Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kontinuität und Wandel in der Geschichtsschreibung der DDR. Das Beispiel Preußen | APuZ 20-21/1986 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20-21/1986 „Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik Kontinuität und Wandel in der Geschichtsschreibung der DDR. Das Beispiel Preußen Posthume Zeitgenossenschaft -Anmerkungen zur Rezeption Friedrichs II. von Preußen

Kontinuität und Wandel in der Geschichtsschreibung der DDR. Das Beispiel Preußen

Johannes Kuppe

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Geschichtsschreibung der DDR zeigen sich verstärkt seit Mitte der siebziger Jahre Wandlungstendenzen, die von DDR-Historikern als zeitliche, thematische und regionale Ausweitung des Forschungsfeldes beschrieben worden sind. Auf der Grundlage eines unverändert marxistischen Geschichtsverständnisses wird nun die „ganze deutsche Geschichte, von ihren Anfängen bis in die Gegenwart“ — also nicht mehr nur die unmittelbare Vorgeschichte und Geschichte der DDR sowie ausgewählte historische Ereignisse, Epochen und Prozesse (z. B. Bauernkriege, antinapoleonische Befreiungskriege, bürgerliche Revolutionen, Arbeiterbewegung) — zur vertiefenden Bearbeitung freigegeben. Dieser Umbruch in der Historiographie der DDR zeigt sich in zahlreichen Enttabuisierungen und vor allem in geschichtswissenschaftlichen Umwertungen historischer Personen und Vorgänge, ohne daß damit allerdings schon die Aufgabe alter ideologischer Selektionsmechanismen und eine wirkliche Öffnung zur Geschichte in allen ihren Bestandteilen verbunden wäre. Ziel dieser von der SED initiierten, mithin sanktionierten historiographischen Gesichtsfelderweiterung ist die Schaffung eines neuen Geschichtsbewußtseins, das die DDR als eigenständiges und dauerhaftes Produkt einer folgerichtigen historischen Entwicklung erkennt, damit also der Politik der SED die bisher ausgebliebene breite Zustimmung der Beherrschten verschaffen soll. Letztlich soll damit also ein DDR-spezifisches Nationalgefühl herangebildet und so das Legitimitätsdefizit der Herrschenden abgebaut werden. Von einem insbesondere seit Anfang der achtziger Jahre revidierten Preußenbild scheint sich die SED wirksame Identifikationseffekte zu versprechen: Ein marxistisch revitalisiertes Preußen, dessen nun als progressiv deklarierte Hälfte jetzt anerkannt und in den Bestand pflegewürdiger sozialistischer Traditionen aufgenommen wird, soll dazu beitragen, die von den Menschen in der DDR nie angenommene These von der sich entwikkelnden sozialistischen deutschen Nation zu untermauern und der Behauptung von der Verwurzelung der DDR im sogenannten fortschrittlichen deutschen Erbe Akzeptanz zu verschaffen. Ob das neue Preußenbild freilich diese erwünschte bewußtseinsbildende Attraktivität entfalten wird, scheint gegenwärtig mehr als fraglich.

I. Preußen und der Umgang der SED mit Geschichte

Als im Februar 1986 Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer der DDR und Mitglied des Politbüros der SED, die Bundesrepublik besuchte, hielt es der dem Range nach dritthöchste Partei-und Staatsfunktionär der Einheitspartei — und der ranghöchste, der bis dahin in den Westen Deutschlands gereist war — auf einer Pressekonferenz für angebracht und offenbar auch für notwendig, bei seinen Gastgebern die Vermutung zurückzuweisen, „wir“, das heißt die SED-Führung, „empfinden uns nicht mehr als richtige Deutsche“. Nur wenig später bei dieser Gelegenheit folgte dann ein Satz Sindermanns, mit dem er wohl glaubte, vor einem westlichen Publikum der Beschwörung des „Deutschseins“ besonderen Nachdruck zu verleihen: „Die DDR hat sich gründlich mit der Geschichte des Preußentums, mit Bismarck und Friedrich dem Zweiten befaßt und ihre Position dazu bestimmt.“

Diese Bemerkung war aufschlußreich in doppelter Hinsicht: Sie bestätigte zunächst ein für alle regierenden kommunistischen Parteien und nicht zuletzt für die SED typisches Verhalten der „Geschichtsbewältigung“: Geschichte wird nicht in ihrer ganzen Ereignisbreite „angenommen“, nicht — marxistisch gesprochen — als materieller und personeller Vorlauf der Gegenwart in ihrer Gesamtheit akzeptiert, sondern die Partei wählt nach Opportunitätserwägungen aus, was an historischen Ereignissen, Perioden und Personen in einer konkreten politischen Situation ihrem Machtsicherungs-und Legitimationsinteresse dient. Geschichte wird so zum Steinbruch, aus dem sich jeder holt, was ihm gerade paßt. Nicht die Geschichte formt die historischen Grundlagen der geltenden Parteidoktrin, d. h.der historisch-materialistischen Erklärungen für den „richtigen“ politischen Weg in der jeweiligen Epoche, sondern es entscheidet die jeweilige „Po-sition“ der Partei zu einzelnen Abschnitten, Prozessen, Gruppen und Individuen darüber, was überhaupt als erwähnenswerter Bestandteil von Geschichte erscheinen darf. Wohlgemerkt, hier geht es nicht darum, zu beklagen, daß Geschichte auf eine bestimmte Weise interpretiert wird (wobei wir die dogmatischen Verfestigungen dieser Interpretationen in kommunistisch-sozialistisch geprägten Staaten einmal außer acht lassen), derartiges ist keinesfalls typisch für den realen Sozialismus/Kommunismus. Der Vorwurf lautet vielmehr, Karl Marx wird auf den Kopf gestellt, wenn — wie in der DDR geschehen — ganze Geschichtsetappen aus dem Geschichtsbild ausgeblendet werden bzw. sie erst dann als Bestandteil des Geschichtsbewußtseins zugelassen werden, wenn „ex kathedra“, also von der Parteiführung, dazu „eine Position bestimmt“ wurde.

In der DDR hat rund drei Jahrzehnte lang die Ideologie der Herrschenden bestimmt, was zum zu vermittelnden Geschichtsbild zu gehören hat. Marx verkündete aber, daß Geschichte die Ideologie der an die Macht gelangten, einst Beherrschten formen und sie auf aktiven humanitären Geschichtsvollzug festlegen werde. Das mag eine der Marx’schen konkreten Utopien gewesen sein, die hinsichtlich der Art und Weise, wie in der DDR bis Mitte der siebziger Jahre mit der Geschichte umgegangen wurde, weitgehend als solche bestätigt worden ist.

Der zweite interessante Aspekt an Sindermanns Bemerkung ist die Bekräftigung der eigentümlichen, in der DDR-Geschichte so widersprüchlichen Fixierung auf Preußen — jenen Staat, der mit dem Untergang des Dritten Reiches endgültig von der historischen Landkarte verschwunden sein sollte. Das mochte für den Staat Preußen auch zutreffen; Preußen aber als Sammelbegriff für eine historische Daseinsform, für eine bestimmte staatliche Organisation, für ein spezifi17 sches Normensystem, für eigene Verhaltensformen, Karrieremuster, für Lebensgefühl und Pflichtverständnis und nicht zuletzt als unverwechselbares Beispiel für die Bewältigung innen-, außen-und gesellschaftspolitischer Aufgaben einer Großgruppe (Volk, oder Teil-Volk), war zu keiner Zeit aus dem ideologisch-historiographischen Koordinatensystem der SED verschwunden. Im Selbstverständnis dr Menschen in der DDR war „Preußen“ sowieso auf eigentümlich konservative, konservierende Art erhalten geblieben. Daß dies auch vom Westen aus, freilich zumeist unter einer falschen Perspektive, wahrgenommen wurde, zeigt die — als Schimpfwort gedachte — Bezeichnung der DDR als Staat der „roten Preußen“.

Aber hatte die DDR nicht auch selbst, durch ihre gesamte Politik, zu diesem Vergleich herausgefordert? Lassen wir einmal beiseite, ob nicht schon in dieser Gleichsetzung, diesem ja herabsetzend gemeinten Vergleich durch westliche Beobachter, ein beträchtliches Unverständnis von dem, was Preußen und Preußentum war und ist, angelegt ist. Doch das tradierte Bild des Staates Preußen — ein künstlich geschaffenes Gebilde, arm aber effektiv und hochmilitarisiert, besser: nur durch sein Militär sich behauptend — enthält soviele Merkmale, die sich, jedenfalls prima vista, durchaus zur Übertragung auf den Staat DDR zu eignen scheinen.

Daß sich nun auch die Konturen des Bildes, das die SED-Historiographen von diesem Preußen im Verlauf der letzten 40 Jahre gezeichnet und als verbindlich unters Volk gebracht haben, in entscheidenden Punkten gewandelt hat, ja daß dieser Wandel Ausdruck eines gerade für die Honecker-Ära auszumachenden Umbruchs in der SED-Geschichtsschreibung ist, soll in der folgenden Skizze in Umrissen veranschaulicht werden. An anderer Stelle sind etwas allgemeiner der Verlauf, die besonderen Merkmale und inhaltlichen Schwerpunkte sowie die politischen Schlußfolgerungen, die aus diesem Umbruch gezogen werden können, dargestellt worden.

II. Preußen und die historiographische Grundsatzdebatte in der DDR

Vor dieser Skizze der sich wandelnden Preußen-diskussion in der DDR noch einige ergänzende Vorbemerkungen zur politischen Bedeutung des allgemeinen Wandels in der DDR-Geschichtsschreibung und eine notwendige Korrektur an einem früheren Befund.

Erinnern wir uns zunächst an einige bisher nicht bestrittene Ergebnisse unserer Beobachtung vom Wandel in der DDR-Geschichtsschreibung. Wer vom Wandel spricht, meint damit in erster Linie die sich — seit etwa 1949 — wandelnde Instrumentalisierung der DDR-Geschichtswissenschaft im Interesse der Herrschaftssicherung und -legitimierung der SED. Hier hat es nie Stillstand gegeben, weder in der parteioffiziellen Vorgabe der Forschungsfelder für die DDR-Historiographen, noch in den Formen der Auseinandersetzung mit historiographischen Einflüssen aus dem geographischen und politischen Umfeld. Die behaupteten Dogmatisierungen galten stets der allein gültigen Forschungsmethode, dem historischen Ma-terialismus, den lange beibehaltenen Ausblendungen von Forschungsthemen und ganzer Zeitabschnitte der Welt-wie der deutschen Geschichte und den über längere Perioden unverändert fortgeschriebenen Interpretationsmustern für historische Prozesse und Personen. Angesichts dieser Dogmatisierungen war es nur natürlich, daß die Elemente des Wandels in der DDR-Geschichtsschreibung von Westdeutschen zunächst nicht oder nur ungenügend wahrgenommen wurden; sie paßten weder in das beliebte Bild vom monolithisch-starren, marxistisch-leninistischen Ideologiegebäude, noch ist ihnen — von denen, die sie überhaupt bemerkt haben — eine grundsätzliche Bedeutung für die Historiographie und vor allem für das Herrschaftssystem der DDR zugebilligt worden. Die DDR-Historiker waren ihrerseits von vornherein bemüht, die neue Diskussion um Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein lediglich als Ergebnis einer graduellen, schöpferischen Weiterentwicklung der marxistischen Geschichtswissenschaft erscheinen zu lassen, dieser Entwicklung also alles Spektakuläre zu nehmen. Dies geschah auch noch dann, als Ende der siebziger Jahre, Anfang der achtziger Jahre in der DDR relativ überraschend alte Denkmäler neu aufgestellt (Daniel Rauchs reitender Alter Fritz Unter den Linden in Berlin-Ost) und in den folgenden Jahren neue Bücher über alte Personen und Themen herausgebracht wurden, die z. T. als Lizenzausgaben auch im Westen erschienen

Inzwischen ist bei führenden DDR-Historikern offenbar die Bereitschaft gewachsen, die deutlichen Wandlungstendenzen in der DDR-Geschichtswissenschaft nicht mehr mit Hinweisen auf quasi selbstverständliches Schöpfertum der eigenen Disziplin herunterzuspielen, sondern sie scheinen nunmehr bereit, der Bedeutung dieser Entwicklung angemessene Erklärungen und Rechtfertigungen zu liefern. Am weitesten ging dabei bisher Prof. Walter Schmidt, ehemals Direktor des Instituts für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED und seit Oktober 1984 Direktor des Zentral-instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (der „Papst“ der DDR-Zeitgeschichte), in einem grundlegenden Aufsatz im Frühjahr 1985. Er periodisierte nun die Entwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft relativ ungeschminkt so: „Diente die erste Etappe (der DDR-Geschichtswissenschaft, J. K.) der rücksichtslos-schroffen und darum bisweilen auch über das Ziel hinausschießenden Abrechnung mit dem Reaktionären, war es in der zweiten Etappe das Hauptanliegen, das revolutionäre und progressive Erbe voll anzueignen und dadurch Sicherheit und Klarheit über die Herkunft zu gewinnen, so strebt das sozialistische Geschichtsdenken unserer Zeit danach, die Weite und Vielfalt, die Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit, das Progressive und das Regressive, Nationales und Internationales im deutschen historischen Erbe nicht , sine ira et Studio, aber doch mit einem tieferen Verständnis für das Ganzheitliche des historischen Prozesses, aus denen die sozialistische Gesellschaft der DDR kommt, voll aufzuschließen und anzueignen ... Die in den Anfängen der Übergangsperiode kaum vermeidbare Enge wird mit der erfolgreichen sozialistischen Umgestaltung der Existenzgrundlagen der Gesellschaft mehr und mehr aufgebrochen, bis die sich auf eigenen Grundlagen entwickelnde sozialistische Gesellschaft sich aller Seiten, Ebenen und Bereiche ihres ebenso reichen wie widerspruchsvollen Erbes annimmt.“ Diese Beschreibung läßt keinen Zweifel daran zu, daß sich in der DDR-Geschichtswissenschaft qualitativ Neues ereignet, auch wenn dieses Neue zunächst vielleicht nur programmatisch ins Visier genommen und noch nicht in der von Schmidt geforderten Breite in der Forschungspraxis durchgesetzt wurde bzw. durchgesetzt werden konnte. Auf unser Thema gewendet: Die veränderte Beschäftigung mit Preußen ist nichts Vorübergehendes, nicht nur Reaktion auf von außen wirkende Faktoren (z. B. Geschichts-, Identitätsund Nation-Diskussion in der Bundesrepublik), sondern Ausdruck eines relativ tiefgreifenden Wandlungsprozesses im historischen Selbstverständnis der SED selbst, ohne deren initiierende und fördernde Haltung die DDR-Historiker diesen Weg nicht hätten einschlagen dürfen. Die noch vor etwa eineinhalb Jahren erfolgte Qualifizierung dieser Entwicklung als (nur) „gradueller Wandel“ im Geschichtsverständnis der DDR

wird ihrer politisch-ideologischen Gravität nicht mehr gerecht.

Zur Rechtfertigung dieser Aussage ist auf einen weiteren Tatbestand hinzuweisen: In der DDR ist gerade in den achtziger Jahren, parallel zu den erweiterten Diskussionen um Geschichte und Geschichtsverständnis, auch immer gemahnt worden, daß sich an der marxistisch-leninistischen Ausrichtung der DDR-Geschichtswissenschaft nichts ändern dürfe und werde, daß die „innere Geschlossenheit und Logik des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes“ unverzichtbar seien Sofern aber hiermit auf die unveränderte bzw. sogar unveränderbare Gültigkeit der Kern-dogmen des historischen Materialismus, z. B.den gesetzmäßigen Ablauf von Geschichte von niede-ren zu höheren Gesellschaftsformationen, abgehoben wird, ist angesichts jüngerer Forschungen zur Marx-Engels-Rezeption in der DDR zumindest die Frage zu stellen, ob der für die Geschichtswissenschaft und insbesondere für die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte konstatierte Wandel nicht eine Parallele in neuen Diskussionen hat, wie sie im Bereich marxistischleninistischer Philosophie selbst, in erster Linie im historischen Materialismus, zu beobachten sind.

So ist erst jüngst auf Vorgänge in der Ideologie-Debatte der DDR hingewiesen worden, die von so grundlegender Bedeutung sind, daß davon die postulierte (alte) „Geschlossenheit und Logik“ des marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnisses m. E. im Kern getroffen werden könnte Gemeint ist die inzwischen in der DDR auf vollen Touren laufende Periodisierungsdiskussion im Hinblick auf die gesamte Menschheitsgeschichte, in deren Verlauf die bisher dogmatisch gesetzte fünffache Stufenfolge: „Urkommunismus — Sklavenhaltergesellschaft — Feudalismus — Kapitalismus — Sozialismus“ faktisch schon von der Triade „Urkommunismus — Klassengesellschaft — Kommunismus“ abgelöst worden ist.

Die erheblichen ideologischen Konsequenzen dieser Revision einer zentralen Setzung des historischen Materialismus — sollte sie sich denn durchsetzen — können hier nicht analysiert werden. Gleichwohl stützt dieser Hinweis die Behauptung vom qualitativen Wandel in der DDR-Geschichtswissenschaft. Auch deren Vertreter selbst sprechen inzwischen — mit deutlicher Akzentuierung des Beginns dieser Phase auf die 1970/71 einsetzende Honecker-Ära — von „einer qualitativen Weiterentwicklung des Geschichtsverständnisses“ Zu den zahlreichen Belegen für diese Feststellung wird ausdrücklich die Tatsache gerechnet, daß in der „Allgemeinen Geschichte der bisherige Rückstand beträchtlich wettgemacht“ wurde und daß es — offenbar erstmals in der DDR — „kontroverse Diskussionen“ u. a. über die „Prinzipien der historisch-materialistischen Periodisierung der deutschen Geschichte“ sowie über „revolutionäre Übergangsepochen zwischen den vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen“ gegeben habe

Gerade im Hinblick auf diesen qualitativen Wandel greift nun in der Tat eine Argumentation etwas zu kurz, die einfach von einer „Wiederentdeckung“ Preußens bzw. Friedrich II. oder Bismarcks in der DDR ausgeht. Erst vor kurzem hatte sich der SED-Generalsekretär Honecker selbst gegen den Begriff der „Wiederentdeckung“ gewandt Mit noch mehr Recht tun dies indes einzelne DDR-Historiker, die sich in der Bewertung Preußens niemals ohne gewichtige Einschränkungen des groben Klischees vom militaristisch-expansionistischen Ausbeuterstaat und seiner dümmlich-blütsaugerischen Junkerkaste bedient hatten

III. Preußen und seine partielle Rehabilitation

Wenn wir also in der Art und Weise des Mitte der achtziger Jahre in der DDR praktizierten Umgangs mit Preußen und mit den Preußen keine Auffüllung eines Forschungsdesiderates und auch noch nicht die — von W. Schmidt geforderte — zeitliche, thematische und regionale Ausweitung des historiographischen Forschungsfeldes sehen dürfen, eben weil Preußen immer ein wichtiges Thema in und für die DDR war, so handelt es sich doch um eine grundsätzliche Umwertung, um eine indirekte Wiederentdeckung Preußens, jedenfalls all jener Züge der preußischen Geschichte, die bisher tabu waren, weil sie nicht in das Verdammungsurteil über den angeblich alles überdeckenden preußischen Militarismus paßten. Doch auch diese Umwertung ging nur schrittweise vor sich. Sie hat erst in den achtziger Jahren ein Tempo erreicht, das dann die Aufmerksamkeit einiger westlicher Beobachter, nicht zuletzt auch auf Grund der in der Bundesrepublik wieder auflebenden Preußendiskussion, gefunden hat. Die Qualität dieser Umwertung wird deutlich, wenn wir uns an die wichtigsten Stationen dieses bemerkenswerten Lernprozesses der Machthaber in der DDR erinnern. Alexander Abusch, mit halbwissenschaftlicher Ausbildung ausgestatteter führender Kulturideologe der SED in der SBZ und den ersten Jahren nach Gründung der DDR, hatte mit einem Buch, einer Mischung aus Propagandabroschüre und Pamphlet, zweieinhalb Jahrzehnte die Richtung bestimmt, wie Preußen gesehen werden sollte Darin zog er — übrigens eine auch in westalliierten Kreisen damals vertretene Auffassung — eine direkte Linie vom „brutalen Militarismus“ Preußens, der schlicht mit dem „Preußengeist“ gleichgesetzt wurde, zum Faschismus und Nationalsozialismus. Preußen wäre seit seiner Gründung im 17. Jahrhundert — aus der Sicht der SED — an allen bösen Entwicklungen der neueren deutschen Geschichte schuld; Preußen mußte daher notwendigerweise nicht nur als Staat aufgelöst sondern auch möglichst alle Erinnerungen an ihn gelöscht werden.

In dieser Phase eines vermeintlich notwendigen Abrechnungsrigorismus wenige Monate nach Kriegsende war keine Stimme der Vernunft und der Abgewogenheit gefragt; die heute auch offiziell bedauerte Sprengung des schwer beschädigten Stadtschlosses der preußischen Könige im Zentrum Berlins war Ausdruck dieser Stimmung. Abusch, nicht einmal originell, konnte sich in seiner absoluten Kritik an Preußen nicht nur auf Karl Marx selbst, sondern u. a. auch auf den durchaus angesehenen Historiker der Arbeiterbewegung Franz Mehring stützen, die in Preußen nichts anderes als eine besonders abartige Spezies unter den deutschen Territorialstaaten zu sehen vermochten.

Er reduzierte jedoch in propagandistisch wirkungsvoller Weise das Preußenbild auf wenige Schlagworte, die, trotz einiger vorsichtiger Korrekturen in den fünfziger und sechziger Jahren, die Preußendiskussion in der DDR prägten: Junkertum, Militarismus, Ost-Expansion, Ausbeutung der arbeitenden Klassen und Unterdrükkung von Wissenschaft und Kultur.

Entgegen diesem pauschal-grobschlächtigen Feindbild wurden bereits in den fünfziger Jahren einzelne Persönlichkeiten der preußisch-deutschen Geschichte wie Clausewitz, Blücher, Scharnhorst, Gneisenau, Lützow und, sehr früh, die großen preußischen Reformer — die Freiherrn von Stein und Hardenberg — partiell rehabilitiert bzw. sogar in die Ahnengalerie der DDR aufgenommen. Daß diese Rehabilitierung zuerst den genannten preußischen Generälen und dem Führer der antinapoleonischen Freikorps Lützow zugute kam, mag als pikante Arabeske in der langen Geschichte der „Wiedergutmachung“ an Preußen durch die DDR-Geschichtsschreibung, mehr noch durch die Geschichtspropaganda im anderen deutschen Staat gelten.

Eine weitere partielle, doch stillschweigende Renaissance preußisch-deutscher Elemente war anläßlich der „Gründung“ der Nationalen Volksarmee der DDR im Jahre 1956 — genauer: anläßlich der Umbenennung und Umorganisation der bereits seit 1949/50 aufgestellten Verbände der kasernierten Volkspolizei (KVP) in eine reguläre Armee — zu beobachten. Dienstordnung (z. B. die Grußordnung), Uniformfarbe („feldgrau“) und -schnitt, Rangabzeichen und Dienstgrade der deutschen Wehrmacht und damit preußisch-deutsches militärisches Erscheinungsbild feierten — nur elf Jahre nach dem Zusammenbruch — ohne weitere offizielle Erklärung fröhlich Urständ. Preußisches Exerzierreglement einschließlich des perfekt vollzogenen Fast-90-Grad-Stechschritts, Wachaufzug und -ablösung vor Schinkels restaurierter Neuer Wache (jetzt Mahnmal für die Opfer des Faschismus) Unter den Linden, preußische Militärmärsche (Präsentiermarsch, Yorckscher Marsch), Großer Zapfenstreich (freilich mit neuer Musik) und schließlich (ab 1966) auch neue Orden mit dem Konterfei preußischer Generäle (Scharnhorst-Orden, bis heute höchster Militärorden der DDR) waren somit, fast über Nacht, wieder da. Es war ein perfekt inszenierter, zugleich fast unverbrämter Rückgriff und Rückschritt in einen Teil der deutschen Geschichte, dem bis dahin mit totaler Ablehnung begegnet worden war und dessen politisch-gesellschaftliche Repräsentanten mehrheitlich noch immer dem Verdikt der Volksfeindlichkeit und des Militarismus unterlagen.

Wie auch in anderen gesellschaftspolitischen und ideologischen Bereichen brachte der Sturz Ulbrichts und seine Ablösung durch Erich Honekker auch für die Geschichtswissenschaft der DDR eine neue Situation, die — bei Aufrechterhaltung und teilweiser Stärkung der „nationalen“, nun aber über die Geschichte und die unmittelbare Vorgeschichte der DDR hinausgreifenden Thematik — als intensivierte Einbindung der „fortschrittlichen und humanistischen Traditionen der deutschen Geschichte“ in die allgemeine Weltgeschichte und, seit 1917, in die des sozialistischen Weltsystems beschrieben worden ist Mit dieser geforderten Integration des eigenen Geschichtsverständnisses (und damit der partiellen Auflösung seiner DDR-Zentrierung) war offenbar der Weg zu einer unbefangeneren Betrachtung bisher tabuisierter oder für die SED problematischer Geschichtsfelder abgesichert worden.

Am Fortgang der nun offener zutage tretenden Teil-Rehabilitierung Preußens läßt sich das ablesen: Bereits 1970 war in der DDR ein Buch erschienen, das dem bis dahin geltenden Schwarz-Weiß-Bild Preußens immerhin einige Grautöne hinzufügte Zwar blieb für die Autoren der preußische „Militärdespotismus“ noch das entscheidende „Charakteristikum“, doch gab es auch erste Versuche, das Wirken „zeitweilig progressiver gesellschaftlicher Kräfte“ in Preußen zu erklären, wobei allerdings die Dynastie der Hohenzollern ausdrücklich davon ausgenommen blieb — mit Ausnahme der Person Friedrich II., dem einige, wenn auch aus Eigennutz erbrachte, fortschrittliche soziale Leistungen zugerechnet wurden. An dieser Linie hielt auch der 1974 von der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgebrachte „Grundriß“ der deutschen Geschichte fest Preußen bleibt also noch insgesamt Bestandteil des als überwiegend negativ eingestuften Traditionshaushaltes der deutschen Geschichte, nur Friedrich der Große wird davon schon teilweise ausgenommen. Friedrichs Bauernpolitik (drastische Einschränkung der Frondienste) und seine Rolle als Förderer der Wissenschaften waren schon von Vogler und Vetter gewürdigt, im „Grundriß“ dann auch seine Aufgeschlossenheit gegenüber „fortschrittlicher bürgerlicher Ideologie“ anerkannt worden.

Honeckers Befund vor dem ZK der SED im Jahre 1975, daß „die DDR in der Tat das Werk vieler Generationen“ sei und sein bei dieser Gelegenheit abgelegtes Bekenntnis zu den „fortschrittlichen Entwicklungslinien“ der deutschen Geschichte mögen dann in gewisser Weise den Weg für eine nun detailliertere Beschäftigung der DDR-Historiographie mit Preußen und seiner Geschichte geebnet haben. Auch wenn der SED-Generalsekretär erst 1980 (in seinem ersten Interview für den englischen Verleger R. Maxwell) die „Geschichte Preußens“ ausdrücklich zum (historischen) „Erbe“ der DDR zählte so hatte der Umwertungsprozeß doch schon seit Mitte der siebziger Jahre, nicht zuletzt im Hinblick auf den neuen Bedarf an Argumentationshilfen in der Nation-Diskussion eine neue Qualität erhalten. Im Herbst 1978 hat dann die damalige Abteilungsleiterin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Ingrid Mittenzwei, in einem nun schon spannenden Aufsatz in der FDJ-Zeitung „Forum“ die aus marxistischer Sicht bis dahin (und bis heute) nicht beantwortete Frage beleuchtet, wie es möglich war, daß sich bereits im absolutistischen Preußen (also vor 1807) Voraussetzungen für spätere, auf die Bedürfnisse des entstehenden Bürgertums zugeschnittene Reformen herausbilden konnten. In ihren Antworten, denen hier nicht im einzelnen nachgegangen werden kann, darf wohl noch nicht „ein neuer wissenschaftlicher Ansatz“ gesehen werden denn noch bleibt I. Mittenzwei in weiten Teilen ihres Beitrages traditionellen Fragestellungen und Klischees verhaftet („was Marx, ’ Engels und Mehring über die preußische Geschichte schreiben, hat Bestand“). Doch mit einem einzigen Satz ging sie weit über bisher in der DDR Gewohntes hinaus: „Die Geschichte eines Staates ... läßt sich nicht mit der Entwicklung der herrschenden Klasse identifizieren. Und selbst die ... war nicht zu allen Zeiten reaktionär.“ Damit wurde die Phase der holzschnittartigen Vereinfachungen im Stile des unsäglichen Alexander Abusch endgültig abgeschlossen.

IV. Preußen -zur Hälfte Bestandteil DDR-deutscher Tradition

Um die neue geschichtswissenschaftliche Diskussion über ein adäquates Preußenbild mit den notwendigen ideologischen Absicherungen zu versehen, aber auch, um Grenzen gegen eine möglicherweise zu rasche und zu gründliche Revision früherer „Erkenntnisse“ zu ziehen, ist dann auch parteioffiziell aber immerhin von den Historikern selbst, die sogenannte „Dialektik der zwei Klassen-Linien" als marxistisch legitimiertes Interpretationsschema auch für die Geschichte Preußens für anwendungsfähig (und -nötig) ausgegeben worden. Damit war nicht nur die ideologisch erforderliche Abgrenzung gegen die auf-brandende Preußen-Diskussion in der Bundesrepublik vollzogen worden, sondern zugleich die aus Sicht der SED-Führung erwünschte weitergehende Beschäftigung mit den positiven preußischen Traditionslinien und ihre Aufnahme in den pflegewürdigen Erbbestand der DDR eingeleitet worden.

Die schon erwähnte, vielfach Aufsehen erregende Biographie I. Mittenzweis über Friedrich II. war, so gesehen, eine beinahe zwangsläufige Folge der vorangegangenen ideologischen und historiographischen Flurbereinigung. Nun konnte Friedrichs „religiöse Toleranz“ gewürdigt seine Rolle bei der Herausbildung des preußischen Rechtsstaates (Abschaffung der Folter) positiv gewertet, ja sogar — bei uneingeschränkter und andauernder Kritik an den friderizianischen Kriegen — der König als „begabter“ Feldherr geschildert werden

Die Konsequenzen für die DDR-Geschichtsschreibung im engeren Sinne können hier nicht erörtert werden, zumal eine vorläufig abschließende Bewertung durch die westdeutsche Historiographie noch aussteht Hier kam es lediglich darauf an, den Wandel im DDR-Geschichtsverständnis über einen folgenreichen Abschnitt der gemeinsamen deutschen Geschichte exemplarisch zu erläutern. Überspitzt formuliert läßt sich sagen: Mit der Revision des Preußenbildes, mit der partiellen Aufnahme Preußens und eines Teiles seiner führenden Köpfe in den Traditionsbestand der DDR hat die DDR-Geschichtswissenschaft ein für alle Mal ihre orthodoxe Unschuld verloren. Preußen wurde in die deutsche Geschichte „heimgeholt“, in die Vorgeschichte der DDR aufgenommen und damit — jedenfalls seine positiv deklarierte Hälfte — als Legitimationsvehikel des SED-Herrschaftssystems unter herrschaftspragmatischen Aspekten in die ideologische Verfügung des Machtapparates eingestellt. Es dürfte nunmehr interessant sein, zu beobachten, welche weiteren Prozesse mit dieser Entwicklung eingeleitet werden. Bleibt Preußen marxistisch-historiographisch handhabbar, mit anderen Worten und allgemeiner: Kann es in der Geschichtswissenschaft der DDR, wenn derartige Umwertungen Schule machen, zu Verselbständigungstendenzen, gewissermaßen unter der Hand zu Loslösungserscheinungen einiger Forschungsfelder von dem noch immer engen Korsett der strengen Vorgaben des historischen Materialismus kommen? Werden sich nicht diese Vorgaben selbst wandeln (müssen)? „Einbrüche“ z. B. in der einst nicht in Frage gestellten fünfstufigen Formationslehre wurden schon erwähnt.

Wer vor etwa 20 Jahren für die DDR prophezeit hätte, daß ausgerechnet die vertiefte Auseinandersetzung mit Preußen dazu führen soll (und kann?), in der DDR ein Geschichtsverständnis zu erzeugen, daß „Herzen und Hirne“ (Hager) der Menschen erreicht und ein neues, auf die DDR als sozialistisches Vaterland gerichtetes Geschichtsbewußtsein hervorbringen soll, das mehr als bisher Identifikationsmöglichkeiten schafft, der wäre wohl nicht ernst genommen worden. Heute jedoch werden in der DDR preußisch-sozialistische Traditionsketten geknüpft, mit denen die SED die von ihr ersonnene selbstständige deutsche Nation in der DDR zu stabilisieren hofft. In diesem Zusammenhang stellen sich mehrere eher politische Fragen, denen abschließend einige Überlegungen gewidmet werden sollen.

V. Preußen und die Nation-Diskussion

Auf den ersten Blick scheint die Aussage richtig, daß Preußen — d. h.seine Wesenheit als Staat, seine Lebensverhältnisse, seine tragenden politischen Kräfte sowie einzelne seiner sozio-kulturellen, sozialen und politischen Strukturen, seine Traditionen und seine Dynastie — in dem Maße erst stillschweigend, dann öffentlich, also mit den Mitteln der politischen und der Geschichtspropagandä, partiell rehabilitiert wurde, wie die SED dafür Bedarf im Rahmen ihrer Nation-Diskussion entwickelte.

Noch nie in der Menschheitsgeschichte war ja ein ähnlich gigantisch-groteskes Unterfangen begonnen worden, wie es die SED mit ihren Rechtfertigungs-Anstrengungen im Hinblick auf die Spaltung Deutschlands unternommen hatte: Innerhalb von nur drei Jahrzehnten mußten die Angehörigen einer Nation, die sich auch so empfanden und in ihrer Mehrheit kein Sensorium für jenen feinen Unterschied zwischen Staats-und Kulturnation entwickelt hatten, auseinander-„argumentiert“ werden, nur weil sie erzwungener-maßen in zwei verschiedenen Staaten mit entgegengesetzten Herrschaftsordnungen leben mußten. Auf die unvermeidlichen Widersprüche dieser von marxistisch-leninistischen Ideologen gesteuerten und von der politischen Führung forcierten „Argumentation“, auf ihre Unglaubwürdigkeiten und fehlende Überzeugungskraft bei den betroffenen Mitgliedern der Nation ist mehrfach hingewiesen worden In der richtigen Er-27) kenntnis ihrer Erfolglosigkeit hat sich denn auch die SED zeitweilig — im Grunde bis in die Gegenwart hinein — aus diesem Argumentationsfeldzug zurückgezogen und die Diskussion seit Ende der siebziger Jahre zurückgefahren. Sie begnügt sich gegenwärtig mit der schlichten Behauptung, daß sich eben in der DDR die sozialistische deutsche Nation „entwickelt“ (manchmal: „und festigt“), in der Bundesrepublik aber die kapitalistische deutsche Nation „fortbesteht“

Angesichts dieser argumentativen Hilflosigkeit in der nationalen Frage mußte es der SED und ihren Historikern verlockend erscheinen, mit der partiellen Anerkennung Preußens Einfluß auf das aus ihrer Sicht unzureichend entwickelte Geschichtsbewußtsein der Bevölkerung zu nehmen. Dahinter steckt zwar die bis heute unbewiesene Annahme, daß ein „richtiges“ Geschichtsbewußtsein auch zu „richtigem“ Nationalbewußtsein verhelfen könne (dagegen steht nämlich die reale Beobachtung, daß sich in Bevölkerungsschichten ohne differenziertes Geschichtsbewußtsein durchaus ein — gelegentlich sogar explosives — Nationalbewußtsein entwickeln und dann auch in Nationalismus umschlagen kann), jedoch hat die SED seit ihrer Gründung stets versucht, durch Transformation des tradierten Geschichtsverständnisses — auf dem Wege der Indoktrination — das Verständnis für den von ihr propa-allein richtigen Weg der DDR zu fördern, diesen Weg als historisch zwangsläufig zu beschreiben und damit Zustimmung zu erzeugen.

Mit dem kontrollierten „Rückgriff auf Preußen (der dem neuen Zugriff auf die „ganze“ deutsche Geschichte entspricht), damit der Erweiterung der nun zeitlich ausgeweiteten Vorgeschichte der DDR um wichtige rund 200 Jahre Geschichte in den deutschen Kernlanden, war offenbar die Hoffnung verbunden, durch Vermehrung der zugelassenen historischen Bestände (Menschen, Prozesse, Ereignisse als Bausteine für das erwünschte, aber noch fehlende sozialistische Geschichtsverständnis) die Manövriermasse für die Beeinflussung des Geschichtsbewußtseins der Bevölkerung weiter zu vergrößern.

Definiert man Geschichtsbewußtsein als Bereitschaft und Fähigkeit, sich im Strom der eigenen Geschichte wiederzuerkennen, sich mit ihrer Richtung und Strömungsgeschwindigkeit zu identifizieren, könnte wohl die Wiederaufnahme Preußens und seines komplexen Vermächtnisses in den historischen Ereigniskanon — so mag die Annahme der SED-Historiker gewesen sein — diese Bereitschaft und Fähigkeit stimulieren. Auf der Schiene „verbesserte Identifikationsmöglichkeiten — Zustimmung/Legitimation — Nationalbewußtsein“ würde dann letztlich auch der „sozialistische deutsche Nationalstaat DDR“ und seine herrschende Partei von diesem Wirkungsmechanismus profitieren. Nur ein Kalkül? Hier bleibt vor allem die entscheidende Frage, ob ein — jedenfalls bis heute — von der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR skelettiertes Preußen(tum) diesen gewünschten Legitimationseffekt auszulösen in der Lage sein kann.

Vermag überhaupt ein nach der Devise „ganz Preußen ist unser Erbe — aber nur das progressive Preußen gehört zu unserer Tradition“ künstlich halbiertes Aggregat wie dieses DDR-Preußen eine bewußtseinsbildende Attraktivität zu entfalten? Hat sich die DDR also mit ihrer Preußen-Wiedererweckung überhoben? Dürfte es bestenfalls für einen neupreußischen, DDR-angepaßten „Staatspatriotismus" reichen, national bewußtseinsbildende Gewinne aber dabei für die SED nicht abfallen? Preußen, das nie für eine Nation stand, war gleichwohl Initiator und Vollender der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert. Wenn nun die SED-Führung versucht, über ein verändertes Preußenbild das preußische Erbe ausgerechnet zum Vehikel ihrer Abgrenzungsund Teilungspolitik zu machen, so ist dies eine Verlegenheitsstrategie, die keinen dauernden Erfolg verspricht.

VI. Preußen im Wechselspiel zwischen Bevölkerung und Herrschaftssystem

Etwas vorsichtiger wird man bei der Einschätzung der kurzfristigen Ergebnisse dieser Entwicklung sein müssen. Es geht dabei darum, wie zahllose Begleiterscheinungen dieser Preußen-Renaissance bei der Bevölkerung „ankommen“. Nicht übersehen werden darf, daß die von der SED lancierte, neue, halbwegs ideologisch abgesicherte Einstellung zu Preußen zugleich eine Kursänderung in der Ideologiepolitik der SED war, die auf keine grundsätzlichen Barrieren in der Bevölkerung stieß. Als sich 1979 erstmals die sozialistische Akademie der Wissenschaften der DDR auch öffentlich als Nachfolgeinstitution der ehemaligen „Preußischen Akademie der Wissenschaften“ zu Berlin vorstellte, hat dies ihrem Ansehen eher genützt. Inzwischen geht z. B. auch die weithin begrüßte Rehabilitierung der Offiziere des fehlgeschlagenen Attentats auf Hitler, der Stauffenberg-Gruppe, weiter. Diese waren bereits 1984 als „Patrioten“, „Antifaschisten“ und „Humanisten“, bezeichnet, ihr Opfergang als „mutige Tat“ gewürdigt worden Die Männer des 20. Juli, in ihrer Mehrheit zweifellos überzeugte „Preußen“, zumeist auch ihrer Herkunft nach, sind damit endgültig in den Traditionsbestand auch der DDR eingeordnet worden, während z. B. sowjetische und polnische Kommentare zum 20. Juli 1944 auch heute noch von antisowjetisch orientierten Umstürzlern sprechen.

Anfang dieses Jahres gab es nun ein weiteres „Opfer“: Henning von Tresckow, enger Vertrauter des Grafen Stauffenberg, immerhin 1941, beim Überfall auf die Sowjetunion, Generalmajor und Generalstabschef der Heeresgruppe Mitte, ehemals Mitglied des berühmten Potsdamer Infanterieregiments 9, Erfinder des Attentatsplanes, wurde ob seiner antifaschistischen Haltung erstmals offizielle Anerkennung als „Patriotischer Offizier an Stauffenbergs Seite“ zuteil. Auch die stilgerechte, aufwendige Restauration bzw.der Wiederaufbau berühmter Denkmäler und früherer Repräsentationsbauten, die architektonische Hinterlassenschaft zumeist königlich-preußischer oder königlich-sächsischer Baumeister, geht in der DDR mit anerkennenswertem Tempo weiter. Gerade mit diesen Formen der Traditionspflege spricht die SED — zumindest in der älteren Generation — Gefühle an, die dem Bedürfnis nach einem Sich-Wiedererkennen in vertrauter, teils noch erlebter Geschichte entsprechen. Diese (Neben-) Folgen historiographischer Wandlungsprozesse scheinen vorab der Strategie der SED Erfolge zu bringen, die sie auf direkterem Wege, über die Formung eines neuen Geschichtsbewußtseins, nicht erzielen kann.

Letztlich wäre zu fragen, ob die SED-Geschichtsschreibung, in dem sie gerade am Beispiel Preußen ihren Willen zur umfassenden Ausweitung des Forschungsfeldes demonstriert, nicht insofern eine gute Wahl getroffen hat, als sich viel „Preußisches“ gerade in das Herrschafts-und Gesellschaftssystem vom Typus DDR relativ leicht integrieren läßt.

Wer in der DDR eine gelegentlich merkwürdig konservativ anmutende, typisch deutsche „lawand-order“ -Gesellschaft erkennen zu können glaubt, wer ihre autoritär-polizeistaatlichen Machtstrukturen mit ihrer Überbetonung des Militärischen nicht nur als Ausdruck einer system-spezifischen Machtsicherungspolitik begreift, wer die im Vergleich zu den osteuropäischen Staaten sozialistisch-kommunistischer Prägung hohe Arbeitsmoral und -disziplin der Menschen auch als Ausdruck bewahrter „preußischer“ Tugenden sieht, wer je erlebt habt, wie schwierig es ist, der heute in der DDR lebenden Generation etwa die Demonstrationsbereitschaft und die Demonstrationsrechte westdeutscher Studenten zu erklären, wer gegenüber Freunden in der DDR etwa die gelegentlich überbordenden Gepflogenheiten parlamentarischer Debatten in der Bundesrepublik als Ausdruck eines neuen Verständnisses von Staat, Macht und Ordnung zu rechtfertigen gesucht hat, der kann verstehen, warum die SED mit ihrer Revitalisierung Preußens (und das nicht nur in der Geschichtsschreibung, selbst wenn es sich nur um das halbe Preußen handelt) kein allzu großes Risiko eingegangen ist. In manchem „paßt“ halt Preußen zur DDR, unabhängig davon, was die SED mit ihrer reformierten Geschichtsschreibung zu erreichen trachtet.

Am Beispiel Preußen sollte auch gezeigt werden, daß dieser von der SED initiierte Wandel, unter herrschaftspragmatischen Aspekten begonnen, mehr als eine vorübergehende Erscheinung ist, auch wenn seine Folgen teilweise falsch kalkuliert und teilweise unkalkulierbar sein dürften. Ob beispielsweise Preußens marxistisch gereinigte Wiederauferstehung dem Ziel der weiteren Annäherung der sozialistischen Brudervölker im östlichen Bündnissystem dient, kann mit einigem Recht bezweifelt werden.

Kontinuität und Wandel der DDR-Geschichtsschreibung: ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen Polen haben die DDR-Historiker noch nicht gefunden. Zu begrüßen wäre ein kontinuierlicher Wandel. Gefahren birgt Kontinuität ohne ausreichenden oder nur halbherzigen Wandel. Halbwegs gesicherte Prognosen über den künftigen Weg der DDR-Geschichtsschreibung sind noch nicht möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neues Deutschland vom 22. /23. 2. 1986, S. 5.

  2. J. Kuppe, Die Geschichtsschreibung der SED im Umbruch, in: Deutschland Archiv, (1985) 3, S. 279— 294.

  3. So z. B. I. Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1979; W. Beutin, Der radikale Doktor Martin Luther, Köln 1982; Preußen. Legende und Wirklichkeit, bearb. u. zusammengest. v. P. Bachmann u. 1. Knoth, Berlin (Ost) 1983; K. -H. Börner, Wilhelm I. Deutscher Kaiser und König von Preußen. Eine Biographie, Berlin (Ost) 1984; K. Breitenborn, Im Dienste Bismarcks. Die politische Karriere des Grafen Otto zu Stollberg-Wernigerode, Berlin (Ost) 1984; E. Engelberg, Bismarck — Urpreuße und Reichs-gründer, Berlin (Ost) 1985.

  4. W. Schmidt, Zur Entwicklung des Erbe-und Traditionsverständnisses in der Geschichtsschreibung der DDR; in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (1985) 3, S. 195— 212.

  5. S. Anm. 2, S. 290.

  6. Vgl. z. B. E. Diehl (Vorsitzender des Rates für Geschichtswissenschaft der DDR), Mehr als Geschichtsbewußtsein — Erkenntnisgewinn, in: Spektrum, S. 11 ff.

  7. Vgl. H. Hüning, Historischer Materialismus und Menschheitsgeschichte, in: Sozialismus, (1986) 1, S. 35— 36.

  8. W. Schmidt, Zur Geschichte der DDR-Geschichtswissenschaft vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (1985) 5, S. 614— 633, hier S. 629. Besonders deutlich auch bei I. Mittenzwei /K. -H. Noack (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789 (Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, Bd. 2), Berlin (Ost) 1983, S. 41.

  9. Ebenda, S. 632.

  10. In seinem Interview mit der Hamburger Wochen-zeitung „Die Zeit“. Abgedruckt auch in: Neues Deutschland vom 31. 1. 1986, S. 3— 5.

  11. Siehe hierzu z. B. J. Kuczynski, „Streichen Sie das Wort wiederentdeckt", in: Weltbühne, H. 7 v. 18. 2. 1986, S. 196— 198.

  12. A. Abusch, Der Irrweg einer Nation, Berlin (Ost) 1946.

  13. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46, damit verbindlich auch für die Westzonen, wurde Preußen im April 1947 völkerrechtlich aufgelöst.

  14. Vgl. Anm. 2, S. 283.

  15. G. Vogler/K. Vetter, Preußen — Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Berlin (Ost) 1970.

  16. Daran änderte sich im wesentlichen bis heute nichts. Die 1976 erschienene Arbeit von H. Kathe, Der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. (1688— 1740) König in Preußen. Eine Biographie, übte am Vater Friedrichs II. ausschließlich Kritik.

  17. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus — Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik — Grundriß, hrsgg. von einem Autorenkollektiv u. Ltg. v. E. Diehl, Berlin (Ost) 1974.

  18. E. Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (Ost) 1982, S. 614.

  19. Vgl. Anm. 2, passim, insb. S. 291 f.

  20. I. Mittenzwei, Die zwei Gesichter Preußens, in: Forum (1978) 19, S. 8f.

  21. So E. Förtsch, Revision des Preußenbildes? — Ein neuer wissenschaftlicher Ansatz in der DDR, in: Deutschland Archiv, (1979) 2, S. 168— 173.

  22. H. Bartel/I. Mittenzwei/W. Schmidt, Preußen und die deutsche Geschichte, in: Einheit, (1979) 6, S. 637— 646.

  23. Vgl. Anm. 3.

  24. I. Mittenzwei (Anm. 3), S. 76.

  25. Eine ausführlichere Bewertung der Vorarbeiten 1. Mittenzweis für die Friedrich-Biographie gibt F. Kopp, Revolutionäre Ansätze vor 1806. Zu Mittenzweis Schrift: „Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg ...“, in: deutsche Studien, Nr. 75 (Sept. 1981), S. 320— 328.

  26. Einige bemerkenswerte Denkanstöße gibt hier wieder F. Kopp, Das vertiefte Preußenbild der SED, in: Beiträge zur Konfliktforschung, (1981) 2, S. 85- 111.

  27. Hier wird, bis zum Beweis des Gegenteils durch freie Meinungsäußerung aller Betroffenen, von der Fortexistenz eines „Ur“ -Gefühls für nationale Zusammengehörigkeit in der Bundesrepublik und der DDR ausgegangen, wovon differenziertere Fragen, z. B. nach der schwindenden, doppelten oder auch „fragmentierten“ Identität der Deutschen, nach Identitätssuche und -Verlust nicht berührt werden. Zu diesem Thema vgl. die interessanten Beiträge in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 200, Bonn 1983.

  28. Kleines politisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1983 4, S. 632ff. Hier sei nur auf eine sprachlogische Ungereimtheit aufmerksam gemacht: Während sich die „gute“ deutsche Nation in der DDR ständig „entwikkelt", aber offenbar noch nicht „entwickelt hat“, „besteht“ die „schlechte“ deutsche Nation in der Bundesrepublik anscheinend ohne Entwicklungschancen „fort“. Nationale Entwicklung drüben — nationaler Stillstand hier—, dies widerspricht zumindest der Erkenntnis Honeckers, daß der Sozialismus „auch um die Bundesrepublik keinen Bogen machen werde“ (1981). Die Bundesrepublik bliebe ja in dieser Sicht von jedem Evolutions-bzw. Revolutionsfortschritt ausgenommen. „Im Weltmaßstab“ kann so der Sozialismus jedenfalls nie siegen.

  29. Vgl. Anm. 25, S. 108. Kopp hat hier zu Recht auf viele Ungereimtheiten z. B. bei den Clausewitz-Feiern 1980 in der DDR hingewiesen, wo — je nach Bedarf — vom „preußischen Volk“, das es nie gab, und „deutschem Volk“ in Preußen und Deutschland gesprochen worden war. Über die Ausweitung und Versachlichung der Militärgeschichtsschreibung in der DDR vgl.den anregenden Aufsatz von W. Rehm, Militärgeschichte in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Militär-geschichte in Deutschland und Österreich vom 18. Jahrhundert bis in den Gegenwart, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 6, Herford-Bonn, 1985, S. 162— 182.

  30. So ähnlich heißt es jetzt auch im Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, Berlin (Ost) 1985. Dieses Wörterbuch stellt in zahlreichen Passagen fast schon eine Hommage an Preußen und sogar an einzelne seiner Militärs dar.

  31. National-Zeitung vom 8. 1. 1986.

Weitere Inhalte

Johannes Kuppe, Dipl. -Pol., Dr. rer. pol., geb. 1935; Referatsleiter in der Bundesanstalt für gesamtdeutsche Fragen — Gesamtdeutsches Institut, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Mitarbeit an den „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation“, Bonn 1971 und 1974; Wissenschaftlicher Redakteur und Mitautor des „DDR Handbuchs“, Bonn 1975 und 1979, 1985 (als Autor); Beiträge u. a. in: Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR, hrsg. v. H. -A. Jacobsen u. a., München-Wien 1979; Kulturpolitisches Wörterbuch, hrsg. v. W. R. Langenbucher u. a., Stuttgart 1983. Zahlreiche Veröffentlichungen zu außen-und deutschlandpolitischen Fragen.