Die Wiederholung der öffentlichen Verschwendung. Vollbeschäftigung durch neue Beschäftigungsprogramme und mehr staatlichen Interventionismus? | APuZ 36/1986 | bpb.de
Die Wiederholung der öffentlichen Verschwendung. Vollbeschäftigung durch neue Beschäftigungsprogramme und mehr staatlichen Interventionismus?
Peter von der Lippe
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Zusammenfassung
Aus Kreisen, die der Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung ablehnend gegenüberstehen, wird seit einiger Zeit gefordert, der Staat könne und solle durch eine massive Expansion der Staatsausgaben die Arbeitslosigkeit weitgehend beseitigen. Nur durch öffentliche Beschäftigungsprogramme könne Vollbeschäftigung wieder erreicht werden. Zugleich könnten so und nur so „qualitative Wachstumsfelder“ erschlossen werden. Im Unterschied zu den bisherigen, weitgehend kurzfristig-konjunkturpolitisch motivierten „Beschäftigungsprogrammen“ seien die Programme neuer Art erfolgversprechender, weil aufwendiger, längerfristig angelegt und mit mehr Auflagen und Kontrollen versehen. Nicht selten wird versucht, die Wirksamkeit der „neuen“ Beschäftigungsprogramme aus den Erfahrungen mit den „alten“ herzuleiten. Im Gegensatz hierzu versucht dieser Beitrag zu zeigen, daß genau gegenteilige Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen sind. Es könnten zwar einige Tausend Arbeitsplätze durch öffentliche Aufträge, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnsubventionen usw. geschaffen oder erhalten werden. Dabei ist aber nicht nur die Schätzung der Anzahl dieser Arbeitsplätze naturgemäß sehr spekulativ (vom angebotspolitischen Effekt der vorgeschlagenen Umwelt-, Stadtverschönerungs-und Bildungsinvestitionen ganz zu schweigen). Entscheidend ist vielmehr, wie teuer diese Arbeitsplätze letztlich für die Volkswirtschaft sein werden. Gerade aber um Art und Ausmaß solcher Kosten abschätzen zu können (die übrigens nicht nur im Zusammenhang mit der gestiegenen Staatsverschuldung zu sehen sind), ist es nützlich, die Erfahrung mit der Politik der sozialliberalen Koalition zu verwerten. Diese Politik führte nacheinander zu Inflation und Arbeitslosigkeit, sie endete mit einem Schuldenberg, Stagnation und Leistungsbilanzdefiziten. Die Sozialversicherung und der Staatshaushalt mußten saniert werden. Der Arbeitseinsatz, insbesondere hinsichtlich der Personalnebenkosten, ist enorm verteuert und die Kapitalbildung erschwert worden. Dabei mußten viele sozialpolitische Errungenschaften der sozialliberalen Koalition schon von dieser selbst aus finanziellen Gründen wieder zurückgenommen werden. Mittel-und langfristig haben sich durch Beschäftigungsprogramme die Probleme auf dem Arbeitsmarkt eher verschärft als verbessert und die Handlungsfähigkeit des Staates hat sich dadurch verschlechtert. Insgesamt gesehen sind dies deshalb keine Erfahrungen, die unbedingt wiederholt werden sollten.
Seit Ende der siebziger Jahre wird in Kreisen der Politik (insbesondere von SPD, DGB und den GRÜNEN) und der Wissenschaft (vor allem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin) die Forderung erhoben, durch eine Neuauflage und Verstärkung von zuvor weitgehend erfolglos gebliebenen „Beschäftigungsprogrammen“, durch Anhebung der Staatsquote und mit mehr staatlichem Dirigismus der Arbeitslosigkeit Herr zu werden. Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung aber ging zu Beginn der achtziger Jahre — nicht erst seit der „Wende“ 1982, also dem Ende der sozialliberalen Koalition — mit Unterstützung der Mehrheitsmeinung der Wirtschaftswissenschaft (insbesondere auch vertreten vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) einen ande
I. Die Ökonomie des Geldausgebens
Den geistigen Hintergrund, vor dem eine „Politik der Schaffung von Arbeitsplätzen“ durch mehr Staatsausgaben gefordert wird, vermag besonders deutlich eine Schrift von Rudolf Hickel und Jan Priewe zu vermitteln, die dem Beitrag beider Autoren in dieser Ausgabe zugrunde liegt. Ihre Arbeit kommt zu dem Ergebnis, daß die Erfahrung der siebziger Jahre gezeigt habe, daß allein eine solche Politik erfolgreich sei bei der Wieder-gewinnung der Vollbeschäftigung. Demgegenüber dürfte jedoch eher genau das Gegenteil der Fall sein.
Abbildung 6
Tabelle 4: Bruttoinvestitionen zu konstanten Preisen von 1980, Lohnkosten je Produkt-einheit und Beschäftigte 1969 = 100 Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 26*, 29*, 44*. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1, Konten und Standard-tabellen 1985, Vorbericht.
Tabelle 4: Bruttoinvestitionen zu konstanten Preisen von 1980, Lohnkosten je Produkt-einheit und Beschäftigte 1969 = 100 Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 26*, 29*, 44*. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1, Konten und Standard-tabellen 1985, Vorbericht.
Beschäftigungsprogramme sind nach Hickel und Priewe nicht nur konjunkturell geboten, sie seien auch ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Motor des Wachstums. Ähnlich wie schon im Programm „Arbeit und Umwelt“ der SPD wird behauptet, daß eine geeignete staatliche Ausgabenpolitik sowohl verstetigend wirken als auch qualitative Wachstumspotentiale des öffentlichen Bedarfs erschließen könne (Stadterneuerung, sozialer Wohnungsbau, Altenbetreuung, Beseiti-ren Weg, den Weg der sogenannten „angebotsorientierten Wirtschaftspolitik“.
Abbildung 7
Tabelle 5: Kreditaufnahme und Verschuldung der öffentlichen Haushalte Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 35*, 37*, hier 1985 Informationen des Statistischen Bundesamtes (StBA).
Tabelle 5: Kreditaufnahme und Verschuldung der öffentlichen Haushalte Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 35*, 37*, hier 1985 Informationen des Statistischen Bundesamtes (StBA).
Angesichts eines zur Zeit wieder stärker werdenden Rufes nach Reformismus und Interventionismus stellt sich die Frage, ob im Lichte der Erfahrungen mit der Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition überhaupt Anlaß besteht, den Verheißungen derartiger Strategien Glauben zu schenken. Konkret lautet die Frage, ob damit nicht die Wiederholung eines gescheiterten Experiments zu befürchten wäre, eine Wiederholung, die selbst dann nicht ratsam wäre, wenn der Abbau von Arbeitslosigkeit nach Art der „Angebotspolitik“, d. h. durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für private Investitionen, zu langsam und längerfristig betrachtet als zu unsicher angesehen werden sollte. gung von Umweltschäden usw.). Die Beschäftigungsprogramme der sozialliberalen Koalition seien zwar mit der Ausnahme des Zukunftsinvestitionsprogramms (ZIP) von 1977/78 nicht von der Art gewesen, wie sie nach Hickel und Priewe allein wirksam und erforderlich sei, nämlich als längerfristig angelegte, qualitative Wachstumsfelder erschließende und mit entsprechenden Auflagen (z. B. Beschäftigungsauflagen) und Dirigismen arbeitende Ausgabenprogramme. Sie seien vielmehr Wechselbäder von stop and go gewesen, kurzfristiges Krisenmanagement, das zudem durchweg zu schwach dosiert gewesen sei. Des-weiteren habe man auch Instrumente benutzt, die von Hickel und Priewe ziemlich grundsätzlich abgelehnt werden, nämlich Investitionszulagen und Steuerentlastungen (insbesondere des Unternehmenssektors). Gleichwohl könne jedoch hieraus nicht der Schluß gezogen werden, die Programme hätten versagt. Im Gegenteil, ein neues Beschäftigungsprogramm sei nötig, und zwar je größer die Ausgaben desto besser.
Abbildung 8
Tabelle 6: Nettokreditaufnahme, Investitionen (nominal und real) sowie Zinsausgaben des öffentlichen Gesamthaushalts in Mrd DM Jahr N In Ir Z N Nettokreditaufnahme in Mrd DM Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 33*, 35*.
Tabelle 6: Nettokreditaufnahme, Investitionen (nominal und real) sowie Zinsausgaben des öffentlichen Gesamthaushalts in Mrd DM Jahr N In Ir Z N Nettokreditaufnahme in Mrd DM Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 33*, 35*.
Im Vergleich dazu weise die Konsolidierungspolitik der Endphase der sozialliberalen Koalition, insbesondere aber nach der „Wende“ seit 1982, eine „katastrophale Erfolgsbilanz“ auf. Sie habe eine halbe Million Arbeitsplätze gekostet, sei pro-zyklisch und krisenverschärfend gewesen.
Abbildung 9
Haushaltsdefizit und Zinsausgaben Quelle: Bayerische Landesbank
Haushaltsdefizit und Zinsausgaben Quelle: Bayerische Landesbank
Angesichts solcher Gedankenabfolgen könnte man in der Tat den Eindruck gewinnen, es gäbe nichts Segensreicheres als eine ausgabenfreudige öffentliche Hand. Umfragen hätten denn auch gezeigt, so Hickel und Priewe, daß es genügend Nützliches gäbe, wofür Geld ausgegeben werden könne. Doch wäre es nicht schon sehr eigenartig, wenn Umfragen etwas anderes gezeigt hätten? Denn daß sowohl die Bürger als auch die Bürokratie Ideen entwickeln, wie Geld ausgegeben werden könnte, das sie nicht oder vermeintlich nicht selbst aufzubringen haben, kann nicht überraschen. Interessant ist daher auch nicht die Frage, was man als Bedarf empfindet, sondern was man als Preis hierfür zu zahlen bereit ist. Ebensowenig kann es überraschen, daß durch mehr Staatsausgaben auch mehr Beschäftigung entstehen kann. Eine besonders naheliegende und wirkungsvolle Lösung im Sinne dieses Zusammenhangs wäre es ja, einfach die Arbeitslosigkeit durch eine entsprechende Ausweitung der Beschäftigung im öffentlichen Dienst zu beseitigen. Warum geht man nicht diesen Weg, wo er doch so naheliegend wäre?
Abbildung 10
Tabelle 7: Ersparnis und Finanzierungssaldo des Staates in Mrd DM Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 34*, 38*.
Tabelle 7: Ersparnis und Finanzierungssaldo des Staates in Mrd DM Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 34*, 38*.
Jede Konsolidierungsbemühung, so z. B. das Haushaltsstrukturgesetz vom 28. August 1975 oder die „Operationen“ der Bundesregierung von 1982 bis 1984, war nach Ansicht der Autoren Hickel und Priewe angeblich schädlich und kontraproduktiv. Es gibt keine Kürzung von Staatsausgaben, die von ihnen als ökonomisch erforderlich und vorteilhaft begrüßt wird. Von den Maßnahmen der Konjunkturbelebung empfehlen sie — abgesehen von Steuerentlastungen und Einkommenstransfers zugunsten privater Haushalte im unteren Einkommensbereich — vor allem die direkten investiven und konsumtiven (vor allem personellen) Mehrausgaben der Gebietskörperschaften, verbunden mit Auflagen, Ge-und Verboten. Diese seien allen anderen Maßnahmen überlegen.
Für Sparsamkeit und Zurückhaltung des Staates gibt es demgegenüber kein Argument, das sie gelten lassen. Angeblich waren es nicht die expansiven Ausgabenprogramme, die die Staatsschulden, die Zinssätze und Zinsausgaben nach oben getrieben, private Investitionen zurückgedrängt und zu Fehllenkungen von Kapital und Arbeit geführt haben. Es waren im Gegenteil immer nur die restriktiv wirkenden Ausgabenkürzungen und geldpolitischen Maßnahmen, die Schaden anrichteten. Selbst Preisstabilität ist in der ökonomischen Theorie von Hickel und Priewe eher etwas Schädliches sie ist ein Indikator der unzureichenden Ausschöpfung der Wachstumspotentiale Über-schüsse in den Gemeindehaushalten seien „volkswirtschaftlich unsinnig“, so die These beider Autoren, die andererseits den Rückgang öffentlicher Investitionen beklagen
Nie waren es nach ihrer retrospektiven Sicht der wirtschaftlichen Entwicklung die direkten expansiven Maßnahmen, die bedenklich waren. Sollten diese einmal real nicht hinreichend gewirkt haben, sei es, weil die Baupreise gestiegen sind, sei es, weil die Einkommen und damit die Nachfrage zu gering waren, dann war es immer eine vorangegangene restriktive Politik, die hierfür verantwortlich gemacht wird. Sie habe die nötige Bau-kapazität vernichtet und habe die private Nachfrage, die angeblich allein entscheidend ist für Investitionen, Beschäftigung und damit auch Einkommen, geschwächt.
Angenommen, diese Thesen sind richtig, und sie sind ja nach Meinung der Autoren nicht nur theoretisch fundiert, sondern auch empirisch belegt, dann haben wir es hier in der Tat mit einer sehr einfachen Ökonomie zu tun, in der allein dafür Sorge getragen werden muß, daß der Staat genügend Geld ausgeben kann. Die Wirtschaftspolitik der Autoren ist einfach, weil es in ihr keine im engeren Sinne ökonomischen Aufgaben zu lösen gibt. Denn Ausgabenprogramme zu entwerfen ist kein schwieriges ökonomisches Problem, anders dagegen die Beschaffung des Geldes und die Len-kung des Geldes in die produktivste Verwendung. Aber weil die Staatsverschuldung nach dieser Sichtweise keine Gefahr darstellt, ist auch die Geldbeschaffung kein Problem. Und weil die Ergebnisse einer „politisierten Bedarfsdiskussion“ unbesehen akzeptiert werden und weil — bei „Zugrundelegung eines volkswirtschaftlichen Rentabilitätsbegriffes, der sich nicht immer mit dem privatwirtschaftlichen Gewinnkalkül deckt“ — das entsprechende politische Marketing alles „produktiv“ machen kann, wird es auch keine Kosten in dem Sinne geben, daß eine alternative Verwendung des Geldes vielleicht die bessere gewesen wäre
Die sozialliberale Bundesregierung ist mehr als einmal auf internationaler Ebene, und oft genug von heimischen Kritikern aufgefordert worden, durch staatliche Maßnahmen für einen Boom zu sorgen, um die Weltkonjunktur zu beleben Wenn man dem wirtschaftspolitischen Konzept von Hickel und Priewe folgt, ist es vollkommen unverständlich, warum sie damals die geforderte Ausgabenexpansion nicht betrieben hat.
II. Globalsteuerung und innere Reformen
Abbildung 4
Tabelle 2: Staatsquote, Abgabenquote und Auslastungsgrad des Produktionspotentials (in °/o) Jahr Staats-quote ) Abgaben-quote 2) Auslastungsgrad 3) Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tabelle 34. Statistisches Bundesamt, FachserieiS, Reihe 1, Konten und Standardtabellen 1985, Vorbericht.
Tabelle 2: Staatsquote, Abgabenquote und Auslastungsgrad des Produktionspotentials (in °/o) Jahr Staats-quote ) Abgaben-quote 2) Auslastungsgrad 3) Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tabelle 34. Statistisches Bundesamt, FachserieiS, Reihe 1, Konten und Standardtabellen 1985, Vorbericht.
Es ist schade, daß Plädoyers für Beschäftigungsprogramme, wie z. B. die Arbeit von Hickel und Priewe, die Fiskalpolitik erst im Zeitraum ab 1974 betrachten. Dadurch werden die ausgabefreudigen Anfangsjahre der sozialliberalen Ära ausgeblendet und es wird somit auch nicht erkennbar, warum sich die Fiskalpolitik seit etwa 1975 überhaupt um Konsolidierung bemühte und warum sie bei der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung versagte. Betrachtet man dagegen die Finanzpolitik der gesamten Periode der sozialliberalen Koalition, so wird deutlich, warum das Konzept von Interventionismus und Reformismus langfristig versagen mußte: „Die sozialliberale Koalition ist letztlich an der Finanzpolitik gescheitert.“ Es wäre deshalb nicht gerade sehr naheliegend, das Experiment noch einmal mit mehr finanziellem Aufwand und mehr unbegründeten Erwartungen wiederholen zu wollen. 1. Was der Interventionismus leisten sollte Ende der sechziger Jahre war es in weiten Kreisen, nicht nur in denen, die der SPD nahestanden, eine Grundüberzeugung, daß der Staat durch den Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente Konjunkturzyklen entscheidend beeinflussen und dadurch stabilisieren könne und solle, und daß es außerdem bei der Versorgung mit öffentlichen Gütern wie z. B. im Bildungs-und Gesundheitswesen, im Städtebau oder bei den sozialen Diensten sowie hinsichtlich der Korrektur der Einkommens-und Vermögensverteilung einen erheblichen Nachholbedarf gäbe. Diese Sichtweise lief darauf hinaus, einen verstärkten Interventionismus des Staates zu fordern. Bemerkenswert ist rückblickend gesehen, daß diese Forderung — damals gerade zu einer Zeit erhoben wurde, als hinsichtlich der Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele, insbesondere der Vollbeschäftigung, verglichen mit heute ausgesprochen befriedigende Zustände herrschten und daß — schon damals, Ende der sechziger Jahre, die stabilisierende Aufgabe der Finanzpolitik verbunden wurde mit der Mittelbeschaffung für ausgabenintensive Reformen, die mit Wachstum und „Lebensqualität“ motiviert waren. Deshalb sollte bewußt die Staatsquote erhöht werden, um Staats-verbrauch, aber auch Einkommenstransfers und öffentliche Investitionen steigern zu können. Anfangs gab es deshalb gerade auch in der „Linken“ Vorbehalte gegen einen Interventionismus, bei dem der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ dem Kapitalismus zum Überleben verhilft (so das nicht geringe Selbstbewußtsein des Reformismus im Vertrauen auf die Realisierbarkeit des Steuerungs-und Reformvorhabens). Denn: „Staatliche Wirtschaftspolitik, die auf Vermeidung einer Krise abzielt, bedeutet also zwangsläufig Verfesti-gung gesellschaftlicher Verhältnisse (Systemstabilisierung), Vertretung von Kapitalinteressen und Vermeidung gesellschaftlicher Konflikte.“
Angeregt durch erste Mißerfolge dieser Politik und zugleich beflügelt durch Reformprojekte, die teuer waren, aber auch auf Widerstände stießen, entstanden schon früh Diskussionen darüber, wie die staatliche Globalsteuerung verfeinert, wirksamer und durchsetzungsfähiger (gegen reform-feindliche Kräfte) gemacht werden könnte. „Verstärkte kollektive Kapitalbildung und Finanzierung, Begrenzung der Preisautonomie, Investitionslenkung“ waren damals die Stichworte.
Der staatliche Steuerungsanspruch, d. h. die Behauptung, die „visible hand“ einer Bürokratie könne Stabilität eher garantieren als die „invisible hand“ des Marktes, wenn ihr nur ein ausreichendes Instrumentarium staatlicher Interventionen zur Verfügung stünde, verband sich schon damals, also zu Beginn der sozialliberalen Ära, mit der Idee des qualitativen Wachstums durch Reformen und mit entsprechenden Ausgabenprogrammen. Die Staatsausgaben sollten der „Modernisierung“ der Wirtschaft und der Steigerung der „Lebensqualität“ dienen. Zu jener Zeit kamen Zweifel am Sinn des (quantitativen) Wirtschaftswachstums auf, zugleich aber wurde eine immer-währende Wohlstandssteigerung durch Wachstum als eine im Grunde problemlose Angelegenheit aufgefaßt.
In allen Bereichen diagnostizierte man einen „beklemmenden Reformstau“ und „Problemdruck“. Überall gab es einen wissenschaftlich fundierten „Bedarf und überall entstand auch der Ruf nach entsprechender staatlicher Aktion. Die meisten Themen, die seinerzeit die Menschen bewegten, sind heute „out“: Lehrermangel und „Bildungskatastrophe“, Ärztemangel und das klassenlose Krankenhaus, Bodenspekulation, Beteiligung am Produktivvermögen, Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeit, Theoretisierung und Politisierung der Berufsbildung, sozialer Wohnungsbau usw. Später kam vor allem der Umweltschutz hinzu.
Das Programm der SPD als Regierungspartei in Bonn war (und ist auch heute noch) eine Verbindung von Interventionismus und Reformismus. Spätestens 1982 mußte es erkennbar als gescheitert angesehen werden. Weitgehende Ähnlichkeiten damit weist das Konzept von Hickel und Priewe auf: Beschäftigungsprogramme und „qualitatives Wachstum“ oder, wie sie es definieren, die „Verbindung von langfristig ausgerichteter Wachstumspolitik mit offensiver zielgerichteter Strukturpolitik“. Ungebrochen ist nicht nur das Vertrauen in den stabilisierungspolitischen Nutzen wachsender Staatsausgaben, sondern auch in deren Wirksamkeit für „qualitatives“ Wachstum, also für die „Lebensqualität“. Selbst alte Reform-diskussionen leben wieder auf, wie z. B.der Ausbau der Hochschulen (nachdem die Spitze des „Studentenbergs“ überschritten ist), die Reform und Expansion der beruflichen Bildung, die inzwischen als verfehlt erkannte „Objektförderung“ im sozialen Wohnungsbau (in einer Zeit, in der man sich über eine Reduktion des öffentlich geförderten Wohnungsbestands Gedanken macht), die Stadtsanierung sowie die Ausweitung des öffentlichen (zu Lasten des privaten, individuellen) Personennahverkehrs und des Personals im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern, Jugendämtern usw. 2. Antizyklische Fiskalpolitik a) Das Konzept Dem erwähnten Steuerungsanspruch des Staates glaubte man vor allem mit einer planmäßigen, längerfristig vorausschauenden Finanzpolitik gerecht werden zu können. Das Instrument, von dem man sich eine Stabilisierung der Konjunktur vor allem versprach, war die antizyklische Finanzpolitik. Dieses Konzept der Fiskalpolitik bedeutet, Umfang und Struktur der Staatseinnahmen und Staatsausgaben zum Zwecke der Verstetigung der Konjunktur und orientiert an einer mittelfristig befriedigenden Auslastung des Produktionspotentials bewußt zu verändern. Der Versuch, expansive Impulse abzugeben durch mehr Ausgaben, auch kreditfinanzierte, also durch „deficit spending“, gehört dazu ebenso wie die vorübergehende Reduktion der Staatsausgaben bzw. Erhöhung der Staatseinnahmen, um Über-schüsse (surplus saving), also Reserven für spätere Konjunkturbelebungsmaßnahmen, zu bilden. Es soll hier nicht diskutiert werden, ob dieses Konzept überhaupt befriedigend praktiziert werden kann entscheidend ist vielmehr — das Ziel der Verstetigung konjunktureller Schwankungen, gemessen an der Erreichung von Vollbeschäftigung und Preisstabilität sowie außenwirtschaftlichem Gleichgewicht;
— die konjunkturgerechte Abfolge von expansiven und restriktiven Maßnahmen von deficit spending und surplus saving.
Antizyklische Fiskalpolitik ist am Gleichgewicht orientiert, an der Vermeidung von zu viel und zu wenig, sie ist nicht Wachstumspolitik, sondern soll expansive oder kontraktive Impulse geben, und zwar jeweils nur dann und nur insoweit es das Ziel der Verstetigung erforderlich macht. Sie muß deshalb auch nicht einhergehen mit einer ständig wachsenden Staatsverschuldung. Sie ist jedenfalls nicht eine „Finanzpolitik im Dienste der Sicherung von Beschäftigung und Schaffung von qualitativem Wachstum“, die Hickel und Priewe vorschwebt und die eine Wiederholung der zu Beginn der sozialliberalen Koalition propagierten Politik zur Steigerung der Staatsquote wäre, allerdings mit noch weniger Rücksicht auf Preisstabilität, angemessene Staatsverschuldung und marktwirtschaftliche Spielregeln. b) Erfolg und Mißerfolg des deficit spendings Es kann keine Frage sein, daß eine Konjunkturbelebung durch eine expansive Ausgabenpolitik des Staates notwendig und erfolgreich sein kann und daß es auch Situationen gibt, in denen zu Recht über zu wenig expansive Impulse der Fiskalpolitik geklagt wird. Letzteres hat sogar der Sachverständigenrat gelegentlich getan, obgleich er sich seit Ende der siebziger Jahre gegen eine undifferenzierte Anwendung von „Beschäftigungsprogrammen“ und für eine „angebotsorientierte“ Wirtschaftspolitik ausgesprochen hat. So stellte er beispielsweise in seinem Jahresgutachten 1977/78 fest: „Im nachhinein zeigte sich, daß das Maß an Konsolidierung zu groß war für einen so moderaten Aufschwung“ (Ziff. 321). Er zeigte somit durchaus Verständnis für die Auffassung, daß mehr Ausgaben belebend hätten wirken können und daß das Tempo der 1976 eingeleiteten Konsolidierungspolitik vielleicht anfänglich zu schnell war. Entscheidend ist jedoch, daß der Sachverständigenrat im Unterschied zu den Befürwortern von Beschäftigungsprogrammen — kreditfinanzierte Ausgabenprogramme primär als vorübergehende konjunkturpolitische Maßnahmen begreift (im Sinne der antizyklischen Fiskalpolitik), von ihnen aber nicht eine dauerhafte Stimulierung von Wachstum und Beschäftigung erwartet, und — selbst im konjunkturpolitischen Einsatz dieses Instruments hinsichtlich der Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten einer Depression differenziert zwischen nachfrage-und strukturell-bedingten Unterbeschäftigungssituationen, wobei letztere verstärkt angebots-, nicht aber nachfrage-politische Maßnahmen erfordern.
Beide Punkte, die im übrigen der herrschenden Auffassung der Ökonomen entsprechen, werden deutlicher, wenn man die Situation bei der ersten erfolgreichen Anwendung der Nachfragepolitik zur Konjunkturbelebung 1967 mit der Situation von 1975 vergleicht, wie dies der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 1977/78 getan hat. Er setzte sich darin auch mit der schon damals weit verbreiteten Auffassung auseinander, der Staat hätte nach der Rezession von 1975 für eine kraftvollere Nachfrageexpansion sorgen können und sollen (Ziff. 238, 244, 319). Der Vergleich zwischen 1967 und 1975 zeigt, daß die Bedingungen für den Aufschwung nach 1975 von Seiten der Nachfrage (Export-und Konsumnachfrage) ähnlich günstig waren wie nach 1967, hinsichtlich des expansiven Impulses der Finanzpolitik sogar noch günstiger, gleichwohl kam es aber nach 1975 nicht zu einem anhaltenden, sich selbst tragenden Aufschwung. Vielmehr zeigten sich trotz der kräftigen Nachfragestützung schon 1976 Schwäche-tendenzen: „Zumindest bis weit in das Jahr 1976 hinein waren von der konjunkturellen Nachfrageentwicklung her Bedingungen gegeben, die eine Selbstverstärkung der Auftriebskräfte hätten ermöglichen können. Die Entwicklung nach 1975 läßt zumindest Zweifel an der These aufkommen, daß ein kräftiger Nachfrageimpuls allein einen sich selbst tragenden Aufschwung einleiten kann“ (Ziff. 248).
Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden verglichenen Situationen lag nach Meinung des Sachverständigenrates darin, daß Mitte der siebziger Jahre — die Weltkonjunktur infolge einer allgemeinen Inflation und der Ölpreiskrise so schwach war, daß die Expansion unserer Exporte nicht lange genug anhalten konnte, um auch zu einer Investitionskonjunktur zu führen;
— die veränderten außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Erfolge der Inflationsbekämpfung einen Strukturwandel verlangten (z. B. Energieeinsparungen), der jedoch nicht rasch genug vollzogen werden konnte;
— das Reallohnniveau stark angestiegen war; — die Investitionstätigkeit durch Vorschriften und Einspruchsmöglichkeiten erschwert und verunsichert wurde, ohne daß dies durch eine entsprechend höhere Risikoprämie entgolten wurde. Aus diesen Gründen hatte, so der Sachverständigenrat, die Angebotsseite auf die Nachfrageimpulse nicht im erwarteten Maße reagiert, d. h., es wurde nicht ausreichend investiert, nicht weil die Nachfrage fehlte, sondern weil die Angebotsbedingungen für eine Kapazitätserweiterung ungünstig waren.
In der ersten Hälfte der siebziger Jahre traten also Bedingungen ein, die eine Wiederholung des Erfolges von Karl Schiller bei der Konjunkturbelebung 1967 mit einem Programm von seinerzeit nur 8, 6 Mrd. DM vereitelten. Dies waren die nicht zuletzt auch durch die Reformpolitik verursachten Inflationsprozesse und Verteilungskämpfe (Kampf um eine höhere Lohnquote und eine höhere Staatsquote).
Verteilungskämpfe fanden nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene (Anstieg der Rohöl-und Rohstoffpreise) statt. Sie führten zur Anhebung des Kostenniveaus und zu einer Schwächung des Wachstumspotentials und deshalb auch dazu, daß die Bedingungen für eine erfolgreiche keynesianische Nachfragepolitik allmählich entfielen. Deshalb war auch die staatliche Schuldenaufnahme 1975 konjunkturpolitisch nicht mehr so zu beurteilen wie 1967 Hinzu kam, daß nicht nur der Staat durch seine Transferzahlungen bemüht war, den Bürgern eine Kürzung der Realeinkommen, die nach dem Ölpreisschock eigentlich unvermeidbar war zu ersparen, sondern auch die Tarifpolitik nicht konjunkturgerecht war, wobei sich der Staat mit Lohn-und Gehaltserhöhungen von 12, 3% im öffentlichen Dienst 1974 als Vorreiter betätigte. Dies geschah in der Annahme, daß nur eine konjunkturell bedingte Unterauslastung des Produktionspotentials, nicht aber eine strukturell bedingte Wachstumsschwäche vorlag.
Man glaubte also, daß die Bedingungen des keynesianischen „demand mangement“ 1975 genauso wie 1967 gegeben waren. Sie waren es aber offenbar nicht, denn sonst hätte diese Politik erfolgreicher sein müssen, als sie es war. Karl Schiller hat die These vertreten, daß keynesianische Politik die Bedingungen ihrer Wirksamkeit selbst zerstört, je länger und je expansiver sie betrieben wird Daß 1975 der Erfolg von 1967 nicht wiederholt werden konnte, bestätigt diese These deutlich. Anders als Hickel und Priewe, die davon ausgehen, daß praktisch jeder Mißerfolg einer expansiven Finanzpolitik in vorausgegangenen oder gleichzeitigen restriktiven Maßnahmen begründet ist, gibt die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland viel eher Anlaß zu fragen, ob es nicht gerade die Ausgabenexpansion sein kann, die dazu führt, daß spätere Konjunkturbelebungen durch Ausgabenprogramme nicht mehr greifen. Denn sie werden auch solche Investitionen anregen, die dann später bei gestiegenem Kostenniveau und Wechselkurs, bei veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen oder wenn ein Inflationstrend, den man in den Erwartungen vorweggenommen hatte, gebrochen ist, nicht mehr wettbewerbsfähig sind Investitionen und Arbeitsplätze, die nur durch eine zusätzliche staatliche Nachfrage rentabel werden, bleiben dies oft auch nur so lange, so lange der Staat mit entsprechenden Programmen nachhilft. Sie verdanken nämlich ihre Existenz faktisch einer Subvention. Genauso wie Subventionen keine Dauererscheinung sein sollten, sondern vielmehr als Katalysator wirken sollten, um Anpassungen an das Marktgeschehen zu erleichtern und zu beschleunigen, gilt dies auch für das deficit spending. Es ist wirksam wenn der Staat, indem er unausgelastete Kapazitäten in Anspruch nimmt, im privaten Bereich einen Einkommensmultiplikator quasi über eine „Initialzündung“ auslöst Die „Lehrbuchsituation“ ist gegeben, wenn trotz ausreichend hoher Rentabilität Investitionen nur deshalb zögernd in Gang kommen, weil sich optimistische Zukunftserwartungen noch nicht stabilisiert haben. Eine „Initialzündung“ ist dann möglich und geboten. Bei einem nicht zündfähigen Gemisch kann sie dagegen keinen Erfolg haben. Oder anders gesagt: Einen Mangel an Eigendynamik der Wirtschaft kann man nicht „durch den Einsatz notfalls beliebig großer Finanzmittel des Staates dauerhaft überspielen“ c) Das Versagen der antizyklischen Fiskalpolitik Um der Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition gerecht zu werden, ist auf die begrenzte Ein-wirkungsmöglichkeit des Bundes und deshalb die nicht unerhebliche Mitverantwortung der Länder und der Sozialversicherung hinzuweisen Gleichwohl sind der Bundesregierung jedoch Fehler bei der Durchführung einer antizyklischen Finanzpolitik unterlaufen, die vermeidbar waren und ihr zuzurechnen sind. Zu nennen wäre vor allem die ständige und sehr erhebliche Über-schätzung des realen Wirtschaftswachstums und damit auch der Steuereinnahmen sowie die Unterschätzung des Ausgabenbedarfs. Man hatte offenbar die Wirkung der u. a. durch die Ausgabenexpansion ausgelösten inflationären Prozesse auf die Staatsausgaben und die Wirkung des Staatskredits nicht zutreffend antizipiert. Zur Selbstfinanzierung der staatlichen Defizite ist es nicht gekommen und auch der Effekt auf das reale Wachstum blieb hinter den Erwartungen zurück. Der Fehler einer solchen Konzeption von Fiskalpolitik, die sowohl eine antizyklische Globalsteuerung als auch die finanzielle Umsetzung der Reformpolitik leisten sollte, wurde aber erst offensichtlich, als Mitte der siebziger Jahre gleichzeitig die Weltkonjunktur erlahmte, die Kontrolle über das Geldvolumen wiederhergestellt werden konnte, die Geldillusion zerstört war und das Zinsniveau anzusteigen begann. Auch für die meisten derjenigen, die damals die Rekordkreditaufnahme von 1975 befürworteten und deren Beschäftigungseffekt positiv beurteilten, war klar, daß die veränderten Bedingungen ein Umdenken in der Finanzpolitik nötig machten. So entstand eine Art „Doppelstrategie“ mit zwei Zielen:
— Förderung der Beschäftigung durch mehr Ausgaben;
— Zurücknahme des Kreditbedarfs, also Konsolidierung durch weniger Ausgaben.
Dieses Dilemma war Ausdruck des Scheiterns jenes alten Konzeptes, was in der Ökonomie stets bedeutet, daß es auf falschen Erwartungen aufgebaut war.
Nach einer weitverbreiteten z. T. auch von Autoren, die der gegenwärtigen Opposition nahestehen, geteilten Einschätzung wurde ein entscheidender Fehler von der sozialliberalen Koalition 1978 begangen, „als wider Erwarten ein relativ kräftiger Aufschwung eingetreten war, der jedoch nicht zum Abbau der staatlichen Neuverschuldung genutzt wurde. Damit war eine Sockelverschuldung zementiert, die dann bei späterem Abflachen der Konjunktur nicht mehr abgebaut, sondern nur aufgestockt werden konnte“ Vergessen wird jedoch oft, daß zwar erst die weltwirtschaftlichen Probleme Mitte der siebziger Jahre zu einem Umdenken in der Fiskalpolitik führten, weil die Kreditaufnahme von 1975 die Grenzen des politisch Akzeptablen erreichte, die entscheidenden Fehler aber früher begangen wurden.
Schließlich war es die Reformpolitik mit der Ausweitung und Dynamisierung sozialer Leistungen, dem Anstieg des Personalstands, mehr aber noch die Personalkosten und die Anhebung der Abgabenbelastung, die dazu führte, daß später die Beschäftigungsprogramme nicht mehr regulär finanzierbar waren. Ehrgeizige Reformvorhaben waren dafür verantwortlich, daß in Jahren des Booms die Staatsausgaben überproportional stiegen (vgl. Tabelle 1) und deshalb von 1970 und 1973 und von 1978 bis 1980 keine konjunkturpolitische Manövriermasse entstehen konnte
Die Bundesregierung unter Helmut Schmidt ab 1974 nahm zwar Abschied von der Reformeuphorie der Regierung Brandt, sie stellte systemverändernde Initiativen zurück und erkannte die Notwendigkeit einer Konsolidierung der Staatsfinanzen, aber sie bewältigte nicht wirklich das oben beschriebene Dilemma. So schreibt Alex Möller „Mitte der siebziger Jahre wurde dann allen bewußt, daß Ressourcen nicht grenzenlos zur Verfügung stehen. Es scheint aber, daß man danach weiter über Arbeitsmarktprogramme konjunkturelle Impulse geben wollte, obwohl damals eigentlich ein struktureller Anpassungsprozeß einzuleiten war. Statt diesen Anpassungsvorgang nun rasch in Gang zu bringen, wurde durch zahlreiche Programme, die kaum noch einen konjunkturellen Impuls brachten, die Strukturänderung verschoben.. 3. Der Finanzbedarf der Reformen Unter konjunktur-und finanzpolitischen Aspekten kann man der Reformpolitik im einzelnen nachsagen, daß — durch ehrgeizige Ausgabenprogramme das Produktionspotential vom Staat Anfang der siebziger Jahre über Gebühr in Anspruch genommen wurde, dabei aber private Ansprüche nicht entsprechend zurückgedrängt werden konnten. Stabilisierungsüberlegungen traten dadurch zwangsläufig in den Hintergrund, wodurch insbesondere Verteilungskämpfe und Inflationsprozesse ausgelöst wurden, deren Beherrschung ab Mitte der siebziger Jahre Sparmaßnahmen und eine restriktive Geldpolitik erforderlich machten;
— die Reformen vor allem personalintensive Bereiche mit nur geringen Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung (z. B. Bildungspolitik) betrafen. Auch wegen der gewollten Umverteilung von Einkommen stiegen die staatlichen Personalausgaben erheblich mit der Folge, daß die Staats-quote real gar nicht in dem geplanten Umfang angehoben werden konnte;
— man sich offenbar im Vertrauen auf eine Selbstfinanzierung der Reformen über steigende Einkommen und dadurch wieder steigende Steuereinnahmen nicht um eine zusätzliche, dauerhafte und ergiebige Einnahmequelle (etwa durch eine generelle Steuererhöhung) bemühte
Die mit der Reformpolitik der ersten Phase der sozialliberalen Koalition verbundenen Ausgaben-steigerungen konnten also nicht stabilitätsgerecht durchgesetzt werden. Sie lösten inflationäre Verteilungskämpfe aus, die durch Preissteigerungen zumindest teilweise wieder zunichte gemacht wurden. Darüber hinaus waren die Ausgabensteigerungen nicht mehr finanzierbar, sobald zusammen mit der Weltrezession die Wachstumskräfte nachließen. Während nach einer Schätzung von Thilo Sarrazin in der Zeit zwischen 1970 und 1974 jährliche Ausgabensteigerungen in Höhe von 6 bis 8% konjunkturgerecht gewesen wären, gab der Bund und der öffentliche Gesamthaushalt im Durchschnitt jedes Jahr etwa 11 bis 12% mehr aus (in einigen Bereichen bis zur ersten Ölkrise waren es sogar 20% und mehr) — und dies ohne gleichzeitig für eine dauerhafte konjunkturunabhängige Anhebung der Steuern Sorge zu tragen
Aber nicht nur bei den Staatsfinanzen, auch bei der Finanzierung der sozialen Sicherung hatte man die Reserven bereits weitgehend verbraucht, als sie dann in der Rezession ab Mitte der siebziger Jahre dringend benötigt worden wären. Auch hier sind die Ausgaben in den Boomjahren im Vergleich mit dem Sozialprodukt und den (Beitrags-) Einnahmen überproportional gestiegen. Als dann zur Belebung der Konjunktur Über-schüsse und aus sozialpolitischen Gründen Leistungsverbesserungen notwendig waren, erwiesen sich die Haushalte der Sozialversicherungsträger als sanierungsbedürftig; die Leistungen mußten gekürzt werden.
Das Sozialversicherungssystem wurde zunehmend mit versicherungsfremden staatlichen Aufgaben der Umverteilung, Berufsförderung und -bildung usw. sowie durch Ausweitung des Leistungsangebots (z. B. bei der Krankenversicherung) belastet. Über jeden sich temporär abzeichnenden Überschuß wurde sofort durch Ausgaben-steigerung verfügt. Die wichtigsten Beispiele sind die Einführung der „aktiven Arbeitsmarktpolitik mit dem Arbeitsförderungsgesetz 1969, die Rentenreform 1972 (flexible Altersgrenze, Rente nach Mindesteinkommen und Vorziehen der Rentenanpassung) sowie die Leistungsverbesserungen der Krankenversicherung 1971 und 1974. Deshalb geriet die Bundesanstalt für Arbeit schon in den Jahren 1970 und 1971, als damals die Arbeitslosenquote mit 0, 7 bis 0, 8% ihr Minimum erreichte, ins Defizit. 1972 mußte der Beitragssatz von 1, 3 auf 1, 7 % angehoben werden. Bei der Rentenreform 1972 rechnete man trotz Bedenken des Sozialbeirats mittelfristig nicht mit einem konjunkturellen Rückschlag. Zusammen mit der reformbedingten Ausgabensteigerung führten dann Beitragsausfälle wegen geringer werdenden Lohn-steigerungsraten zu erheblichen Defiziten der Rentenversicherung seit 1975.
Diese Entwicklung vollzog sich bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit, einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen und sich verschlechternden Staatsfinanzen. Weniger Großzügigkeit bei den sozialpolitischen Reformen hätte dazu geführt, daß das Niveau der Sozialversicherungsbeiträge geringer, die finanziellen Reserven und der staatliche Beitrag zur Geldvermögensbildung hingegen größer und dadurch auch die Möglichkeiten der fiskalpolitischen Konjunkturbelebung seit 1975 besser gewesen wären. Statt dessen war man zu Ausgabenkürzungen im Staatshaushalt und zu kurzfristigen Einnahmen-und Lastenverschiebungen innerhalb des Sozialversicherungs-Systemsgezwungen, mit denen dieses jedoch nicht dauerhaft saniert werden konnte
Diese Sanierung der Sozialversicherung war neben der Zurückführung des Kreditbedarfs des Staates das zweite von der sozialliberalen Koalition nicht mehr zu lösende finanzpolitische Problem. Sie belastete aber nicht nur den Bundeshaushalt, sondern führte auch dazu, daß die tendenziell die Beschäftigungsprogramme konterkarierenden Konsolidierungsbemühungen seit 1977 derart groß sein mußten, dabei aber trotzdem nicht ausreichten, „um die bis 1975 angelegten und teilweise auch schon eingetretenen Fehlentwicklungen zu korrigieren“ Nicht nur durch Ausgabensteigerungen, die nicht mehr finanzierbar waren, durch Verschuldung und durch Bürokratisierung hatte die Reformpolitik die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Wirtschaft geschädigt, sondern auch durch die Zunahme der Ausgabenbelastung. Neben der Strukturverschiebung des Steueraufkommens dergestalt, daß das Gewicht der direkten Steuern zugenommen und das der indirekten Steuern abgenommen hatte, wirkte sich vor allem der Anstieg der Sozialabgaben und die Belastung durch ertragsunabhängige Steuern leistungs-und damit wachstumsfeindlich aus. Die Sozialabgaben sind ein Element der Arbeitskosten, sie verteuern die Beschäftigung und machen ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft attraktiv. Deshalb war es auch — abgesehen von politischen Widerständen — am Ende der sozialliberalen Koalition nicht möglich, einen Teil des Konsolidierungsbedarfs durch Steuererhöhungen zu decken. In den siebziger Jahren ist die Sozialleistungsquote von 25, 7 auf 33 % gestiegen, die Beitragssätze zur Sozialversicherung von 26, 6 auf 35%, und während die Personalnebenkosten 1969 noch 46, 2% des Entgelts für geleistete Arbeit darstellten, waren es 1981 schon 77, 5%
Ein Bundestagsabgeordneter der SPD bezeichnete es in einem Aufsatz denn auch als Quintessenz der sozialliberalen Reformpolitik, daß diese im Kern eine Verteuerung des Faktors Arbeit dargestellt habe, die „eine spezifische Investitionspolitik zur Folge hatte, die über Rationalisierung, Kapitalexport und Verstärkung arbeitssparender Investitionen zwar die Produktivkräfte weiterentwickelte, aber eine Massenarbeitslosigkeit mit sich brachte und zudem die Finanzierung des Wohlfahrts-und Interventionsstaates ins Wanken brachte“
Im Lichte dieser Erfahrungen mit der gutgemeinten ausgabe-und interventionsfreudigen Reform-politik der siebziger Jahre ist es ziemlich abwegig anzunehmen, man könne das Beschäftigungsproblem durch „mehr Staat“ lösen und erneut auf eine „Selbstfinanzierung“ von Reformen zugunsten der „Lebensqualität“, wie man damals sagte, bzw.des „qualitativen Wachstums“, wie man heute sagt, hoffen.
III. Alte und neue Beschäftigungsprogramme
Abbildung 5
Tabelle 3: Ziele der Wirtschaftspolitik Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 12*, 18*, 22*, 52*, 67* Statistisches Bundesamt, Fach-serie 18, Reihe 1, Konten und Standardtabellen 1985, Vorbericht.
Tabelle 3: Ziele der Wirtschaftspolitik Quelle: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1985/86, Tab. 12*, 18*, 22*, 52*, 67* Statistisches Bundesamt, Fach-serie 18, Reihe 1, Konten und Standardtabellen 1985, Vorbericht.
Anders als noch vor zehn Jahren werden Beschäftigungsprogramme in den letzten Jahren nicht primär als Maßnahme im Rahmen der antizyklischen Fiskalpolitik gefordert, sondern als mehr oder weniger dauerhafte und massive Wachstums-hilfe durch öffentliche Ausgaben. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung legte schon 1978 eine Berechnung vor wonach mindestens ein Programm von 30 Mrd. DM (real, d. h. zu Preisen von 1970, jedoch von 65 Mrd. DM in erwarteten Preisen von 1985) erforderlich sei, um die „Nachfragelücke“ 1985 zu schließen Dabei wurde erwartet, daß ein solcher Impuls über Multiplikator-und Akzeleratorprozesse einen Nachfrageeffekt von insgesamt mehr als dem dreifachen Betrag (92 Mrd. DM) auslösen wird. In der Zwischenzeit sind zahlreiche weitere „Programme“ dieser Art und „Strategien“ nach dem Motto „Mehr Staat und weniger Arbeit“ d. h. Expansion von Staatsausgaben und Staatsverschuldung in Verbindung mit Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, vorgeschlagen worden. Die Größenordnung reicht von 50 bis 200 Mrd. DM
Bei Betrachtungen dieser Art sind vor allem drei Fragen von Interesse:
1. Was ist von der bei solchen Programmen stets unterstellten und sehr populären „Nachfragethese“ zu halten, wonach Wachstum und Beschäftigung primär von der Mehrnachfrage abhängen, die vor allem durch höhere Löhne und mehr staatliche Transferzahlungen erzeugt werden sollte?
2. Haben die vorgeschlagenen Ausgaben für die „Wiedergewinnung und Verbesserung der Umweltqualität“, den „Ausbau der Lebensqualität unserer Städte“, die „Anwendung alternativer Energie-und Rohstoffquellen“ sowie „zur Integration und besseren Versorgung von benachteiligten Gruppen unserer Gesellschaft“ den erwarteten Wachstumseffekt ?
3. Wie wird die geforderte Ausgabenexpansion finanziert? Angesichts dessen, daß die bisherigen Konjunkturprogramme auch nach Meinung vieler Befürworter der Beschäftigungsprogramme neuer Art einen viel zu geringen Beschäftigungseffekt hatten, ist es verständlich, daß jetzt Programme gefordert werden, deren Größenordnung alle bisherigen Programme in den Schatten stellt. Die Frage danach, wie die Mittel aufgebracht (Erhöhung der Abgabenbelastung und/oder der Staatsverschuldung?) und stabilitätsgerecht ausgegeben werden können, stellt sich also noch mehr als in der Vergangenheit. 1. Nachfrageexpansion und Wachstum (Kaufkraftthese der Löhne)
Gegen die herrschende Auffassung, wonach immer noch primär Kostenentlastungen und Verbesserungen der Rahmenbedingungen als Anreiz zur Investition erforderlich sind, wird meist eingewendet, daß solche Maßnahmen nur dann Erfolg haben könnten, wenn die Mehrproduktion auch gewinnbringend abgesetzt werden könne. Für die Absatzerwartung sei jedoch die Nachfrage entscheidend, und diese könne durch Lohnerhöhung gesteigert werden. Nicht niedrige Löhne erhöhen danach die Nachfrage nach Arbeitskräften, weil dann die Kosten gering sind, sondern die Beschäftigung werde genau umgekehrt durch hohe Löhne gesteigert, weil höhere Löhne mehr Kaufkraft bedeuten.
Diese „Theorie“ ist ähnlich wie die Ökonomie des Geldausgebens Ergebnis einseitiger, kausal interpretierter und von Anwendungsvoraussetzungen und entgegenwirkenden Zusammenhängen abstrahierenden globalen Kreislaufbetrachtungen. Natürlich sind Löhne nicht nur Kosten, sondern auch Kaufkraft, und Investitionen hängen auch von den u. a. durch die Nachfrageentwicklung bestimmten Absatzerwartungen ab. Aber man kann auf dieser Erkenntnis allein keine ökonomische Theorie oder gar wirtschaftspolitische Empfehlung gründen. Es wäre dann nämlich völlig unverständlich, warum man nicht versucht, die Arbeitslosigkeit mit einem Schlag durch Verdoppelung des Lohnniveaus zu beseitigen oder aber, falls dies nicht ausreichen sollte, es mit einer Verdreifachung probiert. „Theorien“ dieser Art kennen nur eine Kausalrichtung und einen linearen Zusammenhang. Wären sie richtig, so spräche nichts gegen entsprechende einfache Schlußfolgerungen von der folgenden Art:
— je höher die Löhne, desto geringer die Arbeitslosigkeit; — je kürzer die Arbeitszeit, desto größer die Beschäftigung; oder — je größer die Staatsausgaben, desto größer das Wirtschaftswachstum.
Zusammenhänge so einfacher Art lassen sich meist auch mit mehr oder weniger raffinierten Methoden der Statistik und Ökonometrie empirisch belegen. Solche Betrachtungen verlieren aber dadurch nicht den Charakter einer Simplifizierung und Vergröberung. Sie sind generell nur von geringem Wert, weil sie keinen Hinweis auf ein Gleichgewicht geben, auf ein Zuviel und Zuwenig einer Größe, weil sie meist keine Veränderung der Verhaltensweisen berücksichtigen, die eintreten dürften, wenn wirklich nach einem so einfachen Rezept verfahren werden würde, und weil sie keine Bedingungen spezifizieren, unter denen dieser oder aber der meist ebenfalls empirisch zu belegende entgegengerichtete Kausalzusammenhang zu erwarten ist.
Es ist z. B. unmittelbar einsichtig, daß die Höhe der öffentlichen Verschuldung und das Volkseinkommen hoch miteinander korrelieren, und zwar einfach deshalb, weil in den sechziger Jahren beide Größen einem ansteigenden Trend folgten. Für den Zeitraum von 1960 bis 1974 errechnet sich eine Korrelation von 0, 9859, was beträchtlich ist und sich auch darin ausdrückt, daß das aufgrund der Staatsverschuldung erwartete Volkseinkommen im Schätzzeitraum (1960— 1974) nur wenig von dem tatsächlich erreichten Volkseinkommen abwich.
Gleichwohl wäre es unsinnig, diesen empirisch festgestellten Zusammenhang kausal zu interpretieren oder auch nur zu extrapolieren. Denn danach hätte die seit 1975 enorm gestiegene Staatsverschuldung in den folgenden Jahren ein wesentlich höheres Volkseinkommen „erzeugen“ müssen. Seit 1981 hätte es gut doppelt so groß sein müssen, als es tatsächlich war. Zwischen 1974 und 1982 haben sich nämlich die öffentlichen Schulden mehr als verdreifacht. Dies hätte nach der berechneten Regressionsfunktion auch eine Verdreifachung des Volkseinkommens zur Folge haben müssen. Tatsächlich ist es aber noch nicht einmal zu einer Verdoppelung gekommen, sondern nur zu einer Steigerung um 58 % in diesem Zeitraum. Dabei spricht eine Korrelation von 0, 9859 doch für einen recht engen statistischen Zusammenhang.
Wie sieht es dann aber mit dem vermuteten Kausalzusammenhang „höhere Lohn-und Gehalts-summe bewirkt weniger Arbeitslosigkeit“ aus? In den fünfziger und sechziger Jahren sind die Arbeitslosenzahlen von fast 1, 6 Mio. (1950) auf 147 000 (1965) gesunken, gleichzeitig sind aber die Bruttoeinkommmen aus unselbständiger Arbeit gestiegen, so daß sich der vermutete Zusammenhang bei diesem — und nur diesem — Zeitraum in den statistischen Zahlen widerspiegelt. Zwischen 1960 und 1973 haben sich dagegen die Arbeitslosenzahlen nur geringfügig verändert; es herrschte nach heutigen Maßstäben Vollbeschäftigung. Da-her überrascht es nicht, daß die genannten Variablen für diesen Zeitraum nur mit 0, 1034 korrelierten. Zwischen 1974 und 1982 aber stieg die Arbeitslosenzahl zunächst auf über eine und dann fast zwei Millionen an, während gleichzeitig die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit durchschnittlich jährlich um gut 6% zunahmen. Man erhält somit für den Zeitraum 1974 bis 1984 einen positiven Zusammenhang eine Korrelation von 0, 7653 —, genau umgekehrt, wie es die Kaufkraftthese der Löhne erwarten läßt. Damit soll nicht behauptet werden, die Kaufkraft-these sei empirisch widerlegt oder es sei als Konsequenz der berechneten Regressionsgeraden eine Kürzung der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit auf etwa ein Drittel des Standes von 1984 geboten, um die Arbeitslosigkeit vollständig zu beseitigen. Erkennbar sollte aber wohl sein, daß Politikempfehlungen auf der Basis einfacher mechanistisch interpretierter Modelle, bei denen jede Manipulation einer Variablen einen genau vorausberechenbaren Effekt auf eine andere Variable hat, mit Vorsicht zu genießen sind
Oberflächlich betrachtet mag die Kombination hohe Löhne und hohe Preise beschäftigungspolitisch nicht schlechter (vielen vielleicht sogar besser) erscheinen als die umgekehrte Kombination von geringen Lohnkosten und einer geringeren Inflationsrate. Diese Betrachtungsweise läuft jedoch darauf hinaus, die Gefahren eines inflationären Prozesses für die Verteilung, die Allokation und das Wachstum völlig zu verkennen. Hinzu kommt, wie dargelegt wurde, daß eine Politik, die Inflation in Kauf nimmt, durch die Gewöhnung an Inflation die Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit allmählich selbst zerstört. Ist nämlich die „Geldillusion“ bereits weitgehend zerstört und das Kostenniveau im internationalen Vergleich entsprechend angestiegen, dann werden Lohnerhöhungen den erwarteten Nachfrageeffekt nicht haben, sondern vielmehr nur den Prozeß der Rationalisierung und Personalfreisetzung beschleunigen, und Beschäftigungsprogramme werden dann in steigenden Preisen und Importen „verpuffen“
Das Kostenargument der Löhne wird von den Befürwortern der Beschäftigungsprogramme jedoch indirekt anerkannt, wenn sie den traditionellen Beschäftigungsprogrammen und Maßnahmen der (indirekten) Investitionsförderung im privaten Bereich vor allem vorwerfen daß dort nur mit arbeitssparenden Innovationen Arbeitsplätze „wegrationalisiert“ werden (jobless growth). Trotzdem wird nicht konsequent aus dieser Beobachtung der Schluß gezogen, daß es in erster Linie eine Frage der Preisrelationen ist, in welchem Verhältnis Arbeit und Kapital eingesetzt werden bzw. ein Faktor durch den anderen ersetzt wird. Falls Beschäftigung kaum noch durch private, sondern nur durch öffentliche Investitionen entstehen könnte, so wäre dies ein Zeichen dafür, daß für die Beschäftigung ein Preis bezahlt werden muß, der über dem Marktpreis liegt und subventioniert werden muß bzw. nur durch dirigistische Eingriffe aufrechterhalten werden kann.
Warum also werden Investitionen vor allem im arbeitsintensiven staatlichen Bereich gefordert? Warum fordert man Ausgabenprograrftme nur zugleich mit Beschäftigungsauflagen ? Für die Beschäftigung wird auf Dauer wenig gewonnen, wenn vom Staat durch einen Zwang zur Unwirtschaftlichkeit die Beschäftigungsstruktur verändert wird, statt diese dem (internationalen) Wettbewerb zu überlassen. Wettbewerb bedeutet stets Auslese, und man wird von einem hohen Kostenniveau, von einer Drosselung des Produktivitätsfortschritts und leistungsfeindlichen Strukturen wohl kaum internationale Standortvorteile erwarten können. 2. Qualitatives Wachstum?
Zunächst scheint grundsätzlich nichts einzuwenden zu sein gegen den Versuch, die beschäftigungs-und die wachstumspolitische Funktion der Finanzpolitik, insbesondere des Staatskredits, miteinander zu verbinden. Es kann nicht nur sinnvoll, sondern auch geboten sein, den Staatskredit nicht nur als Instrument der antizyklischen Konjunkturpolitik zu nutzen, sondern auch zum Ausbau der Infrastruktur, zur Energie-und Rohstoff-einsparung, für den Umweltschutz usw., kurz: um die Volkswirtschaft risikofester und wettbewerbsfähiger zu machen Skepsis ist jedoch geboten, wenn man bedenkt, daß der größte Teil der sozialliberalen Reformprojekte zumindest anfänglich ebenfalls in dieser Weise technokratisch, mit Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit begründet wurde. Dies gilt für die Bildungspolitik genauso wie für die Humanisierung der Arbeit, für die Stadtsanierung wie für die Mitbestimmung usw.
Bei den neu geforderten Beschäftigungsprogrammen handelt es sich, wie gesagt, zum Teil um die gleichen oder um ähnliche Projekte. Die Überzeugung, mit solchen Reformen nicht nur zur Lebensqualität beizutragen, sondern auch die Effizienz des marktwirtschaftlichen Systems entscheidend zu steigern, war seinerzeit sicherlich genauso wie heute ehrlich und weit verbreitet. Aber selbst bei Vorhaben, deren Bezug zu Wachstum und Effizienz ganz offensichtlich zu sein scheint, wie z. B.der Forschungs-und Technologiepolitik, war bei genauerem Hinsehen der Beitrag des Staates zur Effizienzsteigerung in den siebziger Jahren von zweifelhaftem Wert
Mißtrauisch muß es auch stimmen, wenn jetzt Befürworter von Beschäftigungsprogrammen alle möglichen Institutionen bemühen, um einen entsprechenden Bedarf zu dokumentieren, von Bürgerinitiativen bis zum Hessischen Umweltministerium, aber gerade jene, deren Aufgabe es in unserem System ist, Bedarf festzustellen und zu befriedigen, nämlich die Unternehmen, nicht berücksichtigen. Des weiteren muß es mißtrauisch stimmen, wenn diese Autoren ausdrücklich einen anderen als den privatwirtschaftlichen Rentabilitätsbegriff fordern, um den Wachstumseffekt ihrer Projekte darzulegen. Würde man, was hier aus Platzgründen nicht erfolgen kann, die einzelnen Projekte auf ihren, wie immer definierten Beitrag zum „qualitativen“ Wachstum hin untersuchen, so würden sich viele Fragen und Zweifel ergeben, nicht nur aufgrund früherer Reformerfahrungen (z. B. berufliche Bildung), sondern auch aufgrund der absehbaren wirtschaftlichen Entwicklung (z. B. „Wachstumsfeld“ sozialer Wohnungsbau). Sowohl der Bedarf als auch die Effizienz öffentlicher Investitionen wird häufig überschätzt. Es ist fraglich, ob die vom Staat bereitzustellende Infrastruktur oder die subjektiv empfundenen Defizite bei der Qualität der Umwelt bzw.der Humanisierung der Arbeit usw. überhaupt einen Engpaß für die Produktion darstellen. Hinzu kommen die Folgelasten öffentlicher Investitionen, die stets noch mehr als die „Investitionen“ selbst auf dem Konto „Staatsverbrauch“ zu buchen wären und meist unterschätzt werden. Man kann schlecht gleichzeitig Subventionen kritisieren und zugleich Geld fordern für staatliche „Wohltaten“, um ausgewählte Gruppen durch Umverteilung und öffentliche Güter zum „Nulltarif 4 vermeintlich zu begünstigen, oder um in Umfragen und Bürgerinitiativen geforderte Komfortinvestitionen durchzuführen. In allen Fällen gibt es aus der Sicht der Betroffenen stets gute Gründe, um eine solche Politik zu fordern und zu rechtfertigen, aber in allen Fällen entstehen auch neue Bürokratien, neue Belastungen für Steuerzahler und eine Anspruchs-mentalität gegenüber dem Staat. Dieser Effekt ist langfristig gesehen noch schädlicher als der ebenfalls nur auf längere Sicht erkennbar werdende Schaden, der mit Verantwortungslosigkeit gegenüber Inflation und Verschuldung angerichtet wird.
Gegen die Beschäftigungsprogramme „neuer Art“ läßt sich vorbringen daß die im Konzept der Beschäftigungsprogramme neuer Art implizit gemachte Voraussetzung, der Staat könne besser als der private Sektor neue Wachstumschancen aufspüren und den Strukturwandel bewältigen, jeder Erfahrung widerspricht. Staatliches Handeln ist im Gegenteil viel mehr als privates von Verteilungsrücksichten und der Tendenz zur Vereinheitlichung, Schematisierung und Beharrung gekennzeichnet. 3. Finanzierung der Beschäftigungsprogramme und Staatsverschuldung Befürworter von Beschäftigungsprogrammen versprechen sich von solchen Programmen oft nicht nur eine „Selbstfinanzierung“ über ein durch das Programm ausgelöstes Wachstum (und damit durch steigende Steuereinnahmen), sondern nicht selten auch per Saldo Überschüsse, also eine Entlastung des Staatshaushalts Bei weniger optimistischen Erwartungen hinsichtlich des Staatsausgabenmultiplikators wird immerhin noch eingeräumt, daß eine vorübergehende Zunahme der Staatsverschuldung in Kauf zu nehmen sei a) Finanzierung durch Steuern und Sonderabgaben Eine die Abgabenlast senkende Steuerreform, wie sie schon damals nach der „Wende“ von der seinerzeit neuen Bundesregierung angekündigt wurde, wird von den Befürwortern von Beschäftigungsprogrammen nicht empfohlen. Es wird im Gegenteil, z. B. auch in Kreisen der SPD, eine Senkung der Staatsquote und Rückführung der Neuverschuldung für falsch gehalten (so etwa in dem kürzlich viel diskutierten Thesenpapier von Friedhelm Farthmann). Vielmehr sollten für den Staat neue Einnahmequellen erschlossen und Sonderfonds gegründet werden, um die Ausgabenprogramme zu finanzieren.
Gegen die vorgeschlagene Finanzierung durch Steueränderungen, verstärkte Nutzung des Verursacherprinzips oder erhöhte Kreditaufnahme läßt sich einwenden
— Eine strengere Verfolgung des Verursacher-prinzips zur Finanzierung von Investitionen im Umweltbereich würde evtl, entweder nicht den gewünschten Einnahmeeffekt haben oder aber die internationale Wettbewerbsfähigkeit so sehr beeinträchtigen, daß der Steuerzahler doch in irgendeiner Form herangezogen wird (also das „Gemeinlastprinzip“ Platz greift oder weitere Sonderausgaben eingeführt werden müssen). Es sind wieder Mitnahmeeffekte wahrscheinlich, insbesondere dann, wenn die Umwelt-und Energiesparprogramme auch privatwirtschaftlich nützlich sind, was sie ja auch sein sollen.
— Es ist mit einer dauerhaften Erhöhung der Staatsausgaben und der Neuverschuldung zu rechnen, und die Annahme, daß sich die zusätzlichen Staatsausgaben etwa zur Hälfte durch dadurch ausgelöste Einkommenssteigerungen selbst finanzieren werden, dürfte zu optimistisch sein. Vielmehr wird diese Politik wieder zu Steuererhöhungen führen, die sich erfahrungsgemäß ungünstig auf die Leistungs-und Risikobereitschaft auswirken. Es ist auch unwahrscheinlich, daß sich ein Staat, der „sich in Jahren guter Konjunktur zusätzliche Ausgaben leistet und sich zusätzlich verschuldet“, zur Ausgabendisziplin und zur Kosten-Nutzen-Abwägung bereitfindet.
Für die Beurteilung eines Beschäftigungsprogramms ist es nicht unwesentlich, wie es finanziert wird. Man kann sich daher auch gegen derartige Programme aussprechen, selbst wenn man sie grundsätzlich für beschäftigungswirksam hält, und zwar allein deshalb, weil man den Entzugseffekt der hierfür erforderlichen zusätzlichen Staats-einnahmen (durch höhere Steuern) für zu groß hält, verglichen mit dem expansiven Effekt der Staatsausgaben. Es ist deshalb auch keineswegs überzeugend, wenn Rüdiger Pohl in einem Interview der Zeitung „Vorwärts“ den Gegnern von Beschäftigungsprogrammen Inkonsequenz vorwirft, weil sie einerseits nationale Beschäftigungsprogramme ablehnen, andererseits aber den konjunkturell expansiv wirkenden Ölpreisrückgang begrüßen. Natürlich ergibt sich eine ganz andere Situation — auch global-kreislauftheoretisch betrachtet —, wenn Nachfrage durch Einkommenstransfer aus dem Ausland statt aus dem im Inland verdienten Einkommen entsteht.
Ähnlich oberflächlich ist auch das beliebte Argument, die Reagansche Politik sei eine keynesianische Nachfragepolitik der Budgetdefizite und dies beweise die Richtigkeit eines verstärkten und dauerhaften deficit spending. Tatsächlich war Reagans Politik jedoch „primär Angebots-und weniger Nachfragepolitik“ weil sie mit Steuersenkungen begann. Außerdem kamen Reagan Bedingungen zugute, die auf die Bundesrepublik nicht übertragbar sind (z. B. hohe Zinsen, gleichwohl aber Anstieg der Investitionen wie der Leistungsbilanzdefizite, aber trotzdem, zumindest vorübergehend, steigender Außenwert der Währung). Außerdem ist das amerikanische Experiment noch nicht beendet, und es würde bei einem Land mit einem höheren (Lohn-) Kostenniveau und weniger Attraktivität für Kapitalanleger wohl auch kaum diese Effekte hervorbringen.
Bei Zweifeln an der vollen oder auch nur teilweisen „Selbstfinanzierung“ von Beschäftigungsprogrammen besteht das Problem im Kern in der Frage ob eine Steuererhöhung und/oder eine vermutlich dauerhafte Erhöhung der Staatsverschuldung akzeptabel sind/ist. Bekanntlich ist die sozialliberale Koalition an dieser Frage zerbrochen. Es war seinerzeit nicht möglich, weitere sozial-und beschäftigungspolitisch motivierte Steuererhöhungen durchzusetzen (z. B. Streit um die „Ergänzungsabgabe“ für „Besserverdienende“, über eine „Arbeitsmarktabgabe“, Erhöhung der Mineralölsteuer usw. oder Bedenken gegen die Staatsverschuldung zu zerstreuen. b) Inkaufnahme höherer Staatsschulden Während der sozialliberalen Koalition hat sich der Schuldenstand der Gebietskörperschaften und Gemeinden mehr als verfünffacht, derjenige des Bundes fast versiebenfacht. Die im Jahrzehnt von 1968 bisl 978 „von den öffentlichen Haushalten aufgenommenen Kredite waren ... mehr als doppelt so hoch, wie die in den vorangegangenen zwanzig Jahren seit der Währungsreform insgesamt aufgelaufenen Verbindlichkeiten“ Dadurch wurde auch die nachfolgende Regierung in ihren finanzpolitischen Möglichkeiten entscheidend eingeschränkt, denn die hauptsächliche Belastung aus dem Schuldendienst wurde bzw. wird erst nach einigen Jahren fällig (insbesondere 1986/87).
Die Konsequenzen zunehmender Staatsverschuldung werden je nach dem politischen Standort gerne entweder dramatisiert oder verharmlost Festgestellt werden kann, daß es keine allgemein anerkannten exakten Maßstäbe für eine volkswirtschaftlich vertretbare Verschuldung und Nettokreditaufnahme gibt. Finanzpolitische „Obergrenzen“, etwa dergestalt, daß die gesamte Neuverschuldung für den Schuldendienst verwendet werden muß der Kredit also keine Einnahmequelle mehr darstellt, oder gar alle Steuer-und sonstige Einnahmen fast vollständig hierfür verwendet werden müssen, sind so hoch gesteckt, daß sie in der Praxis nicht so schnell, wenn überhaupt jemals relevant werden dürften. Aber lange bevor der öffentliche Kredit an solche finanzierungstechnische Grenzen stößt, ist er bereits volkswirtschaftlich höchst bedenklich.
Das am meisten diskutierte Problem im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung ist das „crowding out“, d. h. die Verdrängung privater, evtl, sogar gerade besonders risikoreicher und zukunftsträchtiger Investitionen durch die öffentliche Kreditnachfrage über eine von ihr ausgelöste Zinssteigerung Dadurch führt sich nämlich eine wachstumspolitisch motivierte öffentliche Verschuldung selbst ad absurdum. Es ist umstritten, ob es angesichts der günstigen Zinsentwicklung in der Bundesrepublik bis Mitte der siebziger Jahre ein crowding out gegeben hat (anders verhält es sich mit dem Zeitraum von 1979 bis 1982 in dem sich Grenzen der Staatsverschuldung auch in der Weise zeigten, daß die Auslands-verschuldung zunahm, die Laufzeiten der Kredite kürzer wurden, der Außenwert der DM sank und erhebliche Leistungsbilanzdefizite entstanden Umstritten ist jedoch auch, wie überhaupt ein crowding out empirisch nachgewiesen werden kann, denn man kann nichts Gesichertes über Umfang und Struktur von Investitionen aussagen, die gar nicht stattgefunden haben, weil sie verdrängt worden sind.
Hypothetisch sind auch Aussagen über Multiplikator-und Akzeleratoreffekte von Programmen die mit zusätzlichem Staatskredit finan-ziert werden sollen. Es überrascht daher nicht, daß es sehr optimistische Schätzungen und Theorien gibt, wonach der Staatskredit die wirtschaftliche Aktivität dermaßen belebt, daß nicht ein crowding out, sondern im Gegenteil sogar ein crowding in privater Investitionen zu erwarten sei. Wie exakt entsprechende Schätzungen auch immer erscheinen mögen, sie sind notwendig spekulativ. Zur Verharmlosung der Staatsverschuldung besteht aber auch selbst dann keine Veranlassung, wenn diese konjunkturell positive Wirkungen haben sollte. Der wohl wichtigste längerfristige nichtkonjunkturelle Aspekt der Verschuldung, der zudem auch entscheidend zum Wandel in der Einstellung gegenüber der Staatsverschuldung mit Beginn der Konsolidierungspolitik beigetragen hatte, ist der Gedanke, daß ein hohes dauerhaftes Defizit die Bewegungsfreiheit des Budgets ein-engt, die andererseits ja gerade die Voraussetzung einer erfolgreichen antizyklischen Fiskalpolitik ist. Wenn der Schuldendienst (insbesondere die Zinszahlung) nach dem Sozialhaushalt zum zweitgrößten Ausgabeposten wird und auch für die Abnahme öffentlicher Investitionen verantwortlich ist, bleibt kein Spielraum mehr für expansive Programme, es sei denn, die Steuern und sonstigen regulären Abgaben werden erhöht. Anfang der achtziger Jahre mußten schon gut 80% der Neuverschuldung für Tilgung und Zinsen aufgewendet werden, d. h.: „Die Verschuldung nährt und frißt die Verschuldung“ Die Situation ist inzwischen noch bedenklicher geworden, und dies gilt erst recht für die Zukunft (vgl. Graphik S. 33).
Eine Verbesserung der Infrastruktur oder auch nur der Versorgung mit öffentlichen Konsumgütern war also seit Beginn der achtziger Jahre durch die Kreditaufnahme nach Abzug dieser Vorbelastung kaum noch zu leisten. Hinzu kam der Anstieg der Auslandsverschuldung und damit zusammenhängend das Leistungsbilanzdefizit und das schwindende Vertrauen des Auslands in unsere Währung In diesem Zusammenhang ist sicherlich interessant, daß nach der letzten Finanzplanung der sozialliberalen Koalition geplant war, daß ab 1983 allein die Zinsausgaben höher sein würden als die Nettokreditaufnahme c) Strukturelles Defizit und Handlungsfähigkeit der Finanzpolitik Die eigentliche Gefahr der Staatsverschuldung wird nirgends deutlicher als in dem Dilemma, in dem sich die Haushaltspolitik des Bundes vor der „Wende“ befand. So drückte sich die Haushalts-politik der letzten sozialliberalen Regierung in der erwähnten Doppelstrategie von Konsolidierung und Konjunkturbelebung durch Beschäftigungsprogramme aus, einer widersprüchlichen Politik, die Heinz Westphal wie folgt beschrieb: „Wir müssen runterkommen von einer zu hohen Verschuldung. Die Zinslast im Bundeshaushalt ist schon jetzt abenteuerlich. Aber auf der anderen Seite ist es in einer konjunkurellen Lage wie der gegenwärtigen sinnvoller, sich zu verschulden und öffentliche Anstoßwirkungen zu geben, als daß die Wirtschaft dahinsiecht und nichts von sich selber aus tut oder tun kann.“ Zum Siechtum der Wirtschaft ist es nicht gekommen, obgleich das damals angekündigte 40 Mrd-Programm für 1983 nicht aufgelegt wurde
Ein hohes strukturelles Defizit das sich im Unterschied zum konjunkturellen Defizit nicht mit einer Konjunkurbelebung quasi „automatisch“ zurückbildet, kann auch nicht Ergebnis einer korrekt angewandten keynesianischen Politik sein. Es bedeutet, daß der Staat über längere Zeit mit Kredit Ausgaben finanziert hat, die er sich mit seinen regulären Ausgaben nicht leisten konnte, etwa indem er einen Umverteilungs-und Subventionsbedarf befriedigte und einen Aufwand für Wirt-Schaftsbelebungs-und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (im weitesten Sinne) betrieb, der über das hinausging, was vom Steuerzahler akzeptiert wurde. Anders als das konjunkturelle Defizit kann das strukturelle Defizit auch nicht mit der umstrittenen Verantwortung des Staates für die Vollbeschäftigung gerechtfertigt werden, denn Vollbeschäftigung verlangt in einer Marktwirtschaft nicht eine dauerhafte Subventionierung von Arbeitsplätzen durch den Steuerzahler oder gar zu Lasten der Kapitalbildung.
Das strukturelle Defizit ist also ein Indikator für eine Fehllenkung von Kapital. Es ist außerdem eine Belastung zukünftiger Staatshaushalte und nachwachsender Steuerzahler durch heute eingegangene Verpflichtungen, die sich zu der ohnehin schon erheblichen, wenngleich statistisch bei der Staatsverschuldung stets ausgeklammerten Vorwegbelastung durch Rechts-und soziale Besitzansprüche sowie Verteilungsrücksichten hinzuaddiert. Die Verharmlosung der Staatsverschuldung ist vor allem deshalb verantwortungslos, weil sie zukünftigen Generationen unbekümmert Verpflichtungen aufbürdet und ihre Entwicklungschancen verschlechtert durch Einengung des Handlungsspielraums und Konzentration sozialer Risiken beim Staat. Anders verhält es sich, wenn mit dem Staatskredit dauerhafte Nutzwerte für die nachwachsende Generation geschaffen werden Es ist dann gerecht, diese hierfür zahlen zu lassen, es ist aber nicht gerecht, sie für umstrittene, allenfalls gegenwärtig nützlich erscheinende Aktivitäten aufkommen zu lassen, wie etwa den Ausbau der Lenkungsbürokratie die Korrektur des Fehlverhaltens von Staat und Tarifparteien, den Sozialkonsum oder eine marktwidrige Beschäftigung.
Die Lehre, die aus der Finanzpolitik der sozialliberalen Koalition zu ziehen ist, dürfte vor allem darin bestehen, vorsichtig zu sein bei allen wirtschaftspolitischen Strategien, die erneut auf eine Erhöhung der Staatsverschuldung hinauslaufen. Was 1975 als beschäftigungspolitische Strategie begann, endete 1982 mit Rezession und gleichzeitiger Zerrüttung der Finanzen des Staates einschließlichder Sozialversicherung. Die Streitfrage lautete dann, ob die schlechte wirtschaftliche Lage Ursache oder Wirkung der Staatsverschuldung und der expansiven Ausgabenpolitik war. Von 1980 bis 1984 war die Ersparnis des Staates, genauer: der Gebietskörperschaften, negativ (vgl. Tab. 7); der Staat hat also nicht mehr zur Vermögensbildung beigetragen, „sondern im Gegenteil Ersparnisse anderer Sektoren zum guten Teil für konsumtive Zwecke in Anspruch genommen“ also Kapitalvernichtung betrieben, obgleich das Gegenteil beabsichtigt war. Auch damals hatte es ebensowenig wie heute an begründeten Erwartungen und detaillierten Vorausschätzungen der Wachstumseffekte öffentlicher Kredite gefehlt Das Fazit kann daher nur lauten „Es mag ja sein, daß kreditfinanzierte zusätzliche Staatsnachfrage zunächst das Wirtschaftswachstum belebt und auch ein paar Arbeitsplätze schafft. Aber wem ist damit wirklich geholfen, wenn sich damit die zukünftigen Handlungsspielräume der Finanzpolitik dauerhaft weiter verengen? Die unzureichende Bewegungsfähigkeit des Bundeshaushalts seit 1981, die isoliert betrachtet sicherlich die Beschäftigungsprobleme verschärft hat, ist zu einem großen Teil Ergebnis der Versuche, in den Jahren 1975 bis 1980 über kreditfinanzierte Maßnahmen Wachstum und Beschäftigung zu fördern“. Es ist nicht einzusehen, warum wir mit Beschäftigungsprogrammen neuer Art diese Erfahrungen wiederholen sollten.
Damit wird ausdrücklich konzediert, daß Ausgabenprogramme Beschäftigung schaffen können. Das ist schon deswegen unmittelbar einsichtig, weil ja immer die Möglichkeit bestünde, alle Arbeitslosen einfach zu verbeamten. Das wäre eine sehr direkte Art der Schaffung von Arbeitsplätzen, die zudem auch in den Augen vieler nützliche Arbeitsplätze wären. Die Frage ist nur, wie teuer solche Arbeitsplätze auf lange Sicht sind und ob eine solche Politik nicht später einmal als Auftakt einer wirtschaftspolitischen Fehlentwicklung mit noch größeren Beschäftigungsproblemen bedauert werden muß. Die Entwicklung der siebziger Jahre läßt diese Befürchtung durchaus begründet erscheinen.
Peter Michael von der Lippe, Dr. rer pol., geb. 1942; Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Essen (Gesamthochschule); Studium der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten München und Marburg/Lahn. Veröffentlichungen: Bücher und Aufsätze über statistische Methoden, Anwendungen ökonometrischer Methoden, Wirtschaftsstatistik (Erhebungen und Daten der amtlichen Statistik), Ostforschung (insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik Polen) und über die sozialliberale Koalition. Mitarbeit an Projekten in Entwicklungsländern und statistische Gutachten für Industrieunternehmen. Zusammen mit H. D. Westerhoff: Die sozialliberale Reformpolitik, ein wirtschaftspolitischer Irrweg, in: ORDO Jahrbuch 1985; Wirtschaftsstatistik, Stuttgart 1985.