Perspektiven von Arbeit und Einkommen in der Wohlfahrtsgesellschaft
Michael Opielka
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Zusammenfassung
Der Beitrag versucht die Perspektive einer Weiterentwicklung moderner Sozialstaaten in Richtung einer „Wohlfahrtsgesellschaft“ zu entfalten. Nach einer Kritik der systematischen Grundlagen des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland — (Lohn-) Arbeit, Eigentum und Ehe/Familie—, die deutlich macht, daß staatliche Sozialpolitik auf die Aufrechterhaltung der „Normalität“ dieser Systeme orientiert ist, wird begründet, warum diese Anknüpfungspunkte aus empirischen und normativen Gründen künftig nicht mehr die jetzige Einzigartigkeit beanspruchen können. In einem zweiten Schritt werden Grundprobleme und Gütekriterien für Reformmodelle des Verhältnisses von Arbeit und Existenzsicherung erörtert. Gemeinschaft, Markt und Staat als grundlegende soziale Institutionen fördern zwar die Ziele Solidarität, Optionalität und Egalität je besonders, schaden aber gewöhnlich den anderen. Daraus wird als Notwendigkeit für staatliche Politik ein „policy-mix“ gefolgert, das versucht, die besonderen Leistungen der sozialen Institutionen entlang näher ausdifferenzierter Gütekriterien zu optimieren. Diese eher theoretischen Überlegungen werden dann im Schlußkapitel auf Reformoptionen der Arbeits-und Einkommensumverteilung bezogen. Der Beitrag schließt mit einem vorsichtigen Plädoyer für einen „Drei-Stufen-Plan“, der ein umfassendes Programm staatlicher Teilhaberechte bzw. sozialer Grundrechte in Gestalt eines „Rechts auf Einkommen“, „Rechts auf (Weniger-) Arbeit“ sowie eines „Rechts auf eigene Produktivmittel“ zum Ziel hat.
Arbeit, Eigentum und Ehe sichern in der bürgerlichen Gesellschaft die Existenz. Der Sozialstaat wiederum sichert diese Normalität. Häuft sich die Nicht-Normalität in Gestalt von Arbeitslosigkeit, Scheidungsziffern, Singles und Armut, so schwinden seine Grundlagen. Er gerät in die Krise, die, wäre sie irreversibel, Anstoß für eine grundlegende Reform geben sollte. Es gibt Anzeichen, daß dies so ist. Weder das sogenannte „Normalarbeitsverhältnis“, noch die „Normalfamilie“, noch Eigentum scheinen in Zukunft für einen wachsenden Teil der Bevölkerung eine Existenz ohne Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit garantieren zu können. Daß tiefgreifende ökonomische und sozio-kulturelle Veränderungen sichtbar werden, scheint unterdessen die Sensibilität für politische Konzepte zu zerstören, die soziale Wohlfahrt durch die Förderung ökonomischen Wachstums erreichen wollen. Das Ziel der „Vollbeschäftigung“ legitimiert in Krisenzeiten höchst fragwürdige Absichten. Soll deshalb vom Anspruch an staatliche Politik, Arbeitslosigkeit und Armut einzudämmen, sie gar zu beseitigen, Abstand genommen werden? Oder wäre der ökonomische und soziale Wandel als Herausforderung zur Revision der hergebrachten (sozial-) staat-liehen Interventionen zu begreifen?
In einem ersten Schritt sollen die krisenhaften Prozesse der Verunsicherung von Existenzsicherungsformen nachgezeichnet werden. Einige theoretische Reflexionen zu den Institutionen der Existenzsicherung sollen dann dazu beitragen, Güte-kriterien für Reformkonzepte zu entwickeln. In einem letzen Schritt werden dann einige Reformvorschläge zum Zusammenhang von Arbeit und Existenzsicherung präsentiert, diskutiert und daraufhin geprüft, inwieweit sie Perspektiven für eine „Wohlfahrtsgesellschaft“ eröffnen.
I. Existenzprobleme im lohnarbeits-und ehezentrierten Sozialstaat
Die existentielle Bedeutung des Eigentums bzw.des daraus erlösbaren Zinses muß in einer durch das Institut Eigentum wesenhaft charakterisierten Gesellschaft nicht weiter erörtert werden. Nachdenkenswert wäre allenfalls, warum nicht alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen Zugang hierzu erlangen, die bürgerliche Gesellschaft damit — entgegen den Hoffnungen ihrer frühen Protagonisten von Adam Smith bis John Stuart Mill — ein unvollendetes Projekt bildet. Sie wurde zur kapitalistischen, die produktive Eigentumstitel auf wenige konzentriert. Damit wurde die Existenzsicherung der übrigen zum Problem. Denn die massenhafte Existenzsicherung per Lohnarbeit der Besitzlosen als Mittel gegen Armut und Hunger war keineswegs selbstverständlich.
Hinter dieser Verwandlung der Mehrheit in Proletarier verbargen sich zwei analytisch unterscheidbare Prozesse: zum einen die Freisetzung der Individuen von traditionellen Subsistenzmöglich-Für Anregungen und kritische Diskussion danke ich Ulrich Otto, Heidrun Stalb, Georg Vobruba und Ilona Ostner. keiten („passive Proletarisierung“), zum anderen aktive staatliche Interventionen in der Absicht, die Individuen zur Teilnahme am Arbeitsmarkt zu bewegen („aktive Proletarisierung“) Im Jahr 1986 schließlich beträgt die Zahl der abhängig Beschäftigten 2, 2 Mio. Mit 87, 7 % der insgesamt 25, 5 Mio, Erwerbstätigen ist das der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter 2).
Das führt zum dritten Existenzsicherungstyp bürgerlicher Ordnung: der Unterhaltsbeziehung der Ehe. Auch die Tatsache nämlich, daß im Jahr 1986 für 38% der Bevölkerung die Eigenschaft, „Angehörige“ zu sein, die Existenzgrundlage bil-det, ist durchaus nicht selbstverständlich. Denn die mit der Zerstörung der Subsistenzökonomie im Prozeß von Lohnarbeit und Urbanisierung neu entstehende Haus-und Erziehungsarbeit der Frauen — neu, weil von erwerbswirtschaftlicher Arbeit abgespalten — wurde seitens der Männer nicht freiwillig als geldwert betrachtet: „Die Geschichte der Sanktionierung von Nährpflicht-und Unterhalts-, ver-letzungen‘ ... zeigt ..., daß ... Sanktionierungsmaßnahmen (bis zur Unterbringung in einer Arbeitsanstalt, M. O.) ergriffen wurden, um ein bürgerliches Familienmodell , durchzusetzen, das im Bürgertum mittels des dort vorhandenen Privateigentums und der dortigen Eigentumsverhältnisse sich leichter praktizieren ließ als innerhalb der Lohnarbeiterschaft, deren marktmäßig bestimmte Lohneinkommen prinzipiell nicht auf die Nährpflichterfüllung angelegt waren.“
Hinsichtlich der Durchsetzung der familiären Unterhaltsverpflichtung wie zur Verallgemeinerung der Lohnarbeiterexistenz waren sozialpolitische Interventionen des Staates unerläßlich. Monetäre und nicht-monetäre Transfers, die, wie noch ausgeführt wird, unter lohnarbeits-oder ehezentrierten Vorbehalten stehen, legten es nahe, die dominierenden Reproduktionswege zu wählen, um schließlich in individuellen Krisen (Alter, Krankheit, Scheidung etc.) nicht an die unterste Kategorie der Existenzsicherung verwiesen zu werden, d. h. an die kommunale Armenfürsorge, die trotz der 1961 erfolgten Reform zur Sozialhilfe (BSHG) polizeilich-diskriminierenden Charakter behielt und kaum als eigenständiger Reproduktionsweg gelten kann
Lohnarbeits-wie eheorientierte Existenzsicherungsstrategien befinden sich freilich in einer Krise. Massenerwerbslosigkeit, Armut und die zunehmende Instabilität der Familien deuten sie an. Viel spricht dafür, diese Phänomene als Zeichen eines tiefgreifenden ökonomischen und sozialkulturellen Wandels zu interpretieren.
So läßt sich ein Prozeß weltweiter ökonomischer Umstrukturierung beobachten, der das Ende der sogenannten vierten „langen Welle“ industrieller Entwicklung markiert. Sie hatte die Massenmotorisierung, die tayloristische Arbeitsorganisation und den keynesianischen Sozialstaat mit sich gebracht Die neuen Wachstumspotentiale der sich abzeichnenden „nachkeynesianischen Gesellschaft“ gründen stofflich vor allem in der Einführung neuer Produktions-und Kommunikationstechniken: „Je feiner zerlegbar und standardisierbar die Produktionsprozesse werden und je perfektere Transport-und Kommunikationstechnologien verfügbar sind, desto flexibler kann sich das Kapital die jeweils günstigsten Standorte rund um den Erdball aussuchen ... Kern-Peripherie-Spaltung, Massenarbeitslosigkeit in ihren verschiedenen Formen und die Entstehung peripherer Arbeitsmärkte sind ... die Voraussetzung dafür, daß das neue Akkumulationsmodell... funktionieren kann, ermöglichen sie doch erst die notwendige »Anpassung der Reallöhne, eine massive Erhöhung der Arbeitsintensität, die flexible Ausnutzung vorhandener Qualifikationspotentiale und die Steuerung des Arbeitskraftangebots gemäß sich rasch verändernden Produktionsbedingungen.“
Vor dieser Perspektive wäre die neuerdings analysierte „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“ verständlich: die Krise jener legislativ und tariflich abgesicherten Lohnarbeitsbeziehungen, deren Bestandsschutz an Vollzeitarbeit, die Dauer der Betriebszugehörigkeit und der Beschäftigungszeiten, das Lebensalter, Betriebsgröße und Qualifikation gebunden ist
Die Krise betrifft vor allem Männer, für die diese Arbeitsformen weitestgehend „normal“ waren. Das „Batelle-Institut“ vermutet für das Jahr 2000 bei noch 17 Mio. (heute 21 Mio.) unbefristeten Vollzeitarbeitsplätzen 9 Mio. „fluktuierend“ oder auf einem „zweiten“ Arbeitsmarkt nur noch zeitweilig Beschäftigte Existenzsicherung allein durch Lohnarbeit verspricht damit vermehrt prekäre und armutsnahe Verläufe zu nehmen.
War für den Übergang die „Transformation“ von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die Herauslösung der Ökonomie aus der Gesellschaft und damit das Ende einer „mora-lischen Ökonomie“ kennzeichnend, so scheinen nun die soziokulturellen Grundlagen der Gesellschaft selbst „entmoralisiert", aus sozial-materiellen Bindungen gelöst zu werden. Im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs und der sozialstaatlichen Nachkriegsentwicklung in den westlichen Massendemokratien läßt sich, folgt man vielen Soziologen, ein besonderer Schub der „Individualisierung“ von Lebenslagen und Lebenswegen beobachten, „in dessen Verlauf auf dem Hintergrund eines relativ hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten durch die Erweiterung von Bildungschancen, durch Mobilitätsprozesse, Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen, Verkürzungen der Erwerbsarbeitszeit und vielem anderen mehr die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst und auf sich selbst und ihr individuelles , (Arbeitsmarkt-) Schicksal‘ mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen wurden und werden.“
Individualisierungsprozesse der Erwerbsarbeit lassen in den pessimistischen Szenarien jene skizzierte ökonomische Umstrukturierung aus der Logik großindustriell-kapitalistischen Wachstums als verschärfte Spaltung und Segregation sichtbar werden. Optimistischere Interpretationen erhoffen demgegenüber eine Neuzusammensetzung des Verhältnisses von industrieller Massen-und handwerklicher Produktion und sehen gerade in der technologischen Entwicklung Chancen für ein „handwerkliches Paradigma“, eine „flexible Spezialisierung“ des Arbeitsmarktes, die gar eine „Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft“ ankündige Neben diesen in beiden Interpretationsrichtungen vorfindlichen, „ökonomisch“ motivierten Flexibilisierungs-und Individualisierungsinteressen lassen sich solche durchaus auch subjektseitig ausmachen. Zumindest in Befragungen werden zunehmend Wünsche nach individuellen Gestaltungsmöglichkeiten von Dauer und Lage der Arbeitszeit geäußert — freilich unter der impliziten Voraussetzung, daß auch die neuen, flexiblen Arbeitsformen hinreichende Existenzmöglichkeiten bieten.
Indem individuelle an die Stelle kollektiver, an die (Lohn-) Arbeit geknüpfter Existenzformen treten, weiden kollektive Sinnzusammenhänge und damit Anknüpfungspunkte für eine Utopie zerstört, die sich, so Jürgen Habermas, in der Vergangenheit um das Potential der Arbeitsgesellschaft kristalliert hat Mag das eher liberale und konservative Reden vom ultimativen „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (Ralf Dahrendorf) angesichts der gesellschaftsprägenden Kraft jener ökonomischen Umstrukturierungsprozesse kaum belegbar sein, so lassen sich die bei Claus Offe eingeschränkteren Einschätzungen einer „Dezentrierung der Arbeitssphäre gegenüber anderen Lebensbezügen“ kaum widerlegen: „Eine industriell hochentwickelte kapitalistische Industriegesellschaft tendiert offenbar, eingebettet in einen ebenso hochentwickelten Wohlfahrtsstaat, dazu, wachsende Teile des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens moralisch, qualifikatorisch und ökonomisch aus der Teilnahme an der Erwerbssphäre zu verdrängen; und sie verfügt nicht über die kulturellen Ressourcen oder ökonomischen Zwangsmittel, die erforderlich wären, gleichwohl die subjektive Zentralität der Orientierung an Arbeit, Leistung und Erwerbseinkommen über kulturelle Normen oder den stummen Zwang von Macht-prozessen zu stabilisieren.“ Somit bleiben zwei verwandte, dennoch unterscheidbare Probleme zu beachten: Individualisierungsprozesse in der Erwerbssphäre als Problem kollektiver Interessen-verfolgung und die Krise des „Normalarbeitsverhältnisses“ als sozialpolitisches Problem.
Die Individualisierungsschübe um die Erwerbsarbeit stehen nun in selten systematisch darauf bezogener Relation zu den Individualisierungsprozessen des Familienzusammenhangs. Existenzsicherung von Frauen ist in bürgerlichen Gesellschaften bis heute weitgehend von dem Einkommen des Mannes — und damit vom „Normalarbeitsverhältnis“ — abgeleitet und in einer zumindest über weite Lebensphasen auf der Hausfrauenehe basierenden „Normalfamilie“ gedacht. Zwar sank die Kinderzahl kontinuierlich; die Zweikinderfamilie prägte schon die zwanziger Jahre (2, 2 Kinder pro Ehe, heute ca. 1, 3). Neu ist in den letzten Jahrzehnten aber die Zunahme der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen (1950: 26, 4%, 1980: 40, 6%) sowie die Verkürzung der typischen Familienphase der Versorgung minderjähriger Kinder Entgegen der landläufigen Auffassung einer weiblichen Familienflucht per Beruf und Emanzipation stellt Barbara Ehren-reich fest: „Im Verlauf einiger Jahrzehnte hat unsere Zivilisation eine Umkehr vollzogen. Man wandte sich ab von den Erwartungen, die das Prinzip des Familieneinkommens in jeder Hinsicht als ein Mittel rechtfertigen, das Vermögen derer umzuverteilen, die als Verdiener relativ begünstigt waren, aufjene (Frau und Kinder), die es nicht waren. Für Männer besteht noch immer ein Anreiz zu arbeiten und selbst in eintönigen und erklärtermaßen nutzlosen Stellungen erfolgreich zu sein — aber nicht unbedingt für andere.“
Steigende Scheidungsraten, relatives Sinken der Ehedauer und die Zunahme von Alleinerziehenden sind Zeichen dafür, daß Ehe und Familie als Unterhaltszusammenhang so brüchig werden, wie sie es vor ihrer eingangs erwähnten staatlichen Erzwingung seit jeher waren: Individualisierung sei jedenfalls im Familienzusammenhang eher die alte Figur, keineswegs eine neue Erfindung. Erklärungsbedürftig wäre demnach eher, warum sich die Menschen helfen Die Konsequenzen eines Verlustes dieser Gegenseitigkeit in Ehe und Familie sind für Frauen und Männer freilich so wenig dieselben wie die Ausgangssituationen: „Frauen und Männer unterscheiden sich grundsätzlich in der Möglichkeit der Bindung an andere: zwingende Bindung hier, Selbst-Bindung dort.“
Vor dem Hintergrund eines ohnedies krisenhaften Arbeitsmarktes, der durch seine formellen Freiheiten zwar allen anderen bislang bekannten Prinzipien der Zuweisung von Arbeit und Einkommen überlegen ist, doch den Frauen keine den Männern vergleichbaren Zugänge einräumt, sieht Ilona Ostner beide Geschlechter in einem „Ansturm auf das Nadelöhr »Normalarbeitsverhältnis ... Nach dem Sturm stehen sich Gewinner und Verlierer gegenüber ...: Haushalte, die vermutlich nach wie vor Einkommen aus einem weiter aufgewerteten Normalarbeitsverhältnis erzielen, und die anderen, die für ihr Auskommen verschiedene Einkommensarten kombinieren und doch mit Einkommenslücken rechnen müssen — , Normalarbeiter4 und , Ge-oder Verlegenheitsarbeiterhaushalte 4 mit jeweils getrennten weiblichen und männlichen Zuständigkeiten.“
Damit verschränkt sich die Krise der dominierenden Existenzsicherungssysteme „Erwerbsarbeit“ und „Ehe“. Versteht es die Sozialpolitik, diese Defizite zu kompensieren? Sozialstaatliche Sicherungssysteme knüpfen heute an „Normalarbeit“ und „Ehe“. Georg Vobruba brachte dies auf die griffige Formel der „lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik“: „erst (lohn-) arbeiten ... oder/und Lohnarbeitsbereitschaft zeigen, damit...“
Die Rentenversicherung steht beispielhaft für ersteres, die Sozialhilfe für letzteres. Lohnarbeitszentrierte Vorbehalte schließen diejenigen aus, die auf dem Arbeitsmarkt marginalisierte Rollen einnehmen; das die Leistungniveaus regulierende Äquivalenzprinzip differenziert zudem die Existenzchancen unter den Arbeitsmarktteilnehmern. Je brüchiger das „Normalarbeitsverhältnis“ wird, desto größer wird in Konsequenz der Anteil derjenigen, die auch sozialpolitisch marginalisiert werden. Hier liegt die Ursache der „Neuen Armut“ der Arbeitslosen (die letztlich nur eine quantitative Erweiterung der „alten“ Armut arbeitsmarkt-ferner Gruppen darstellt).
Mit dem „Zusammenbruch der Ernährerethik“ (Barbara Ehrenreich) kann zunehmend der private Haushalt nicht mehr politisch als Reproduktionsweg vorausgesetzt werden. Die Ehezentriertheit der Sozialpolitik, d. h. die Privilegierungen (z. B. Ehegattensplitting, freie Mitversicherung der Ehefrau in der Gesetzlichen Krankenversicherung) wie Diskriminierungen (z. B. Unterhaltsverpflichtungen nach Scheidung) ehelicher gegenüber nicht-ehelichen Lebensformen können immer weniger legitimiert werden. Dennoch wird versucht, die Figur der Ehe als sozialpolitische Koordinate auch um den Preis der Diskriminierung nicht-ehelicher Lebensformen zu retten, indem beispielsweise letztere in die Unterhaltsverpflichtung der Arbeitslosenhilfe einbezogen werden ohne wiederum auch die Privilegien der Ehe zu verallgemeinern. Solche Versuche wirken hilflos konservativ angesichts der mächtigen historischen Individualisierungstendenzen, die im Familienzusammenhang von den Mächtigeren ausgehen, den Männern.
Am Problem ehezentrierter Sozialleistungen läßt sich exemplarisch auch der zunehmend irrationale Widerspruch transferpolitischer und arbeitsmarktpolitischer Ziele thematisieren: Selbst in den Familien/Ehen, in denen es den Frauen gelingen könnte, die Männer zu einer adäquaten Teilnahme an Haus-und Erziehungsarbeiten zu verpflichten, wird eine Gleichverteilung beider Erwerbsarbeitskontingente — beispielsweise zweimal 20-oder 30-Stunden-Woche statt einmal Vollzeitarbeit und einmal Null-oder prekäre Erwerbstätigkeit — leicht durch binnenfamiliale Kalküle vereitelt. Die damit entgehenden Splittingvorteile oder ungleichen Löhne am Arbeitsmarkt — die wiederum ihre Rechtfertigung in der traditionellen Figur des männlichen „Familienlohns“ suchen — erscheinen zumindest vordergründig beiden Geschlechtern gemeinsam als Problem. Arbeitsumverteilungsmaßnahmen zwischen den Geschlechtern, die angesichts einer männli-chen, fast durchweg auf Vollzeitarbeit beruhenden Erwerbsquote von ca. 80% und einer Frauenerwerbsquote von nur ca. 50%, darunter gut ein Viertel Teilzeitplätze, naheliegen, werden dadurch systematisch erschwert.
Somit sind die drei Figuren des „Normalarbeitsverhältnisses“, der „Normalfamilie“ und des „Besitzbürgers“ benannt, die als Bezugspunkte staatlicher Politik auch sozialstaatliche Stabilisierung erfahren. Diese vor allem rechtlichen und ökomomischen Interventionen lassen sich nun nach ihrem „Abstand“ bzw. ihrer „Nähe“ zur jeweiligen „Normalfigur“ systematisieren, um die hierarchische Gliederung des staatlichen Maßnahmekatalogs zu veranschaulichen
In krisenanalytischer Perspektive wird durch die Orientierung der hierarchischen Zuordnung an einem „Normal“ zustand die massenhafte Entfernung von diesen in mehrfacher Hinsicht privilegierten Normalfiguren deutlich. Es wird klar, daß diese Privilegierung vor allem auch durch den Sozialstaat immer neu hergestellt werden soll. Eine zunehmende Entfernung vom Normalitätsstatus bedeutet so gleichzeitig immer geringere Teilhabe-chancen, ein Teufelskreis, der unterhalb eines bestimmten Niveaus kaum mehr individuell durchbrochen werden kann. Das Schaubild macht deutlich, daß es nicht die Aufgabe der Sozialpolitik sein sollte, bestimmte Existenzweisen gegenüber anderen systematisch zu privilegieren.
II. Abschied von der Vollbeschäftigung?
Abbildung 12
Schaubild 2: Existenzsicherungsformen im historischen Wandel
Schaubild 2: Existenzsicherungsformen im historischen Wandel
Eine Vollbeschäftigungsstrategie, die sich an den traditionellen Rezepten von „mehr Markt“ oder Wachstum durch Staatsintervention sowie, ergänzend, durch forcierte Selbsthilfe-Verordnung orientiert, scheint jedenfalls illusionär. Die Wiederherstellung überkommener lohnarbeits-und ehezentrierter Reproduktionsstrukturen dürfte ökonomisch kaum möglich, ökologisch kaum vertretbar und sozial kaum akzeptabel sein.
Die strukturell-technologisch wie arbeitsorganisatorisch bedingte Entkopplung der Beschäftigungschancen von Wachstum und Investitionstätigkeit schließt ökonomisch den bekannten Mechanismus der Reduzierung von Arbeitslosigkeit für die Zukunft aus. Ernst zu nehmende Arbeitsmarktprognosen setzen beispielsweise einen Wachstumspfad von 2, 5% pro Jahr bis zum Jahr 2000 voraus, um die heutige Zahl von Arbeitsplätzen zu erhalten (mittlere Variante). Bis 1990 steigt allerdings das Erwerbspersonenpotential deutlich an Dessen danach erwarteter demographisch begründeter Rückgang würde indessen mehr oder weniger kompensiert, wenn die Frauenerwerbsquote weiterhin so steigt wie in den letzten Jahren, wenn die Ausländererwerbsquote zunimmt oder wenn die Lebensarbeitszeit — aufgrund von Finanzierungsproblemen der Rentenversicherung — wieder verlängert würde.
Wie aus den bereits zur Stabilisierung der heutigen Arbeitslosigkeit erforderlichen Wachstumsziffern abgelesen werden kann, stößt eine Strategie arbeitslosigkeitsverringernden Wachstums auf ökologische Grenzen. Großindustrielle Perspektiven werden nur durch eine massive Steigerung von sozialen und ökologischen Folgekosten zu erkaufen sein. Die weithin faszinierende Perspektive einer post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft wiederum, die Vollbeschäftigung durch eine Expansion der Dienstleistungs-und Informationsökonomie erlangen könnte, erscheint sozial unverträglich. Sie impliziert wie jede traditionelle Vollbeschäftigungsstrategie eine Diskriminierung nicht-marktförmiger Tätigkeiten, Arbeitsweisen und Orientierungen und folglich die Diskriminierung all derer, die sich nicht rundweg auf die „normalen“ Existenzsicherungsformen einlassen wollen oder können. Die seit Mitte der siebziger Jahre in allen politischen Lagern geäußerte Kritik an einer Ausweitung herkömmlicher (sozialer) Dienste, am Problem der Bürokratisierung, Verrechtlichung und Kontrolle sollte man nicht wegen Arbeitsmarktproblemen schlichtweg vergessen. Zudem scheinen die hiermit verbundenen Arbeitsmarkthoffnungen kaum begründbar: Der amerikanische Weg einer Dienstleistungsexpansion per Differenzierung von Lohnsätzen und Arbeitsbedingungen müßte von den Gewerkschaften um ihres Überlebens willen verhindert werden. Aber auch der schwedische Weg einer höheren Abgabenquote und eines deutlicher dienstleistungs-orientierten öffentlichen Sektors erscheint in der Bundesrepublik kaum wahrscheinlich
Mit guten Gründen kritisierte Friedhart Hegner daher die Marktapologeten des US-„Beschäftigungswunders“ wie die Staatsverfechter des „schwedischen Modells“ als „Herolde des Hergebrachten“ Eine Politik unter Vollbeschäftigungserpressung läßt kaum eine Produktion sinnvoller Gebrauchswerte erhoffen. Vielmehr stützt das Festhalten an wirtschaftspolitischen Lösungen der Arbeitsmarktprobleme durch Wachstumsförderung wie Beschäftigungsprogramme jene „unheilige Allianz der Profit-und Beschäftigungsmaximierer“, die Georg Vobruba dazu brachte, unter gegebenen Bedingungen die „reaktionäre Stoß-richtung“ der Forderung nach einem „Recht auf Arbeit“ festzustellen Hoffnungen aufein „qualitatives“ Wachstum, auf einen „Umbau“ der Produktion wären zwar sinnvoll. Wahrscheinlicher könnten demgegenüber arbeitsmarkt- und sozialpolitische Strategien sein, die den heutigen Zusammenhang von Beschäftigung und Existenzsicherung verändern. Politisch bedeutete das, staatlichen Maßnahmen zur Garantie der Existenzsicherung einen anderen, durchaus höheren Stellenwert einzuräumen.
III. Probleme und Gütekriterien existenzpolitischer Reformvorschläge
Wie zu zeigen versucht wurde, ist mittlerweile in Frage gestellt, inwieweit eine ausschließlich an den klassischen bürgerlichen Existenzsicherungsformen (Lohn-) Arbeit, Ehe und Eigentum in ihrer sozialstaatlich „normalisierten“ Gestalt anknüpfende Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik hinreichende Existenzgarantien vorweisen kann. Es verwundert daher nicht, daß in den letzten Jahren von politischer wie sozialwissenschaftlicher Seite zahlreiche Reformmodelle in die Diskussion gebracht wurden, die unter dem Signum der „Neu-“ oder „Um“ verteilung der Arbeit, der Reform staatlicher Transferleistungen beispielsweise in Richtung eines „garantierten Grundeinkommens“, der Förderung „alternativer Ökonomie“ oder des „informellen Sektors“ jene Defizite zumindest teilweise zu lösen vorgeben. Zunächst sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Wirkungszusammenhang und zum Inklusionsvermögen der dominierenden sozialen Institutionen der Wohlfahrtsproduktion und des Bedarfsausgleichs die Anschlußpunkte sowie die Kriterien für Reformen nahelegen. 1. Gemeinschaft, Markt, Staat — Probleme der gesellschaftlichen Inklusion Talcott Parsons hat zur Beantwortung der Frage, was eine moderne Gesellschaft ihren Mitgliedern bieten muß, den Begriff der „Inklusion“ geprägt. Mit Niklas Luhmann bedeutet dies: „Jede Person muß danach Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können. Jeder muß rechtsfähig sein, eine Familie gründen können, politische Macht mit ausüben oder doch mitkontrollieren können; jeder muß in Schulen erzogen werden, im Bedarfs-fälle medizinisch versorgt werden, am Wirtschaftsverkehr teilnehmen können. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruht, daß man einer und nur einer Gruppe angehörte.“
Die Rollen, die gleichermaßen sozial-und system-integrativ wirken und zur Existenzsicherung dienen, lassen sich den drei den Sozialwissenschaften bekannten gesellschaftlichen Institutionen bzw. Steuerungsprinzipien Gemeinschaft, Markt und Staat zuordnen: Ehe, Familie und privater Haushalt als schierer Rest früher weit umfassenderer Gemeinschaftsformen (vorherrschendes Steuerungsmedium: Solidarität); Arbeiter-, Eigentümer-und Konsumentenrolle als Zugangsformen für entfaltete Arbeits-, Kapital-und Gütermärkte (vorherrschendes Steuerungsmedium: Geld); die Bürgerrolle als Beziehung Bürger—Staat (vorherrschendes Steuerungsmedium: Recht).
Jede dieser „reinen“ gesellschaftlichen Institutionen erweist sich nun gegenüber den drei klassischen Gütekriterien, die jedenfalls in modernen Gesellschaften an Wohlfahrtsarrangements gelegt werden, nämlich den Anforderungen der Gegenseitigkeit (Reziprozität), Freiheit bzw. Optionalität und der Gleichen (Gerechtigkeit) als besonders leistungsfähig — „dies allerdings regelmäßig um den Preis der Verletzung bzw.der suboptimalen Berücksichtigung der jeweils anderen Bezugs-werte“
Gemeinschaftliche Existenzsicherungsformen basieren „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditioneller) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“ Sie maximieren, ihr Funktionieren vorausgesetzt, den Wert der Gegenseitigkeit (idealtypisch als Abwesenheit von Beziehungen der Ausbeutung oder Übervorteilung gedacht); unterstellt man ein Kontinuum mit egoistischen und altruistischen Handlungsformen als Extreme, so kennzeichnet gemeinschaftliche Institutionen, daß sie sich um eine altruistische Umlenkung des Egoismus bemühen. Im Unterschied zum Tausch auf Märkten (per Geld) geht der Tausch in der Gemeinschaft „durch Moral“: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.“ Dieser Marxsche Aphorismus kennzeichnet die gemeinschaftliche Balance zwischen Egoismus und Altruismus. Verständlicherweise beruht das Funktionieren „moralischer“ Beziehungen auf Stabilitäts-und Kontinuitätserwartungen. Gemeinschaftliche Institutionen gelingen so nur mittels strikter Inklusion in kleine Gruppen oder der Exklusion von Nicht-Mitgliedern aus größeren Gemeinschaften, wie bei Verbänden, Sekten oder auch der (lohnarbeitszentrierten) Sozialversicherungen
Die Erfolge gemeinschaftlicher Lösungen lassen sich nur schwer auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Die Voraussetzungen, nämlich Zusammengehörigkeit und Stabilität, sind mit der Durchsetzung der kapitalistischen „Zeitökono« mie“ (Alfred Sohn-Rethel) zerstört. Zeit, Arbeitszeit wurde zur Ware, für „Moral“ wurde es eng. Nichtsdestotrotz setzt gesellschaftliche Stabilität ein hinreichendes Quantum an Solidaritätsbeziehungen voraus, wenn sie nicht wie in totalitären Systemen nur durch Macht hergestellt werden soll.
Um die Mittelposition zwischen Egoismus und Altruismus auf Dauer zu stellen, muß der moderne Staat daher — um den Preis erzwungener Inklusion — gemeinschaftliche Funktionen entweder selbst übernehmen (z. B. staatliche Sozial-versicherungen) oder, im Sinne des Subsidiaritätskonzeptes, Rahmenbedingungen für gemeinschaftliches Handeln garantieren. Die Schwächen gemeinschaftlicher Institutionen werden dadurch freilich noch nicht unbedingt aufgehoben: Ihre kurzwegigen Handlungsketten und die damit verbundene soziale Kontrolle machen sie im Hinblick auf das Gütekriterium der Freiheit weniger leistungsfähig und egalitär-universalistischen Werten können sie schon deshalb kaum genügen, weil sie eben auf dem Prinzip des Ausschlusses der „Anderen“ beruhen.
Die Vermutung, daß gemeinschaftliche Sozialbeziehungen zur Existenzsicherung beitragen könnten, ohne zwangsläufig die beiden parallelen Gütekriterien der Gleichheit und der Optionalität zu verletzen, ist der Anknüpfungspunkt für Strategien der Erweiterung haushaltlicher Produktion, wie sie jüngst von Claus Offe und Rolf G. Heinze mit dem Modell der „Kooperationsringe“ für eine gemeinschaftliche Güter-und gegebenenfalls Dienstleistungsproduktion vorgeschlagen wurden Gleichheit soll dabei durch staatliche Förderung und Optionalität durch marktliche Prinzipien gewährleistet werden.
Marktliche Arrangements gelten von vornherein als normativ voraussetzungsarm. Jeder kann prinzipiell tauschen oder dies bleiben lassen. Damit wird ein Höchstmaß formaler Freiheit gewährt: „Geld ist die billigste Währung“ (Everett Reimer). Märkte trugen auf der anderen Seite bekanntlich zur Erosion gemeinschaftlicher Beziehungen bei, wirken desolidarisierend. Zudem ist ihr Zugang zwar nicht normativ, dafür gewöhnlich materiell voraussetzungsvoll: Ohne (Erst-) Austattung keine Teilhabe. Damit ist das Dilemma „idealer“ Arbeits-, Kapital-und Gütermärkte evident: Ohne Gleichheit der Zugangschancen gelten sie nur partikular. Vor allem ist der Arbeitsmarkt, der gleichermaßen die Verteilung der Arbeit wie das Einkommen regelt, und dies prinzipiell vorteilhaft, nämlich denzentral und relativ freiheitswahrend, ein sehr unvollkommener Markt, denn: „Der Auslastungsgrad des Arbeitspotentials ist der Funktionslogik des Wirtschaftssystems, nicht aber der Gesellschaft gleichgültig. Insoweit bleibt die Ökonomie als Medium der Vergesellschaftung unvollkommen.“ Bliebe es demnach beim Arbeitsmarkt als einzigem Mechanismus der Arbeits-und Einkommensverteilung, so wären Armut und Arbeitslosigkeit noch weit mehr als heute üblich.
Unter Wohlfahrtsgesichtspunkten sind staatliche Steuerungsformen somit sinnvoll und notwendig. Flächendeckende, universalistische Leistungen können in komplexen Gesellschaften zweifellos dem Ziel der Gleichheit am ehesten entgegenkommen. Die liberale Kritik artikulierte andererseits die mit staatlichen Interventionen fast regelmäßig einhergehenden Freiheitsverluste (und dann Effi-zienzeinbußen): als Beschränkung wirtschaftlicher Dispositionsfreiheit, aber auch als politische Kontrolle und Bevormundung. Von konservativer Seite wurde eher auf die Gefährdung gemeinschaftlicher Hilfepotentiale, vor allem durch die Etablierung sozialstaatlicher Sicherungssysteme, abgestellt. Nun hängt die Berechtigung der Kritik sozialstaatlicher Politik von den jeweiligen Interventionsformen ab, wie gerade auch die linke Sozialstaatsdiskussion betont hat. John Rawls hat in seinem (liberalen) Versuch einer „Theorie der Gerechtigkeit“ eine des Gleichheitskonzeptes mit universalistischen Gerechtigkeitsprinzipien angestrebt: „Alle sozialen Werte — Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung sind — gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ Jeder Versuch einer Begründung des staatlich einzulösenden Gleichheitspostulats muß folglich zweierlei ausweisen: die soziale Ethik wie die Interessen, die ihr zugrunde liegen.
Diese knappe Betrachtung der drei „reinen“ gesellschaftlichen Institutionen Gemeinschaft, Markt und Staat sollte daran erinnern, daß ihre jeweiligen Stärken (Solidarität/Gegenseitigkeit, Freiheit, Gleichheit) mit teils gravierenden Verlusten bei den anderen beiden Werten erkauft werden. Politisch-praktisch verbieten sich damit Reformvorschläge, die umstandslos beispielsweise auf „mehr Markt“ oder mehr Staat/Gemeinschaften setzen, auch wenn diesbezügliche Ideologisierungen häufig sind. Bei den Liberalen ist es der Markt, bei Sozialisten der Staat, bei Konservativen die Gemeinschaft, die dadurch ihres jeweiligen analytischen und praktischen Wertes entkleiden werden
Da es hier um die Reform staatlicher Interventionen geht, soll im folgenden vornehmlich das Verhältnis staatlicher zu marktlichen und gemeinschaftlichen Formen der Wohlfahrtsproduktion betrachtet werden. 2. Teilhabe als soziales Grundrecht Wie skizziert, ist für die Entwicklung des deutschen Sozialstaats, anders als beispielsweise in der englischen oder amerikanischen Tradition, nicht der politische Bürger, sondern der ökonomische Markt, d. h.der Lohnarbeiterstatus, kennzeichnend. Dennoch fand die Figur „sozialer Teilhabe-rechte“, wie sie etwa in den Artikeln 22 bis 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 formuliert wurde und „immer mehr zum Leitbild westlicher Gesellschaftspolitik geworden“ ist, auch in der bundesdeutschen Sozialpolitik zumindest einen partiellen Niederschlag. So versuchten Stephan Leibfried und Richard Hauser mit Liebe zum Detail nachzuzeichnen, wo überall in sozial-und gesellschaftspolitischen Systemen (Lohnsystem, Steuerrecht, Sozialversicherungen, Pfändungsfreigrenzen usw.) Mindestsockel und damit die von ihnen in der Gestalt des „Bedarfsprinzips“ identifizierten Teilhaberechte vorfindlich sind Für Franz-Xaver Kaufmann ist das Teilhaberecht das handlungsleitende Gütekriterium moderner Sozialstaaten, der „Grundgedanke einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Lebensmöglichkeiten aller Gesellschaftsmitglieder, aus dem das wohlfahrtsstaatliche Denken seine moralische Kraft zieht“
Mit der Idee der sozialen Teilhabe wird das im 19. Jahrhundert noch vorrangig als Einräumung von Freiheitsrechten gedachte Inklusionsprinzip weiterentwickelt. In einer Systembetrachtung und vor dem Hintergrund eines immer umfassenderen Vergesellschaftungsprozesses mag die Verlagerung der Verantwortung für die individuelle Existenzsicherung auf den Staat dabei durchaus begründbar sein. Freilich sind damit nicht nur strategisch enscheidende Fragen nach den materiellen Grundlagen eines solchen Prozesses und nach dem funktionalen Zusammenhang zwischen dem Wandel von politischen zu sozialen Grundrechten und den Interessen des Staates nicht beantwortet. Als „Steuerstaat“ ist der Staat auf die Wertschöpfung der Produktion angewiesen. Diese beruht in den meisten kapitalistischen Gesellschaften vorrangig auf privatem Eigentum. Insoweit erklärt sich hierzulande das Interesse des Staates an einer Bestandserhaltung des privaten Kapitals. Dies wiederum bedurfte zumindest in historischer Perspektive der bereits erwähnten „Verlohnarbeiterungs“ -Strategien. Freilich liegen Einwendungen gegen eine Fortschreibung funktionalistischer Perspektiven auf den Zusammenhang von materieller Produktion und spezifischer Ausgestaltung des Staatseingriffs auf der Hand.
Zum einen sprechen auf empirischer Ebene die erwähnten, weit weniger an der Figur des (Kapital-) Eigentums orientierten Sozialpolitiken keineswegs weniger kapitalistischer Staaten für die Systemkompatibilität auch eigentumsfernerer Konzepte. Man sollte diesen Sachverhalt hinsichtlich einer Weiterentwicklung staatstheoretischer Konzepte aufarbeiten. Franz-Xaver Kaufmann kritisierte in diesem Zusammenhang die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dazu neigt, zur Interpretation des verfassungsmäßigen Bestandsschutzes sozialer Rechte den Grundsatz des Eigentumsschutzes (Art. 14GG) heranzuziehen und damit auf solche Ansprüche zu beschränken, die im Sinne des Äquivalenzprinzips aufgrund unmittelbarer monetärer Vorleistungen erworben wurden. Damit bleiben alle übrigen sozialen Leistungen von einer verfassungsmäßigen Bestandsgarantie ausgeschlossen. Demgegenüber plädiert Kaufmann dafür, „die Bestandsgarantie stattdessen auf dem Grundgedanken der Sozialstaatlichkeit auf(zu) bauen, der in Richtung auf soziale Teilhaberechte zu interpretieren wäre“ Allerdings scheint — und dies auch als zweiter, eher auf systematischer Ebene angesiedelter Einwand gegen Funktionalismen — auch manches gegen die Auflösung der Eigentumsbeziehungen zugunsten eines umfassenderen staatlichen Zugriffs auf soziale Beziehungen zu sprechen Zumindest theoretisch könnte die das Egalitätskriterium meist grob verletzende Marktordnung ja durch staatliche Interventionen bis zu einem gewissen Grad in Richtung Gleichheit korrigiert werden. Und warum sollte dies hinsichtlich Eigentumstiteln unmöglich sein? Anders ausgedrückt: Könnten sich Teilhaberechte nicht gleichfalls auf Eigentumstitel beziehen, quasi als eine Art „Recht auf eigene Produktionsmittel“?
Fragen wir zuvor, ob die neuen Teilhaberechte bzw. sozialen Grundrechte auch für Frauen gelten sollen. Die Antwort liegt keineswegs auf der Hand. Barbara J. Nelson kommt nach Analyse der politischen und ökonomischen Partizipation der amerikanischen Frauen zum enttäuschenden Schluß: „Frauen sind keine natürlichen Bürger der liberalen westlichen Demokratien.“ Terrain der Frauen sei ja das Private, die Mutterschaft, nicht Öffentlichkeit. Ohne Familie, ohne „ernährenden“ Mann, als allein Kinder Erziehende bleibt Frauen nur die Armenpolitik — in den USA wie hierzulande. Das legt nahe, daß „soziale Grundrechte“ für Frauen zwar notwendiger, doch entfernter als für Männer sind.
Wo liegen nun Anknüpfungspunkte für soziale Teilhabe-/Grundrechte und wie könnten sie ausgestaltet werden? Prinzipiell gibt es zwei Wege: Teilhaberechte können an der sozialstaatlichen Sekundärverteilung eingeräumt werden. Sie können sich aber auch auf die Teilhabe an den Ressourcen der Primärverteilung, also auf einen egalitären Zugang zu Erwerbsarbeit wie Eigentumstiteln erstrecken. Der englische Sozialwissenschaftler Bill Jordan folgerte aus der Erosion der systematischen Anknüpfungspunkte der Nachkriegssozialstaaten (Lohnarbeit, private Haushalte) die Idee einer „neuen Form der Bürgerschaft,... die Rückkehr zur Idee der von allen Bürgern gemeinsam geteilten Grundbedürfnisse.“ Er plädiert für die Einführung eines garantierten Grundeinkommens, „um den Grundbedürfnissen der Individuen zu begegnen, bevor sie auf den Arbeitsmarkt oder in die Familie treten“
Gösta Esping-Andersen und Walter Korpi zeichneten mit dem Akzent auf der Teilhabe an Primär-einkommen die von Sozialdemokraten und Gewerkschaften getragene schwedische Wohlfahrtsstaatsentwicklung als Konstitution einer „sozialen Bürgerrolle“ nach, die nicht ausschließlich auf dem Sozialversicherungsprinzip basiert. Der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad auch gerade bei teilzeitarbeitenden Frauen wurde zur Reduzierung geschlechtlicher und allgemeiner Lohnhierarchien genutzt. Einen Schritt weiter sei man im Jahr 1984 mit der Einführung von Profitbeteiligungen, mehr industrieller Demokratie und kollektiven Aktieneigentums (sogenannte „Arbeitnehmerfonds“) als Gegenleistung für begrenzte Lohnforderungen gekommen: „Die Strategie ist nun, ein neues Bündel von Bürgerrechten an kollektivem Kapital zu schaffen (ökonomische Bürgerrolle“), um damit die Widersprüche zwischen sozialer Bürgerrolle und Vollbeschäftigung wie Wirtschaftswachstum zu lösen.“ Vergesellschaftetes — nicht verstaatlichtes — Eigentum an Produktionsmitteln soll einerseits die Kapitalbasis verbreitern und darüber hinaus subjektive und systemische Interessen — hier am Wachstum — zur Deckung bringen. Andererseits werden damit die hierarchischen Segmentierungen vermutlich verhütet, die, wie erwähnt, die nächste Prosperitätsphase zu kennzeichnen drohen.
Ungelöst scheinen in diesem Entwicklungsweg des sozialdemokratischen Projekts die vielfach beschriebenen Probleme eines „wohltemperierten Industrialismus“ die Weltmarkteinbindung, die „Versozialstaatlichung“ privater Lebensvoll-züge wie die Irreversibilität großtechnischer Strukturen.
Wir haben damit ein, vielleicht das Dilemma eröffnet, mit dem sozialstaatliche Gesellschaften auf dem Weg in die nächste evolutionäre Phase der Wohlfahrtsgesellschaft konfrontiert werden. Der Begriff der Wohlfahrtsgesellschaft meint dabei einen historischen Entwicklungstyp moderner, sozialstaatlich geprägter Gesellschaften, in dem die Zugänge zu gesellschaftlichen Lebens-chancen nicht mehr ausschließlich über eine den Lebenszyklus dominierende Erwerbskarriere sowie ihr nachgeordnete Ehezusammenhänge präformiert werden. Von Wohlfahrtsgesellschaft (statt vom Wohlfahrtsstaat) zu sprechen, legiti-miert sich durch die Reduktion der inhaltlichen Reichweite staatlicher Intervention (nicht mehr Lebensweisen selektierend), ohne freilich auf Staatseingriffe zu verzichten. Diese hätten sich auf die Garantie individueller Zugänge zu Inklusionsrollen zu beschränken, insoweit also Strukturen bereitzustellen, die Gesellschaft (wieder) ermöglichen.
Vielleicht werden diese grundsätzlicheren Bemerkungen mit Hilfe des vorstehenden Schaubildes plastischer. Welcher Stellenwert, so die Fragestellung, kommt den drei klassischen gesellschaftlichen Steuerungsprinzipien Gemeinschaft, Markt und Staat hinsichtlich der jeweils vorherrschenden Formen und Möglichkeiten individueller Existenzsicherung zu? Dabei werden drei historische Phasen unterschieden, deren Abgrenzung freilich keinen systematischen Ansprüchen genügen soll, sowie ein möglicherweise anschlußfähiger Pfad zukünftiger Entwicklung („Wohlfahrtsgesellschaft“) skizziert.
IV. Gütekriterien für Reformen
Die historisch geronnene Komplexität gemeinschaftlicher, marktlicher und staatlicher Existenzsicherungsformen läßt eine „neue“ Ordnungspolitik „aus einem Guß“ weder methodisch noch normativ wünschenswert erscheinen. Vielmehr sollten selbst „radikale“ Reformen experimentell und gradualistisch, d. h. auch reversibel, „fehlerfreundlich“ bleiben. Ein komplexer „policy-mix“ im Sinne eines „patchworks“ aufeinander bezogener Strategien dürfte damit methodisch allein angemessen sein.
Hinsichtlich notwendiger normativer Gütekriterien erscheinen die vorher im institutioneilen Kontext erarbeiteten „idealen“ Kriterien Gleichheit, Freiheit und Solidarität noch zu grobschlächtig. Insbesondere vor der in der frauenpolitischen Diskussion lähmenden Polarisierung „Gleichheit“ oder „Besonderheit“ dürfte es Sinn machen, Gleichheit als soziales Grundrecht aufgleiche Teilhabechancen an allen Systemen der Existenzsicherung, an Einkommen wie an Tätigkeitsformen zu entwickeln.
Freiheit als zweites normatives Gütekriterium kann dann nicht allein Wahlfreiheit auf und zwischen Märkten meinen, sondern muß als Strategie der Erweiterung von „Optionalität“ zwischen markt-und nichtmarktbezogenen Tätigkeitsformen erweitert werden. Das würde beispielsweise bedeuten, daß sowohl der Zugang in das Erwerbs-system prinzipiell und für alle offen steht und hierzu alternative Existenzformen (Selbstversorgung, Haushalt) damit jederzeit kombiniert werden können. Verbunden ist mit dem Gütekriterium der Optionalität eine dem sozialen Wandel folgende Individualisierung staatlicher und marktlicher Existenzsicherungsformen; Ehe sollte nicht mehr vorausgesetzt, vielmehr sollten haushaltliehe und gemeinschaftliche Existenzformen in ihrer Vielfalt gestützt werden. Umstritten bleibt bisweilen die Frage, ob die Individualisierung von Existenzsicherungsformen zwangsläufig auch die Sozialbezüge weiter erodiert.
Da der Aufbau des Sozialstaats auch nicht-solidarische Verhaltensweisen bei seiner Inanspruchnahme gefördert hat, zudem gemeinschaftliche Solidarität ein hohes Maß geteilter kultureller Standards verlangt, muß eine Reformstrategie beim dritten Gütekriterium der Solidarität ausdrücklich „sparsam“ umgehen. Moralische Ressourcen sollten daher auf die grundrechtliche Garantie von Teilhabeansprüchen und der Optionalität konzentriert werden und man sollte jedenfalls nicht versuchen, anspruchsvollere Solidaritäts- und Gerechtigkeitsideale durch staatliche Politik realisieren zu wollen.
V. Soziale und ökonomische Grundrechte — Konturen einer wohlfahrtsgesellschaftlichen Optimierungsstrategie
Vorschläge zur Reform der defizitären lohnarbeits-und ehezentrierten Sozialpolitik lassen sich grundsätzlich nach drei Unterscheidungskriterien sortieren:
a) Richten sich die Vorschläge vorrangig auf das Unterversorgungsproblem (Einkommensarmut)? b) Richten Sich die Vorschläge auch auf das Problem des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt und damit von „besseren“ Sicherungssystemen (Zugangsarmut)?
c) Beschränken sich die Vorschläge auf die Kompensation von Primäreinkommensausfällen oder richten sie sich auch darauf, Veränderungen der Primäreinkommensverteilung und, grundsätzlicher, Zugänge zu Eigentumstiteln zu bewirken (Chancenungleichheit)?
Diese Unterscheidungskriterien lassen sich zum einen direkt auf spezifische institutioneile Handlungsfelder beziehen: Lösungen des Problems der Einkommensarmut am ehesten sozialpolitisch durch ein staatlich garantiertes „Recht auf Einkommen“; Lösungen des Zugangsproblems zum Arbeitsmarkt wiederum eher arbeitsmarktpolitisch durch eine Umverteilung der Erwerbsarbeit, damit durch ein „Recht auf Arbeit“ bzw. ein „Recht auf Weniger-Arbeit“; Lösungen des Problems der Chancenungleichheit wiederum durch eine Art „Recht auf eigene Produktivmittel“. Zum anderen könnten die Unterscheidungskriterien nochmals quer, innerhalb aller drei Handlungsfelder angelegt werden.
Georg Vobruba hat beispielsweise transferpolitische Lösungsvorschläge danach sortiert, auf welche der drei Problemtypen sie sich beziehen Aber auch Vorschläge zur (Um-) Verteilung von Erwerbsarbeit oder Eigentum könnten danach untersucht werden, ob sie das Unterversorgungsproblem, das Problem des Ausschlusses von „besseren“ Teilhabeformen oder gar das Problem der Ungleichheit angehen.
Besonders groß ist die Verwirrung bei den Vorschlägen zu einem staatlich garantierten „Recht auf Einkommen“, die in jüngster Zeit Konjunktur erfahren Zum einen wegen der höchst verschiedenartigen Gesellschaftsentwürfe, die sich entlang der klassischen Institutionen Markt und Staat auffächern lassen: Soll ein garantiertes Grundeinkommen sämtliche existenzpolitischen Interventionen des Staates ersetzen, also einen „reinen“ Arbeitsmarkt schaffen so die liberale Option —, oder soll ein Grundeinkommen im Sinne einer Erweiterung sozialer und ökonomischer Grund-bzw. Teilhaberechte ergänzend wirken? Folglich wollen die Vorschläge das Verhältnis zum Arbeitsmarkt in unterschiedlicher Weise regeln. Denn der Vorschlag eines vom individuellen Arbeitseinsatz entkoppelten Einkommens ergänzt die eine Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes: die Verteilung der Einkommen. Somit stellt sich die Frage nach der Regelung des Arbeitseinsatzes neu.
Da sich diese Problemlage für alle Transfersysteme stellt, die Einkommensleistungen für potentiell Erwerbsfähige vorsehen, läßt sich eine Typologie entwickeln, die sowohl bereits vorfindliche sozialstaatliche Transfersysteme als auch solche aus der Reform-und Grundeinkommensdebatte nach zwei Kriterien sortiert: 1. Welchen Rechtsstatus haben sie? Dabei soll dieses Kriterium nicht rein juristisch gedacht werden. Es knüpft an die Frage des (im Schaubild von links nach rechts zunehmenden) Eigentumscharakters sozialstaatlicher Leistungen zwar an, geht aber darüber hinaus, indem es auf eine (in eben dieser Richtung) zunehmende Erwartungssicherheit einerseits, andererseits auf einen abnehmenden (staatlichen) Selektivitätsgrad verweist, der beispielsweise von an Normalitätserwartungen geknüpften politischen Verhaltens-vorbehalten bestimmt sein kann. Das erste Kriterium ist damit der Grundrechtscharakter der Leistungen 2. Das zweite Kriterium spiegelt demgegenüber die Orientierung der Existenzsicherungsformen an der Arbeiterrolle wider, die sich im Grad der (im Schaubild von oben nach unten abnehmenden) Äquivalenzbeziehung ausdrückt. Das heißt wiederum, daß auf diesem Kontinuum weiter oben der Arbeitsmarkt gemäß seiner ihm eigenen Rationalitätsstandards den Bereich sozialer Sicherung dominiert, während nach unten hin eine egalitäre, wiederum eher an der Bürgerrolle anknüpfende Orientierung zunimmt (was durchaus heißen kann: Orientierung an spezifischen Problemlagen, aber ohne den Vorbehalt erbrachter individueller Vorleistungen).
Recht aufArbeit?
Wie die Matrix zeigt, folgen „radikale“ Reformen wie Status quo je recht unterschiedlicher Logik. Traditionsreich sind die Utopien einer Zwei-Sektoren-Ökonomie, die sowohl Arbeits-wie Einkommensverteilung lösen wollen. So faßte 1912 Joseph Popper-Lynkeus sein Programm einer „allgemeinen Nährpflicht“ folgendermaßen zusammen: „Die soziale Frage als Magenfrageist zu lösen durch die Institution einer Minimum-oder Nährarmee, die alles das produziert oder herbeischaffen hilft, was nach den Grundsätzen der Physiologie und Hygiene den Menschen notwendig ist; ... Die Versorgung dieses Lebens-und Existenzminimums geschieht in natura, also nicht in Geldform... Das Minimum sichert jedem: Nahrung, Wohnung nebst Wohnungseinrichtung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege. Alles das, was nicht zu diesem Minimum gehört, gilt als Luxus und bleibt der freien Geldwirtschaft mit Privateigentum und Vertragsfreiheit vorbehalten, welche, da Existenz aller gesichert ist, eventuell noch freier betrieben werden kann als heute.“ Popper-Lynkeus verwehrt sich ausdrücklich gegen „Zwangsmaßregeln“ gegenüber „faulen, eventuell renitenten Menschen“: „Niemals darf das Minimum irgend jemandem aus welchem Grunde immer vorenthalten werden.“ Wie die „Mindestlohngesetzgebung“ Arbeiter keineswegs demotiviere, vertraut er auf den „moralischen Druck der Umgebung“ Ein ähnliches ökonomisches Dualmodell — staatlich administrierter „Grundbedarfssektor“ und bewußt nicht-staatlicher „Überflußsektor“ — stellt Gunnar Adler-Karlsson vor: „Der Grundbedarfssektor, der staatlich sein soll, muß sich um die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen kümmern. Seine Größe wird bestimmt von der Summe der Bedürfnisse, die der Staat abdecken soll, und dem Arbeitseinsatz, der auf der gegebenen technischen Entwicklungsstufe zur Produktion der notwendigen materiellen Güter gebraucht wird. Diese notwendige Arbeitsmenge sollte gleichmäßig verteilt werden als Recht und Pflicht für jeden Bürger. Die Bezahlung für die ausgeführte Arbeit muß in Form von Einkaufskarten geleistet werden, die man weder verkaufen noch weitergeben kann ...“. Diese aus ökologischen Gründen auf bescheidenerem materiellen Niveau angesiedelte „Grundgeborgenheit“ könnte bei gegebenem technischen Niveau durch eine „Arbeitspflicht“ von etwa zwölf bis 15 Jahren abgeleistet werden, die im Lebenszyklus weitestgehend nach individuellen Bedürfnissen verteilt werden könnte
Zwei-Sektoren-Modelle scheinen also auf elegante Weise ein „Recht auf Einkommen“ mit einem „Recht auf Arbeit“ zu verknüpfen. Doch indem sie die Arbeitsverteilung als staatliche Rekrutierung denken, ist ihr Freiheitsgrad, damit das Grundrechtsniveau, erheblich eingeschränkt. Freiheitlicher wären demgegenüber Modelle, die den Arbeitsmarkt als Verteilungsinstanz belassen, ihn allerdings mehr oder weniger weitgehend ergänzen. Während im Modell von Adler-Karlsson der einzelne mit einer Z. Q\tschuld gegenüber der Gesellschaft geboren wird, deren Abarbeitung ein lebenslanges Grundeinkommen sichert, dachte ein anderer schwedischer Forscher, Gösta Rehn, jeden mit einem Zeitkapital in Höhe von einem Fünftel der Lebensarbeitszeit geboren, das im Lebenslauf, ergänzt um etwa drei Ausbildungsjahre, als Anspruch auf „Ziehungsrechte“ innerhalb einer integrierten Sozialversicherung (Arbeitslosen-, Renten-und Krankengeldversicherung) nach gusto ausgenutzt werden könne. Das Verhältnis zwischen eingezahlten Beiträgen und gezogenen Transfers solle dabei strikt äquivalent bleiben
In eine ähnliche Richtung, nämlich die Verteilung der Erwerbsarbeit über den gesamten Lbenszyklus sowie ihre Individualisierung auf Männer und Frauen, geht auch der in derjüngeren Grundeinkommensdiskussion recht maßgebliche Ansatz von Andre Gorz. Gorz möchte allerdings das bei Rehn noch sehr dem kapitalistischen Tauschprinzip verhaftete Äquivalenzdenken, vergegenständlicht in den Sozialversicherungen, durch politische Planung sukzessive aufweichen. Bei ihm erscheint „die lebenslängliche Einkommensgarantie als die gesellschaftliche Form, die das Einkommen annimmt, wenn die Automatisierung nicht nur den ständigen Zwang zur Arbeit, sondern auch das Wertgesetz und die Lohnabhängigkeit selbst abgeschafft hat“ Das als Äquivalent der individuellen, per „Arbeitsplatzbörse“ administrierten und gegenüber heute auf „ 20 000“ Stunden verkürzten Lebensarbeitszeit verteilte „Sozialeinkommen“ wäre der durchschnittliche Lohn selbst, kein „Grund-“ Einkommen. Insoweit stellt der Gorzsche Vorschlag eine sehr weitgehende Kritik der kapitalistischen „Leistungs-“ ideologie dar.
Weniger bei der Verteilung von Erwerbsarbeit und Einkommen als bei der Suche nach nicht-arbeitsmarktlichen Produktionsformen von Gütern und Diensten setzen die Vorschläge einer Weiter-bzw. Wiederentwicklung von Tätigkeitsformen jenseits der Lohnarbeit an. Hier finden sich in mittlerer Reichweite die existierenden, durchaus erweiterungsfähigen Versuche, politisch fiktive Äquivalenzen innerhalb der Sozialversicherungen zu konstruieren (Erziehungszeiten, Pflegezeiten etc.). „Will man ... eine Art Grundfinanzierung für Nichterwerbsarbeiten im informellen Sektor schaffen, könnte man an eine Ergänzung um Steuer-bzw. Transfergutscheine denken: Soweit es sich um Personen handelt, die etwa neben einem Halbtagsjob in der formellen Ökonomie , nebenher 4 informell tätig sind, greifen Gutscheine, die die Steuerschuld auf formelle Lohneinkommen anteilig mindern; bei vollständigen Aussteigern aus dem Erwerbssektor, die — da ohne Lohneinkommen — etwa Einkommens-steuer nicht zahlen, könnten Transfergutscheine angeboten werden.“ Der Vorschlag der „Steuer-und Transfergutscheine“ läßt erkennen, wie sehr politische Eingriffe des Staates in den Arbeitsmarkt die Definition von „Leistungs-“ und Nützlichkeitskriterien gleichfalls staatlicher Kontrolle unterwerfen. Man kann das im Sinne klassi-scher sozialstaatlicher Arbeitsutopien positiv deuten. Legt man andererseits an staatliche Interventionen das weiter oben begründete Kriterium „sparsamer“ Verwendung moralischer Ressourcen an, so kann man durchaus Gefahren in einer Verstaatlichung der Allokation von Arbeitsaufgaben sehen.
Im Sinne des ersteren versuchen Claus Offe und Rolf G. Heinze mit ihrem Modell des „, Kooperationsringes ... die überhaushaltliche Kollektivierung von Selbstversorgungseinrichtungen weder gemeinschaftlich noch administrativ, sondern marktförmig zu organisieren, allerdings mit den beiden Besonderheiten, daß a) der Leistungsaustausch nicht über das allgemeine Medium des Geldes, sondern über Leistungsgutscheine läuft, welche nur im Kreis der Teilnehmer und nur für den Zweck des Leistungsverkehrs zwischen einer lokal abgegrenzten Zahl von Haushalten Geltung haben, und daß b) das Zustandekommen und der Bestand eines derartigen, durch eine nicht-konvertible Eigenwährung ausgegrenzten Marktes öffentlich subventioniert wird, und zwar ebenfalls nicht monetär, sondern durch die Bereitstellung von Räumen, Geräten, Sachleistungen und Humankapital.“
Recht auf eigene Produktivmittel?
Auf das Kriterium der „Egalität“ im Sinne eines Zugangs zu Teilhaberechten beziehen sich auch die Vorschläge für ein „Recht auf eigene Produktivmittel“. Der hier verwendete Begriff „Produktivmittel“ — anstelle des eingeführten marxistischen Terminus „Produktionsmittel“ — soll die Verengung auf die marktlich vermittelte Güterproduktion vermeiden. Damit gehören in diese Kategorie sowohl die Vorschläge, die zumindest partiell Erwerbsarbeit zugunsten von nicht-marktlicher Selbstversorgung substituieren, als auch die Konzepte, die für eine Aneignung der erwerbsbezogenen Produktivmittel plädieren.
Hinsichtlich der Aneignung der marktbezogenen Produktivmittel finden sich einige theoretische und praktische Modelle im Umfeld der neuen „Alternativökonomie“ der Bundesrepublik. Sie trachten die alte Idee der Genossenschaften für kleinere und — vor allem bei der Übernahme von (Konkurs-) Betrieben durch die Belegschaften — mittlere Betriebe zu reaktivieren Henner Kleinewefers ist freilich Recht zu geben, wenn er feststellt, daß solche „Alternativen“ zu gesellschaftspolitischer Relevanz erst durch die „Beseitigung des (großen) Erwerbseigentums“ gelangen. Letztere „würde das Problem der ungleichen Vermögensverteilung beseitigen und die Ungleichheit der Einkommensverteilung auf dasjenige Maß beschränken, das auf die ungleichen Arbeitseinkommen zurückzuführen ... ist“ über deren Anreiz-und Lenkungswirkungen zumindest innerhalb gewisser Grenzen weitgehend Einigkeit herrscht.
Grundsätzlich lassen sich sechs unterschiedlich weitreichende Alternativen eines „Rechts auf eigene Produktivmittel“ unterscheiden: erstens die Aufteilung der Rechtsinhalte zwischen Eigentümern, Managern, Arbeitenden, Gewerkschaften und Staat („Mitbestimmung“); zweitens die breite, extrem egalitäre Streuung des Erwerbseigentums bei im Prinzip ungeteilten Rechts-inhalten und drittens die Verwaltung des Erwerbs-eigentums durch intermediäre überbetriebliche Gruppen (z. B. Gewerkschaften: schwedische „Arbeitnehmerfonds“, Pensionskassen: schweizerischer „Pensionskassenkapitalismus“).
Diese drei, vor allem die erste und dritte Alternative, kommen in allen westlichen Staaten vor. Die vierte Alternative — die Übertragung der Eigentumstitel an den Staat — entspricht dem ungarischen Modell (bzw. bei Fortfall marktwirtschaftlicher Strukturen dem Modell aller Ostblockstaaten). Das fünfte Modell der Arbeitergenossenschaften liegt dem jugoslawischen System zugrunde. Das sechste Modell der „Neutralisierung“ des Kapitals (beispielsweise in Stiftungen) wurde vor allem von Ota ik mit dem Ziel eines „dritten Weges“ zwischen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen und kommunistisch-planwirtschaftlichen Systemen formuliert In Richtung einer Synthese von fünf und sechs gehen die Vorstellungen von Winfried Vogt, der ein (krisenfreieres) laboristisches „Gleichgewicht“ für möglich ansieht, wenn mittels „Vergesellschaftung des Kredit-systems“ die Selbstverwaltung der Arbeiter in „laboristischen“ Unternehmen gezielt gefördert werde Legen wir die vorgenannten normativen und methodischen Kriterien an, so wären die Varianten hervorzuheben, die individuell einlösbare Rechtstitel auf den Eigentumsertrag wie auf die Eigentumsverwendung beinhalten. Staatlich garantiert werden können einschränkend wiederum nur solche Titel, die ein gewisses Maß an Verallgemeinerungsfähigkeit besitzen; am ehesten erscheint das von Vogt skizzierte Modell diesen Kriterien zu genügen, insbesondere wenn die Kreditvergabe durch dezentrale Regionalfonds erfolgt.
Recht auf Einkommen ?
Allein an einer Reform der Sekundärverteilung setzen alle die Vorschläge an, die ein „Recht auf Einkommen“ garantieren wollen. Zwar stellt bereits die Sozialhilfe ansatzweise ein derartiges Recht vor. Doch ist ihr Rechtsstatus im System sozialer Sicherung recht gering, wie die gerade in Krisenzeiten wieder vermehrt praktizierten Zwangsmaßnahmen der sogenannten „Hilfe zur Arbeit“ (§§ 18 ff. BSHG) eindringlich belegen. Daran setzen mittlere Reformkonzepte an.
So schlägt die SPD mit dem Konzept der „sozialen Grundsicherung“ vor, innerhalb aller Sozialversicherungszweige dann, wenn das verfügbare Einkommen zu gering ist, zumindest das Sozialhilfeniveau zu garantieren Ungelöst bleibt dabei das Problem des Ausschlusses zahlreicher am Arbeitsmarkt marginalisierter Gruppen (Hausfrauen, von Geburt an Behinderte, Berufsanfänger usw.) aus den Sozialversicherungen. Geradezu verhängnisvoll dürfte sich die im SPD-Modell vorgesehene Übertragung der Haushaltssubsidiarität in alle Sozialversicherungen auswirken. Die aus der Sozialhilfepraxis gefürchtete Kontrolle, ob nun „echte“ Haushalte oder „Scheinhaushalte“ (vor allem nicht-ehelich Zusammenlebende) vorliegen, dürfte bestenfalls zur Vollbeschäftigung von Sozialkontrolleuren führen.
Von daher wird im Konzept einer „bedarfsorientierten Grundsicherung“ als Teil einer „Sockelung“ der Sozial-und Gesellschaftspolitik beispielsweise im sogenannten „Umbauprogramm“ der GRÜNEN die Unterhaltsverpflichtung auf die Ehegatten und ihre minderjährigen Kinder beschränkt — es im wie übrigen in anderen europäischen Staaten, vor allem in den Niederlanden, längst Praxis ist Recht optimistisch wird von diesem Konzept auch die „Hilfe zur Arbeit“ als Zwangsmaßnahme abgeschafft; der Bezug der Gundsicherung soll zudem nicht mehr an die Arbeitslosmeldung geknüpft sein, vielmehr soll die Zurverfügungstellung für den Arbeitsmarkt durch incentives — sei es durch eine verringerte Anrechnung bzw. einen Freibetrag für sonstige Einkommen — angeregt werden
Die weitgehendste Fassung bezüglich der Universalisierung und Voraussetzungslosigkeit eines „Rechts auf Einkommen“ findet sich zweifellos in den Konzepten eines „garantierten Grundeinkommens“, sei es in Form einer „negativen Einkommensteuer“ oder der „Sozialdividende“ Ein „garantiertes Grundeinkommen“, d. h. eine alle durch die Tatsache der Existenz ausgelöste staatliche Transferleistung wird aus ganz verschiedener Richtung und, wie bereits mehrfach angedeutet, mit höchst unterschiedlichen Intentionen vertreten. Freilich läßt sich zeigen, daß der systematische Übergang von der Sozialhilfe über eine „bedarfsorientierte Grundsicherung“ bis zum „garantierten Grundeinkommen“ fließend ist, abhängt von der Höhe der Anrechnungssätze für sonstige Einkommen wie von der Höhe des Steuersatzes für Einkommen oberhalb des Grundeinkommensbetrages. Politisch entscheidend wird deshalb: a) das Niveau des Grundeinkommens. Hier existieren ausführliche Debatten um die Art der Bemessung, sei es durch einen „Warenkorb“ wie heute, durch ein komplexes System wissenschaftlicher „Teilhabestandards“ oder durch eine Orientierung an Durchschnittseinkommenswer-ten Am Niveau mißt sich, ob die Vorschläge das Armutsproblem lösen könnten;
b) das Verhältnis zum Arbeitsmarkt: Steht die Grundsicherung (und auch der Bezug „besserer“ Transfers) unter lohnarbeitszentrierten Vorbehalten oder c) ist der Bezug allein an die Bürger/-innenrolle geknüpft, bzw. welche Zwischenposition nehmen diese Vorschläge ein? (In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Werden Ausländer/-innen wie Asylanten hier gleichgestellt?). Somit können grundsätzlich zwei Typen eines „Rechts auf Einkommen“ unterschieden werden:
1. die zwar liberalisierte, individualisierte, aber weiterhin erwerbsarbeitsorientierte Version eines entwickelten Sozialhilfesystems („bedarfsorientierte Grundsicherung“). Sie ließe sich mit einem Lebensarbeitszeitmodell kombinieren. Oder 2. ein allein auf die Bürger/-innenrolle abgestelltes Modell einer Transferökonomie im Sinne einer „Negativen Einkommensteuer“ bzw. einer Sozial-dividende“.
VI. Ein Drei-Stufen-Plan
Das Dilemma ist in der Grundeinkommensdebatte vielfach benannt worden: Eine völlige Entkopplung von Arbeit und Einkommen könnte, so wünschenswert sie kulturell auch wäre, dazu verleiten, auch politisch die Teilhabe an Gütermärkten und am Arbeitsmarkt noch weiter zu entkoppeln. Das zwar nur noch moralische „Recht auf Arbeit“ würde seinen letzten politischen Wert verlieren, eine verschärfte Gesellschaftsspaltung drohte. Das ist der Haupteinwand gegen alle Ideen, die von links oder eher von rechts kommend 65) für eine radikale Entregelung des Arbeitsmarktes per Grundeinkommen eintreten. Demgegenüber erfolgt hier mit dem Konzept der „Wohlfahrtsgesellschaft“ eher ein multidemensionales Reformprogramm, das freilich nur in groben Umrissen skizziert werden kann.
Auf der ersten Stufe einer wohlfahrtsgesellschaftlichen Realutopie geht es darum, kurzfristig das grassierende Armutsproblem als Einkommens-problem zumindest einzudämmen. Notwendig ist hier eine Reform der Sozialhilfe und ihre Harmonisierung mit anderen Transfersystemen im Sinne des vorgenannten Konzepts einer „bedarfsorientierten Grundsicherung“. Der allgemeine RechtsCharakter der Sozialhilfe würde damit dem Rechtsstandard angepaßt, der beispielsweise im Steuerrecht gängig ist. Sozial erfolgte damit noch keine Kündigung des Äquivalenzgedankens (Arbeit — Einkommen). Jedoch würde die damit verbundene Individualisierung einen wesentlichen Eingriff in die heutige ehezentrierte Sozialordnung bedeuten, in der die weibliche (Häus-) Arbeit als kostenlose Ressource der Äquivalenz vorausgesetzt wird.
Auf der zweiten Stufe käme es darauf an, Teilhaberechte einzuführen bzw. zu optimieren. Das bedeutet hinsichtlich des Steuer-und Transfersystems eine weitere Individualisierung, vor allem ihre durchgängige Harmonisierung (incl.der Sondersysteme für Beamte usw.). Gleichermaßen wären Teilhaberechte an der Erwerbsarbeit nicht nur politisch, sondern auch materiell zu fundieren. Im Sinne des Gütekriteriums der „Optionalität" kann es allerdings kaum um ein formelles Recht auf Vollzeitarbeit gehen (auch wenn diese für alle, die sie wünschen, offen sein muß). Vielmehr wäre es denkbar, die genannten Lebensarbeitszeitmodelle (Gorz, Rehn) im wohlfahrtsgesellschaftlichen Sinne so zu entwickeln, daß bereits zum Status quo, also unter gegebener Produktivität, die „Normalerwerbszeit“ auf keinesfalls mehr als 20 Wochenstunden beschränkt würde.
Daß ein solches Modell bereits zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs so unwahrscheinlich wäre, wie es erscheint, soll eine einfache Rechnung verdeutlichen: Gehen wir davon aus, daß jeder Erwachsene ca. 1 000 DM und jedes Kind (altersabhängig) ca. 500 DM im Monat als verfügbares Einkommen zur Sicherung der Teilhabe benötigen. Angesichts einer heutigen Erwerbsquote von nur ca. 81, 4 % bei Männern und nur ca. 51, 7 % bei Frauen (15 bis Jahre), die freilich in der Altersgruppe der 30-bis 35jährigen Männer auf über 95% steigt, existieren erhebliche Ressourcen der Ein-B beziehung in das Erwerbsleben—jedenfalls wenn diese Einbeziehung mit einem „Recht auf Weniger-Arbeit“, gleich, in welcher sozialrechtlich gesicherten Flexibilisierungsform, verbunden wäre Heute wird das Volkseinkommen von 1 826 DM je Einwohner und Monat bzw. 2 160 DM (wenn 0-bis 18jährige mit dem Faktor 0, 5 gewichtet werden, Stand 1984) sehr ungleich verteilt. Erwirtschaftet wird es (1986) eingeschlossen der Seibständigenarbeit in 1 690 Stunden jährlich je Erwerbstätiger. Unterstellen wir nun eine Erwerbsquote von 100% der 18-bis 65jährigen, so würde sich die Erwerbsarbeit zur Erwirtschaftung des gesamten Volkseinkommens auf ca. 1098 Stunden je Erwerbstätigen pro Jahr reduzieren lassen. Wenn nun nicht das gesamte Volkseinkommen, sondern nur der Grundeinkommensbetrag (allerdings auch für die unter 18-und über 65jährigen) betrachtet wird — und damit aller Leistungsfiktionen entkleidet als durchschnittlicher gewertet wäre —, so reduzierte sich zum Status quo die notwendige Jahresarbeitszeit für ein Grundeinkommen auf ca. 524 Stunden; das bedeutet — bezogen auf die heute urlaubsbereinigt gearbeiteten 44, 4 Wochen im Jahr — nur noch ca. zwölf Stunden pro Woche
Unterstellen wir nun Fehler in dieser Schätzung, eine gewisse Quote der Erwerbsunfähigkeit sowie die Probleme der Qualifikationsstruktur und der Mobilität, so läßt sich — und das ist der Sinn solcher Überlegung — politisch argumentieren, daß eine 20-Stunden-Woche zum äquivalenten Recht auf ein teilhabesicherndes Grundeinkommen bei weitem genügen müßte.
Durch eine umfassende Reform der Sozialversicherungen und der Sozialhilfe könnte man sich vorstellen, daß die individuelle Reduzierung der Erwerbszeiten durch Ausgleichtransfers gefördert wird. Denkbar wäre auch, die Arbeitszeit als neue Variable der Steuerbemessung einzuführen, d. h. Erwerbszeit von mehr als 20 Wochenstunden mit erhöhter Progression zu belegen. Darüber hinaus wäre es möglich, bei prinzipieller Beibehaltung des Äquivalenzgedankens, mittels entsprechender Beitragsstruktur Phasen der bezahlten (!) Nicht-Erwerbsarbeit mit Phasen der Erwerbsarbeit frei zu kombinieren.
Erst wenn politisch wie materiell der Teilhabeanspruch am Erwerbssystem (wie im übrigen auch am Eigentum an Produktionsmitteln) weitgehend geteilt wird, könnte in der dritten Stufe, zur Einführung eines vorbehaltlosen, allein an die menschliche Existenz geknüpften „garantierten Grundeinkommens“ übergegangen werden. Damit erweist sich ein „Recht auf Einkommen“ als Übergangsprojekt wie als Fluchtpunkt. Freilich nicht als Patentrezept.
MichaelOpielka, Dipl. Päd., geb. 1956; Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften, Psychologie und Ethnologie an den Universitäten Tübingen und Bonn; seit 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der GRÜNEN für allgemeine Sozialpolitik. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die ökosoziale Frage, Frankfurt 1985; (Hrsg, zusammen mit Georg Vobruba) Das garantierte Grundeinkommen, Frankfurt 1986; (Hrsg, zusammen mit Ilona Ostner) Umbau des Sozialstaats, Essen 1986 (i. E.).
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