Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die 19. Unionsparteikonferenz der KPdSU | APuZ 35/1988 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 35/1988 Die 19. Unionsparteikonferenz der KPdSU Nationalismus und die Grenzen der Sowjetunion als Weltmacht Verhältnis von Staat und Kirche in Rußland und in der Sowjetunion

Die 19. Unionsparteikonferenz der KPdSU

Heinz Brahm/Hans-Hermann Höhmann

/ 39 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schon bald nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU (1986) muß Gorbatschow erkannt haben, daß es neuer Reformmaßnahmen und vor allem eines erheblich progressiveren Zentralkomitees bedurfte, um die Sowjetunion aus ihren wachsenden Schwierigkeiten herauszuführen. Er hoffte, sich dank Aufstellung mehrerer Kandidaten für alle Ämter und dank geheimer Wahlen der konservativsten Funktionäre entledigen zu können. Das Zentralkomitee stimmte nur zögernd der Idee einer Parteikonferenz zu und konnte verhindern, daß sein eigener Bestand auch nur im geringsten angetastet wurde. Die Unionsparteikonferenz stand ganz im Zeichen der Glasnost. Viele Delegierte haben auf ihr mit erstaunlichem Freimut ihre Probleme und Sorgen vorgetragen. Zum Erstaunen der Teilnehmer propagierte Gorbatschow den Plan, die Ersten Sekretäre auch zu Sowjetvorsitzenden auf der entsprechenden Ebene wählen zu lassen. Die Wirtschaft war nicht das Hauptthema der Unionsparteikonferenz, spielte aber in vielen Beiträgen eine wichtige Rolle. Ursache dafür ist, daß sich die Wirtschaftslage der UdSSR noch nicht wesentlich verbessert hat. Auf der Konferenz bestand weithin Konsens über den Emst der Lage. Im Ergebnis gab es neue Impulse sowohl für die Reformpolitik als auch für Anstrengungen zur Verbesserung des Lebensstandards.

I. Pläne zum Umbau des politischen Systems

Nachdem M. Gorbatschow im März 1985 Generalsekretär geworden war, blieb ihm nicht viel Zeit, Einfluß auf die Organisierung des XXVII. Parteikongresses zu nehmen, der nach dem Statut der KPdSU spätestens im Februar/März 1986 stattfinden mußte. Die Vorbereitung dieses Kongresses hatte bis dahin in den Händen von „Konservativen“ gelegen. Mit der Revision des Parteiprogramms waren Ideologen der alten Schule betraut gewesen. Es war unmöglich, innerhalb eines Jahres eine radikale Kursänderung durchzusetzen. Gorbatschow besaß noch keine große Machtfülle, und die Bastionen der „Konservativen“ waren stark.

Es war die Aufgabe des Parteikongresses, die Rahmenbedingungen für die nächsten fünf Jahre festzulegen — bis zum nächsten Kongreß. Das revidierte Parteiprogramm hätte den Spielraum Gorbatschows sogar auf eine noch längere Periode einen-gen können, wenn man es nicht wieder auf dem XXVIII. Parteitag hätte umschreiben wollen. Angesichts dieser Zwangssituation kam in den oberen Etagen der KPdSU der Gedanke auf, den Parteikongreß zu verschieben. Gorbatschow sagte dazu im Rückblick: „Immer wieder wurde diese Ansicht vorgebracht. Aber man wurde das Gefühl nicht los, daß dahinter die Art des Vorgehens steckte, die während der Stagnationsperiode [Breshnew-Ära] üblich war.“

Der XXVII. Parteikongreß wurde termingerecht abgehalten. Er fand vom 25. Februar bis zum 6. März 1986 statt. Aus ihm ging Gorbatschow zwar nicht als der strahlende Sieger, aber sicher als Gewinner hervor. Fünf neue ZK-Sekretäre wurden ernannt. Von den 307 ZK-Mitgliedern, die am Ende des Parteikongresses gewählt wurden, waren 44 Prozent Neulinge. Nicht alle diese Aufsteiger waren allerdings Gorbatschow verpflichtet. Eine ganze Reihe der Neuen dürfte J. Ligatschow oder anderen Spitzenfunktionären ihre Karriere zu verdanken haben. 1. Ein widerstrebendes Zentralkomitee Gorbatschow muß bald erkannt haben, daß auch das neue Zentralkomitee (ZK) ein Klotz an seinem Bein war, der ihn bei allen seinen Reformvorhaben behinderte. Es war noch kein Jahr seit dem XXVII. Parteikongreß vergangen, als er auf dem Plenum des ZK vom 27. bis 28. Januar 1987 in einem Kraftakt versuchte, den Widerstand des ZK und der Bürokratie zu brechen Er schlug vor, — immer mehrere Kandidaten bei der Wahl der Sekretäre von der Rayonsebene bis zu den ZKs der Unionsrepubliken aufzustellen und — in Zukunft geheim zu wählen, was eigentlich nach dem Parteistatut die Regel hätte sein müssen.

Schließlich wartete Gorbatschow mit dem Wunsch auf, 1988 eine Unionsparteikonferenz abzuhalten. In seinem Schlußwort unterstellte Gorbatschow den ZK-Mitgliedem, daß sie mit der Idee dieser Konferenz einverstanden seien Dies war aber wohl nicht der Fall. Im ZK-Beschluß war jedenfalls nicht von der Unionsparteikonferenz und auch nicht von den geheimen Wahlen die Rede

Auf den früheren Parteikonferenzen, wie sie bis 1941 stattgefunden hatten, war der Bestand des ZK verändert worden. Seit 1966 hatten sich die ZK-Mitglieder allerdings gegen personalpolitische Eingriffe durch eine Konferenz schützen können. In dem seit 1986 gültigen Statut der KPdSU hieß es: „Der Modus der Durchführung einer Unionsparteikonferenz wird vom ZK der KPdSU festgelegt.“ (Art. 40) Entweder war Gorbatschow auf dem XXVII. Parteikongreß nicht mächtig genug gewesen. dieses Vorrecht des ZK aus dem Statut streichen zu lassen oder ihm war die Tragweite des Art. 40 entgangen. Die altgedienten ZK-Mitglieder, die das Räderwerk des Parteiapparats sicher besser kannten als Gorbatschow, wußten nicht nur um ihre Macht, sie dürften sich auch darüber im klaren gewesen sein, wie man die Höhenflüge des Generalsekretärs wieder auf den Boden der Realitäten bringen konnte. Sie ließen Gorbatschow auf dem ZK-Plenum seine Vorstellungen entwickeln und überantworteten diese dann den gnadenlosen Mühlen der Bürokratie.

Nur ein Teil dessen, was Gorbatschow vorgeschwebt hatte, wurde überhaupt realisiert. Gorbatschow hat dies selbst später eingeräumt: „Es darf keine Wiederholung dessen zugelassen werden, was mit dem Januarplenum des ZK geschah. Es war dies ein bedeutendes Plenum, auf dem eine gründliche Analyse vorgenommen und die Ursachen dessen aufgedeckt wurden, was im Lande und in der Partei geschehen war. Wir hatten aber die Mechanismen zur Realisierung der Plenumsbeschlüsse nicht durchdacht, und so blieben sie gewissermaßen in der Luft hängen, und die Sache kam nicht so voran, wie wir es uns ausgerechnet hatten.“

Auf dem Plenum des ZK vom 25. bis 26. Juni 1987 warb Gorbatschow erneut für die Abhaltung der Unionsparteikonferenz Er erinnerte daran, daß vor 1941 die Konferenzen ungewöhnlich große Vollmachten besaßen, Aufgaben strategischer Art beraten, ja sogar das Statut der Partei und den Bestand zentraler Parteiorgane ändern konnten. Diesen Worten war zu entnehmen, daß Gorbatschow auf der anvisierten Unionsparteikonferenz, wenn es nach ihm ginge, eine Wende einleiten wollte, die eigentlich nur ein ordentlicher Parteikongreß hätte beschließen können.

Diesmal entsprach das ZK zwar dem Wunsch Gorbatschows nach einer Konferenz, ließ sich aber offensichtlich nicht das Recht abhandeln, den „Modus der Durchführung“ festzulegen. Zwei Punkte sollten auf der Konferenz verhandelt werden: Die Bilanz der Entwicklung nach dem XXVII. Parteikongreß und Vorschläge zur weiteren Demokratisierung der Partei und der Gesellschaft 2. Die Wahl der Konferenzdelegierten Es war das Ziel Gorbatschows, dank aufgelockerter Wahlmodalitäten den erzkonservativen Kräften die Einflußnahme auf die Auslese der Delegierten zur Unionsparteikonferenz so weit wie möglich zu nehmen. Es sollten, so wurde gefordert, nur engagierte Verfechter der Perestrojka zur Konferenz entsandt werden. Gorbatschow erwartete insgeheim von der Presse, daß sie die schlimmsten Reformgegner so anschwärze, daß diese als Delegierte für die Konferenz untragbar sein würden. Durch moralischen Druck von oben und von unten sollte der konservative Mittelbau der Partei zum Rückzug gezwungen werden. Gemäß dem ZK-Beschluß vom Juni 1987 hatten jedoch die Zentralkomitees der Unionsrepubliken und die Regionalkomitees das alleinige Recht, die Delegierten zu wählen, und zwar durch geheime Stimmabgabe. Ausgerechnet jenes Establishment, gegen das Gorbatschow zu Felde zog, hatte es also mehr oder weniger in der Hand, welche Delegierten aufgestellt wurden. Es hatte allerdings Rücksicht auf die neue Atmosphäre zu nehmen, die durch die Medien geschaffen war. So mußten konservative Delegierte aus Astrachan, Sachalin und Jaroslawl nach öffentlichen Protesten zurücktreten. In Moskau wurde das Stadtplenum eigens verschoben, um wenigstens einige der Star-Reformer durchzubringen. Unter den Augen Gorbatschows mußten sich progressive Kandidaten eine Befra-gung durch Konservative gefallen lassen Obwohl Gorbatschow sicher seine Hand über die reformerischen Intellektuellen hielt, fielen die meisten von ihnen bei der Wahl durch, so T. Saslawskaja, G. Popow, N. Schmeljow und M. Schatrow. Eine Reihe von Moskauer Prominenten, vor allem Funktionäre, wurden außerhalb der Hauptstadt als Delegierte gewählt, so daß die zentrale Bürokratie auf der Unionsparteikonferenz insgesamt überrepräsentiert war.

Nachdem am 3. Juni 1988 die 319 Delegierten von Moskau feststanden, waren die Wahlen zur Unionsparteikonferenz abgeschlossen. Im Vergleich zu den Delegierten des letzten Parteikongresses hat es in der Zusammensetzung der rund 5 000 Teilnehmer der Unionsparteikonferenz vermutlich keinen Erdrutsch zugunsten Gorbatschows gegeben. Sowjetische und nichtsowjetische Beobachter argwöhnten sogar, daß es den Konservativen gelungen sein könnte, 60 bis 70 Prozent der Delegierten zu stellen.

In einem Brief an das ZK vom 27. April haben zehn sowjetische Intellektuelle, darunter A. Sacharow und der Historiker J. Afanasjew, die Verschiebung der Konferenz angeregt, um eine breitere Demokratie bei der Wahl der Delegierten zu erleichtern Ein westdeutscher Korrespondent schrieb damals: „Eine Parteikonferenz, deren Zusammensetzung demokratisch nicht repräsentativ ist, wird über die Demokratisierung der Partei zu befinden haben.“ Er wurde sogar noch deutlicher: „Die gegenwärtigen Strukturen und Verfahrensregeln der KPdSU lassen eine Demokratisierung nicht zu.“ Wie stark auch die Kräfte der Beharrung oder sogar der Reaktion unter den Delegierten gewesen sein mögen — es hatte bei der Nominierung der Delegierten immerhin zum ersten Mal nach Jahrzehnten allgemeiner Manipulation durch den Apparat wieder mehr Basis-Demokratie gegeben. 3. Die zehn Thesen des Zentralkomitees Während die Delegiertenwahlen noch im Gang waren. erörterte ein ZK-Plenum am 23. Mai 1988 den Entwurf der ZK-Thesen zur Unionsparteikonferenz. Es bedurfte vermutlich noch zeitraubender Nachbesserungen, bis dann am 27. Mai der endgültige Text der Thesen erschien. Gorbatschow war, so ist anzunehmen, die treibende Kraft bei der Abfassung der Thesen, vielleicht sogar der Hauptautor Er selbst hat seine Arbeit an dem Papier öffentlich erwähnt und sich gerühmt, ihretwegen mit zwei Dritteln der ZK-Mitglieder zusammengekommen zu sein

Auf der anderen Seite wird der ZK-Apparat bei den Redaktionsarbeiten dafür gesorgt haben, daß der Text nicht allzu konkret wurde. Das Ergebnis war ein Kompromiß zwischen den widerstrebenden Gruppen. Daß die Thesen blaß, abstrakt und teilweise nebulös sind, haben auch sowjetische Autoren bemerkt So wirkt die siebte These, die die Nationalitätenfrage behandelt, angesichts der Turbulenzen um Nagorny Karabach geradezu nichts-sagend. B. Jelzin argwöhnte, daß die Thesen zur Gänze vom ZK-Apparat verfaßt worden seien Er vermutete, daß nicht einmal die Hälfte der ZK-Mitglieder nach ihrer Meinung befragt worden sei. In einem anderen Zusammenhang hat er behauptet, daß die ZK-Mitglieder es auch nicht wagten, abweichende Meinungen zu äußern. Die Thesen sind in Eile zustande gekommen. Sie wurden publiziert, als der Klärungsprozeß noch nicht abgeschlossen war.

Im Zentrum der Thesen stehen die Überlegungen zu einer einschneidenden Reform des politischen Systems. An der Einparteienherrschaft wird festgehalten, aber zugleich der Meinungsvielfalt auf dem Boden des Sozialismus das Wort geredet (erste These). Die Sowjets müssen, so fordert es die sechste These, ihre alten Vollmachten wiedererlangen. Eine längere Dauer für die Sowjettagungen wird vorgesehen. Ein Teil der Deputierten sollte ganz oder doch für bestimmte Perioden für ihre Arbeit im Sowjet freigestellt werden.

Was die Sowjets an Befugnissen gewinnen sollten, wird zum großen Teil der Partei genommen. Die Funktionen von Partei und Staat müßten in Zukunft deutlich voneinander abgegrenzt werden. So heißt es in der fünften These, die das Kernstück des Diskussionspapiers ist: Die KPdSU dürfe sich nicht mehr in der alltäglichen Kleinarbeit verschleißen, die ganz Sache der Sowjets werden soll, sondern müsse sich verstärkt auf die politische Strategie und die Ausarbeitung der Ideologie verlegen. Darüber hinaus bleibe sie ohne Abstriche die zentrale Kaderschmiede des Landes. Mit anderen Worten: Die Partei bleibt das Herz und das Hirn der Sowjetunion, aber nicht unbedingt die Hand. Es wird allerdings gleich hinzugefügt, daß die Kommunisten sowohl in den Staatsorganen wie in allen anderen Bereichen für die Verwirklichung des Kurses Sorge zu tragen hätten, den die Partei festlegt. Es handelt sich also nicht um eine strikte Trennung von Partei und Staat, sondern um das Bestreben, die Kompetenzen der jeweiligen Organe auf den beiden Ebenen klarer auseinanderzuhalten. Zur Reinerhaltung der Partei wird eine politische Beurteilung (attestacija) aller Kommunisten empfohlen. Jeder Anklang an eine „Säuberung“, die nicht nur seit Stalins Zeiten in unguter Erinnerung ist, wird sorgfältig vermieden.

Über die Kandidaten für Parteiämter müsse breit diskutiert werden. Die Kommunisten sollten das Recht erhalten, für jedes zu besetzende Amt mehrere Kandidaten vorzuschlagen. Dieses Verfahren könne (moshno bylo by) von den Rayons bis zum ZK der KPdSU ausgedehnt werden. Die Amtszeit der Parteifunktionäre, die regulär fünf Jahre beträgt, solle um weitere fünfJahre verlängert werden können, bedürfe aber für eine dritte Periode einer Dreiviertelmehrheit des entsprechenden Parteikomitees. (Ähnlich lautet die vorgesehene Regelung für die staatlichen Mandatsträger).

Für die Parteifunktionäre, die ein angestammtes Recht auf ihr Amt zu haben glaubten, waren die einzelnen Forderungen sicher nur schwer, wenn überhaupt zu akzeptieren. Einen weiteren Macht-verlust mußten die früher fast allmächtigen Apparatschiki befürchten, wenn der „sozialistische Rechtsstaat“, wie er in der achten These anvisiert wird, Wirklichkeit würde. Die Menschenrechte müßten, so wurde verlangt, besser als bisher geschützt werden. Nach den Absichtserklärungen zu urteilen, sollte die Justiz der Bevormundung durch die Partei wenigstens zum Teil entzogen werden.

Während der letzten Wochen vor der Unionsparteikonferenz schwankte die Stimmung in Moskau zwischen Hoffnung und Resignation. Einige schrieben den „kleinen Parteitag“ schon ganz ab, da es bei den Wahlen der Delegierten ohnehin nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Andere schienen mit ihrem Reformeifer jeden Sinn für die Realität zu verlieren. F. Burlatzkij plädierte dafür, daß der Generalsekretär auch das Amt des Staatspräsidenten übernehmen sollte Lettische Intellektuelle hielten die Zeit für gekommen, die Anerkennung Lettlands als souveräner Staat mit einer eigenen Vertretung in der UNO zu fordern 100 000 Menschen verabschiedeten die estnische Delegation vor der Abreise zur Parteikonferenz mit einer Kundgebung Sie dürften vor allem mehr kulturelle und ökonomische Autonomie für ihre Unionsrepublik erwartet haben. 4. Die Eröffnungsrede Gorbatschows Am 28. Juni wurde die 19. Unionsparteikonferenz im Kongreßpalast des Kreml eröffnet. 4 991 Delegierte nahmen an ihr teil. Als Gäste waren einige kommunistische Intellektuelle wie T. Saslawskaja, G. Popow und N. Schmeljow zugelassen, denen die Nominierung als Delegierte nicht gelungen war, und auch einige Parteilose wie W. Astafjew, J. Jewtuschenko. D. Lichatschow und W. Rasputin — allesamt Wortführer der Glasnost.

In seinem Eröffnungsrefert behandelte Gorbatschow in einem mehr als dreistündigen, fast lieblos heruntergelesenen Bericht die beiden Punkte der Tagungsordnung: die Bilanz nach dem XXVII. Parteikongreß und vor allem die Demokratisierung Er führte breiter aus, was in den Thesen nur angedeutet war, hielt sich aber weder an die Reihenfolge noch exakt an die Thesen. Er hat ganz offensichtlich in den letzten Tagen vor der Konferenz noch Anregungen in sein Referat eingefügt, die wahrscheinlich nur mit den Politbüromit-gliedern und anderen Spitzenfunktionären besprochen worden waren, aber nicht mit dem ZK. Das politische System sei „in der bekannten Etappe“ (zur Zeit Stalins) deformiert worden, sei aber trotz des XX. Parteikongresses (auf dem sich die Entstalinisierung Bahn brach) nicht imstande gewesen, der zunehmenden Stagnation (unter Breshnew) Einhalt zu gebieten. Ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung sei in staatliche und gesellschaftliche Gremien gewählt worden, ohne daß die meisten überhaupt eine Rolle gespielt hätten. Das öffentliche Leben sei übermäßig verstaatlicht worden. Die Partei müsse sich aus dem staatlichen Sektor (mehr oder weniger) zurückziehen und die Sowjets, die oft nur ein Schattendasein gespielt hätten, sollten mehr Verantwortung erhalten: „Keine einzige staatliche, wirtschaftliche oder soziale Frage darf unter Umgehung der Sowjets entschieden werden.“ Für die überwältigende Mehrheit der Delegierten muß es überraschend gewesen sein, als Gorbatschow empfahl, die Ersten Sekretäre der Parteikomitees nach geheimer Wahl zu Vorsitzenden der Sowjets auf der entsprechenden Ebene zu berufen. Dabei könne der Kandidat allerdings auch von den Sowjetdeputierten abgelehnt werden. Wenn er aber einmal als Sowjetvorsitzender gewählt sei, erhalte der Sowjet eine größere Autorität und könne das Exekutivkomitee (ispolnitel’nyj komitet = ispolkom) wirksamer kontrollieren.

Gorbatschow schlug dann einen gründlichen Umbau an der Spitze der Sowjetpyramide vor, womit er ebenfalls weit über die Thesen hinausging. Neben den Unions-und Nationalitätensowjets mit jeweils 750 Deputierten solle ein dritter Sowjet treten, der ebenfalls rund 750 Deputierte haben könne, die von den gesellschaftlichen Organisationen (Partei, Gewerkschaft, Genossenschafts-, Jugend-, Frauen-, Veteranen-und Forschungsorganisationen) gewählt würden. Auf Vorschlag Gorbatschows sollten alle drei Kammern mit zusammen 2 250 Mitgliedern ein neues Organ bilden: den Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR, der einmal im Jahr zu seinen Sitzungen zusammentreten sollte.

Aus den Reihen der 2 250 Volksdeputierten sei ein Oberster Sowjet der UdSSR zu wählen, bestehend aus 400 bis 450 Mitgliedern und in zwei Kammern gegliedert, der ein ständiges gesetzgebendes Verfügungs-und Kontrollorgan sein sollte. Der Kongreß der Volksdeputierten könne des weiteren auch ein Komitee für Verfassungsaufsicht wählen. Nachdem Gorbatschow die kontroversen Ansichten über das Verhältnis der Spitzenämter in Partei und Staat unterbreitet hatte, entwickelte er vermutlich seine eigenen Vorstellungen von einem Präsidialsystem. Das Amt des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet (das gegenwärtig der 79jährige Gromyko einnimmt) solle dem Posten eines Vorsitzenden des Obersten Sowjet der UdSSR weichen. Zusätzlich zu den üblichen repräsentativen Aufgaben eines Staatsoberhaupts könne dieser Vorsitzende weitreichende Befugnisse erhalten. Er solle die Vorbereitung von Gesetzen einleiten, Entscheidungen zur Außenpolitik, Verteidigung und Sicherheit treffen, dem Verteidigungsrat vorstehen und ein Vorschlagsrecht für das Amt des Regierungschefs haben. Ohne daß Gorbatschow es eigens sagte, dürfte allen seinen Zuhörern klar gewesen sein, daß der Generalsekretär das neue Amt des Staatspräsidenten in Personalunion ausüben wollte.

Die Konferenzdelegierten haben das Referat Gorbatschows mit seiner Fülle von alten und neuen Vorschlägen augenscheinlich mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen. Oft erhielt er gerade dann Beifall, wenn er traditionelle Werte und Ideale der Partei beschwor. 5. Die Klagen der Redner Nach Gorbatschow traten 70 Delegierte ans Rednerpult. Sie legten, wie es zu erwarten war, ein Bekenntnis zur Perestrojka ab, weniger zur Glasnost, manchmal auch zu Gorbatschow selbst. Nach einem etwas schwerfälligen Start brach dann der Wirtschaftswissenschaftler L. Abalkin das Eis -Er bestritt, daß es in der Wirtschaft zu einer radikalen Wende gekommen sei. Er schien sogar in Zweifel zu ziehen, daß die gegenwärtige Führung genügend von Politökonomie verstehe. Die Vereinigung der Funktionen des Ersten Sekretärs und des Sowjetvorsitzenden stehe im Gegensatz zu der gewünschten Trennung von Partei-und Staatsorganen. Schließlich fragte er: „Sind wir in der Lage, unter Beibehaltung der sowjetischen Gesellschaftsorganisation und des Einparteiensystems das gesellschaftliche Leben mit Sicherheit demokratisch zu gestalten? Ja oder nein? Und wenn ja, dann wie?“ Viele Redner ließen erkennen, daß Abalkin eine Reihe von wunden Punkten berührt hatte. Sogar Gorbatschow war allem Anschein nach so irritiert, daß er Abalkin vorhielt, die Bedeutung der System-reform zu verkennen.

Die Konferenz war nicht nur eine Demonstration zur Unterstützung der geplanten Reformen, sie wurde auch zur Klagemauer. Wenn man die Einzelinformationen in den verschiedenen Referaten zusammenträgt. so ergibt sich kein strahlendes Bild der Sowjetunion, wenn auch fast immer betont wurde, daß es seit der Wahl Gorbatschows bergauf gehe. Aus dem Mund des Vorsitzenden des Staats-komitees für Volksbildung war zu hören, daß eineinhalb Millionen Kinder keinen Platz im Kindergarten gefunden hätten, daß die Hälfte der Schulen ohne Zentralheizung, Wasserleitung und Kanalisation sei und ein Viertel der Schüler in zwei oder drei Schichten unterrichtet werden müsse Der Komsomolchef erklärte, daß trotz der neuen Impulse, die von der Partei ausgingen, unter der Jugend noch Apathie und Mißtrauen herrsche und daß bei ihr „revolutionäre Phrasen“ Anklang fänden Vonmehreren Seiten wurde festgestellt, daß die Bauern bislang zu kurz gekommen seien, daß es aus der Breshnew-Zeit noch „Reste der Leibeigenschaft“ gebe. W. Starodubzew erinnerte an die Kollektivierung und die Industrialisierung, die auf dem Rükken der Bauern ausgetragen worden sei. Er fuhr fort: „Alles, was die Bauern besaßen, wurde dem Volk und dem Staat gegeben . . . Die Zeit ist gekommen, gebt uns wenigstens einen Teil der Schulden zurück und wir werden das Lebensmittelproblem lösen.“

Nur in einigen wenigen Beiträgen wurde gesagt oder angedeutet, daß die arbeitende Bevölkerung gegenüber den Reformen offensichtlich reserviert ist. Einmal hieß es, die Arbeitsdisziplin auf dem Land sei lasch. Starodubzew räumte ein, daß es schwer sei, die Menschen wachzurütteln. Er sagte unumwunden, daß es für eine revolutionäre Zeit auf allen Ebenen seltsam still sei und daß die Stagnation bis zum heutigen Tag fortschreite. Einige monierten, daß es in den Geschäften oft am Nötigsten fehle, Fleisch so gut wie gar nicht zu bekommen sei und die Preise ohne Kontrolle stiegen. Die Arbeiter könnten keine Resultate nach der dreijährigen Zeit der Reformen erkennen

Der Mythos der sowjetischen Überlegenheit wurde teilweise mit Eifer demontiert. Der Gesundheitsminister räumte ein, daß man in der Kindersterblichkeit weltweit den 50. Platz einnehme — nach Mauritius und Barbados In der Grundlagenforschung, so der Präsident der Akademie der Wissenschaften, hinke die Sowjetunion weit hinter den USA her W. Kabaidse gab in einem kabarettistischen Beitrag zum besten: Für ein und dasselbe Objekt brauche man in Nordkorea neun Monate und in der Sowjetunion acht Jahre — „und ich fürchte, daß ich die Erde von unten sehen werde, bevor man über den Papierkram hinaus ist“

Es wurde nicht nur Kritik an den Altlasten geübt, sondern auch an Maßnahmen, die von der heutigen Führung zu verantworten sind. Daß die Antialkoholkampagne im Politbüro zu einer stärkeren Ernüchterung als in der Bevölkerung geführt hat, ist inzwischen wohl kein Geheimnis mehr. „Wer ist“, fragte ein Redner, „eigentlich für diese Kampagne verantwortlich?“ Der indirekte Vorwurf galt entweder dem gesamten Politbüro oder aber Ligatschow, der allgemein als Initiator des Kreuzzugs gegen den Wodka gilt. Auch das Gesetz über die Staatsbetriebe blieb nicht ungeschoren. Schließlich wurde es sogar für möglich gehalten, daß die gesamte Wirtschaftsreform scheitert. 6. Die ungeliebte Glasnost Keine Neuerung wurde aber so angefeindet wie die Glasnost. Die „Exzesse“ der Medien versetzten offensichtlich den größten Teil der Delegierten in Rage. Den Galionsfiguren der progressiven Presse schlug auf der Parteikonferenz eine Welle der Ablehnung entgegen. W. Afanasjew, der Chefredakteur der „Pravda“, konstatierte: „Warum herrscht in diesem Saal eine deutliche Feindseligkeit gegenüber der Presse und ihren Vertretern?“ Wenn es auch nicht mit letzter Deutlichkeit gesagt wurde, gaben viele der Glasnost die Schuld, daß Begriffe wie „Heimat“, „Vaterland“ und „Patriotismus“ inzwischen teilweise verpönt sind. Ein Armeekommandant, der in dezidierter Form den Krieg in Afghanistan rechtfertigte, warnte: „Niemand, nicht einer in unserem Land hat das Recht, den Glauben der Jugend an die heutige Pflicht einer nicht umsonst durchlebten Militärzeit zu zerstören.“ Die militärische Bedrohung sei noch immer aktuell.

Es war der Literaturfunktionär J. Bondarew, der sich mit Leidenschaft dagegen verwahrte, daß heute alles in Frage gestellt werde: „Und diese nihilistische Kritik ist zur bestimmenden Kraft in der Presse geworden . . . Diese Extremisten haben mit ihrer Strategie, die übrigens nicht dem Chaos entsprungen ist, sondern von langer Hand geplanten Positionen, nicht wenig erreicht. Verloren geht das Vertrauen in die Geschichte, fast in die ganze Vergangenheit. in die ältere Generation . . . Die Sittenlosigkeit der Presse kann nicht zur Moral erziehen. Die Amoralität der Ideologie zieht eine geistige Verderbnis nach sich.“

Besonders fühlten sich die Funktionäre wohl dadurch getroffen, daß die Journalisten weder die Arbeit der Parteikomitees noch sie persönlich mit ihrer Kritik verschonten. Angesichts der Pauschal-verurteilung der Bürokratie glaubte G. Melnikow Fürsprache für das Gros der Funktionäre einlegen zu müssen, die in der Regel nur das Privileg hätten, 12 bis 14 Stunden am Tag zu arbeiten Er fügte mahnend hinzu: „Aber während es früher ein Gefühl moralischer Genugtuung gab. kann dies in der Perestrojka zum Teufel gehen. Ohne die Autorität des Parteifunktionärs ist die Autorität der Partei nicht denkbar. Zur Festigung und Mehrung dieser Autorität müssen alle beitragen, Michail Sergejewitsch, auch der Generalsekretär.“ Die Delegierten dankten dem Redner für diese Sätze mit Beifall. Auch W. Karpow, Erster Sekretär der Leitung des Schriftstellerverbandes, warnte vor der generellen Diffamierung der Bürokratie: „Kann man ganz allgemein ohne Führung, ohne Leitung auf irgendeinem Gebiet auskommen? Das ist ein Idealismus, der zur Anarchie führt.“

Allen lautstarken Unmutsäußerungen zum Trotz haben sich W. Afanasjew („Pravda“), G. Baklanow („Znamja“) und M. Uljanow (Theaterverband der RSFSR) mutig für mehr Offenheit in den Medien geschlagen. Auffallenderweise hat sich Gorba-tschow nicht eindeutig auf die Seite der Glasnost-Verfechter gestellt. Wenn schon der Meinungspluralismus auf so große Widerstände stieß, konnte es nicht ausbleiben, daß man dem Mehrparteiensystem von den verschiedensten Seiten nicht die geringste Chance gab.

Es war für die Oberste Parteiführung sicher eine schmerzliche Erfahrung, daß einige von ihnen auf der Parteikonferenz offen angefeindet wurden. G. Melnikow sprach sich für die Ablösung von M. Solomenzew, A. Gromyko, W. Afanasjew und G. Arbatow aus. 7. Jelzin und Ligatschow Am vierten Konferenztag kam es zum Schlagabtausch des ehemaligen Moskauer Parteichefs B. Jelzin mit J. Ligatschow.dem nach Gorbatschow ranghöchsten ZK-Sekretär Jelzin hatte kurz zuvor in einem Interview mit einer amerikanischen Fernsehgesellschaft auf die Frage, ob die Perestrojka ohne Ligatschow schneller von der Stelle komme, mit einem schlichten Ja geantwortet. Vor den Delegierten erläuterte er, wie es zu diesem Interview gekommen sei. Er wünschte wie Melnikow, daß einige Politbüromitglieder aus Breshnews Tagen noch zu deren Lebzeiten zur Rechenschaft gezogen würden. Die Korrumpierung habe sich damals so tief eingefressen, daß man sogar von der Existenz einer Mafia sprechen könne. Kein anderer hat auf der Konferenz wie Jelzin die Reformpolitik seit 1985 mit einer solchen Lust auf Schwachstellen abgeklopft.

Die Perestrojka, verkündete er, sei ohne gründliche Analyse der Vergangenheit begonnen worden. Man verlasse sich einfach zu sehr auf die Zündkraft von Parolen. In Wirklichkeit seien aber auch drei Jahre nach der Perestrojka keine überzeugenden Resultate zu erkennen, so daß man von revolutionären Umwandlungen nicht sprechen könne. Wenn es noch nicht zu einer allgemeinen Enttäuschung gekommen sei, dann sei dies damit zu erklären, daß das Land unter „einer Hypnose von Worten“ stehe.

Man hätte das Reformwerk mit dem Umbau des politischen Systems einleiten müssen. Es sei ein Fehler, Pläne für das Jahr 2000 zu schmieden. Vielmehr sollte man sich alle zwei bis drei Jahre höchstens zwei konkrete Aufgaben stellen, die, wenn sie tatsächlich gelöst würden, das Vertrauen in die Reform stärken könnten.

Jelzin sprach vermutlich als einziger offen aus. daß es nach wie vor Tabuzonen gibt, die selbst ZK-Mitglieder daran hinderten, ihre Meinung zu sagen. Er bekannte, von der Idee überrascht worden zu sein, dem Ersten Sekretär auch das Amt des Sowjetvorsitzenden anzuvertrauen. Er plädierte für eine drastische Verkleinerung des Parteiapparats. Die Parteifunktionäre sollten keine Vergünstigungen mehr erhalten — der Mangel an Waren müsse für alle spürbar werden. Als ob er die Nerven seiner Zuhörer noch nicht genug strapaziert hätte, forderte Jelzin, der Ende 1987 als Parteichef von Moskau nach schweren Beschuldigungen abgelöst worden war, seine Rehabilitierung.

Jelzins Rede drohte zeitweise in einem allgemeinen Tumult unterzugehen. Nichtdestoweniger wurde aus Beifallskundgebungen wie aus späteren Reden deutlich, daß Jelzin durchaus nicht völlig isoliert war. Ligatschow, Jelzins Intimfeind, ließ die offenen und versteckten Vorwürfe an ihn, seine Gesinnungsgenossen und das Politbüro nicht auf sich beruhen. Jelzin, so ließ er die Delegierten wissen, sei so extrem geltungssüchtig, daß er an keiner Tribüne vorbeigehen könne, ja sich notfalls an bürgerliche Medien wende. Auf den wöchentlichen Politbüro-sitzungen habe er dagegen den Mund kaum aufgemacht. Ligatschow erinnerte daran, daß er selber während der Breshnew-Zeit in Sibirien war, also nicht für die Fehler des früheren Politbüros verantwortlich gemacht werden könne. Es sei ihm in Tomsk gelungen, die Bevölkerung ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen, während Jelzin in Swerdlowsk auf Lebensmittelkarten zurückgegriffen habe. Da die „Konservativen“ in jüngster Zeit immer unverhüllter attackiert worden seien, erwähnte Ligatschow, daß Tschebrikow, Solomenzew, Gromyko und eine „große Gruppe Erster Sekretäre von Gebietskomitees“ nach dem Tode Tschernenkos die Wahl von Gorbatschow überhaupt erst möglich gemacht hätten.

Von einer Spaltung im Politbüro wollte er nichts wissen. Demonstrativ fand er zweimal lobende Worte für Gorbatschow. Er vergaß auch nicht zu sagen, daß er das ZK-Sekretariat leite. Erwünschte offensichtlich eine langsamere Gangart der Perestrojka. Schroff äußerte er sich über die Medien, die nach seiner Ansicht jedes Maß vermissen ließen. Als besonders problematisch erschien ihm die Moskauer Wochenschrift „Moskovskie novosti“. In den Medien würden die Sowjetmenschen früherer Jahrzehnte geradezu als Sklaven geschildert, die nur mit Lügen gefüttert worden seien. In Wirklichkeit hätten Millionen Kommunisten zur Zeit Stalins und Breshnews gewissenhaft ihre Pflicht erfüllt.

Heute würden die Parteigeschichte verfälscht und Leserbriefe tendenziös ausgesucht. Ligatschow unterstützte „voll und ganz“ die Rede des Literatur-funktionärs Bondarew, der am schärfsten die „Ausschreitungen der Glasnost“ angeprangert hatte. Bestärkt durch die heftige Kritik an den Medien, die auf der Konferenz geübt worden war, sprach er die Hoffnung aus, daß das ZK und die Redaktionen daraus die richtigen Lehren für die Zukunft ziehen würden. Ligatschow glaubte auch zur Ehrenrettung der Parteifunktionäre beitragen zu müssen, als er feststellte, daß der durchschnittliche Verdienst eines Parteiangestellten mit 216 Rubeln den 26. Platz in der Lohnskala des Landes einnehme. Alles in allem schien Ligatschow einem Großteil der Anwesenden aus dem Herzen zu sprechen. Er erhielt häufiger Zwischenapplaus als Gorbatschow während seiner Eröffnungsrede. 8. Die „Entschließungen" der Konferenz Der massive Vorstoß Jelzins, der an einige Tabus rührte, und die schroffe Erwiderung Ligatschows drohten, die Konferenz aus ihren vorbestimmten Bahnen zu tragen. Möglicherweise war der Zusammenstoß der beiden der Grund dafür, daß bald nach deren Reden die Diskussion um das Referat des Generalsekretärs beendet wurde. Der Freimut und die Zivilcourage mancher Delegierter waren das eigentliche Wunder dieser Konferenz. Im Lager der Konservativen wie in dem der Progressiven zeichnete sich eine deutliche Differenzierung ab. Den geschlossensten Block bildeten aber wohl die Ersten Sekretäre der Unionsrepubliken und der Gebiete, die insgesamt etwa 40 Prozent der Redner stellten. Sie tendierten im großen und ganzen zu einer mittleren Linie. Sie und nicht die Intellektuellen, die weit von den Schalthebeln der Macht entfernt sind, werden auch in Zukunft den Kurs der Partei entscheidend beeinflussen.

Am Abend des 1. Juli, an dem die Parteikonferenz zu Ende ging, wurden sechs Entschließungsentwürfe, die zuvor schon in den Kommissionen diskutiert worden waren, im Plenum erörtert. Mit einer einzigen Ausnahme, bei der es zwei Stimmenthaltungen gab, wurden alle Entschließungen einstimmig angenommen Mehrere Zusatzanträge wurden mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Die Einstimmigkeit muß angesichts der Divergenzen auf der Konferenz überraschen. Hier wirkte entweder der traditionelle Zwang zur Einheit nach oder aber die Entschließungen waren so auslegungsfähig, daß ihnen jeder zustimmen konnte.

In seinem Schlußwort ging Gorbatschow erstaunüch breit auf „das Drama des Genossen Jelzin“ ein was sowohl seine persönliche Betroffenheit als auch das dringende Bedürfnis in der Partei nach Aufklärung des Falls verriet. Der Grund, der Jelzin das Amt des Moskauer Parteichefs gekostet hatte, war wohl, wie man Gorbatschows Worten unschwer entnehmen konnte, der mehrfache Personalaustausch in Moskau gewesen. Gorbatschow war allem Anschein nach von Jelzin und auch von Abalkin, mit dem er sich schon vorher auseinandergesetzt hatte, enttäuscht, weil diese kein Verständnis für sein Taktieren in der gegenwärtigen Machtkonstellation aufbrachten.

In seinem Schlußwort sagte sich Gorbatschow vom „blinden Glauben an eine lichte Zukunft“ los und setzte seine Hoffnung auf realistischere Prognosen: „Eben deshalb sprechen wir von einem neuen, humanen Antlitz des Sozialismus als Ziel der Umgestaltung.“ Unverkennbar war der Anklang an den „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“, der 1968 in der SSR gefordert worden war. Gorbatschow sprach sich für ein Denkmal zu Ehren der Stalin-Opfer aus und ließ sich zu guter Letzt von der Konferenz einen Zeitplan für die Reorganisation des Parteiapparats wie der Staatsorgane absegnen. Im April 1989 soll schon der Kongreß der Volksabge-ordneten zusammentreten und die Spitze der Staatsmacht eine neue Struktur erhalten. Die Partei wurde massiv unter Druck gesetzt.

Vom Augenschein her war der Parteikongreß für Gorbatschow ein großer Triumph. Der Generalsekretär war die dominierende Persönlichkeit. Wer auch immer den Vorsitz führte — er war es.der den Rednern ins Wort fiel oder das aufgebrachte Plenum bat, einen Delegierten zu Ende reden zu lassen.

Trotz all seiner zur Schau getragenen Stärke war Gorbatschow jedoch nicht imstande, die 58 Plätze der „toten Seelen“ aufzufüllen, die durch Tod oder Ablösung der Funktionäre von ihren Ämtern frei geworden waren. Die rund 250 Mitglieder des Rumpf-ZK konnten sich erfolgreich dem Wunsch nach einer personellen Erneuerung des Gremiums widersetzen.

In den „Entschließungen“ wurde zur Demokratisierung der Gesellschaft, zur Reform des politischen Systems, zur Verbesserung der Nationalitätenpolitik, zur Glasnost und zur Rechtsreform aufgerufen Fast unüberschaubar waren die Vorschläge zur Rundumerneuerung der Sowjetunion. Auch wenn mit vielen dieser Ideen die Leidensgrenze der „Altgläubigen“ unter den Funktionären sicher überschritten wurde, so handelte es sich bei den angestrebten Maßnahmen weniger um eine Reform des Systems, sondern eher um eine Reform innerhalb des Einparteiensystems.

Einiges von den „Thesen“ wurde zur Gänze in die Entschließungen übernommen, während Vorschläge aus Gorbatschows Konferenz-Bericht manchmal gestrichen oder verändert wurden. So wurde beispielsweise die angestrebte Machtkonzentration in der Hand des Vorsitzenden des Obersten Sowjet nicht mehr erwähnt. Für das Amt des Vorsitzenden der Sowjets auf allen Ebenen sollte aber, wie Gorbatschow es vorgeschlagen hatte, der Erste Sekretär des gleichrangigen Parteikomitees zur Wahl empfohlen werden.

Alle Parteisekretäre (auch die des ZK) sollten nach Möglichkeit aus einem Kreis von mehreren Kandidaten geheim gewählt werden. Ihnen wie auch den Mitgliedern derjeweiligen Büros, auch den Politbüromitgliedern und dem Generalsekretär, dürfen gemäß der Entschließung nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden zugestanden werden. Der Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR soll entsprechend den Vorschlägen Gorbatschows gebildet werden.

In der „Entschließung über die Glasnost“, die in einer Kommission unter dem Vorsitz von A. Jakowlew entstanden ist, wird entgegen den Wünschen Ligatschows die neugewonnene Freiheit nicht begrenzt. Es heißt hier: „Niemand besitzt ein Monopol auf Wahrheit, und es darf auch kein Monopol auf Offenheit geben.“ Die sechs „Entschließungen“ wurden nicht unmittelbar nach der Konferenz, sondern erst nach einer Politbürositzung am 4. Juli ver-öffentlicht, auf der womöglich ihre endgültige Fassung festgelegt wurde. 9. Ein weiteres ZK-Plenum Das Politbüro beschloß, ein ZK-Plenum zum 29. Jyli einzuberufen, das sich mit den Realisierungsmöglichkeiten der Konferenzresolutionen befassen sollte. Allem Anschein nach konnte man sich jedoch auch auf dem ZK-Plenum nicht über die Modalitäten und das Ausmaß der Systemänderungen einigen Strittig scheint nach wie vor zu sein, welche Vollmachten der künftige Vorsitzende des Obersten Sowjet erhalten soll. In seiner Rede vor dem ZK-Plenum sprach Gorbatschow schon nicht mehr von der enormen Machtfülle, die er noch auf der Unionsparteikonferenz dem künftigen „Präsidenten“ zugedacht hatte. Er erklärte aber, daß der Vorsitzende des Obersten Sowjet seinen Stellvertreter, den Regierungschef, den Vorsitzenden des Komitees für Volkskontrolle und den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes zur Bestätigung vorstellen solle. In der ZK-Resolution wird dann überhaupt nicht mehr von der Personalunion der Ersten Sekretäre und der Sowjetvorsitzenden gesprochen. Es wurde eine Kommission mit Gorbatschow als Vorsitzenden gebildet, die die Vorschläge zur Verwirklichung der Systemreform vorbereiten soll. Immerhin hielt man am Terminplan fest. Wenn alles nach Plan verläuft, wird. Gorbatschow im April 1989 Vorsitzender des Obersten Sowjet. Das Tempo, das Gorbatschow anschlägt, ist atemberaubend. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß es den Reformern bitter ernst mit ihrer Absicht ist, das Herrschafts-und Wirtschaftssystem effizienter zu machen. Gorbatschow sieht offensichtlich solche Gefahren auf sein Land zukommen, daß er keine Zeit mehr verlieren will. Er ist allem Anschein nach bereit, aus der kollektiven Führung auszubrechen, um seine Pläne besser verwirklichen zu können. Die Vielfalt dessen, was im politischen Bereich geändert werden soll, ist so verwirrend, daß die Chancen der Reform kaum abzuschätzen sind. Für die gegenwärtige Situation ist eine merkwürdige Zweigleisigkeit typisch. Es gibt heute neue und alte Wirtschaftsmechanismen. Vielleicht wird es morgen neben den neuen politischen Strukturen auch die alten noch geben. Weiter soll ein Denkmal für die Opfer von Stalins Terror errichtet werden und zugleich bleibt das Grabmal Stalins an der Kreml-mauer erhalten. Die KPdSU selbst spricht mindestens mit zwei Zungen. Man kann in der „Pravda“ behaupten, daß es nie einen Sozialismus in der Sowjetunion gegeben hat und man kann auf der anderen Seite nach wie vor davon sprechen, daß man den Sozialismus aufbaut. Es bleibt unklar, wer oder was sich schließlich durchsetzen wird.

II. Lagebeurteilung und Entwicklungstendenzen der sowjetischen Wirtschaft

Die Wirtschaft war nicht das Hauptthema der 19. Unionsparteikonferenz der KPdSU und war doch stets präsent. Die Thesen des Zentralkomitees, Referat und Schlußwort des Generalsekretärs, die Diskussionsbeiträge der Konferenzteilnehmer sowie schließlich die verabschiedeten Resolutionen dokumentierten — deutlich wie nie zuvor auf einer so hohen Plattform — drei zentrale ökonomische Sachverhalte:

Erstens: Die Wirtschaftslage ist, gemessen an den Hauptzielen sowjetischer Wirtschaftspolitik — Wachstumsbeschleunigung, Modernisierung und Verbesserung des Lebensstandards — nach wie vor unbefriedigend. Der Zustand ökonomischer Stagnation ist bisher allenfalls ansatzweise überwunden worden. Gleichzeitig wachsen die Anforderungen an die sowjetische Wirtschaft weiter, und es vergrößert sich der Leistungsabstand zu den führenden westlichen Industrieländern: Leistungskrise und Wettbewerbskrise fallen zusammen.

Zweitens: Die bisher eingeleiteten Reformmaßnahmen haben noch nicht gegriffen, teils, weil die Bürokratie als viel attackierter Perestrojka-Hauptfeind die Hebel des „Bremsmechanismus“ betätigt und die Implementierung gefaßter Beschlüsse behindert, teils, weil das Konzept sowjetischer Wirtschafts-und Wirtschaftsreformpolitik bisher allzu widersprüchlich, unfertig und halbherzig ausfiel. Dies wiederum ist auf die Notwendigkeit politischer Kompromisse, auftheoretisch-konzeptionelle Defizite, nicht zuletzt aber auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, für die komplexe und widersprüchliche Struktur der wirtschaftspolitischen Ziele in der UdSSR ein konsistentes Bündel institutioneller und funktioneller Regelungen zu entwickeln.

Drittens: Gleichzeitig ist unverkennbar, daß die Entschlossenheit der Gorbatschow-Führung anhält, die ökonomischen Mißstände durch veränderte Wachstumsstrukturen sowie zunehmenden Nachdruck auf Wirtschaftsreformen zu überwinden, wobei die „radikale Wirtschaftsreform“ nunmehr durch die „Reform des politischen Systems“ ergänzt werden soll. Diese „politische Reform“ wird — entsprechend der Intention der Führung — nicht den Rahmen des Einparteiensystems, „wie es sich geschichtlich ergeben und durchgesetzt hat“, sprengen. Doch war nicht so sehr die Apologie des Einparteiensystems das zentrale Thema der Konferenz als vielmehr die Suche nach Institutionen für Demokratisierung, Interessen-und Meinungspluraiismus sowie gesellschaftliche Dynamik und Autonomie „innerhalb des Systems“. Die Materialien der Konferenz haben unterschiedlichen Charakter. Gorbatschows Referat war geschlossen, wenn auch nicht konsistent, wobei die „Thesen des Zentralkomitees“ teils aufgegriffen, teils beiseite gelassen, teils weitergeführt wurden. Zentrale Vorschläge fanden sich später in Substanz und Begrifflichkeit der „Entschließungen“ der Konferenz wieder, ein Beispiel für den gegenwärtigen Prozeß der Umsetzung von Führungskonzeptionen in Programmdokumente Die Beiträge der Delegierten waren ihrer Funktion gemäß heterogen, aphoristisch, von unterschiedlicher Qualität. Sie vermittelten weniger Systematik als Impressionen von Bewußtsein, Problemlage und Stand der innersowjetischen Diskussion. Insgesamt war die Parteikonferenz nicht mehr als eine weitere Etappe im reformerischen Aufbruchversuch und (noch) keine systempolitische Ankunft. Ihre Bedeutung ist die einer Durchgangsstation im Prozeß der innersowjetischen Auseinandersetzung um die Formierung einer veränderten Politik, die vor allem dem Generalsekretär als Plattform zur Demonstration politisch-konzeptioneller Weiterentwicklungen gedient hat. Das Ende Juli abgehaltene ZK-Plenum bestätigte Gorbatschows derzeitige konzeptionelle Offensive, hat aber durch die neuen Reformakzente auch die Konflikte innerhalb der sowjetischen Führung verschärft 1. Impressionen zur Wirtschaftslage Der Tenor der von Gorbatschow und vielen Konferenzdelegierten vorgenommenen Einschätzung der wirtschaftlichen Lage war überwiegend negativ. Wenn sich der Generalsekretär und andere Redner auch um ein Auflisten günstigerTendenzen bemühten, so geschah dies meist nur als Übergang zu harscher Kritik.

Gorbatschow und viele Konferenzredner hatten jedoch in der Tat gute Gründe, sich nicht allzulange mit positiven Tendenzen zu befassen. Die meisten der in der UdSSR gegenwärtig zur Wirtschaftsentwicklung veröffentlichten Kommentare dokumentieren, wie mühsam der Weg zur Wirtschaftssanierung ist und stehen so auch im Widerspruch zu manchen statistischen Daten, die — wie zuletzt auch der Bericht des Staatskomitees für Statistik über das erste Halbjahr 1988 — eine „beschleunigte Gesundung der Wirtschaft“ anzeigen. Die Kritik des Generalsekretärs konzentrierte sich auf folgende zentrale Gesichtspunkte:

Erstens: Die Verbesserungen bei Modernisierung und technischem Fortschritt sind zu gering. Der Produktionsprozeß ist immer noch viel zu aufwendig. was auf Ressourcenverschwendung hinausläuft und — ungebrochener „Kult des Brutto“ — auch eine irreführende Wachstumsstatistik zur Folge hat. Das vergleichsweise niedrige Niveau technologischer Innovation ist nicht überwunden. Die Modernisierung des Maschinenbaus als Bedingung für die angestrebte „Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft“ und als Voraussetzung für eine nachhaltige Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hatte nicht den gewünschten Erfolg. Der chronische „Teufelskreis“: stagnierende Technik — Ressourcenverschwendung — administrativer Leistungsdruck auf die Betriebe — Qualitätsvemachlässigung und stagnierende Technik konnte noch nicht durchbrochen werden.

Zweitens: Hauptpunkt der Kritik Gorbatschows war die unzureichende Entwicklung des Lebensstandards der Bevölkerung. Insbesondere beklagte der Generalsekretär die anhaltenden Engpässe bei der Lebensmittelproduktion: Im Grunde genommen sei die in den letzten Jahren erzielte Zunahme der Lebensmittelerzeugung lediglich für die Dekkung des mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Zusatzbedarfs verwendet worden. Auch bleibe das Angebot an Waren und Dienstleistungen immer noch hinter der wachsenden Kaufkraft der Bevölkerung zurück, und nicht zuletzt gäbe es trotz einer Reihe von Teilverbesserungen viele alte und neue Probleme beim Wohnungsbau.

Schließlich machte Gorbatschow erneut deutlich, daß neben güterwirtschaftlichen Engpässen auch ernsthafte Beeinträchtigungen des monetären Gleichgewichts der Gesamtwirtschaft der angestrebten ökonomischen Gesundung des Landes im Wege stehen. In diesem Zusammenhang bemängelte er den Zustand der Staatsfinanzen: „Das Haushaltsdefizit lastet auf dem Markt, untergräbt die Stabilität des Rubels und der gesamten Geldzirkulation und verursacht Inflationsprozesse.“

Kritischer noch als die Bilanz des Generalsekretärs fiel die Gesamteinschätzung der Wirtschaftslage durch den Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Akademie der Wissenschaften, L. Abalkin, aus den im Kontext der Ökonomie bemerkenswertesten Sprecher der Konferenz. Abalkins Beurteilung kann wie folgt zusammengefaßt werden:

Die Wirtschaft befindet sich nach wie vor im Zustand der Stagnation. Das Nationaleinkommen ist in den letzten beiden Jahren sogar noch langsamer gewachsen als in den „Stagnationsjahren des 11. Planjahrfünfts“. Die erreichten Effizienzverbesserungen sind minimal. Die 1986 und 1987 erfolgten Strukturveränderungen vollzogen sich in Gegenrichtung zum Plan (in der Industrie beispielsweise das Verhältnis der Produktionsgruppen A und B), weil — auf insgesamt zu niedrigem Niveau — das Tempo der Produktionsmittelerzeugung über dem Wachstum der Konsumgüterproduktion lag. Die Lage auf dem Verbrauchermarkt hat sich verschlechtert. Beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt „vergrößert sich der Rückstand gegenüber dem Weltniveau weiterhin und nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an.“Alle diese Klagen wurden in vielen Delegiertenbeiträgen unterstrichen. In den vorgetragenen Beschwerden spiegelten sich alle bekannten Probleme der sowjetischen Wirtschaft. Sei es aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, sei es aus der Mikroperspektive von Regionen und Betrieben — es wurden immer wieder drei große Mängelkomplexe angesprochen: — Probleme der regionalen Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsentwicklung, von unzureichender Standortpolitik über Mängel des intraregionalen Leistungstransfers bzw. Finanzausgleichs bis hin zu massiver regionaler Arbeitslosigkeit (für Aserbaidshan lassen die Angaben des dortigen Parteichefs auf eine Arbeitslosenquote um 10 Prozent mit Schwerpunkt Jugendarbeitslosigkeit schließen). — Gravierende Umweltprobleme in allen Teilen der UdSSR („Die Ostsee ist verseucht“ . . . „Der Aralsee ist, ökologisch gesehen, tot“), was F. Morgun, dem Vorsitzenden des sowjetischen Umwelt-schutzkomitees, Anlaß zu leidenschaftlicher Anklage gab: „Die ökologischen Probleme entstehen nicht von selbst. Sie sind die Folge unserer Stümperhaftigkeit, Mißwirtschaft und Verantwortungslosigkeit in technischer und ökologischer Hinsicht.“ — Vor allem aber ging es immer wieder um den stagnierenden Lebensstandard und seine Konsequenzen für Arbeitsmotivation und politische Orientierung der Bevölkerung. Als „Arbeiterstimme zum schmerzlichen Alltag“ zitierte etwa Walzwerker W. Jarin: „Wo ist die Perestrojka? In den Geschäften beispielsweise sieht es mit Lebensmitteln genauso schlecht aus wie früher. Sogar Zucker ist nur gegen Bezugsscheine erhältlich. Fleisch gab es und gibt es nicht.“ Betriebsparteisekretär W. Platonow zog hieraus die politischen Konsequenzen: „Die sowjetischen Menschen werden die Perestrojka erst dann fühlen, wenn wir genügend Lebensmittel und Gebrauchsgüter erzeugen und sich die Lebens-und Arbeitsbedingungen verbessert haben.“ Andererseits aber — so KFZ-Mechaniker A. Melnikow aus Kuibyschew — wird „der Erfolg der Perestrojka in ausschlaggebendem Maße davon abhängen, inwieweit sich die einfachen Arbeiter sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft aktiv in den gesellschaftlichen Prozessen engagieren werden“

Die Mißstände beim Lebensstandard veranlaßten Gorbatschow, im Schlußwort der Konferenz und verstärkt auf dem Juli-Plenum des ZK. nachdrücklich Struktur-und systempolitische Abhilfen zu fordern und vor allem eine Intensivierung der Reformen in der Landwirtschaft anzukündigen. 2. Ursachen: Bürokratie als Hauptfeind der Perestrojka Die Ursachen der vielfältigen Wirtschaftsschwierigkeiten wurden — mit Unterschieden in Gewichtung und analytischem Ansatz — erneut auf die notorische Mängeltrias: Versagen des „Faktors Mensch“, verfehlte Strukturpolitik und Mängel des planwirtschaftlichen Systems bzw.des „Wirtschaftsmechanismus“ zurückgeführt. Das „Bürokratiesyndrom“ stand dabei im Vordergrund.

Zum „menschlichen Faktor“ gab es bekannte Stichwörter: mangelhafte Disziplin auf den verschiedenen ökonomischen Aktivitätsebenen, Verantwortungslosigkeit, Schmarotzertum, fehlende Motivation, häufig zurückgeführt auf kontraproduktive Anreizmechanismen und nicht zuletzt auch auf eine unzureichend entwickelte soziale Infrastruktur, bürokratische Verhaltensweisen, Konservatismus, Angst vor dem Neuen.

Zur Demonstration verfehlter Strukturpolitik wurde auf die Vernachlässigung „moderner Zweige“ sowie konsumnaher Bereiche bei den Investitionen verwiesen. Diese Entwicklung vollzog sich fatalerweise bei einem insgesamt beschleunigten Wachstumstempo der Investitionen, so daß dem Konsum Mittel entzogen wurden, ohne daß von der Kapitalbildung nachhaltige Modernisierungseffekte ausgegangen wären und sich hierdurch die Wachstumsbedingungen für die Zukunft verbessert hätten. Eine solche Absicht war aber expressis verbis die Grundlage der im 12. Fünfjahrplan gegenüber dem 11. Planjahrfünft geänderten Investitionsstrategie gewesen

Die anhaltenden Dysfunktionen des Wirtschaftsmechanismus werden in erster Linie mit dem unzureichenden Stand der Verbesserung von Leitungssystem und Wirtschaftsmechanismus durch Fortschritte bei der „radikalen Wirtschaftsreform“ identifiziert. Gorbatschow hatte hierfür eine Reihe von Gründen zur Hand: Man habe noch nicht alle Komponenten des neuen Mechanismus einführen können, weil mit der Realisierung der Reform „aus der Bewegung“ heraus, d. h. während eines laufenden Planjahrfünfts, begonnen worden sei, also unter den Bedingungen bereits festgelegter Struktur-pläne, veralteter Preise sowie unveränderter Methoden zentraler Ressourcenzuteilung durch das System der materiell-technischen Versorgung. Weiter sei eine Reihe notwendiger Reformregelungen „in gewisser Hinsicht noch nicht richtig herausgearbeitet“ worden, womit konzeptionelle Defizite eingeräumt werden. Vor allem aber entsprängen die anfallenden Schwierigkeiten „den zählebigen Stereotypen des Wirtschaftens, dem Wunsch, die altgewohnten befehlsmäßig-administrativen Leitungs-methoden in der Wirtschaft zu erhalten, und dem Widerstand, den ein Teil der Leitungskader dem Neuen leistet“.

Insbesondere die Ministerien wurden von Gorbatschow und dann auch von vielen Konferenzdelegierten auf die Anklagebank gesetzt. Dabei wurde nicht immer Verständnis für den Kern des Problems offenbar. An die Stelle einer dringend erforderlichen funktionellen Analyse von Bürokratie und „Bürokratismus“ trat vielfach eine Personalisierung des Bürokratieproblems. Die Bürokratie erschien als Anti-Perestrojka-Mafia, Bürokratismus als partei-und politikschädigendes Fehlverhalten, Minister wurden für schlecht befunden, gleichzeitig aber „Koordinationszentralen“ gefordert: hier zeigt sich genau der von Abalkin zu Recht kritisierte „oberflächliche Ansatz“, den er zumindest indirekt auch dem Generalsekretär anlastete und als dessen Folge er offensichtlich zu kurz gegriffene Politikkonzepte befürchtet.

Für Abalkin folgt bürokratisches Verhalten (und damit auch Kontinuität des Apparates) in erster Linie aus einer Zielstruktur, die aufgrund ihrer Beschaffenheit Verzicht auf bürokratische Intervention verhindert. Das von ihm gewählte Beispiel sind die auf „Beschleunigung“ angelegten Wachstums-ziele des 12. Fünfjahrplans, die den administrativen „Druck“ konservieren und so Qualitätsorientierung der Wirtschaft wie Reform im Wege stehen. Notwendig sind folglich ein neues Zielverständnis und der Übergang zu einem damit konformen „völlig anderen System“. Abalkin sieht dieses System im Komplex der Reformbeschlüsse vom Juni 1987. Ob diese Lösung ausreichen würde, ist in Anbetracht der Unvollständigkeit und Inkonsistenz des Projektes zu bezweifeln. Auch ließen sich die von Abalkin betonten Zusammenhänge zwischen der wirtschaftspolitischen Zielstruktur, der Wirtschaftsreform und dem Gewicht der Bürokratie oder umgekehrt der angestrebten Entbürokratisierung noch eindrucksvoller am Beispiel des militärisch-industriellen Komplexes demonstrieren. Doch sind für diesen Bereich trotz Glasnost offensichtlich immer noch Erörterungstabus zu respektieren. Vielleicht liegt hier auch der Grund für Gorbatschows Attacke auf Abalkin, mit dem er sonst in vielerlei Hinsicht übereinstimmt und der zu seinen ökonomischen Beratern gerechnet wird.

Auch der Reformer Gorbatschow muß als Führer der Weltmacht UdSSR in einer latent konfliktträchtigen internationalen Situation — und nicht zuletzt in Anbetracht der von ihm beklagten schlechten Haushaltslage — an der uneingeschränkten Möglichkeit eines direkten administrativen Zugriffs auf die Ressourcen der Schwer-und Rüstungsindustrie interessiert sein. Dies bedeutet eine Beschränkung des Reformspielraums und damit auch, daß die Waffe „Veränderung ökonomischer Beziehungen“ (Abalkin) bzw. „radikale Wirtschaftsreform“ im Kampf gegen den Perestrojka-Hauptfeind Bürokratie nur in den Grenzen einsetzbar ist, in denen die administrative Wirtschaftsplanung zur Disposition steht. Soll und muß dennoch der „Bürokratismus“ bekämpft werden, weil er ökonomische Effizienz behindert und gesellschaftliche Dynamik dämpft, so bleibt — teils als Flankierung, teils als Substitut der Wirtschaftsreform — eben die von Gorbatschow vehement verteidigte Umgestaltung des Überbaus, die „Reform des politischen Systems“ — so lange jedenfalls, bis ein neuer strukturpolitischer „Prioritätsvertrag“ eine wirklich weitergehende Wirtschaftsreform ermöglicht. 3. Wirtschaftsreform und politische Reform Nach Parteikonferenz und Juli-Plenum des Zentralkomitees sind im wesentlichen drei Schwerpunkte zukünftiger sowjetischer Wirtschafts-und Wirtschaftsreformpolitik erkennbar geworden:

1. Nachdruck auf Weiterführung und politische Flankierung der im Juni 1987 beschlossenen „radikalen Wirtschaftsreform“;

2. Intensivierung der Reformen in konsumnahen Bereichen durch breite Anwendung des „Pachtsystems“ (nicht nur in der Landwirtschaft) und Förderung von Genossenschaften;

3. Ad-hoc-Maßnahmen zur Vergrößerung des Lebensmittelangebots sowie konsumorientierte Umschichtung der ökonomischen Entwicklungsproportionen und ihre Verankerung im kommenden 13. Fünfjahrplan der UdSSR.

Was die weiteren Konzepte für die Wirtschaftsreform und ihre Verbindung mit politischen Reformen betrifft, so soll zunächst die „radikale Wirtschaftsreform“ auf zweifache Weise weitergeführt werden. Einmal soll die Verwendung neuer Institutionen — wie vor allem der „Staatsaufträge“ — für alte, befehlswirtschaftlich-administrative Zwecke gestoppt werden. Beschränkung ihrer Zahl und Vergabe lediglich durch das Staatliche Plankomitee (Gosplan) und nicht mehr durch die Ministerien sind die hierzu vorgesehenen Schritte. Erfolg versprechen sie nur, wenn es wirklich gelingt, den Plan-zugunsten des Marktsektors zu verkleinern und den auf den Prioritätsbereich ausgeübten „Plandruck“ einzuschränken. Zum anderen soll die Reform selbst in dreierlei Hinsicht weitergeführt werden: Erstens soll sie auf alle Wirtschaftsbranchen ausgedehnt werden, zweitens sind (endlich) komplementäre Reformen des „funktionellen und institutionellen Umfeldes“ der Betriebe (Preise und Preisbildungsmechanismus, Versorgungssystem. Finanz-und Banksystem, ministerieller Verwaltungsapparat) in Angriff zu nehmen und drittens schließlich sollen für die Betriebe größere Spielräume bei der Wahl innerbetrieblicher Wirtschaftsmechanismen geschaffen werden.

Die wesentlichen Elemente der „Reform des politischen Systems“ wurden bereits erörtert Sie haben als Ergebnis eines eindrucksvollen Prozesses Gorbatschowscher „policy guidance“ mit Modifika- tionen über die Stationen: „Thesen des Zentralkomitees“, Bericht des Generalsekretärs, Konferenz-diskussion, Entschließungen der Parteikonferenz in die Dokumente des Juli-Plenums Eingang gefunden. Ihre Bedeutung für die Wirtschaftsreform ist doppelter Natur: Als Etappenerfolg im Kampf um Macht und Autorität haben sich zunächst die Stellung Gorbatschows — als vermutlich zukünftigem Chef von Partei und Staat — gestärkt und die politischen Voraussetzungen für weitere institutioneile Maßnahmen sowie die Fortsetzung einer von oben gesteuerten „Zirkulation der Eliten“ verbessert. (Gorbatschow auf dem Juli-Plenum: „Leute, die der Reform im Wege stehen, müssen von leitenden Positionen abgezogen werden“). Mit den — teilweise bisher freilich mehr im Prinzip als in konkreter Ausgestaltung — beschlossenen institutionellen Veränderungen soll eine den Strukturen der modernen Industrie-und Leistungsgesellschaft adäquatere „Pluralisierung des Einparteiensystems“ vorangetrieben werden. Die wichtigsten Stichwörter hierzu sind:

— gesellschaftliche Revitalisierung und Legitimationsgewinn durch „Demokratisierung“ (etwa Veränderungen der Wahlmodalitäten);

— transparentere und effizientere politische Prozesse durch bessere Funktionsabgrenzung zwischen Partei, Staat und Wirtschaft;

— mehr politische Kontrolle der Bürokratie durch Ausbau der Funktionen der Sowjets (als deren Vorsitzende die Parteisekretäre zukünftig in der Regel eine veränderte, auf der Konferenz aber umstrittene Rolle spielen sollen);

— Rechtsreformen zum Schutz des Bürgers und zur Gewährleistung geordneter und verläßlicher horizontaler und vertikaler Kommunikationsprozesse zwischen Bürgern sowie Bürgern und Staat, nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaft („sozialistischer Rechtsstaat“);

— Fortsetzung, Vertiefung, allerdings auch Reglementierung von Glasnost als Kampfforum gegen den „Bürokratismus“, als Voraussetzung für „sozialistischen Meinungspluralismus“ und als Medium zur Produktion und Diskussion neuer Sozialismus-konzepte. Eine kritische und schöpferische Funktion soll — auf marxistisch-leninistischer Grundlage, aber ohne „Dogmatismus“ — auch den Gesellschaftswissenschaften zufallen. Nachholbedarf hat hier vor allem die auf der Parteikonferenz häufig kritisierte Wirtschaftswissenschaft. Sicher haben es manche Delegierte Abalkin verübelt, daß er nicht ohne Arroganz ökonomisches Wissen von der Führung forderte, aber selbst nicht allzu verschwenderisch mit Reformideen umgegangen ist. Was fehlt, sind in der Tat vor allem operationale Konzeptionen für das derzeit angezielte Zweisektorensystem eines „PlanMarkt-Dualismus“.

Insgesamt zeigt die gegenwärtige Reformpolitik neuen Nachdruck, bleibt aber — anders ginge es auch nicht — prinzipiell bei einer Mischung von Fortschritt und Behutsamkeit. Gorbatschow bekannte sich zu reformpolitischer Vorsicht und hat bei aller Handlungsentschlossenheit offensichtlich wenig Neigung, der strategischen Empfehlung des temperamentvollen Delegierten W. Kabaidse zu folgen: „In der Wirtschaft haben wir bis jetzt wenig Erfolg, aber wenn Sie schon auf dem . Tiger der Perestrojka 4 reiten, dann dürfen sie nicht absteigen, dann müssen Sie ihm die Sporen geben!“ 4. Förderung des Lebensstandards: vor neuen Agrarreformen?

Der große Nachdruck, der von allen Sprechern der Konferenz auf das Problem des Lebensstandards gelegt wurde, hatte zwei wirtschaftspolitische Konsequenzen. Er veranlaßte einmal mehr Entschlossenheit zu Reformen in konsumnahen Bereichen, vor allem in der Landwirtschaft. Zum anderen führte er zur Ankündigung einer Reihe kurzfristiger Ad-hoc-Maßnahmen und längerfristiger Wachstumskorrekturen zugunsten der sowjetischen Verbraucher. Auf dem Juli-Plenum sprach sich Gorbatschow für eine weitgehende De-facto-Aufhebung der Kollektivierung innerhalb der traditionellen Institutionen des sowjetischen Agrarsystems aus. Auf dem Wege des „Pachtsystems“ sollen Grund und Boden sowie Produktionsmittel zu langfristiger Nutzung auf andere Landwirtschaftsbetriebe, Industriebetriebe, aber auch Pachtkollektive und Einzelpächter übertragen werden. Ein spezielles „Pachtgesetz“ sowie ein neues „Gesetz über die Bodennutzung“ sollen den rechtlichen Rahmen abgeben. Als Pachtfristen sind 25, 30 oder gar 50 Jahre vorgesehen: „Kurze Pachtfristen werden keine Investitionen in die Entwicklung der Produktion bewirken und möglicherweise die Neigung zu Habgier unterstützen.“ Die sich hier — bei bleibenden Unterschieden — andeutende „chinesische Wende“ der sowjetischen Eigentumspolitik ist für Gorbatschow „Sozialismus reinsten Wassers“, denn das „Wesen der Umgestaltung besteht darin, die unterschiedlichsten Formen der Realisierung sozialistischen Eigentums in der Praxis auszunutzen“. Bezeichnenderweise soll der Pachtvertrag außer in der Landwirtschaft auch in anderen Wirtschaftszweigen zur Anwendung kommen, wo man sich von ihm Stimulierung unternehmerischer Initiative und Beiträge zur Kostensenkung erhofft. Im Rahmen des Pachtvertrages könne man sich etwa von überzähligen oder unfähigen Mitarbeitern trennen, was offensichtlich in traditionellen Betriebsformen so (noch) nicht möglich ist. Die hier eingeleitete Entwicklung treibt die Reform allerdings in eine Richtung weiter, die die sowjetische Führung in Verbindung mit besseren Produktionsresultaten auch vor die Aufgabe der ideologischen und sozialpolitischen Bewältigung einer zunehmenden Einkommensdifferenzierung stellt.

Da in diesem Jahr wieder eine nur mittelmäßige Ernte erwartet wird, forderte Gorbatschow Ad-B hoc-Maßnahmen zur Sicherung der Erträge und zur Gewährleistung wenigstens „des bisherigen Versorgungsniveaus“. Notfalls sollen auch Nahrungsmittel importiert werden. Angekündigt ist als längerfristige Konsequenz jedoch auch die Suche nach neuen Wachstumsproportionen. Der 12. Fünfjahrplan verfehlt in doppelter Hinsicht seine Aufgabe: Auf der einen Seite wird die angestrebte Modernisierung. für die ein erhöhter Kapitalinput zur Verfügung gestellt wurde, nur bedingt erreicht. Auf der anderen Seite stagniert der Lebensstandard der Bevölkerung. und dies gefährdet, wie auf der Parteikonferenz immer wieder unterstrichen wurde, die Lebensader der ganzen Perestrojka. Der Generalsekretär sprach sich folglich für neue Entwicklungsproportionen im 13. Planjahrfünft (1991 bis 1995) aus: „Vor allem handelt es sich um die Deckung des Bedarfs der Menschen an vollwertigen Nahrungsmitteln, darum, den Markt mit Konsumwaren und Dienstleistungen im notwendigen Sortiment und mit hoher Qualität zu sättigen sowie die Programme für den Wohnungsbau, für die Verbesserung des Gesundheitsschutzes, des Bildungswesens und der Kultur zu realisieren." Gestützt werden soll diese „soziale Umorientierung der Wirtschaftsentwicklung“ auf der Verwendungsseite des Sozialprodukts durch eine Erhöhung des Anteils der Konsumtion am Nationaleinkommen als „Kernstück der gesamten Struktur-und Investitionspolitik, als Eckpfeiler der Bestimmung von Tempo und Proportionen der Wirtschaft“. Auch die Schwer-und Verteidigungsindustrie soll einen größeren Beitrag zur Konsumgütererzeugung leisten. All dies sind nun gewiß keine neuen Zielsetzungen. Die Realisierung einer solchen Strategie scheiterte in der Vergangenheit immer wieder an mangelndem politischen Nachdruck und unzureichenden Umsetzungsmechanismen. Im Unterschied zu früher ist heute allerdings die Lage viel kritischer, und die Führung ist sich bewußt, daß die angestrebte ökonomisch-politische Revitalisierung der UdSSR nicht nur am Widerstand der Bürokratie, sondern auch am fortgesetzten „Teilaussteigen“ frustrierter Arbeiter-Konsumenten scheitern kann. Schließlich formulierte der Generalsekretär auch eine verklausulierte Absage an die erste seiner nach 1985 mit Nachdruck propagierten Zielvorstellungen, die der „Beschleunigung“. Nicht das Wachstumstempo der Produktion an sich sei wichtig, „sondern sein realer Inhalt, die wirkliche Deckung des Bedarfs des Volkes“.

Abschließend soll noch einmal unterstrichen werden, daß die sowjetische Reformpolitik mit der 19. Unionsparteikonferenz und dem folgenden Juli-Plenum neue Impulse erhalten hat. Um eines der anschaulichsten Bilder der Konferenz auszuleihen: Das Flugzeug Perestrojka setzt seine Reise fort. Die Konturen des gewünschten Landeplatzes werden deutlicher. Aber ob, wann und wo das Ziel erreicht wird, bleibt offen. Die westliche Forschung sollte die analytischen Ferngläser putzen, um den Flug zu verfolgen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. M. Gorbacev: Perestrojka i novoe myslenie dlja nay strany i dlja vsego mira, Moskau 1987, S. 58. Deutsche Ausgabe: Perestroika. Die zweite russische Revolution, München 1987, S. 75.

  2. Pravda, 28. 1. 1987. Deutsche Übersetzung: M. Gorbatschow, Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen, Sonderdruck Nr. 340 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.

  3. Pravda, 30. 1. 1987.

  4. Pravda. 29. 1. 1987.

  5. Das Statut in: Sowjetunion zu neuen Ufern?, Düsseldorf 1986. S. 271-300.

  6. Pravda. 2. 7. 1988.

  7. Pravda. 26. 7. 1987.

  8. Pravda. 27. 7. 1987.

  9. Pravda. 4. 6. 1988.

  10. Neue Zürcher Zeitung, 13. 5. 1988.

  11. General-Anzeiger. 26. 5. 1988.

  12. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 6. 1988.

  13. Pravda. 2. 7. 1988.

  14. A. Gel’man, in: Moskovskie novosti, 30. 5. 1988.

  15. Pravda, 2. 7. 1988.

  16. Literaturnaja gazeta, 15. 6. 1988.

  17. Sovetskaja Latvija, 11. 6. 1988.

  18. V. I. Vjaljas, in: Pravda, 2. 7. 1988.

  19. Pravda, 30. 6. 1988.

  20. Pravda, 29. 6. 1988.

  21. Pravda. 30. 6. 1988.

  22. G. A. Jagodin, in: Pravda, 2. 7. 1988.

  23. V. I. Mironenko, in: Pravda. 1. 7. 1988.

  24. Pravda, 1. 7. 1988.

  25. V. A. Jarin, in: Pravda, 1. 7. 1988.

  26. E. I. azov, in: Pravda. 30. 6. 1988.

  27. G. I. Marcuk, in: Pravda, 1. 7. 1988.

  28. V. P. Kabaidze, in: Pravda, 1. 7. 1988.

  29. Pravda, 2. 7. 1988.

  30. B. V. Gromov, in: Pravda, 2. 7. 1988.

  31. Pravda, 1. 7. 1988.

  32. Pravda, 1. 7. 1988.

  33. Pravda. 30. 6. 1988.

  34. Beide Reden in: Pravda, 2. 7. 1988.

  35. Pravda, 2. 7. 1988.

  36. Ebda.

  37. Pravda, 5. 7. 1988.

  38. Die Rede Gorbatschows und die Plenums-Beschlüsse in: Pravda, 30. und 31. 7. 1988.

  39. Vgl. hierzu: H. -H. Höhmann, Aktuelle Analyse des BlOst, (1988) 12.

  40. Vgl. die Rede Gorbatschows, in: Pravda, 30. 7. 1988. Pravda-Zitate nach der deutschen Ausgabe.

  41. Veröffentlicht in: Pravda, 25. 7. 1988.

  42. Pravda, 30. 6. 1988.

  43. Pravda, 2. 7. 1988.

  44. Pravda, 1. 7. 1988.

  45. Pravda. 2. 7. 1988.

  46. Pravda, 2. 7. 1988.

  47. Zur Investitionsplanung für das 12. Planjahrfünft vgl. H. -H. Höhmann, Sowjetische Wirtschaft unter Gorbatschow; Auf der Suche nach neuem Profil, sowie H. Clement, Umgestaltung der sowjetischen Investitions-und Strukturpolitik, beide Beiträge in: Sowjetunion 1986/87, hrsg. vom BlOst, Köln 1987.

  48. Materialien des Juli-Plenums, in: Pravda, 30. und 31. 7.

  49. E. Schneider. Aktuelle Analysen des BlOst, (1988) 35 und 38.

  50. Pravda, 29. 6. 1988.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935; Leitender Wissenschaftlicher Direktor, Forschungsbereichsleiter im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkis Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die SSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.), Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der 27. Parteitag der KPdSU — eine Wendemarke?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/86; Gorbatschows Glasnost, in: Osteuropa, (1987) 8; Gorbatschows Bücher und Bestseller, in: Osteuropa (1988) 6. Hans-Hermann Höhmann, Dr. rer. pol., geb. 1933; Wissenschaftlicher Direktor, Leiter des Forschungsbereichs „Wirtschaft“ im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln; Honorarprofessor der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg, mit A. Nove und G. Seidenstecher) The East European Economies in the 1970s, London 1982; (Hrsg, mit H. Vogel) Osteuropas Wirtschaftsprobleme und die Ost-West-Beziehungen, Baden-Baden 1984; (Hrsg, mit A. Nove und H. Vogel) Economics and Politics in the USSR: Problems of Interdependence, Boulder 1986; (Hrsg, mit H. Adomeit und G. Wagenlehner) Die Sowjetunion als Militärmacht, Stuttgart 1987.