublik: das Abstreifen der Vergangenheit vor 1945 und den Stolz auf die Erfolgsgeschichte seit 1949. Den erwachsenen Bürgern in den fünfziger und sechziger Jahren war es eine unmittelbare Erfahrung, daß die Lebensqualität nicht nur im materiellen, sondern auch im politisch-rechtlichen und kulturellen Bereich unvergleichlich höher war, als sie es je vorher erlebt hatten oder gar 1945 erwarten konnten. Die pejorative Bezeichnung jener Jahre als „Restauration“ ist außerhalb intellektueller Zirkel in der Bevölkerung daher auch nie verstanden oder gar akzeptiert worden. Vielmehr stehen jene Jahre im Begriff, sich in der Erinnerung zur „guten, alten Zeit“ zu verklären, die sich durch breiten Konsens, durch Effizienz und Zukunftsgewißheit von den siebziger Jahren wohltuend zu unterscheiden scheinen.

Zwar ist die nach dem Holocaust-Film häufig zu hörende Ansicht, die Deutschen seien in Schule und Medien über den Nationalsozialismus und über die Judenverfolgung zuvor nie hinreichend unterrichtet worden, eine Selbsttäuschung oder eine Schutzbehauptung. Seit den fünfziger Jahren setzte eine intensive zeitgeschichtliche Forschung ein, wurde in Schule und in Medien dokumentarisch intensiv über das „Dritte Reich“ unterrichtet. Es fehlte nicht an Information; aber es fehlte an Betroffenheit. Die Herrschaft des Nationalsozialismus wurde vielmehr nur als ein Gegenbild zur eigenen Wirklichkeit und also als Bestätigung der neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung wahrgenommen. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung durch die Feindbilder des Kalten Krieges. In dieser Hinsicht verhielt sich das offizielle Geschichtsbewußtsein der beiden deutschen Staaten gleichsam spiegelbildlich: Wie in der DDR der Faschismus als Erscheinung des Kapitalismus historisch aus dem eigenen „Erbe“ ausgeschieden und ganz der Bundesrepublik zugewiesen wurde, so sah in breiter Übereinkunft die bundesrepublikanische Öffentlichkeit in der DDR den totalitären Nachfolger des nationalsozialistischen Regimes, der zwar die Interpretation, nicht aber die Form der Herrschaft geändert hatte. So gehörte zu jenem politischen Minimalkonsens der demokratischen Parteien in den Anfangsjahr-zehnten der Bundesrepublik auch die Ausklammerung des Problems der Kontinuität der deutschen Geschichte nach 1945 — ungeachtet aller staats-und völkerrechtlichen Positionen zur deutschen Einheit, dem juristischen und rhetorischen Festhalten an der Existenz des Deutschen Reiches und auch den sich aus dieser Rechtsauffassung ergebenden Anstrengungen zu Wiedergutmachungen nationalsozialistischen Unrechts im Innern wie nach außen. Vor dem „Geschichtsbewußtsein“ lag die Epoche des Nationalsozialismus wie ein Sperriegel. Historische Forschung über das Jahrtausend deutscher Geschichte vor dieser Zeit, Bemühungen um die europäische Geschichte, um die Universalgeschichte, breites Interesse an geschichtsphilosophischen Gesamt-entwürfen (Toynbee, Guardini, Freyer, Jaspers) — das spielte auf einer Metaebene historischen Interesses, von der es keine Verbindung zur unmittelbar zeitgeschichtlichen Gegenwart gab. Die Bundesrepublik war als politischer Körper mit der Erinnerung eines Halbwüchsigen ausgestattet. Die Geschichte der Nation schien ihr als weiter-wirkende Vergangenheit zu entgleiten, so wie die Zukunft lediglich als ein Ausbau oder eine Verbesserung des Bestehenden im Blick war.

Diese Situation fand ihre theoretische Erklärung und Rechtfertigung, die sich keineswegs auf die besondere deutsche Situation, sondern auf einen vermeintlichen Zustand der modernen Gesellschaft bezog. Interpreten glaubten die Industriegesellschaft in ein „posthistoire" eingetreten, in dem die Naturwissenschaften, die Technik und die Sozialwissenschaften die Erklärung und Regelung des gesellschaftlichen Lebens zu leisten hätten. Nicht die Geschichte, sondern die Planung der Zukunft war zur kollektiven Lebensbewältigung gefragt, „als kybernetisches Modell, als systemtheoretisches Konstrukt, als Komplex von abhängigen und unabhängigen Variablen“ (W. Weidenfeld). Helmut Schelsky brachte 1963 die Abwendung von der Geschichte auf den Begriff: Nicht mehr „der historischen Ideenführung ..., sondern den Gesetzen der Rekonstruktion‘ der Welt durch die zur Technik gewordenen Natur-und Sozialwissenschaften“ folge die gesellschaftliche Entwicklung. „Die Notwendigkeit, sich im politischen und sozialen Tun historisch verstehen zu müssen“, sei damit aufgehoben.

So schien es, als seien alle Konflikte der Vergangenheit stillgestellt oder hätten sich in technizistisch zu lösende Sachzwänge transformiert, über die ideologiefrei, pragmatisch, berechenbar in rationalen Entscheidungsverfahren befunden werden könne.

Dem von Alfred Heuß beklagten „Verlust der Geschichte“ als Unterbrechung des Kontaktes zwischen der Geschichtswissenschaft und dem öffentlichen Bewußtsein war damit eine Art Legitimation verliehen, habe doch die Geschichtswissenschaft sich durch die „Aufarbeitung und Entmachtung der Gewalt der Tradition“ als Führungswissenschaft selbst aufgehoben. Und hatte nicht der Altmeister der deutschen Geistesgeschichte, Friedrich Meinecke, in seinem Buch „Die deutsche Katastrophe“ als Heilmittel nur noch den Weg hinaus aus der konkreten Verarbeitung der Geschichte „zu den höchsten Sphären des Ewigen und Göttlichen“ empfohlen, etwa zur Lyrik „von jener wunderbaren Art, wie sie in Goethe und Mörike gipfelt“, also die „Hilfe für den deutschen Geist“ nicht aus einer Aufarbeitung der Geschichte, sondern aus einer Wesensschau des Ewigen erhofft? .

Kritiker dieser Dispensation des politischen Selbstverständnisses von der historischen Kontinuität hat es stets gegeben; ihr Einfluß blieb gering. Eine eigentümliche, im modernen System-denken nicht zu erklärende Vorliebe für „Altes“, das nicht mehr nur als das Veraltete erschien, zeigte sich mehr als Modetrend denn als bewußter historischer Rückgriff am Ende der sechziger Jahre — aber es blieb unklar, ob diese nostalgische Mode nicht nur eine neue Spielart der Verbrauchsgesellschaft war, die sich nun anschickte, auch Geschichte dinghaft zu konsumieren.

V.

Das Verhältnis zur Geschichte änderte sich beinahe über Nacht, als der pragmatische Konsens der Gründerjahre der Bundesrepublik, der die tief in der deutschen Geschichte wurzelnden Gegensätze eingeebnet oder verdrängt hatte, brüchig wurde. Ein den westlichen Industriegesellschaften allgemeiner Protest gegen das „Establishment“ gewann in der Bundesrepublik besondere Schärfe. Jetzt zeigten sich die Schwächen eines historisch so oberflächlich verwurzelten Gemeinwesens. Die Kritiker machten bewußt, daß „die grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen der späten vierziger und fünfziger Jahre ... auf teilweise geborgten geistigen Grundlagen gefällt“ worden waren (W. J. Mommsen). Dem mit normativem Gültigkeitsanspruch auftretenden liberal-demokratischen System und der sozialen Marktwirtschaft stellten sie historisch begründete Alternativen gegenüber, die eine Zeitlang eben deshalb wie ein Faszinosum wirken konnten, weil auch sie in ihrem historischen Kontext nicht oder nur einseitig verklärend aufgearbeitet waren.

Unzufrieden mit der offenbar stagnierenden gesellschaftlichen Ordnung, mit einem erstarrenden System der politischen Willensbildung, abgestoßen vom politischen Lob des Kompromisses begann ein Teil der Studentengeneration der späten sechziger Jahre, angeführt von potenten Mentoren, getragen von einer anfänglich breiten Sympathie in wichtigen Medien, wieder radikal die Frage nach der „richtigen“ Ordnung der Gesellschaft zu stellen. Ein Kult der Unzufriedenheit grassierte, eine unruhige und ausschweifende Suche nach einer besseren, gerechteren, freieren Zukunftsgesellschaft begann und produzierte auf dem Hintergrund immer noch florierenden wirtschaftlichen Wachstums einen Schub an Forderungen, aber auch an konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen, welche die Ausweitung der Partizipation, die Abschleifung autoritativer Verhaltensmuster, die Egalisierung des sozialen Systems zum Ziele hatten. Im Protest gegen den Vietnam-Krieg gewann diese Bewegung nicht nur ihren symbolischen Ausdruck, sondern auch ihre innere, politische Selbstgewißheit und ein Feindbild, das zugleich Kapitalismus, Imperialismus und parlamentarische Demokratie umgriff. Nicht nur die in der Bundesrepublik „herrschenden Zustände“, sondern insgesamt ihre enge Bindung an das westliche Modell parlamentarisch-kapitalistischer Provenienz wurden in Frage gestellt — unter der Forderung nach mehr Demokratie verbarg sich dabei ein deutlicher Impuls nationaler Rückbesinnung aufdeutsche oder europäische Alternativen zum importierten angelsächsischen Herr-Schafts-und Wirtschaftssystem.

Alternativen von Links! Neomarxistische Kategorien breiteten sich aus und man entdeckte faschistoide Züge im politischen und ökonomischen System der Bundesrepublik; das geistige Rüstzeug der Frankfurter Schule hebelte die pragmatische und eher biedere politische Selbstinterpretation der Bundesrepublik rhetorisch ohne große Mühe aus den Angeln und wirkte mit breiter Suggestiv-kraft auch dort, wo es weder verstanden noch eigentlich akzeptiert wurde. Verbale oder tatsächliche Reformbereitschaft griff um sich. Die neue Ostpolitik brach lange herrschende Tabus und überwand Berührungsängste — kurz, die Bundesrepublik begab sich im Innern wie innerhalb der internationalen Politik auf neue, ungewisse Wege.

Mit dem Streit um die rechte politische Ordnung im Innern und die richtige Politik nach außen ging nun ein Rückgriff auf die Geschichte einher — kamen doch die geistigen Grundlagen der Kritik im wesentlichen aus der historisch orientierten Gesellschaftsphilosophie, die sich mit der positivistischen Schule der Soziologie erbitterte wissenschaftstheoretische, im Kern politische Kämpfe lieferte. Das „Geschichtsbewußtsein“ im oben bezeichneten Sinne erfuhr eine erhebliche Ausweitung. Die Tradition der Aufklärung im geistigen wie im praktisch-politischen Sinne wurde wieder in das gegenwärtige Selbstverständnis hineingeholt. Dies geschah auf sehr unterschiedlichem Niveau und mit ganz verschiedenen Auswirkungen.

Es ist hier nicht darzustellen, daß aus diesen Anstößen auch die deutsche Geschichtswissenschaft ihre bislang belebendsten Impulse nach dem Kriege gewann. Neue Fragestellungen und neue Methoden einer breit verstandenen Sozialgeschichte trugen dazu bei, jenen geistig-moralischen Sperriegel zu durchbrechen, Kontinuität und Brüche in der Geschichte der deutschen Gesellschaft seit der Französischen Revolution genauer zu analysieren und die Geschichte der Bundesrepublik, wenn auch auf eine umstrittene Weise, wieder in den Zusammenhang der deutschen Geschichte zu rücken.

Außerhalb der Geschichtswissenschaft wurde mit gröberen Waffen gefochten. Der Rückgriff auf Geschichte war verbunden mit dem Angriff auf die gleichsam „geschichtslose“ politische Ideologie des frühen politischen Grundkonsenses der Bundesrepublik. Wie vergessene oder verdrängte Geschichte nun als Argument im politischen Kampf gebraucht wurde, ist ein Lehrstück für die Funktion von Geschichtsbewußtsein. So wie es um die „richtige“ politische Ordnung ging, so ging es auch um die Konstruktion einer „richtigen“ Geschichte. Sie stellte sich unter den Leitbegriff der „Emanzipation“, einer historisch ehrwürdigen und tief fundierten Idee, die jetzt als Emanzipation von „überflüssiger Herrschaft“ verstanden wurde. Genaugenommen war es eine über den Erdball schweifende politische Befreiungshistorie, welche in der Geschichte ein zwar langwieriges, aber schließlich erfolgreiches Abschütteln von Knechtschaft als leitendes Prinzip entdeckte und damit das eigene Handeln in die Zukunft hinein legitimierte. In eigentümlicher Weise mischten sich hedonistische Zukunftserwartungen mit utopischem Voluntarismus und scharfsichtigen Analysen. Und diese Geschichte weckte Emotionen: Alte Lieder wurden wieder lebendig, Helden und Märtyrer zu neuer, personaler Vorbild-wirkung gesteigert, aktionistische Triebsätze längst vergangener Zeiten wieder als scharfe Munition verwendet.

Es ist eine schwerwiegende Verkennung, wenn dieser buntgemischten politisch-ideologischen Opposition der späten sechziger und frühen siebziger Jahre Geschichtsfeindlichkeit oder Geschichtsfremdheit unterstellt wird. Vielmehr hat diese Bewegung die Geschichte wieder ins politische Selbstbewußtsein der Bundesrepublik hineingebracht — freilich auf eine verfremdende Art.

Denn dieser Rückgriff auf die Geschichte wandte sich nicht nur gegen die technokratische Geschichtslosigkeit, sondern auch gegen die traditionelle Sicht bürgerlicher Nationalgeschichte, die sich bereits vor diesem Angriff an den Rand der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gedrängt sah und, ehe sie in produktiver Verbindung mit den Sozialwissenschaften neue Antworten auf die Herausforderungen fand, eine Zeit der Verblüffungsstarre in Wissenschaft und Unterricht durchmachen mußte. Der Streit um die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre half, die Fronten zu klären. Der Versuch, das Geschichtsverständnis auf eine neue Weise der Entwicklung einer erhofften Zukunftsgesellschaft dienstbar zu machen — nichts anderes war die Einordnung des Faches Geschichte in den Bereich der Sozialkunde —, verwies die politischen Gegner ihrerseits auf die Geschichte und trieb sie aus der nicht mehr haltbaren Bastion der Geschichtsverleugnung in das offene Feld einer neuen Auseinandersetzung um die Bewertung der deutschen Geschichte.

Diese Mobilisierung und Polarisierung des Geschichtsbewußtseins hat die Politiker der Bundesrepublik, die Publizisten, die Historiker und die Lehrer wieder zu der Erkenntnis geführt, daß das Geschichtsbild ein Politikum ist, ebenso notwendig zur Selbstvergewisserung wie nützlich zur Denunzierung des politischen Gegners. Seit dieser Zeit befassen sich Landtage mit Richtlinien für politisch und historisch bedeutsame Fächer, stellen Parteien Anträge zum Geschichtsunterricht, geben Bundespräsidenten programmatische Erklärungen zur Geschichte ab, formieren sich politische Lager als Hüter unterschiedlicher Traditionen, wird die Geschichtsforschung wieder zur spannenden und umkämpften öffentlichen Angelegenheit. Zwar hat sich der Pulverdampf der großen Schlachten um die richtige Bildungspolitik und darin vor allem um Art und Ausmaß des Geschichtsunterrichts mit dem Stillstand oder dem Zurücknehmen des Ansatzes zur großen Bildungsreform verzogen. Aber die öffentliche Auseinandersetzung um die „richtige“ Deutung der Geschichte hat sich nicht abgeschwächt. Kein großer Gedenktag verläuft mehr in Routine oder Harmonie, keine bedeutsame politische Auseinandersetzung ohne polemische Indienstnahme von Geschichte. Die Geschichtswissenschaft, wie immer die Impulse ihrer Fragen aus gegenwärtigem Interesse mitbestimmt sind, läßt sich unter den einfachen Gegensatz von „Emanzipation“ und „Identität“ nicht subsumieren; aber beide Begriffe bezeichnen unterschiedliche Dispositionen der Mentalität, durch welche die Aufnahme und Bewertung ihrer Ergebnisse in der publizistischen 1 und politischen Öffentlichkeit geprägt wird. Und wenn nicht alles, täuscht, reichen diese „lebensweltlichen“ Prägekräfte direkt bis in die wissenschaftliche Produktion hinein — wenn auch das bedenkliche Auseinanderklaffen von national-pädagogischem Motiv und Wahrheitsstreben nicht immer so konkret und so bedenklich faßbar ist wie etwa bei der Schuldzuweisung für den Reichstagsbrand (W. Hofer).

Die emanzipatorisch-kritisch gestimmte Sicht der deutschen Geschichte wird am besten durch die zu geflügelten politischen Worten gewordenen Buchtitel von der „Verspäteten Nation“ (H. Plessner)

oder der „Verspäteten Demokratie“ (W. Röhrich) bezeichnet. Für diese Vorstellungen geben die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der westlichen, vornehmlich der angelsächsischen Länder das Vorbild ab. Gemessen am Modell dieser politischen Nationen erscheint die deutsche Geschichte als „Sonderweg“ und zwar, anders als deutsche Intellektuelle es vor und nach dem Ersten Weltkrieg sahen, in negativer Wertung: ein Weg, auf dem die deutsche Nation zielstrebig in das „Dritte Reich“ marschiert sei; ein Irrweg, von dem man sich abzukehren habe durch Abschüttelung der historischen Bedingungsfaktoren des Nationalsozialismus. Die Suche nach solchen Bedingungen greift dann weit ins 19. Jahrhundert, ja in die frühmoderne deutsche Geschichte zurück, die, dadurch in ein Zwielicht getaucht, für eine unbefangene Identifizierung der lebenden Generation mit ihren Vorvätern bis über das dritte Glied zurück nicht mehr viel hergibt — eine sozialpsychologisch bedenkliche Erscheinung, die das breite Selbstverständnis der Nation von Tradition und Überlieferung lösen und vielmehr auf deren Kritik gründen möchte. Daß diese These eine so breite, bewußte Akzeptanz und als eine unterschwellige Einstellung so viel Zustimmung findet, macht deutlich, daß ihr eine weithin aufgenommene Tradition anderer Art zugrundeliegt, nämlich die Entscheidung von 1949 — die nicht nur außenpolitische, sondern in einer Grund-stimmung der politischen Mentalität fundierte „Westorientierung“ der Bundesrepublik. Insofern stützt diese kritische Geschichtsperspektive insgesamt die ideologischen Prämissen der Existenz der Bundesrepublik, die es progressiv weiterzuentwickeln, aber nicht zu suspendieren gilt.

Die radikale Variante einer emanzipatorischen Geschichtssicht, die das Grundgesetz als „Diktat der Alliierten und des Kapitals“ verteufelt, im Jahr 1949 einen neuen Irrweg beginnen sieht, der von den genuin deutschen und europäischen Traditionen rätedemokratischer oder sozialistischer politischer Ordnungsentwürfe abführte, blieb auf kleine Zirkel beschränkt. Aber in der emotional durchtränkten Abwehr der Fremdbestimmung Mitteleuropas durch die Weltmächte, verbunden mit der Ablehnung übermächtiger administrativer und ökonomischer Komplexe deutet sich hier eine neue, positive Sonderwegsideologie an, die in der Friedensbewegung über die Systemgrenzen hinweg wieder eine nationale Identität beschwört, die nun nicht aus einem besonderen Anspruch auf Weltmacht, sondern aus dem Bewußtsein der Ohnmacht ihre Kraft zieht. Die emanzipatorische Geschichtssicht hat ihre Kritiker selbst wachgerüttelt. Durch die emphatische Verkündigung einer durch Erziehung und Aufklärung zu verwirklichenden, erst wahrhaft demokratischen „Realutopie“ herrschaftsfreier Gesellschaft, verbunden mit symbolischen oder tatsächlichen Angriffen gegen institutionalisierte Ordnungen, Gewohnheiten und Sitten, weckte sie die Sorge, daß die Gesellschaft, insbesondere die Heranwachsenden, durch Lösung aus Traditionen, Gewohnheiten und unbestritten anerkannten Werten zur manipulierbaren Masse für eine emanzipatorische Demagogie werden könne. Un-historisches Denken, gegründet auf den Anspruch nach Selbstbestimmung aus dem eigenen Verstand, durch moralischen Anspruch in der Gewißheit der eigenen Überzeugung gestärkt, schien im Begriff, die geschichtliche Verankerung, auf der auch die Bundesrepublik ruht, loszureißen. Nicht eine solche rhetorische Programmatik, die zu ungewissen und gefährlichen Entwicklungen führen könne, sondern die Geschichte sei „das Bezugs-feld, in dem wir unsere Identität finden“. Durch historische Bildung müsse „dem Identitätsverlust und der Massengesellschaft“ entgegengewirkt werden; das sei eine „eminent politische Aufgabe“ — so die Thesen Alfred Dreggers und der hessischen CDU zu Geschichte und Geschichtsunterricht.

Auch diese identifikatorische Sicht auf die Geschichte stützt die ideologischen und institutionellen Fundamente der Bundesrepublik, aber nicht so sehr als zu entwickelnde Ausgangspositionen, sondern als zu bewahrende Errungenschaften. Von der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik fällt in dieser Perspektive — strukturell sehr ähnlich dem Perspektivenwechsel in der DDR — wieder ein mildes Licht auf die Geschichte der deutschen Nation. Mit dem Gewicht des neuen Staates und seines Selbstbewußtseins wächst das positive historische Potential, das Bewußtsein seiner historischen Eigenständigkeit, wird die 1933 und 1945 so tief diskreditierte nationalliberale und konservative Traditionslinie wieder akzeptabel. Dem „Wir sind wieder wer!“ entspricht ein „Wir waren schließlich einmal wer!“ Die kompromißlose Ablehnung der nationalsozialistischen Periode verstärkt in dieser Sicht den Drang nach Relativierung jener Jahre durch die historische Gesamt-perspektive, das heißt, nach Wiedergewinnung einer Möglichkeit genuiner deutscher historischer Selbstvergewisserung. Hatte Heinemann als Bundespräsident dazu aufgerufen, spezifische demokratische Traditionen aus der deutschen Geschichte normativ zu präsentieren, so wiesen Scheel und Carstens in derselben Funktion nachdrücklich auf die gesamte deutsche Geschichte als erinnerungswürdig hin — eine sinnfällige Darstellung des gegensätzlichen Musters deutscher Geschichtsrezeption.

Es ist nicht ganz leicht, festzustellen, wie rand-scharf sich diese auf die Anerkennung der Bundesrepublik zielende historische Perspektive von den Versuchen absetzt, die deutsche Geschichte in einer neonationalen Weise neu zu schreiben und dabei mehr oder minder offen, auch den Nationalsozialismus mindestens partiell wieder zu exkulpieren — einerlei ob dies in regressivem Zugriff (H. Diwald) oder harmonisierender Historienmalerei (W. Venohr) geschieht. Aber durch eine scharfe Trennungslinie ist die neonazistische, revisionistische Geschichtssicht von ihr geschieden — sie berührt sich allerdings in fataler Weise in ihrer Aggression gegen die Supermächte mit der neutralistisch-linken Position; ihre konzeptionelle und emotionale Distanz von jeglicher Friedensbewegung zeigt freilich, daß die Extreme sich doch nicht so einfach berühren, wie man oft meint.

VI.

Diese beiden Grundmuster des neuen Zugriffs auf die Geschichte innerhalb des Rahmens der Normen und Wirklichkeiten der Bundesrepublik bestimmen nun weithin die Art des Umgangs mit der Geschichte in der politischen Auseinandersetzung. Nur andeutungsweise sei auf einige Beispiele hingewiesen.

— Die Widerstandsforschung ist zu komplex, als daß sie in den genannten Grundmustern aufginge; aber seit Hans Rothfels’ Monographie über „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ (1948/49) zeigt sich ein Wandel in der Bewertung der Widerstandsgruppen, der nicht allein der Logik der Forschung, sondern auch den Bedürfnissen der politischen Selbstverständigung folgte. Er führte von dem Versuch, durch positive Identifizierungsangebote den Deutschen der Nachkriegszeit jedenfalls ein Stück historisch-politischen Selbstbewußtseins zu geben, bis zur kritischen Auseinandersetzung mit jenen Widerstandskreisen, deren Zukunftsbild dem Weg nicht entsprach, den die Bundesrepublik eingeschlagen hatte. In gleichem Maße wurde als eine Art ausgleichender Gerechtigkeit im Selbstverständnis der Nation der Widerstand von Links, der Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaften aufgewertet oder angemessener und gerechter begriffen. Der Differenzierungsprozeß der Forschung war zugleich ein Vorgang, in dem sich Legitimationsmuster verschoben — zugunsten des „demokratischen“, auf Kosten des „traditional autoritären“ Widerstandspotentials. — Auf die Deutung der nationalsozialistischen Periode schlägt dieses polare Grundmuster noch deutlicher, freilich auch viel komplizierter durch. Das gilt für die Versuche einer Gesamterklärung des Phänomens ebenso wie für die Auseinandersetzung um die konkreten Ursachen der „Machtergreifung“ oder für die Analyse des Herrschaftssystems selbst. Das Aufbrechen des „Riegels“ (M. Broszat), der den Zugang zur deutschen Geschichte vor 1933 und ihre Verbindung mit der Gegenwart nach 1949 versperrte, erfolgte durch die „emanzipatorische“ Kontinuitätssuche, die sich nicht mehr mit außerhistorischen Kategorien wie Unglück, Tragik oder Zufall bei der Erklärung des Phänomens begnügen mochte. Die ernsthafte Forschung hat mit diesem Ansatz einen erheblichen Beitrag zur genaueren Erschließung der politischen und vor allen Dingen der gesellschaftlichen Geschichte des 19. Jahrhunderts geleistet; ihre popularisierende Aufnahme oder der sie begleitende Schwarm politisch motivierter eifernder Traktate hat diesen Zugriff zu einer denunziatorischen Polithistorie verkommen lassen, die mehr oder minder direkt ganze Gruppen des deutschen Volkes, seine staatlichen Institutionen, seine politische Philosophie und erst recht seine politischen Mentalitäten als präfaschistisch denunziert und, dem emanzipatorischen Ansatz gemäß, den Schluß nahelegt, eigentlich habe man seit der Französischen Revolution, vielleicht gar seit Luthers Reformation, aus der deutschen Geschichte nur noch emigrieren dürfen.

Dem entspricht fast spiegelbildlich die Abwehr dieser Position. In der politischen Selbstverständigungshistorie verweist man auf die von der anderen Seite gern vernachlässigte außenpolitische Bedingtheit der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert „mitten in Europa“ hin. Auch auf hoher Ebene der engagierten Reflexion wird „Versagen und Verhängnis“ (A. Heuß) in der deutschen Geschichte mit aller Entschiedenheit in der hier beobachteten Polarität beschrieben. In scharfer Wendung gegen die Sozialgeschichte (und am Rande natürlich gegen die Didaktiker) kann Alfred Heuß in der Realgeschichte des Deutschen Reiches die äußeren Gefahren als dominant hervorheben und zugleich auf der Ebene des Bewußtseins den wissenschaftlichen (und doch wohl auch politischen) Antipoden vorwerfen, daß sie Geschichte und Geschichtsverständnis geradezu „auf den Kopf gestellt hätten“ — zweifellos eine Entlastung der deutschen Innenpolitik seit der Reichsgründung und eine Erhöhung des nationalen Identifikationspotentials in politischer Absicht.

Bei der unmittelbaren Schuldzuweisung für die „Machtübernahme“ wird die Historie in der politischen Auseinandersetzung noch unbefangener als Knüppel eingesetzt. Die Zuweisung der Schuld am Aufkommen Hitlers, wechselweise der Wirtschaft und dem nationalistischen Kleinbürgertum oder aber den zum Nationalsozialismus übergelaufenen Arbeitermassen zugeschrieben, ist in dem Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ unter die Toleranzlinie eines noch diskutablen Umgangs mit Geschichte in der politischen Auseinandersetzung gerutscht. Die Frage nach den dominanten Kräften des Herrschaftssystems des Nationalsozialismus, nach der Gewichtung der Bedeutung Hitlers oder der ihn politisch und gesellschaftlich unterstützenden Personen und Institutionen zeigt nicht minder jene Anfälligkeit für politische Instrumentalisierung: Je größer die Rolle Hitlers und seines Herrschaftssystems, desto entschuldbarer die deutsche Gesellschaft; je schwächer die Figur Hitlers, je verworrener sein Herrschaftssystem, je einflußreicher und stützender für das Dritte Reich Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Armee, Lehrerschaft usw., und um so notwendiger die „Emanzipation“ aus dieser deutschen Geschichte. — Diffus wird das Spektrum bei den besonders belastenden Themen. Es wäre eine genaue politische und sozialpsychologische Untersuchung wert, die gegenwärtige Einstellung deutscher Intellektueller und Politiker zur „Judenfrage“ zu eruieren. Hier durchkreuzen sich die Positionen auf eigenartige Weise. Es gibt das forsche, neokonservative Abschütteln von Schuld mit dem Hinweis auf den Fortgang der Geschichte und die unbelastete Generation; es gibt den verräterischen Gebrauch von Redewendungen, die deutschen Politikern, ob in Kommune, Land oder Staat, nicht mehr von den Lippen gehen dürften; es gibt aber auch die intellektuell und ästhetisch verbrämte Wiederbelebung der nationalsozialistischen Plutokratismusthese von vermeintlich progressiver Seite, der das „Grundrecht auf freie Meinungsäußerung“ (Th. Sommer) zugestanden wird, obgleich sie sich erklärtermaßen politische Stellungnahmen gestattet, die vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Geschichte gefährlicher sind als dumme oder zynische Sprüche im politischen Geschäft und, wie man aus dem Zusammenhang von Faschismus und Ästhetik wissen sollte, durch den Hinweis auf die Freiheit der Kunst nicht politisch außer Verantwortung gesetzt werden (Fassbinder, „Die Stadt, der Müll und der Tod“). Wo es um Schichten deutscher historischer Schuld und Erfahrung geht, vor denen letztlich nicht mehr Verständniskategorien des historischen Prozesses, sondern metahistorische, moralische Kriterien Geltung beanspruchen, verwirren sich die Fronten der historischen Deutung eines bestimmten politischen Selbstverständnisses, verliert die Strukturierung des historischen Urteils durch die politische Position an regulativer Kraft.

— Ganz anders hingegen bei der Berufung auf Geschichte im Zusammenhang mit der Ostpolitik. Die politische Polarisierung dominierte die historische Orientierung so stark, daß die Debatten des Deutschen Bundestages ein Musterbeispiel für die Verwendung von „Geschichte als politisches Argument“ (W. Bach) lieferten. Die systematische Untersuchung dieses Zusammenhanges hat gezeigt, in welcher Weise historische Argumentationsformen, Inhalte, Bilder und Stereotype politisch funktionalisiert werden können. Je höher der Grad dieser Funktionalisierung, um so irreführender wird die so benutzte Geschichte für das politische Urteil. Da wird Geschichte unbefangen, so wie es nützt, als Beispielsammlung verwendet, werden Analogien fragwürdiger Art der politischen Rhetorik dienstbar gemacht, werden vor allem Kontinuitätsbehauptungen aufgestellt, die willkürlich Entwicklungen an den Stellen beginnen oder enden lassen, wo es gerade in das politische Konzept paßt. Bei dieser beliebigen Verwendung erscheint Geschichte als „der unversiegbare Dorfbrunnen, aus dem jeder das Wasser des Beispiels schöpft, um seinen Unflat abzuwaschen“ — ein altes, von Koselleck wiederentdecktes deutsches Sprichwort. Abstrakt ausgedrückt: Die der eigenen gegenwärtigen Position als Bestätigung dienende Darstellung historischer Fakten, nicht aber die Bemühung um genaue Kenntnis und gerechtes Urteil bestimmen die Deutung von Geschichte.

— Am Beispiel der Auseinandersetzung mit Empfehlungen für die Inhalte und Urteile in Geschichtsbüchern für die Schulen zeigt sich der Zusammenhang von politischer Position, historischem Selbstverständnis und innen-und außen-politischen Feindbildern besonders kraß. Es ist interessant, daß die deutsch-französischen Schulbuchempfehlungen, die in den zwanziger Jahren empörte Kritik und Sanktionen gegen den Initiator hervorriefen, in den fünfziger Jahren, als das alte Papier nur geringfügig überarbeitet wieder vorgelegt wurde, wohlwollende Aufnahme fanden — ein Zeichen des durch die politische Entwicklung gewandelten, die historische Betrachtung umprägenden Selbstverständnisses.

Ganz anders die Aufnahme der deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der publizistischen und politischen Öffentlichkeit unseres Landes. Vordergründig zeigt sie die Fortsetzung des innenpolitischen Kampfes mit historischen Mitteln zwischen den Regierungs-und Oppositionsparteien bis in die Landtage und die Kommunalparlamente hinein. Dahinter aber entwickelte sich eine die Parteiräson überschreitende historisch-politische Besinnungsintensität, die langfristig die agitatorische Benutzung historischer Aussagen im politischen Kampf zurückdrängte. Das polare Muster von „Emanzipation“ und „Identität“ war zunächst überdeutlich: Die Zustimmung zu den Schulbuchempfehlungen gründete sich bisweilen emphatisch auf die Aufrechnung besonderer deutscher Schuld gegenüber Polen in den vergangenen Jahren und auf die Hoffnung eines Neubeginns deutsch-polnischer Beziehungen durch die Anerkennung der nach 1945 geschaffenen Tatsachen. So konnten einige durchaus problematische Passagen des Empfehlungstextes nicht als das analysiert werden, was sie waren: der vorsichtige Beginn eines nicht sehr belastbaren Dialogs, sondern als historische Rechtfertigung einer politisch erwünschten Befreiung von der als Last verstandenen deutschen Geschichte im Osten. Auf der anderen Seite wurde die Ablehnung nicht minder scharf und polemisch formuliert, lief doch die Arbeit an den Empfehlungen und deren Ergebnis einer alten deutschnationalen Perspektive der polnischen Geschichte und des Polentums sowie der deutschen Kulturmission im Osten zuwider. Die historisch-nationale Identitätsbildung ganzer Generationen schien in Frage gestellt, der Erfahrungs-und Interpretationshorizont der Vertriebenen seines selbstverständlichen Geltungsanspruches und seiner politisch-historischen Semantik entkleidet. Die Vorwürfe der Geschichtsfälschung und des Ausverkaufes deutscher Interessen waren der Ausdruck des Festhaltens an alten Vorstellungen und Verhältnissen: nicht nur im Sinne der staatsrechtlichen These von der Kontinuität des Deutschen Reiches, des historischen und rechtlichen Anspruchs auf seit siebenhundert Jahren deutsche und deutschgeprägte Landschaften, sondern auch im Sinne des Wachhaltens eines historisch-politischen Interpretationsmusters, das ein wesentliches Element nationalen deutschen Selbstverständnisses geblieben war.

Es überrascht nicht, daß beide Seiten den kurzen Text nur selektiv, bisweilen entstellend in ihre politisch-historische Argumentation einbrachten. Der Politiker ist kein Historiker, sondern ein „Histrione“ (W. Bach). Aber es überrascht, daß diesseits der antagonistischen Polemik quer durch alle Parteien hindurch Zug um Zug ein bisweilen nur verhüllt eingestandener Konsens entstand, der letztlich auf eine tiefgreifende Veränderung des deutschen historischen und politischen Selbstverständnisses im Hinblick auf die Volksrepublik Polen zielte. Eigentümlich, wie in dieser Verarbeitung von Geschichtsbewußtsein auf dem Boden zeitgeschichtlicher Erfahrungen und rationaler Zukunftsperspektiven sich die Repräsentanten der deutschen „Neustämme“ voneinander unterschieden — die alte Beobachtung, daß im Heimat-lande Kants Rationalität und Liberalität, die Fähigkeit zu nüchterner und verantwortungsvoller Politik besonders stark ausgebildet waren, schien sich in der unterschiedlichen Reaktion der verschiedenen Landsmannschaften der Vertriebenen zu bestätigen. Insgesamt wuchs in Öffentlichkeit und Schule das Interesse an genauerer Kenntnis der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte und der gegenwärtigen Zustände des Nachbarlandes. Auch eine andere Konstante der deutschen Geschichte, die Polensympathie, wurde in der Bundesrepublik wieder lebendig: unvergleichlich stärker als in der DDR, wo die freundlichen Beziehungen zum Nachbarn eher im offiziellen Bereich verharren. Die in diesem Klima mögliche Differenzierung, Vertiefung und wissenschaftliche Absicherung der Verständigung über die Deutung der gemeinsamen Geschichte, den der Empfehlungstext darstellte, ist nicht nur ein bedeutsamer Fortschritt im wissenschaftlichen Dialog; der Text ist auch ein Beitrag geprüften Geschichtsbewußtsein zum politischen Selbstverständnis und insofern das genaue Gegenstück der Instrumentalisierung von Geschichte im Dienst der Politik. — Wie stark auf die politische Position durchschlagende historische Deutungsmuster wirken, zeigt der Verlauf der Debatten um das Preußen-bild. Einerseits erfüllt es eine „Sündenbockfunktion“, die eine genaue Umkehr der Legende von der deutschen Sendung Preußens darstellt. Andererseits hält sich die Hochschätzung Preußens als des aufgeklärten, reformfähigen, effizienten Staats der Bildung und Verwaltung, des trotz allem durchdringenden Fortschritts und schließlich des sozialdemokratischen Hortes gegen das autoritäre und nationalsozialistisch werdende Reich.

Die hinter dem Versuch wissenschaftlicher Klärung des komplexen und ambivalenten Themas liegenden politischen Positionen werden hartnäkkig verteidigt; das zeigt die unverständliche Ausladung eines Historikers von einem Symposium zur preußischen Geschichte, nachdem die Veranstalter sein Manuskript gelesen hatten. Wie das historische Preußenbild auch noch den Hintergrund der Diskussion um die sowjetische Note zur Deutschlandpolitik von 1952 und die heutige Perspektive der Ostpolitik bestimmen kann, enthüllt der Dissens zwischen Marion Gräfin Dönhoff und Gerd Bucerius in der „Zeit“ (21. und 28. 3.

1986), der ein erstaunliches Maß an tiefsitzenden Vorurteilen und eine schon schmerzhafte Simplifizierung des Preußenbildes im „Umgang mit der Geschichte ... unter Freunden“ ans Tageslicht brachte.

— Als letztes sei auf die Evokation von Geschichte verwiesen, welche die Reaktion auf die Teilung des deutschen Nationalstaats veranlaßt hat. Hier ist das Bündel einander ausschließender Perspektiven des Wünschbaren und Möglichen, des historisch Gewordenen und des künftig zu Planenden so verwickelt geschnürt, daß die auf anderen Feldern sichtbaren Fronten der politischen Lager in der historischen Deutung nicht einfach wiederzufinden sind, zumal sich im Laufe der letzten dreißig Jahre die Positionen innerhalb der Parteien und zwischen ihnen durchaus verschoben haben. Man sollte nicht vergessen, daß gegen Adenauers politischen Weg die Sozialdemokraten und die Liberalen die Einheit der Nation als Priorität deutscher Politik betonten. Die Inanspruchnahme von Geschichte in diesem Kontext ist besonders massiv und widersprüchlich. Es ist ein Beispiel für die historisch willkürliche Festsetzung einer Kontinuitätslinie, wenn sich mit juristischen Argumenten die Wiedervereinigungsforderung nach dem Modell des Bismarck-Staates auf die Entscheidung von 1866 und 1871 bzw. 1919 gründet. Es ist eine durch die politischen Zwänge verständliche, aber wenig Überzeugungskraft ausstrahlende Vision der kommenden Geschichte, daß eben dieser deutsche Nationalstaat, gegründet in einer Situation extensiver Schwäche der europäischen Flügelmächte, wiederentstehen soll im Rahmen eines unter der Herrschaft des liberal-demokratischen Staats-und Gesellschaftsmodells nicht mehr gespaltenen Europa. Es ist auch ein Widerspruch, wenn auf dem Wege dahin die Bundesrepublik im Rahmen einer westeuropäischen Union eben die Souveränitätsrechte aufgeben soll, die sie befähigen würden, die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates auf den Gebieten der Bundesrepublik und der-DDR anzustreben. Die scharfe Polemik gegen diese Konzeption gründet sich auf eine historische Deutung Europas als einer politischen Region, die sich eben durch die Existenz und Interdependenz souveräner nationaler Staaten konstituiert (W. Seiffert). Die Verbindung der schwierigen Frage, was Europa eigentlich ausmache, mit der Frage, wie ein künftig vereinigtes Deutschland aussehen soll, läßt weder historisch eindeutige noch politisch klar formulierte Antworten zu.

Auf der anderen Seite ist der historische Verweis auf den herkömmlichen politischen deutschen Pluralismus zur Abstützung der politisch bequemen These eines geregelten Nebeneinanders dreier deutscher Staaten (Bundesrepublik, DDR, Österreich) wenig überzeugend. Die Teilung ist keine Reaktivierung historischer partikularstaatlicher Organisation. Sie ist auch, anders als die Gebietsverluste im Osten, keine zwingende Folge einer debellatio, sondern durchaus eine Neustrukturierung der deutschen politischen Landkarte — es ist blanker Voluntarismus, wenn populäre Bildbände zur Erklärung der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten anführen, daß diesseits der „Bruchlinie im geographischen Mitteleuropa“ mit zwei Ausnahmen alle freien Reichsstädte gelegen hätten, jenseits der Absolutismus sich seine Bastion geschaffen habe, hierzulande also Freiheit und Demokratie ein historisches Gut, dort der autoritäre Staat eine Überlieferung sei („Schönes Deutschland“, 1977). Solche Konstruktionen sind untauglich zur historischen Begründung des politischen Selbstverständnisses in der Deutschen Frage. Die Stellungnahmen zu dieser oder jener historischen Begründung der Möglichkeit oder der Unmöglichkeit deutscher Wiedervereinigung weisen eher auf innenpolitische Gegensätze zurück: Wo man in der Beschwörung des nationalen, Konsenses ein Aggressionspotential gegen den freiheitlichen Verfassungsstaat vermutet, wo man andererseits in der Distanz zur engagierten Verfechtung des Wiedervereinigungsgebotes einen Abschied von der Nationalgeschichte oder gar ein verfassungswidriges Verhalten unterstellt, trägt der Rückgriff auf die Geschichte zur Orientierung in der nationalen Frage nichts mehr bei.

Dieser Polarisierung stehen jedoch tiefer greifende Besinnungen auf die deutsche Geschichte im wissenschaftlichen, politischen und publizistischen Diskurs entgegen — nicht zuletzt beflügelt durch die Intensität der wendungsreichen Diskussion der nationalen Frage in der DDR. Diese breite Diskussion um die „Deutsche Frage“, um die „Identität der Deutschen“ hat den bemühten Kompromiß der Kultusminister um eine allgemeine Regelung der Behandlung der Deutschen Frage im Unterricht längst hinter sich gelassen — ein Kompromiß, der durch die vorangestellte rechtspolitische Dogmatik eher eine Versteinerung und damit ein Absterben als die beabsichtigte Stärkung des nationalen Engagements bewirkt. Die politische Komplexität der „Deutschen Frage“ läßt, aufs Ganze gesehen, auch das Bündel ihrer historischen Divergenzen wieder bewußt werden. Die intensive und weit verbreitete historisch-politische Befassung mit der Deutschen Frage gibt die Chance, nie völlig vergessene, aber überlagerte, verschiedenartige Identitätsbezüge innerhalb der deutschen Geschichte als Bestandteile und nicht als Defizite der Nation zu entdekken: Regionale, konfessionelle, ideologische, sozial verschiedenartige historische und politische Erfahrungswelten und vorgeprägte Einheiten lassen es nicht mehr zu, eine homogene nationale Identität als Bezugspunkt politischen Denkens zu definieren und eine auf sie fixierte absolute Loyalität zu verlangen.

Die Deutsche Frage ist nicht nur „offen“ hinsichtlich einer politischen Überwindung der deutschen Teilung; ist sie vor allem offen hinsichtlich einer historisch-politischen Selbstbestimmung dieser Nation mit ihrer konkreten Geschichte und ihren Traditionen — im Guten wie im Bösen sind sie uns vor-und aufgegeben. Sie lassen sich nicht sortieren wie die Erbsen im Märchen. Vor allem sind sie nicht zu „bewältigen“ durch den sozialpsychologisch so verständlichen Wunsch nach „Schlußstrich“ oder „Neubeginn“. Wer in der Deutschen Frage für welche politische Lösung auch immer ein eindeutiges Modell in der Geschichte sucht, wird notwendig danebengreifen. Die deutsche Einheit ist kein Monolith, sondern die spannungsreiche Kommunikation historisch gewordener, unterschiedlicher Identitäten, deren Recht nicht aus der „Nation“ abgeleitet werden kann; sie konstituieren vielmehr in gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Geschichte erst die Nation durch den politischen Willen. Dieser Wille würde durch den Zwang, sich als „une et indivisible" zu begreifen, gelähmt.

Wie schwierig an diesem Thema die Verbindung des politischen mit dem historischen Bewußtsein ist, zeigen die Diskussionen um die Art, wie der 8. Mai 1985 in der Bundesrepublik angemessen zu begehen sei. Greift die Politik bei der Erklärung des Beginns der Herrschaft Hitlers noch relativ unbefangen zur Geschichte als Argument, so lösen sich angesichts der Erinnerung an das Ende dieses Reiches die Fronten von „emanzipatorischem“ und „identitätsstiftendem“ Zugriff auf die Geschichte auf. Die Bewertung dieses Tages ist vielmehr eine Folge der Entscheidung für bestimmte und oft widersprüchliche „Identitäten“, die sich in der deutschen Geschichte durchdrangen oder gegenüberstanden — Identitäten oder Traditionsstränge, die nicht in der kurzen Geschichte der Bundesrepublik, sondern in der deutschen Geschichte des 20. und 19. Jahrhunderts ihre Aktualisierung gewannen, historisch aber weiter zurückreichen. Sie wirken und sind unempfindlich nach innen wie nach außen gegenüber bemühten symbolischen Gesten in Konzentrationslagern oder auf Soldatenfriedhöfen. Sie bestimmen, ob gewollt und verstanden oder nicht, auch die Positionen der politischen „Enkel“ der Gründungsväter der Bundesrepublik. Die in diesem Sinne „offene“ Deutsche Frage richtet sich an unsere Fähigkeit, das oft beschworene „Selbstbestimmungsrecht“ auch angesichts der Geschichte auszuüben.

Die Radikalität, Extensivität und Intensität, mit der die deutsche Geschichte unter dem Hakenkreuz aus dem zwar überall und immer verletzten, aber doch anerkannten europäischen politischen Moralkodex ausgeschert ist, verbietet es, die Geschichte, wie bei allen Nationen oft recht unbedenklich üblich, als Instrument der Entschuldung oder Selbstbestätigung zu benutzen. Das gilt vor allem für jenes direkte oder mittelbare Aufrechnen von Ermordeten und Vertriebenen, von wechselseitigen Zerstörungen, von beiderseitigen politischen Lügen, für das Beschwören von Schuld auf der anderen Seite zum Zwecke der eigenen Entlastung. Wer dieser Verführung einer oft nur dosiert dargebotenen Geschichtsaufrechnung folgt und damit auf elementare Sozial-instinkte in politischer Absicht spekuliert, versäumt die Chance, eine durch Vernunft und Moral vor Geschichte und Zukunftserwartung tragfähige Antwort auf die Deutsche Frage zu finden. Eine solche Antwort liegt ganz gewiß nicht bei einem der beiden Pole der bundesdeutschen Attitüde gegenüber der Geschichte. Keine Realutopie, kein persönliches Unschuldsbewußtsein, kein gutes demokratisches Gewissen, keine moralische Entrüstung über die Bosheit anderer „hinten, weit in der Türkei“ kann eine Emanzipation von dieser Geschichte und einen unbefangenen Aufbruch zu neuen Ufern begründen; kein pauschaler Ruf nach „Identität“ kann andererseits vergessen machen, daß die deutsche Geschichte kein Schatzkästlein ist, das es nun wieder zu öffnen gälte, und keine feste Burg, die uns Sicherheit böte oder Ansprüche schützte.

VII.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Beschreibung des politisch mobilisierten Geschichtsbewußtseins in der Bundesrepublik nach dem Muster des Gegensatzes von „Emanzipation“ und „Identität“ — oft vereinfacht oder polemisch als Widerspruch zwischen „fortschrittlicher“ und „konservativer“ Geschichtssicht gedeutet — vordergründig bleibt. Genauer ist eine Differenzierung nach den unterschiedlichen Identitätsbezügen des historischen Selbstverständnisses, also nach den Kriterien der historischen Urteilsbildung und Wertung.

Je deutlicher sich jene Polarisierung manifestiert, um so ungenauer und fragwürdiger wird der Umgang mit Geschichte, um so mehr spricht aus der so zurechtgerückten Geschichte „der Herren eigner Geist“. Das Wesen geschichtlicher Erscheinungen hingegen ist es, „daß das, was wir mögen, und das, was wir nicht mögen, ihnen zugleich eigen ist, daß sie sich unserem Verlangen, das Positive auf derselben Seite zu finden: Freiheit und Friede gerade nicht fügen ..." (Th. Nipperdey). Die Abwägung von historischen Identitätsangeboten in der Perspektive politischer Pragmatik und Normativität unter gegenwärtigen Bedingungen, die von denjenigen Verhältnissen verschieden sind, unter denen diese Traditionen entstanden, auf die man sich beruft — das ist das eigentliche Problem des „Geschichtsbewußtseins“ im politischen Kontext. Es gibt Traditionsstränge, die durch die Geschichte sans phrase diskreditiert sind. Was sich in die Überlieferung der nationalsozialistischen Perversion deutscher Geschichte stellt, aber auch, was aus dem noch brodelnden Topf eines erst seit dem späten 19. Jahrhundert in der deutschen Geschichte politisch virulenten völkisch-populistischen Integralismus und Fremden-hasses schöpft, sollte seine Kraft im historischen und politischen Bewußtsein verspielt haben. Aber nicht alles aus der Überlieferung, worauf sich der Nationalsozialismus usurpatorisch berufen hat, ist mit diesem gleichzusetzen. Eine schlimme Folge des Eklektizismus dieser Ideologie und ihrer unbedenklichen Ausbeutung und Verschleuderung der deutschen Geschichte ist es, daß sich heute in der politischen Auseinandersetzung eine Demagogie bemerkbar machen kann, die den jeweiligen Gegner in die diskreditierende Nähe zum Nationalsozialismus zu rücken pflegt.

Die berechtigte Frage nach der Identitätstoleranz bei der Berufung auf die Geschichte jenseits solcher Extreme läßt sich zuverlässiger als durch den Verweis auf die Inhalte durch das Kriterium des Anspruchs beantworten. Wo er absolut gesetzt wird, keine Identitätskonkurrenz duldet (zunächst in der Interpretation der Geschichte, dann in der Praxis der Politik), ist er falsch. Wo sich Identitätsbehauptungen absolut setzen, entsteht kein Geschichtsbewußtsein. Dann werden „Geschichtsbilder“ produziert. Geschichtsbilder sind der Feind des Geschichtsbewußtseins. Sie sind einfach, unverrückbar und falsch. Daß auch komplexe Gesellschaften die Neigung haben, wie die Hirtenstämme alter Zeit ihr Selbst-und Fremd-B Verständnis in solchen Bildern zu deuten, ist eine elementare Bedrohung ihrer Existenz. Die fatale deutsche Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus und die ungelöste Frage nach der politischen Möglichkeit eines deutschen Nationalstaats bieten die Chance, diesem sozialpsychologischen Zwang der Selbstbestätigung zu entkommen, sich von der Magie der Geschichtsbilder zu befreien, die nach dem Ersten Weltkrieg so große und verhängnisvolle Macht gewinnen konnten.

Wir brauchen die Fülle an historischer Substanz, die Bewahrung verschiedener Identifizierungs-Subjekte, deren jedes ein partielles Recht hat und zu verschiedenen Fragen bedenkenswerte Antworden bereithält. Wer hätte in den sechziger Jahren gedacht, daß „Kulturpessimismus“ anders denn als „politische Gefahr“ (F. Stern) betrachtet werden könne und zu den verderblichen irrationalen Elementen des deutschen Sonderweges gehörte? Heute kann ernsthaft darüber diskutiert werden, ob das gepriesene Fortschrittsmodell noch das leitende Muster der historischen Betrachtung und der Planung für die kommende Geschichte sein darf, ob nicht der Irrationalismus gerade in der elefantenhaften Rationalität der großen administrativen und industriellen Komplexe steckt. Wenn selbst in der Fragwürdigkeit des „antimodernistischen“ Affekts und der Zivilisationskritik des späten 19. Jahrhunderts doch ein Stück bedenkenswerter Richtigkeit enthalten war, so mahnt das zu sorgfältigem Umgang mit den verschiedenen Traditionen und ihren Trägern. Dem Historiker wie dem Politiker steht die Attitüde des Staatsanwalts schlecht an.

Wie brauchen die unterschiedlichen Traditionsstränge regionaler, konfessioneller, ideologischer, politischer, sozialer Traditionsbestände auch und gerade als Substanzen unterschiedlicher politischer Willensbildung und legitimen gegenwärtigen Selbstverständnisses. Ihre Ergänzung, wechselseitige Infragestellung und Kritik, Herausforderung und Kompromißfähigkeit hinter allem Streit gehören zur Tradition deutscher Geschichte. „Deutsche Identität“ ist um so glaubhafter und fester gegründet, je intensiver sie in solcher Auseinandersetzung und Vielfalt ruht.

Ist unsere politische Kultur zur Entwicklung eines solchen Geschichtsbewußtseins fähig, das genau dem Anspruch einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft korrespondiert? Machthaber sind allzu gern Rechthaber. Der administrative Fanatismus, der durch die Hessischen Rahmen-richtlinien die Geschichte im Erziehungsprozeß in den Dienst eines bestimmten Geschichtsbildes zwingen wollte, fand sein Gegenstück in der administrativen Borniertheit, mit dem die öffentliche Kritik an den baden-württembergischen

Lehrplänen im Amtsbereich des Ministers unterdrückt werden sollte — böse Beispiele, nicht einmal aus der Hitze politischen Kampfes, sondern aus der Kühle der Amtsstuben. Daß deutsche Volksvertreter das Nachdenken über die Zukunft der Deutschen Frage in die engen Grenzen des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1973 bannen wollen, sofern dies Nachdenken auf Kongressen erfolgt, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie durch die Art des Rückgriffs auf Geschichte wirkliche deutsche Identität verspielt werden kann.

Die Unverbindlichkeit abstrakt-vager Formulierungen, wenn es um die Benennung deutscher Schuld oder Verursachung von Leid geht, ist oft gerügt worden. Es macht schon einen Unterschied, ob man von dem „ungeheuren Elend“ spricht, das 1941 „über die Russen gekommen“ sei, oder ob man das ungeheure Leid als Folge des deutschen Angriffs, der Führerbefehle und ihrer Befolgung bezeichnet. Nur solch genaues Sprechen ist der Geschichte angemessen und gibt uns das Recht, es auch da einzufordern, wo von der anderen Seite die Rede ist. Auch die historisch-politische gemeindeutsche Formel, daß „von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen“ dürfe, macht sich solcher vagen Verschleierung schuldig. Der Boden war wahrhaftig unschuldig und sollte nicht abermals als Metapher herhalten müssen. Deutsche Regierungen und Entscheidungsträger aller Art, nicht der „Boden“ sind aufgerufen zur Politik der Friedenserhaltung, zur Vermeidung jedes politischen und militärischen Übergriffs, zur Anerkennung der Priorität der Versöhnung gegenüber allen friedensgefährdenden Ansprüchen. Das erfordert die Bildung eines Geschichtsbewußtseins als Bestandteil der politischen Mentalität, in der sich für eine andere Politik keine Mehrheit findet. Eine Alleinzuständigkeit dafür gibt es weder aus historischer Kontinuität noch aus politischer Programmatik — wohl aber reiches Anschauungsmaterial für gefährliche Entwicklungen politischen Denkens in allen Lagern bei verschiedenen Gelegenheiten.

Eine „neue Polarisierung des Geschichtsbildes in der Bundesrepublik Deutschland“ mag manchen Heißspornen wohl recht sein; sie ist aber nichts als der Wunsch nach einer Klärung'der Fronten zum Zweck der geistigen und politischen Majorisierung des Gegners und darum ebenso bedenklich wie eine Harmonisierung des Geschichtsbewußtseins, die die Gegensätze verdeckt und damit Geschichte belanglos macht.

Es ist ermutigend, daß der Bundespräsident in seiner Rede zum 8. Mai 1945 ein Zeichen des Geschichtsbewußtseins gesetzt hat, das die billige Polarisierung und die vage Harmonisierung hinter sich läßt. Gewiß werden nicht alle im In-und Ausland, die ihm zustimmten, ihren eigenen Umgang mit Geschichte im politischen Feld danach richten. Aber Voraussetzungen sind vorhanden, die nationale Identität durch ein Geschichtsbewußtsein zu artikulieren, das ihren Besonderheiten Rechnung trägt, vielen Solidaritäten Raum gewährt, regionale, politische, religiöse, soziale Spannungen erträgt und verarbeitet, transnationale Beziehungen ebensowenig abschneidet wie lokales Sonderbewußtsein. Ein breites, gesellschaftliches Interesse der verschiedensten Gruppen — Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Frauen, Kommunen, Stadtviertel, Schulen, Regionen —, die nach ihrer Geschichte fragen, hat das Wissen um die Vielfalt von Erfahrungen vermehrt und auch der deutschen Geschichte eine neue Zuwendung gebracht. Daß sie in verschiedenen, umfassenden Synthesen unter dem Eindruck der jüngsten Zeitgeschichte auf wissenschaftlichem Fundament neu geschrieben wird, ist Notwendigkeit und Chance angesichts der Produktion populärer rechter oder linker „Geschichtsbilder“, die sich in die Lücke zwischen politischem Denken und Gesichtsbewußtsein geschoben haben, welche die Geschichtsschreibung durch die Bevorzugung spezialistischer Themen zu lange offengelassen hatte.

VIII.

„L’Allemagne fdrale se penche sur son passe“ —! Diese Hereinnahme der Geschichte in das politische Bewußtsein bedarf keiner Wende von der „Emanzipation“ zur „Identität“. Sie bedarf vielmehr der Genauigkeit und Unterscheidungskraft vor der Geschichte und vor allem der Bescheidenheit hinsichtlich des eigenen Gewißheitsanspruchs. Angesichts der historischen Vielfalt von Identitäten, die in der deutschen Nation zusammengelebt haben und künftig miteinander leben müssen, ist die Frage an die Norm des Geschichtsunterrichts und der politischen Bildung: „Erziehen wir eigentlich Deutsche oder Bürger der Bundesrepublik?“ (D. Wunder) falsch gestellt. Diese beiden Identitätsbezeichnungen stehen nicht alternativ, sondern komplementär zueinander.

Das Problem des politischen Selbstverständnisses in historischer Perspektive besteht darin, eine Balancierung der Identitäten (E. Kosthorst) auf dem fundamentalen Konsens auszubilden, daß nämlich diesem Spektrum „deutsche Geschichte“ als identifizierbares dichtes Kommunikationsgefüge zugrundeliegt, als Last und als Fundus der Vergangenheit, als Aufgabe der Gegenwart angesichts einer offenen Zukunft.

Die identitätsstiftende Leistung von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht besteht in der Ausbildung eines Geschichtsbewußtseins, das zu einer solchen Spannungen aushaltenden Balanceleistung befähigt, wenn die Gegenwart sich ihrer Geschichte vergewissert. Forschung und Lehre aber richten wenig aus, wenn nicht im politischen Umgang selbst Beispiel und Vorbild zu finden sind.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl-Ernst Jeismann, Dr. phil., geb. 1925; o. Professor für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Münster; 1978— 1984 Direktor des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig; Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Geographie in Kiel und Münster. Veröffentlichungen u. a.: Das Problem des Präventivkrieges im europäischen Staatensystem, 1957; Das Preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787 bis 1817, 1974; (zus. mit G. C. Behrmann u. H. Süßmuth) Geschichte/Politik. Grundlegung des historisch-politischen Unterrichts, 1977; Friedrich Harkort. Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung, 1969; Staat und Erziehung in der preußischen Reform 1807 bis 1819, 1969; J. W. Süvern. Die Reform des Bildungswesens, 1981; Geschichte als Horizont der Gegenwart, 1985; 1978— 1984 Herausgeber von „Internationale Schulbuchforschung“, Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung; Studien zur internationalen Schulbuch-forschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts.