Nationalismus und die Grenzen der Sowjetunion als Weltmacht
Gerhard Simon
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Zusammenfassung
Seit Mitte 1987 sind die nationalen Probleme innerhalb der Sowjetunion in einem Ausmaß und mit einer Schärfe an die Oberfläche getreten, wie es kaum jemand erwartet hatte. Seit Februar 1988 befinden sich die Sowjetrepublik Armenien und das Autonome Gebiet Berg-Karabach in einer Art de-facto Ausnahmezustand, der durch generalstreikartige Massendemonstrationen, die in aller Regel friedlich verlaufen, gekennzeichnet ist. Die Gleichzeitigkeit des Aufbrechens der nationalen Konflikte in ganz unterschiedlichen Teilen des Landes ist einerseits die Folge der allgemeinen innenpolitischen Lockerungen in der Ära der Glasnost und hängt andererseits damit zusammen, daß die sowjetische Nationalitätenpolitik in den zurückliegenden Jahrzehnten überall ähnliche Bedingungen geschaffen hat: Die neuen nationalen Bildungsschichten sind zu Trägern eines ständig wachsenden nationalen Bewußtseins geworden. Der Nationalismus setzt der sowjetischen Politik nicht nur im Inneren, sondern auch im osteuropäischen Hegemonialbereich und in den internationalen Beziehungen Grenzen. Nationaler Pluralismus ist sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch in den internationalen Beziehungen eine Realität. Der Sozialismus hat den Nationalismus nicht überwunden, vielmehr besteht die Hoffnung, daß ein demokratisch eingestellter emanzipatorischer Nationalismus einen Beitrag zur Überwindung des ehemals totalitären Marxismus-Leninismus leistet.
I. Der armenische Paukenschlag
Im Februar 1988 wurde die Welt Zeuge von Ereignissen. die viele für ausgeschlossen innerhalb der Sowjetunion gehalten hatten: Zuerst Zehntausende, dann Hunderttausende, vielleicht eine Million Menschen hielten über Tage hin friedliche Demonstrationen auf den Straßen der armenischen Hauptstadt Eriwan ab und forderten den Anschluß des Gebiets Berg-Karabach (Nagornyj-Karabach), das zur Unionsrepublik Aserbaidschan gehört, an die Republik Armenien. Etwa zwei Wochen lang stand das Leben einer Millionenstadt und einer ganzen Unionsrepublik still.
Von Mitte Mai bis Mitte Juni 1988 folgte eine zweite Welle von Massendemonstrationen Hunderttausender; eine dritte Welle begann Anfang Juli, nachdem die auf die 19. Parteikonferenz gesetzten Hoffnungen der Armenier enttäuscht worden waren. Politische Willensäußerungen von derartigen Ausmaßen im klaren Widerspruch zu den Direktiven der Moskauer Parteiführung hat es in der Sowjetunion seit dem Tode Stalins nicht gegeben.
Die armenische Nation verlangte die Erfüllung einer der irredentistischen Forderungen, die im 20. Jahrhundert zu einem beherrschenden Thema des armenischen Nationalbewußtseins geworden sind: die Vereinigung des getrennten Teils der armenischen Nation im Berg-Karabach mit Sowjetarmenien. Aber dieses nationale Anliegen verband sich mit einer allgemeinen Unzufriedenheit, „die sich jahrzehntelang angestaut hat. Unzufriedenheit mit der sozialen Ungerechtigkeit, einer käuflichen Führung, einer katastrophalen ökologischen Lage, dem moralischen und kulturellen Niedergang.“ Diese Aussage des Mitglieds des armenischen Organisationskomitees. Ambarzum Galstjan. weist auf eine Grundtatsache hin. ohne deren Verständnis eine realistische Einschätzung des politischen und gesellschaftlichen Gewichts von Nationalismus unmöglich ist: Der Nationalismus kann sich mit einer Vielzahl geistiger Strömungen, gesellschaftlicher Konflikte und politischer Richtungen verbinden. Einen Nationalismus an sich gibt es nicht. Er kann Koalitionen sowohl mit liberalen emanzipatorischen Bewegungen als auch mit faschistischen und rassistischen politischen Regimen eingehen. Seine
Chamäleonhaftigkeit ist das Unterpfand seiner Universalität.
Der disziplinierte, geschlossene und dabei keineswegs spontane, nur aus dem Augenblick der Erregung heraus geborene Ausbruch der nationalen Solidarität in Armenien hat die Moskauer Parteiführung verständlicherweise in höchste Alarmstimmung versetzt, weil hier erstmals innerhalb der Sowjetunion eine Selbstorganisation der Gesellschaft in einer ganzen Region neben und gegen die Partei stattfand. Seit Februar 1988 war der Moskauer Parteiführung das Gesetz des Handelns in Armenien und im Berg-Karabach weitgehend entglitten. Tatsächliche Ordnungsmacht war das Karabach-Komitee, das über ein gut organisiertes Netz von Unter-komitees verfügte, in denen Industriebetriebe, Lehranstalten und Organisationen durch Delegierte vertreten waren. An der Spitze dieser Selbst-organisation der Nation standen hochangesehene Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. Das Oberhaupt der armenisch-gregorianischen Kirche, Katholikos Wasgen L, hielt enge Fühlung mit dem Karabach-Komitee. Lokale Parteigremien — wie das Gebietsparteikomitee in Stepanakert — solidarisierten sich entweder offen mit dem Karabach-Komitee oder stellten sich — wie die armenische Parteiführung — durch Verzicht auf Gegenmaßnahmen stillschweigend auf die Seite der Demonstranten. Gorbaev erkannte übrigens die tatsächlichen Machtverhältnisse in Armenien de-facto insofern an. als er am 26. Februar zunächst Abgesandte des Karabach-Komitees zu Verhandlungen empfing. und erst 10 Tage später, als das Organisationskomitee die Menschen wieder nach Hause und an den Arbeitsplatz geschickt hatte, den armenischen Parteichef Demiröjan
Mitte Juni kooptierte die Selbstorganisation der armenischen Nation die obersten Sowjetorgane Armeniens und des Autonomen Gebiets Berg-Karabach. Der Oberste Sowjet in Eriwan faßte einen Beschluß zur Inkorporation des Berg-Karabach in die Armenische SSR; der Oberste Sowjet Aserbaidschans in Baku votierte dagegen. Dies ist der erste Fall in der Geschichte der UdSSR, daß die obersten Sowjetorgane von Unionsrepubliken in der gleichen Sache einander ausschließende Beschlüsse fassen. Ohne die Entscheidung des Obersten Sowjet der Union in Moskau abzuwarten, erklärte der Gebietssowjet in Stepanakert am 12. Juli — entgegen der Verfassung — den Austritt des Berg-Karabach aus der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik (SSR) und den Anschluß an Sowjetarmenien. Damit erhielt die von Gorbacev propagierte Leninsche Losung „Alle Macht den Sowjets!“ eine Realität, die wohl niemand in Moskau vorausgesehen hatte. War die Selbstorganisation der armenischen Nation, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Selbstorganisation der polnischen Nation 1980/81 aufweist, ein einmaliges Ereignis, sozusagen ein Unfall auf dem planmäßigen Gang der sowjetischen Geschichte zur „Verschmelzung“ der Nationen, oder aber war Eriwan ein Menetekel, weithin sichtbares Zeichen des kommenden Zusammenbruchs des letzten europäischen Imperiums?
II. Ideologische Axiome und ihre Umsetzung in Politik
Die Bol’seviki waren in der Nachfolge von Marx und Engels mit dem Anspruch aufgetreten, den separatistischen und antagonistischen Nationalismus im Zug der proletarischen Revolution und des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft zu überwinden. Dieser Anspruch wird im Grundsatz bis heute aufrechterhalten. So heißt es in der Neufassung des Parteiprogramms der KPdSU von 1986: „Die nationale Frage, wie sie uns die Vergangenheit hinterlassen hatte, wurde in der Sowjetunion erfolgreich gelöst.“ Die „nationalen Beziehungen in unserem Land“ „werden in ferner historischer Perspektive die völlige Einheit der Nationen zur Folge haben“
Nach marxistischer Lehre ist die Nation ein Attribut der kapitalistischen Gesellschaftsformation und der Nationalismus eine bürgerliche Ideologie, um das Proletariat von der Wahrnehmung und Realisierung seiner Klasseninteressen abzuhalten. Im revolutionären Kampf und erst recht im Sozialismus tritt dagegen die vertikale Gliederung der Gesellschaft nach ethnischen Kriterien immer mehr in den Hintergrund und allein entscheidend wird die horizontale Gliederung nach Klassen, deren auf objektiven ökonomischen Interessen beruhende Solidarität keine nationalen Grenzen kennt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Insofern besteht nach marxistischer Lehre zwischen der Loyalität gegenüber der ethnischen Gemeinschaft und gegenüber der Klasse ein unaufhebbarer Gegensatz.
Allerdings hatten schon Marx und Engels die Möglichkeit zugelassen, nationale Bewegungen für das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Dienst des internationalen revolutionären Kampfes zu stellen, eine im Prinzip entgegengerichtete Ideologie also für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Auf diesen Grundlagen aufbauend, haben Lenin und Stalin der Doktrin insbesondere zwei Elemente hinzugefügt: 1. Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker einschließlich der Sezession ist eine progressive Bewegung, solange er vor der sozialistischen Revolution stattfindet; nach der sozialistischen Revolution bedeutet Sezession Konterrevolution. Besonders in den Kolonien müssen die Sozialisten, so forderte Lenin schon 1916, „auch revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern entschieden unterstützen und ihrer Auflehnung, ihren Aufständen, respektive ihrem revolutionären Kriege gegen die sie unterjochenden imperialistischen Staaten beistehen“ 2. Angesichts der Realitäten des russischen Vielvölkerreiches kamen die Bol’seviki zu der Überzeugung, daß die „Verschmelzung der Völker“ als Ziel der Geschichte nicht unmittelbare Folge der proletarischen Revolution sein werde, sondern daß dieses Ziel nur auf dem dialektischen Umweg über das „Aufblühen“ und die „Entwicklung“ aller zuvor unterdrückten Völker zu erreichen sei.
Dieses zweite Element der Doktrin ist seit den sechziger Jahren in der Sowjetideologie zur Lehre von den „sozialistischen Nationen“ breit entfaltet worden. Der Terminus und die wesentliche Merkmals-beschreibung stammen jedoch bereits von Stalin, der natürlich heute als Urheber nicht mehr genannt werden darf. Danach verhalten sich „sozialistische Nationen“ wegen ihres vollständig veränderten Klasseninhalts grundsätzlich anders als „bürgerliche“. Sie treten in einer sozialistischen Gesellschaft nicht in Gegensatz zueinander, fügen sich nahtlos in den Zentralstaat ein und entwickeln keine separatistischen Bestrebungen Die Lehre von den „sozialistischen Nationen“ — geschaffen zur Beschreibung des engen Zusammengehens der Nationen innerhalb des „einheitlichen multinationalen Bundesstaats“ Sowjetunion — ist übrigens in Umkehrung der Zielrichtung seit den siebziger Jahren in der DDR adaptiert worden, um die „sozialistische deutsche Nation“ gegenüber der „bürgerlichen deutschen Nation“ in der Bundesrepublik abzugrenzen. Die marxistisch-leninistische Ideologie hat für die Politik der Partei innen-und außenpolitisch erhebliche praktische Bedeutung gehabt:
1. Die Bol’seviki zögerten in der Innenpolitik nicht, der aus der Doktrin abgeleiteten Erwartung, nach der Revolution würden die Völker keine Separation wollen, durch Waffengewalt zur Realität zu verhelfen. So wurde das Ende der Geschichte des multinationalen russischen Reiches verhindert. 2. Die kommunistische Weltbewegung wurde nicht als eine Bewegung partnerschaftlich zusammenarbeitender, gleichberechtigter Parteien konzipiert, die jeweils nationale Interessen wahmehmen, sondern als eine einheitliche Bewegung des proletarischen Internationalismus, in der nationale Unterschiede unbedeutend und vorübergehend sind, und in der die Sowjetunion das natürliche Zentrum und die Kommandozentrale bildet. 3. Die nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt galten als die natürlichen Verbündeten im weltrevolutionären Prozeß. „Die KPdSU betrachtet das brüderliche Bündnis mit den Völkern. die das koloniale und halbkoloniale Joch abgeschüttelt haben, als einen Grundpfeiler ihrer internationalen Politik. Dieses Bündnis beruht auf der Gemeinsamkeit, die zwischen den Lebensinteressen des Weltsozialismus und der weltumspannenden nationalen Befreiungsbewegung besteht“, heißt es im Parteiprogramm von 1961
Alle drei Maximen sind aus dem Grundsatz abgeleitet. daß der Sozialismus den Nationalismus überwunden und sich untergeordnet bzw. sich dienstbar gemacht hat. Diese ideologischen Maximen haben über Jahrzehnte eine Politik angeleitet, die erhebliche Erfolge aufzuweisen hat. Dabei hat sich die Sowjetmacht in vielen Fällen nicht gescheut, ihre ideologischen Vorannahmen durch den unbedenklichen Einsatz ihres Machtpotentials in Realität umzusetzen.
Faßt man allerdings die Entwicklung in den Jahrzehnten nach Stalins Tod ins Auge, so ist unabweisbar. daß die Sowjetunion auch erhebliche Rückschläge hat hinnehmen müssen, besonders sichtbar im Zusammenbruch der kommunistischen Weltbewegung. In einer Zeit, in der die „Revolution von oben“ im Inneren des Landes und der Aufbau des sozialistischen Lagers im Schutze der Roten Armee nicht mehr möglich waren, entfaltete der Nationalismus überall im sowjetischen Hegemonialbereich neue Kraft und Vitalität. Er wurde zu einem mächtigen Desintegrationsfaktor im Sowjetimperium und in der kommunistischen Weltbewegung. Es erwies sich, daß der Marxismus-Leninismus den Nationalismus unterschätzt hatte.
III. Nationalismus und Entkolonialisierung innerhalb der UdSSR
Im folgenden soll untersucht werden, in welcher Weise der Nationalismus dem Sowjetregime Grenzen setzt. Dabei wird zunächst vom Anwachsen des Nationalbewußtseins innerhalb des Vielvölkerstaats die Rede sein. Danach geht es um Probleme, die daraus entstehen, daß die Staatsgrenzen der Sowjetunion vielfach keine ethnischen Grenzen sind. Weiterhin soll von der Desintegration im sowjetischen Hegemonialbereich in Osteuropa und in der kommunistischen Weltbewegung durch den nationalen Faktor gesprochen werden. Schließlich sind die Grenzen der sowjetischen Dritte-Welt-Politik zu zeigen; denn die eben erst souverän gewordenen Staaten unterwerfen sich keiner Blockdisziplin. Zuvor ein Wort zur Begrifflichkeit. Ich gebrauche „Nationalismus“ in einem neutralen Sinn. Er bezeichnet die Loyalität gegenüber der Geschichte, Sprache, Kultur und Staatlichkeit eines Volkstums. Darüber hinaus verwende ich den Begriff Nationalismus in einigen Fällen jedoch auch im Sinne von Patriotismus, d. h. zur Bezeichnung der Loyalität gegenüber einem Staat, unabhängig von dessen ethnischen Komponenten. So wird die Rede vom jugoslawischen Nationalkommunismus oder vom Nationalismus der jungen Staaten der Dritten Welt sein. In beiden Fällen handelt es sich natürlich nicht um Ethnonationalismus. Diese begriffliche Leichtfertigkeit erscheint mir deshalb hinnehmbar, weil in dem hier behandelten Zusammenhang Nationalismus immer die Kräfte der Peripherie meint, die mit der auf Zentralismus und Unterordnung bedachten Moskauer Zentrale in Konflikt geraten. Nur der russische Nationalismus bildet eine Ausnahme; er ist in der Regel ein zentripetales Element.
Generalsekretär Andropov hat im Dezember 1982 in einer Rede aus Anlaß des 60. Jahrestages der Gründung der UdSSR erstmals offiziell vom „Wachstum des nationalen Selbstbewußtseins“ „aller Nationen und Völkerschaften“ der UdSSR gesprochen. Dies sei die Folge „des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts“ und insofern „ein gesetzmäßiger, ein objektiver Prozeß“ in einer sozialistischen Gesellschaft Auch Gorbaev hat sich nach längerem Zögern auf dem ZK-Plenum im Februar 1988 dazu durchgerungen, vom „Anwachsen des nationalen Selbstbewußtsein bei allen Nationen und Völkerschaften des Landes“ zu sprechen.
Die Parteiführung ist also mit einigem Zögern bereit, jene Tatsachen anzuerkennen, die sowjetische Wissenschaftler in notwendigerweise verschleierter Form und westliche Fachleute offen seit Beginn der siebziger Jahre beschrieben haben, daß nämlich Modernisierungsvorgänge in der Sowjetunion ebenso wie in anderen Gesellschaften zum Entstehen oder zur Festigung des nationalen Bewußtseins führen. „Modernisierung fördert die Transformation traditionaler Werte in ethnischen Nationalismus“ und „schafft den Rahmen für einen Nationalismus, der sich stärker als früher und vor allem bewußter artikuliert“ Die Erwartungen der älteren Modernisierungsforschung haben sich nicht erfüllt, mit der technisch-zivilisatorischen Transformation der Gesellschaft werde die nationale Zersplitterung jede politische Relevanz verlieren. Auch die reduktionistische Nationalismus-Forschung hat nicht recht behalten, die in nationalen Konflikten lediglich den oberflächlichen Ausdruck sozialer Spannungen hat sehen wollen. Mit dem Abbau der sozialen Konflikte werde der Nationalismus seine Basis verlieren.
Die wichtigste Folge der Modernisierung sowjetischen Typs ist das Heranwachsen neuer Bildungsschichten bei allen Nationen der Sowjetunion. Sie sind zum Träger des neuen nationalen Bewußtseins geworden. 1927/28 gab es 74 000 nichtrussische Hochschulstudenten, ihre Zahl erreichte 1959/60 500 000 und 1980/81 2, 2 Millionen (einschließlich der Fernstudenten). Die neuen nichtrussischen Bildungsschichten sind — entgegen den aus der Ideologie abgeleiteten Erwartungen — nicht zu unterschiedslosen Teilen einer homogenen Sowjetgesellschaft geworden, sondern zu aktiven und bewußten Trägem eines neuen Ethnonationalismus.
Viele Nationen sowjetisch Asiens erhielten zum ersten Mal eine breite Schicht säkulär ausgebildeter moderner Berufsgruppen. Bei den europäischen Nationen ersetzten die neuen Bildungsschichten seit den fünfziger Jahren allmählich die alten Eliten, die im großen Umfang Opfer des Terrors, der Deportationen und des Krieges geworden oder in die Emigration gegangen waren. Überall beanspruchten die neuen Bildungsschichten die Führungspositionen in ihren Territorien und verdrängten die Russen, die in der Stalin-Zeit dort eingesetzt worden waren. In vielen Republiken vollzieht sich so ein schleichender Entkolonialisierungsprozeß, der zwar bisher im großen und ganzen zu keinen spektakulären Ausbrüchen geführt hat, dessen Konsequenzen jedoch die politischen Verhältnisse innerhalb des Landes erheblich verschieben werden. Die neuen Bildungsschichten halten in hohem Maß an ihrer Muttersprache, ihrer eigenen Kultur und Geschichte fest, so daß die meisten Nationen heute sozialstrukturell, kulturell und bewußtseinsmäßig fester gefügt sind als zu Beginn der Sowjetmacht.
Zusätzlich wirken spezifische Faktoren in Richtung auf die Verstärkung des nationalen Eigenbewußtseins. Die offizielle Weltanschauung des Marxismus-Leninismus hat ihre mobilisierende Kraft verloren und in der sowjetischen Gesellschaft hat sich ein großes geistiges Vakuum aufgetan, in das nationales Gedankengut und nationale Wertvorstellungen einströmen. Der verlorene Glaube an die revolutionäre Ethik — „Alles ist erlaubt im Namen des großen Menschheitsziels“ — hat zu einer Krise der öffentlichen Moral geführt. In dieser Situation versuchen manche Schriftsteller und andere Kultur-schaffende im Rückgriff auf nationale Traditionen neue Maßstäbe für Gut und Böse zu setzen. Aber auch die ungleiche regionale Wirtschaftsentwicklung innerhalb des Landes wie überhaupt der allgemeine drastische Rückgang des Wirtschaftswachstums seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verstärkten nationale Konflikte.
Welches sind die Ausdrucksformen und Zielvorstellungen dieses neuen Ethnonationalismus? Soweit es sich beurteilen läßt, ist der Ethnonationalismus in sowjetisch Asien weitgehend auf eine verbesserte Partizipation und nicht auf Separation gerichtet. er ist in diesem Sinne nicht antisowjetisch. Die neuen nationalen Eliten fordern ihre verbesserte Teilhabe im ökonomischen, kulturellen und personalpolitischen Bereich. Sie streben nicht nach Trennung von der Union, sondern nach Umgestaltungen zu ihrem Nutzen. Dagegen hat der Ethnonationalismus bei einem Teil der Bildungsschichten mancher europäischer Nationen zu einer mehr oder weniger offenen Loyalitätskrise gegenüber dem Sowjetsystem geführt; das gilt insbesondere für die baltischen Nationen. Die lebendige Erinnerung an die Liquidierung der staatlichen Souveränität durch die Sowjetunion 1939/40, verbunden mit dem wachsenden Bewußtsein der historisch-kulturellen Zugehörigkeit zum lateinischen Europa haben bei allen drei baltischen Nationen illegale nationale Oppositionsgruppen entstehen lassen, die die Separation von der Sowjetunion fordern. Das politische Herrschaftssystem wird grundsätzlich in Frage gestellt. Ähnlich wie in Transkaukasien haben in der Ära der Glasnost auch in den baltischen Republiken die Ausdrucksformen des nationalen Bewußtseins an Umfang und Schärfe zugenommen. Dabei sind manche Forderungen, die zuvor nur von Dissidenten geäußert worden waren, von den Parteiführungen der Republiken übernommen worden. Die seit Juni 1987 aufkommenden Demonstrationen — teils von der Partei verboten, teils geduldet und teils unterstützt — erinnerten entweder an die offiziell verfemte Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit Litauens, Estlands und Lettlands im Jahre 1918 oder an deren gewaltsame Liquidierung infolge des Molotov-Ribbentrop Paktes von 1939, oder die Demonstrationen gedachten der Stalinschen Deportationen in den Jahren 1941 bis 1949.
Die estnische, lettische und litauische Delegation legten der 19. Parteikonferenz Ende Juni 1988 umfangreiche Forderungskataloge zur Gewährung weitgehender wirtschaftlicher, kultureller und staatsrechtlicher Autonomie für die Unionsrepubliken vor. Sie verlangten die territorial abgegrenzte Selbstfinanzierung und eigenständige Planung der Wirtschaft einschließlich einer eigenen Finanz-und Kreditpolitik, eine eigene Staatsbürgerschaft, um die slavische Einwanderung einzudämmen, und gesetzliche Garantien für die jeweilige Nationalsprache als Staatssprache sowie Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen.
Das Heranwachsen neuer nationaler Bildungsschichten und ihr Ethnonationalismus stellten die Zentralmacht vor eine grundsätzlich neue Situation. die so bisher zu keiner Zeit bestanden hat. Die Sowjetunion ist ohne die Mitwirkung der nationalen Intelligenzschichten nicht mehr zu regieren. Die Parteiführung wird deshalb in bestimmtem Umfang Konzessionen machen müssen, wenn sie die innere Stabilität nicht erheblich belasten will.
Allerdings hat die Gorbaev-Führung bisher nicht erkennen lassen, daß sie eine Dezentralisierung und eine Revitalisierung des Sowjetföderalismus plant, wie es Chruev versucht hatte. Einer der Gründe ist die Existenz eines weiteren Nationalismus in der Sowjetunion, nämlich des russischen. Die Ursachen für sein Anwachsen sind die gleichen wie im Falle der nichtrussischen Nationen. Es kommen jedoch noch spezifische Gründe hinzu. Die Russen sind einerseits die staatstragende Nation, deren Sprache. Kultur und Geschichte in vielfältiger Form dem gesamten Sowjetvolk aufgeprägt werden. Andererseits ist jedoch die russische Nation insgesamt im sozialen und ökonomischen Bereich keineswegs eine privilegierte Nation. Das russische Dorf und die russische Kleinstadt gehören im Gegenteil zu den am stärksten benachteiligten Regionen der Sowjetunion. Die Russen leben im Westen ihres Imperiums mit den baltischen Völkern zusammen, die ihnen kulturell und ökonomisch überlegen sind, ebenso wie die Georgier und Armenier. Im Osten sehen sie sich der rasch wachsenden Lawine der Völker islamischer Tradition gegenüber, denen sie als Kolonial-und Hegemonialmacht den Eintritt in die Moderne erleichtert haben und die ihnen nun mit dem „Gesetz der kolonialen Undankbarkeit“ (H. Seton-Watson) heimzahlen.
Alle diese Faktoren verstärken den russischen Ethnonationalismus, der insgesamt am imperialen Großreich festhält. Unter Dissidenten gab es allerdings auch Vertreter eines russischen Isolationismus. Die Ausdrucksformen des Nationalismus sind in einer Großgesellschaft wie der russischen außerordentlich weit gefächert. Sie reichen von antisemitischen und stalinistischen Rassisten auf der einen Seite bis zu den Verehrern der russischen Spiritualität des Mittelalters andererseits, die sich von hier eine moralische Erneuerung Rußlands erhoffen. Die Wiederentdeckung des großen kulturellen Er-bes der Vergangenheit, das bei den Russen ebenso wie bei anderen Nationen der Bolschewisierung zum Opfer gefallen war, ist ein wesentlicher Aspekt des gegenwärtigen Kulturnationalismus. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist hierbei übrigens eher Nutznießer als Promotor.
Der russische Nationalismus unterliegt ebenso wie die anderen Nationalismen der Kontrolle und Zensur. Die Parteiführung befindet sich den russisch nationalen Kräften gegenüber in einem schwerwiegenden Dilemma. Einerseits kann der russische Nationalismus nicht zur Parteilinie werden, weil dadurch die Legitimität der internationalistischen Ideologie noch weiter untergraben würde und verhängnisvolle Folgen im multinationalen Imperium eintreten müßten. Auf der anderen Seite kann die Parteiführung heute auf die Integrationskraft des russischen Nationalismus gar nicht mehr verzichten. Nachdem der Marxismus-Leninismus aufgehört hat, Werte zu vermitteln, ist der Stolz auf die Weltmachtposition eines rückständigen Landes, verbunden mit dem russischen Nationalbewußtsein zu einer beherrschenden Bewußtseinskraft in der Sowjetunion geworden.
Gorbaßev hat durch eine Reihe von politischen Entscheidungen seine Verbundenheit mit den Russophilen in der Parteiführung dokumentiert, ohne sich allerdings eindeutig festzulegen. Zu diesen Entscheidungen gehört die Einsetzung des Russen Kolbin als Parteichef in Kasachstan, die im Dezember 1986 zu Unruhen in Alma-Ata führte, sowie die Zerschlagung der einheimischen Nomenklatura in den zentralasiatischen Republiken. Vor allem aber hat Gorbacev den personalpolitischen Kurs der späten Breznev-Zeit fortgeführt und noch beschleunigt, durch den Russen in den Führungsgremien der Partei wieder ein Übergewicht erhalten haben, wie es zuvor nur in der Stalinzeit bestand. Etwa 70 Prozent der Mitglieder und Kandidaten des ZK und etwa 80 Prozent der Mitglieder und Kandidaten des Politbüros und der Sekretäre des ZK sind Russen, die übrigen sind überwiegend Ukrainer und Weiß-russen, so daß Nicht-Slaven aus den gesamtstaatlichen Führungsgremien der Partei praktisch verschwunden sind. Die zentralen Führungsgremien der Partei begreifen sich offenbar zunehmend als Repräsentanten der Russischen Unionsrepublik, die ja nicht über eine eigene Parteiführung verfügt. Wenn man schon den Nichtrussen aufgrund der schleichenden Entkolonialisierung ihre Territorien weitgehend überlassen muß — so scheint das Kalkül zu lauten — dann sollen zumindest die gesamtstaatlichen Entscheidungsgremien fest in russischer Hand sein.
IV. Staatliche Grenzen und ethnische Gemeinsamkeiten
Die Grenzen des Vielvölkerstaates waren und sind in vielen Fällen keine ethnischen Grenzen. Bei den hieraus entstehenden Konflikten sind innen-und außenpolitische Probleme aufs engste miteinander verschränkt. Die Sowjetunion hat aus der Tatsache des gleichen Volkstums beiderseits ihrer Staatsgrenzen erheblichen Nutzen gezogen, aber sie hat auch große Rückschläge hinnehmen müssen. Dabei hat sich in der Gegenwart die Waagschale zugunsten der Negativa gesenkt.
Die Sowjetunion hat die Gebietsverluste in Europa nach Revolution und Bürgerkrieg zu keiner Zeit wirklich akzeptiert, auch wenn sie völkerrechtlich Verträge abschloß, die das Gegenteil besagten. Der Anspruch auf Bessarabien, die westliche Ukraine, das westliche Weißrußland und Finnland wurden von der Sowjetregierung wesentlich mit dem Verlangen der Volksteile nach „Wiedervereinigung“ begründet und gerechtfertigt. Eine besonders aufdringliche irredentistische Politik betrieb die Sowjetunion gegenüber Rumänien, als 1924 auf dem linken Dnestr-Ufer die Moldauische Autonome Republik geschaffen wurde, in der jedoch nur 30 Prozent sogenannter Moldauer lebten. Diese Autonome Republik sollte im wesentlichen den Anspruch auf die „Wiedervereinigung“ des „moldauischen Volkes“ wachhalten, d. h. auf die Rückgliederung Bessarabiens an die Sowjetunion. Um den Anspruch auf Finnland aus nationalen Gründen zu rechtfertigen, wurde die Karelische ASSR im März 1940 zur Karelo-Finnischen Unionsrepublik heraufgestuft. Die Sowjetunion begründete ihre militärische Aggression gegen Finnland im November 1939 mit der Erfüllung der „nationalen Hoffnungen des finnischen Volkes auf Wiedervereinigung des karelischen Volkes mit dem finnischen Volk“ Die Sowjetregierung könne „dem Schicksal der eigenen Blutsbrüder gegenüber, den Ukrainern und Weißrussen, die in Polen leben, nicht gleichgültig bleiben“, erklärte Molotov in seiner Rundfunkansprache aus Anlaß des sowjetischen Einmarsches in Ost-Polen am 17. September 1939
Auch während des Krieges appellierte die Sowjet-macht an den Nationalstolz der Ukrainer, die für ihre „nationale Unabhängigkeit und Freiheit“ kämpften. „Nur die Sowjetregierung, die bolchewistische Partei und der große Stalin haben es dem ukrainischen Volk ermöglicht, all sein Land in einem einzigen sowjetischen ukrainischen Staat zu vereinigen“ hieß es in einem Flugblatt im Februar 1944
Während die Sowjetunion bei der Realisierung ihrer irredentistischen Möglichkeiten in Europa sehr erfolgreich war, hat sie in Asien auf diese Weise keine erfolgreiche expansionistische Politik betreiben können. Die Armenier haben seit jeher irredentistische Forderungen gegenüber der Türkei erhoben und stehen aufdem Standpunkt, daß die Provinzen Kars, Ardahan und Artvin als uraltes armenisches Kulturland der armenischen Nation gehören. Die Sowjetunion hat jedoch nur einmal 1945 für kurze Zeit diese Forderungen in den Rang der offiziellen Außenpolitik erhoben. Davor und danach hat stets der Interessenausgleich mit der Türkei die höhere Priorität besessen.
Zweimal hat die Sowjetmacht versucht, unter Ausnutzung der willkürlichen Teilung des aserbaidschanischen Volkes zwischen sowjetisch und persisch Aserbaidschan, in Nord-Persien Fuß zu fassen. 1920 sollte von der „Sowjetrepublik Gilan“ aus die aserbaidschanische Separationsbewegung in Persien im prosowjetischen Sinn gelenkt werden, und 1945 wurden unter dem Schutz der Roten Armee die „Autonome Republik Aserbaidschan“ in Täbris und die „Kurdische Volksrepublik“ in Mahabad ausgerufen. Die Sowjetmacht stützte sich bei ihren Expansionsversuchen auf pantürkische Kräfte in persisch Aserbaidschan. Weder 1920 noch 1945 waren jedoch die sowjetischen Republiken in Nord-Persien ohne den Schutz der Roten Armee lebensfähig, die 1946 aufgrund des diplomatischen Drucks der Westallierten zurückgezogen wurde.
Die sowjetisch-afghanische Grenze ist eine Kolonialgrenze, die am Ende des 19. Jahrhunderts zur Abgrenzung der britischen und russischen Interessensphären in Asien gezogen wurde. Alle Nationen auf der sowjetischen Seite der Grenze haben in bedeutender Zahl Volkstumsangehörige in Afghanistan. Hier leben etwa 3— 4 Millionen Tadschiken, 1, 5 Millionen Usbeken und einige Hunderttausend Turkmenen Die Sowjetunion hat bei ihrer militärischen Intervention seit 1979 allerdings zu keiner Zeit irredentistische Begründungen vorgebracht. Sie hat aber aus der Tatsache des gleichen Volkstums auf beiden Seiten der Grenze insofern Nutzen gezogen, als sowohl vor 1979 als auch danach zivile Experten aus den zentralasiatischen Völkern in großer Zahl in der Verwaltung, im Bildungswesen und in der Industrie Afghanistans eingesetzt wurden. 1979 ist offenbar die zentralasiatische Nomenklatura für die sowjetische Intervention eingetreten, von der sie eine Verstärkung des asiatischen Gewichts innerhalb der Sowjetunion erwartete. Insgesamt hat sich jedoch die Intervention in Afghanistan auch unter dem Gesichtspunkt des Nationalismus-Problems als ein Fiasko für die Zentral-macht erwiesen. Der Versuch zur Expansion ist wie ein Bumerang auf die Sowjetmacht zurückgeschlagen. Statt Sozialismus zu exportieren hat die Intervention den Islam und islamischen Fundamentalismus importiert. Erstmals hat sich die Tatsache des gleichen Volkstums auf beiden Seiten der Grenze als eine schwere innen-und außenpolitische Belastung für die Sowjetunion erwiesen.
Islam als Lebensform, als kulturelles Erbe und als religiöse Glaubensüberzeugung hat im vergangenen Jahrzehnt in sowjetisch Asien eine Festigkeit erreicht wie nie zuvor im 20. Jahrhundert. Dies ist sicher nicht ausschließlich, aber auch eine Folge der „blutenden Wunde“ Afghanistan, um mit einer Metapher Gorbacevs zu sprechen Durch den Krieg in Afghanistan sind für die muslimischen Völker der Sowjetunion auf breiter Basis Kontakte mit der Welt des Islam möglich geworden, die zuvor undenkbar waren. Der Iran und manche islamische Widerstandsgruppen in Afghanistan haben gezielte Missions-und Propagandaanstrengungen nach sowjetisch Asien hinein unternommen. Nach dem veröffentlichten Bericht des KGB-Vorsitzenden von Tadschikistan V. V. Petkel'haben die Mudschahedin versucht, den bewaffneten Kampf auf sowjetisches Territorium auszudehnen. 1986/87 hätten in Tadschikistan „Dutzende von Prozessen“ gegen muslimische Aktivisten und nicht registrierte Mullahs stattgefunden, die nicht nur religiöse Ge-fühle entfacht, sondern auch zum Jihad gegen das Sowjetsystem aufgerufen hätten
Der muslimische Nationalismus im sowjetischen Zentralasien ist durch den Krieg in Afghanistan gestärkt worden. Insofern müssen die seit 1983 andauernden umfangreichen Säuberungen in Zentral-asien, die die einheimische Nomenklatura zerschlagen und den muslimischen Nationalismus schwä-chen sollen, im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan gesehen werden. Was in Ostmitteleuropa und in Südosteuropa nach 1945 gelang, hat sich in Asien nicht wiederholen lassen: Der Aufbau eines Systems sozialistischer Staaten zur Abschirmung des russischen Kemlandes, als zweiter Gürtel den nichtrussischen Unionsrepubliken vorgelagert, gelang hier nicht.
V. Nationalismus und die Desintegration des Ostblocks
Die Sowjetideologie hat die „Lösung“ der nationalen Frage innerhalb der Sowjetunion stets als verbindlich und vorbildlich für die Regelung des Verhältnisses der sozialistischen Staaten zueinander bezeichnet. Dies bedeutet hochgradigen politischen Zentralismus bei Gewährung von Autonomie in nachgeordneten Bereichen. Die ideologische Lehre von der Vorbildlichkeit der nationalen Beziehungen innerhalb der Sowjetunion für das Verhältnis der sozialistischen Staaten und Nationen zueinander außerhalb der Sowjetunion greift weiter als die sogenannte Breznev-Doktrin von der beschränkten Souveränität der Länder der „sozialistischen Gemeinschaft“. „Mit der Entstehung der UdSSR hat der historische Prozeß der allseitigen Annäherung der Völker [des sozialistischen Weltsystems] begonnen“, heißt es im Parteiprogramm von 1961. Der Kampf gegen den „Nationalismus“, der „Absonderung vom sozialistischen Lager“ bedeutet, wird mit Hilfe einer Art übergreifenden Reichsidee, nämlich des „sozialistischen Patriotismus“, geführt. Die UdSSR ist „das Urbild der neuen Gesellschaft, der Zukunft der ganzen Menschheit“ Das Verhältnis der sozialistischen Staaten zueinander wird mit den gleichen Termini von der „Einheit“, „Geschlossenheit“ und der „weiteren Annäherung“ in der „brüderlichen Familie“ beschrieben wie die Beziehungen der sozialistischen Nationen innerhalb der Sowjetunion. Was im Rahmen des „sozialistischen Weltsystems“ „sozialistischer Patriotismus“ heißt, firmiert innersowjetisch als Sowjetpatriotismus. Für die Völker der sozialistischen Staaten ist die UdSSR „das Vorbild brüderlicher Gemeinschaft der Völker“, erklärte der polnische Parteichef Gierek 1972
Betrachtet man jedoch die tatsächliche politische Entwicklung in den sozialistischen Ländern Ostmittel-und Südosteuropas seit den fünfziger Jahren, so gewinnt man den Eindruck, daß hier in der Tat manche Parallelen zu innersowjetischen Vorgängen nicht von der Hand zu weisen sind, aber in umgekehrter Richtung wie die Ideologie behauptet oder anstrebt: mehr Entfernung voneinander statt Annäherung, eine Tendenz zur Diversifikation statt zur Vereinheitlichung, Erstarken von Nationalismus und Separatismus statt eines sozialistischen Patriotismus. Auch im osteuropäischen Hegemonialbereich der Sowjetunion hat der Sozialismus den Nationalismus nicht überwunden.
Die sozialistischen Länder Ostmittel-und Südosteuropas sind heute hinsichtlich der Verfaßtheit ihrer Gesellschaften und der Organisation der politischen Herrschaft untereinander und im Vergleich zur Sowjetunion unähnlicher als vor 35 Jahren. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde in Jugoslawien nach 1953 und in Polen nach 1956 praktisch rückgängig gemacht; in der UdSSR blieb sie weitgehend unverändert bestehen. In Bulgarien wurden zu Beginn der siebziger Jahre die Kollektivwirtschaften zu riesigen „agro-industriellen Komplexen“ zusammengefaßt.
Während Ungarn 1968 mit dem „Neuen Ökonomischen Mechanismus“ Marktelementen in einer tief-greifenden Wirtschaftsreform Spielraum gewährte, besteht in der Sowjetunion und in Rumänien bis heute die stalinistische Wirtschaftsverwaltungsordnung im wesentlichen fort. In Polen ist die Partei zur Stabilisierung ihrer Herrschaft auf die katholische Kirche angewiesen; in der Tschechoslowakei wird die katholische Kirche seit 1968 geknebelt und in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt wie sonst nur noch in der Sowjetunion. Während Rumänien eine Politik der Unterdrückung und Assimilierung seiner ungarischen und deutschen Minderheiten betreibt. hat sich in Jugoslawien in der Zeit nach Tito ein exzessiver Föderalismus der Republiken durchgesetzt, der den Gesamtstaat handlungsunfähig zu machen droht. Welches sind die Triebkräfte dieser Emanzipation von einer unfreiwilligen internationalistischen Solidarität, einer Emanzipation, die als „europäische Version der Entkolonialisierung“ bezeichnet worden ist? Zunächst hat das Anwachsen des nationalen Selbstbewußtseins und das Autonomiestreben der sozialistischen Staaten in Ostmittel-und Südosteuropa die gleichen Ursachen, die für die Entwicklung innerhalb der Sowjetunion namhaft gemacht wurden. Industrialisierung, Urbanisierung und die Expansion des Bildungswesens haben überall breite neue Intelligenzschichten heranwachsen lassen, die zu Trägern des Nationalbewußtseins wurden. Der Rückgang des Wirtschaftswachstums seit Mitte der siebziger Jahre, vielfach verbunden mit einem Absinken des Lebensstandards, hat nationale Konflikte verschärft. Der wirtschaftliche Abschwung hatte besonders deshalb schwerwiegende negative Folgen, weil ihm eine Periode der Prosperität und des rasanten wirtschaftlichen Wachstums seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vorausgegangen war. Diese günstige ökonomische Lage hatte dazu beigetragen, die kommunistische Herrschaft nach der Revolution in Ungarn 1956 und nach dem Prager Frühling von 1968 relativ schnell wieder zu stabilisieren. Nationales und demokratisches Aufbegehren wurden durch Konsum-angebot abgefangen. Der Gulaschkommunismus bewährte sich.
Zusätzlich zu jenen Gründen, die auch innerhalb der Sowjetunion nationales Bewußtsein stärken, gibt es in den sozialistischen Ländern Osteuropas spezifische Triebfedern für Autonomie-und Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Existenz von souveränen Staaten einerseits und deren Eingebunden-sein in den sowjetischen Hegemonialverband auf der anderen Seite hat überall einen Defensivnationalismus wachsen lassen, der darauf drängte, den Spielraum für Souveränität zu erweitern und den Zugriff des Hegemons zu lockern. Dieser latent oder offen antisowjetische, d. h. gegen die sowjetische Oberherrschaft gerichtete, Defensivnationalismus verbindet alle Völker im europäischen Vorland der Sowjetunion miteinander Im übrigen hat sich jedoch das Streben der Osteuropäer nach mehr Unabhängigkeit getrennt und teilweise sogar im Gegensatz zueinander entwickelt. Es gibt keine geeinte Front des sozialistischen Lagers gegen die Sowjetunion. Dies hat ihr die Aufrechterhaltung der Oberherrschaft erheblich erleichtert. Die Selbstorganisation der polnischen Nation in der „Solidarität“ 1980 hat wenig Verständnis in Osteuropa und selbst in Ungarn gefunden. Das Reform-experiment von Prag 1968 blieb auf die CSSR beschränkt. Zwischen Ungarn und Rumänien kam es in den achtziger Jahren zu zunehmend heftigen Auseinandersetzungen wegen der Unterdrückung der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen.
Der Defensivnationalismus hat drei Varianten ausgebildet: 1. Am erfolgreichsten bei der Durchsetzung eines größeren Handlungsspielraumes gegenüber der Hegemonialmacht hat sich der National-kommunismus erwiesen. Die kommunistischen Parteien haben sich mit den unabhängigen nationalen Traditionen identifiziert und auf diese Weise einen beträchtlichen Teil der nationalen Gesellschaft für sich mobilisieren können. Ideologisch und innenpolitisch waren die Nationalkommunisten zumeist besonders rigide, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß Nationalkommunismus den klassischen Marxismus sozusagen auf den Kopf stellt. Der erste und erfolgreichste Nationalkommunist im sowjetischen Hegemonialverband war Tito, der durch seinen Bruch mit Stalin 1948 die sowjetische Oberherrschaft abschüttelte, noch ehe der „Ostblock“ wirklich zusammengefügt war. Seit Beginn der sechziger Jahre haben sich dann Albanien ganz und Rumänien teilweise aus der Block-disziplin gelöst. In beiden Fällen geschah das im Schatten des sowjetisch-chinesischen Konflikts und unter der Führung von Kommunisten, die einen integralen Nationalismus vertraten. Ceau§escu kann sich trotz der katastrophalen Wirtschaftslage Rumäniens und eines orientalisch-despotischen Herrschaftsstils an der Macht halten, weil sein rumänischer Nationalismus ihm Rückhalt in einem Teil der Gesellschaft gibt. 2. Ein reformkommunistischer Nationalismus ist insbesondere von den Prager Reformern 1968 entwickelt worden. Die tschechischen und slowakischen Kommunisten suchten nach dem „Tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus“ — so der Titel des neuen Parteiprogramms der KPC vom April 1968 —, der durch liberale und pluralistische Elemente das sowjetische Modell von Grund auf verwandeln sollte. Zu den Voraussetzungen für den großen Erfolg der Reformkommunisten in der Tschechoslowakei gehört die alte und starke linke politische Tradition in diesem Land, die bis in die tschechische Arbeiterbewegung in der Donaumonarchie zurückreicht. Die Tschechoslowakei war am Ende des Zweiten Weltkrieges das einzige Land Osteuropas mit einer starken kommunistischen Partei. 3. Ansatzweise in Ungarn 1956 und viel deutlicher in Polen 1980/81 artikulierte sich ein Nationalismus, der nicht nur antisowjetische, sondern auch antikommunistische Züge trug. Die Selbstorganisation der polnischen Gesellschaft führte zur faktischen Ausschaltung und zum organisatorischen Zerfall der Partei. Darüber hinaus wurden in der „Solidarität“ Forderungen erhoben, deren Erfüllung dasEnde des Sozialismus sowjetischen Typs bedeuten würde: Ende der Zensur, Aufhebung des Herrschafts-und Organisationsmonopols der Partei und freie Wahlen. Der Antikommunismus der polnischen Arbeiter und Intellektuellen wird durch tief-sitzende Ressentiments gegen den russisch-sowjetischen Staat und durch die Sehnsucht nach dem gemeinsamen westeuropäischen Haus verstärkt, von dessen Konstruktion die Polen sicher andere Vorstellungen haben als Gorbacev.
Die neue sowjetische Führung hat sich bis zu einem gewissen Grad mit den Realitäten in Ostmittel-und Südosteuropa abgefunden. Möglicherweise wird die Zukunft von „organischeren Wechselbeziehungen“ gekennzeichnet sein. Es ist denkbar, daß nach Gorbaevs Ansicht die Breznev-Doktrin nicht mehr gültig ist. Dies heißt keineswegs, daß die Sowjetunion bereit ist, dem nach Souveränität strebenden Nationalismus der Warschauer-Pakt-Staaten freie Hand zu lassen. Die sowjetische Oberherrschaft wird aber in Zukunft noch weniger als bisher in der Lage sein, die inneren Verhältnisse der Staaten zu regulieren. Sie wird sich notgedrungen auf die Sicherung der außenpolitischen Loyalität sowie der politischen und militärischen Kooperation im Warschauer Pakt konzentrieren. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit im RGW dürfte zumindest ebenso, wenn nicht stärker im Interesse der kleineren Länder als im Interesse der Sowjetunion liegen.
VI. Der Zerfall der kommunistischen Weltbewegung und der sowjetisch-chinesische Konflikt
Die Diversifikation der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Ostmittel-und Südosteuropa stand in Wechselwirkung mit dem Zerfall der kommunistischen Weltbewegung in anderen Regionen. Nachdem Stalin 1948 nicht in der Lage gewesen war, Tito zu disziplinieren, markierte der seit Ende der fünfziger Jahre verdeckte und seit Beginn der sechziger Jahre offene sowjetisch-chinesische Konflikt die Unfähigkeit der UdSSR, eine auf Moskau zentrierte weltumspannende kommunistische Bewegung aufrechtzuerhalten. Die kommunistische Weltbewegung zerfiel, weil die KPdSU nicht bereit war, die nationalen Interessen anderer kommunistischer Parteien als gleichberechtigt anzuerkennen, sondern im Gegenteil die nationalen Interessen der Sowjetunion mit denen der kommunistischen Weltbewegung gleichsetzte. Die nach der Auflösung des Kominform (1956) abgehaltenen drei kommunistischen Weltkonferenzen demonstrieren symptomatisch den progressiven Zerfall der Einheit. Während 1957 die führende Rolle der KPdSU ausdrücklich deklariert wurde, konnten 1960 die divergierenden Positionen zwischen Sowjets und Chinesen nur mühsam im Schlußdokument verhüllt werden. Die letzte Weltkonferenz fand 1969 nicht nur ohne die KPCh statt, sondern es kam während der Konferenz zum wiederholten Mal zu militärischen Zusammenstößen am Grenzfluß Ussuri.
Die Sowjetunion hat in den ersten Jahren nach 1949, als die Volksrepublik China politisch schwach und ökonomisch abhängig war. mit einem bemerkenswerten Mangel an Sensibilität den chinesischen Nationalstolz brüskiert und nach dem Muster Ost-mittel-undSüdosteuropas versucht, China das sowjetische Modell aufzuprägen. Offenbar haben die Sowjets nicht durchschaut, daß die chinesische Willfährigkeit taktischer Natur war, obwohl Mao Zedong schon 1936 erklärt hatte: „Wir kämpfen sicher nicht für ein emanzipiertes China, um das Land Moskau zu übergeben.“ 1950 wurden auf sowjetischen Druck gemischte sowjetisch-chinesische Aktiengesellschaften gegründet, die der Sowjetunion erhebliche Rechte an der wirtschaftlichen Erschließung Sinkiangs und im zivilen Luftverkehr sicherten. Der erste chinesische Fünfjahresplan folgte mit der Betonung der Schwer-und Maschinenindustrie sowjetischem Vorbild. Die Landwirtschaft wurde nach sowjetischem Muster kollektiviert. Tausende von sowjetischen Beratern kamen nach China und übernahmen Führungspositionen in Industrie und Wirtschaft, im Erziehungs-und Transportwesen. Die Lehrprogramme der Universitäten wurden unter Leitung russischer Professoren teilweise nach sowjetischem Vorbild umgestaltet. An der führenden Tsinghua-Universität in Beijing wurden 1953 in 90 Prozent der Kurse aus dem Russischen übersetzte Lehrbücher benutzt. Chinesische Zeitungen und Zeitschriften waren voll von Übersetzungen aus dem Russischen und der Berichterstattung über die Sowjetunion. Sowjetische Filme beherrschten die Kinotheater
Obwohl Chruev behauptet, schon bei seinem ersten Besuch in China 1954 erkannt zu haben, daß die Chinesen eine sowjetische Suprematie auf Dauer nicht tolerieren würden, zeigte auch er wenig Verständnis für chinesisches Prestigebedürfnis. So insistierte er jahrelang auf der Einrichtung sowjetischer Militärstützpunkte und besonders eines U-Boot-Hafens in China. Auch der territoriale Revisionismus Chinas gegenüber der Sowjetunion macht deutlich, welchen hohen Stellenwert die Chinesen dem Gesichtspunkt des nationalen Prestiges beimessen. China fordert nicht die Rückgabe jener Gebiete, die Rußland infolge der „ungleichen Verträge“ des 19. Jahrhunderts erworben hat. sondern China verlangt von der Sowjetunion die Anerkennung der Unrechtmäßigkeit der Verträge und der Gebietserwerbungen — d. h. eine Art diplomatisch-völkerrechtliche Unterwerfungsgeste. Im übrigen fordert die Volksrepublik die Rückgabe von Gebieten, die — nach chinesischer Sichtweise — unter Verletzung eben jener Verträge von Rußland bzw.der Sowjetunion okkupiert wurden Der chinesisch-sowjetische Konflikt hat endgültig den Mythos widerlegt, daß mit der Machtergreifung kommunistischer Parteien und der sozialen Revolution nationale Gegensätze und die Ursachen für Kriege zwischen Staaten beseitigt würden.
VII. Nationalismus und die Grenzen der sowjetischen Dritte-Welt-Politik
Etwa zeitgleich mit dem Zerfall der kommunistischen Weltbewegung hat die Sowjetunion seit Mitte der fünfziger Jahre durch den Ausgriff in die Dritte Welt eine Art Kompensation gesucht und gefunden. Erst seit dem politischen und militärischen Fußfassen in der Dritten Welt kann von einer über den euro-asiatischen Kontinent hinausreichenden globalen Außenpolitik gesprochen werden. Expansion in der Dritten Welt und das Erreichen der militärischen Parität mit den Vereinigten Staaten waren die wichtigsten Voraussetzungen für den Weltmachtstatus, wie er sich in den beiden vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat
Das Bündnis mit den nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien galt in der bolschewistischen Tradition von Anfang an als ein wichtiger Motor im weltrevolutionären Prozeß. Trockij hat dies in dem bekannten Diktum formuliert: „Der Weg nach Paris und London führt über die Städte Afghanistans, des Punjab und Bengalens.“ Dabei gingen die Bol’seviki von der aus der Ideologie abgeleiteten Vorannahme aus, der Nationalismus der unterdrückten Nationen werde ein natürlicher Verbündeter des Sozialismus, d. h.der Sowjetunion sein. „Wenn wir als Lösung das Recht auf Selbstbestimmung für die Kolonien Vorschlägen ... so verlieren wir dadurch nichts. Im Gegenteil, wir gewinnen . . . Die offenste nationalistische Bewegung ist nur Wasser auf unsere Mühlen“, erklärte Bucharin Anfang der zwanziger Jahre
Diese revolutionäre Rhetorik ist seit Mitte der fünfziger Jahre in einem neuen Anlauf in eine erfolgreiche Politik in der Dritten Welt umgesetzt worden. Während Stalin die Führer der neuen unabhängigen Staaten wie Nehru oder Nasser für Marionetten der Imperialisten hielt, erkannte die sowjetische Führung unter Chruev die großen Möglichkeiten, den anti-westlichen, antikapitalistischen Nationalismus der eben erst souverän gewordenen Staaten auf sowjetische Mühlen umzuleiten. Die Sowjetunion machte ihr Engagement in den „Staaten der nationalen Demokratie“ oder der „nationalen Bourgeoisie“ — wie sie in der sowjetischen Sprachregelung hießen — weder von einer vorausgegangenen sozialistischen Revolution abhängig, noch versuchte sie eine Sowjetisierung der innerenVerhältnisse. Die Sowjetunion fand sich sogar mit der offenen Kommunistenverfolgung durch ihre Verbündeten Nasser in Ägypten und Abdul Karim Kassem im Irak ab. Dennoch ging die sowjetische Politik davon aus, der antiimperialistische Nationalismus der „Staaten der nationalen Demokratie“ werde sich allmählich ideologisch und politisch in Richtung auf den Marxismus-Leninismus entwickeln. In den Worten des für die Dritte Welt zuständigen langjährigen stellvertretenden Leiters der Internationalen Abteilung des ZK. R. Ul’janovskij (1987 in den Ruhestand versetzt): In „exzessivem Optimismus“ wollten viele Fachleute in der Sowjetunion „in Persönlichkeiten wie Nasser oder Ben Bella einen ernysevskij sehen, der sich dann zu einem Plechanov wandeln würde. Manchmal wurden Wünsche als Wirklichkeit ausgegeben.“
Seit Mitte der sechzigerJahre wurde deutlich, daß die sowjetische Politik die natürliche Gravität des Nationalismus und des Unabhängigkeitsstrebens der „Staaten der nationalen Demokratie“ zugunsten des sozialistischen Lagers überschätzt hatte. Weder ökonomische Entwicklungshilfe noch Waffenlieferungen erwiesen sich als zuverlässige Hebel, um die umworbenen „bürgerlichen Nationalisten“ außenpolitisch auf sowjetischem Kurs zu halten. Manche Klientelen Moskaus gefielen sich geradezu in der Demonstration ihrer Unabhängigkeit, so etwa Syrien, das sich mehr als zehn Jahre lang sträubte, einen Freundschafts-und Kooperationsvertrag mit der UdSSR abzuschließen. Den schwersten Rückschlag erlitten die sowjetischen Hoffnungen auf den antikapitalistischen und antiimperialistischen Nationalismus in der Dritten Welt mit dem Verlust Ägyptens 1972 und 1976, das neben Indien Kernstück des Ausgriffs in die Dritte Welt seit Mitte der fünfziger Jahre gewesen war.
Die Enttäuschung mit einer Reihe von „Staaten der nationalen Demokratie“ war einer der Gründe dafür, daß die sowjetische Politik sich seit den siebziger Jahren stärker bei der Unterstützung von marxistisch-leninistischen Avantgardeparteien engagierte. Solche Befreiungsbewegungen und entsprechende Staaten „sozialistischer Orientierung“ — so die sowjetische Sprachregelung — erschienen jetzt langfristig als zuverlässigere Partner. Die Penetration dieser Staaten — z. B. durch die Organisation eines Parteiapparats und einer politischen Polizei — sollte die Orientierung auf die Sowjetunion auf Dauer sichern. Die Sowjetunion drängte und unterstützte ihre neuen Klientelen der zweiten Generation. sich formal als leninistische Avantgarde-parteien zu organisieren, so in Mozambique (Februar 1977), Angola (Dezember 1977), in der Volksrepublik Jemen (Oktober 1978) und in Äthiopien (September 1984). Allerdings stieß die Sowjetunion auch mit dieser Taktik an Grenzen. Es erwies sich, daß die UdSSR zwar außenpolitisch auf die Unterstützung der leninistischen revolutionären Regime rechnen konnte, die ihr auch relativ großzügig Militärstützpunkte einräumten, aber die Regime selbst hatten in ihren Ländern eine vergleichsweise schmale gesellschaftliche Basis, waren auf intensive Wirtschafts-und Militärhilfe angewiesen und sahen sich militärischem Guerillawiderstand im eigenen Land gegenüber. Die Regime der marxistisch-leninistischen Avantgardeparteien konnten sich nicht auf einen breiten nationalen Konsens stützen, weil sie mit ihren antikapitalistischen Zwangsmaßnahmen wie der Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Kollektivierung der Landwirtschaft sich ihre Gegner im eigenen Land schufen. Die Schwäche der marxistisch-leninistischen Avantgardeparteien im eigenen Land in Kombination mit der nachlassenden sowjetischen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre haben dem sowjetischen Engagement Grenzen gesetzt
Diese Kombination hat 1988 zur offenen Niederlage in Afghanistan geführt. Auch offiziell wird in der Sowjetunion heute eingeräumt, die Demokratische Volkspartei Afghanistans — eine marxistischleninistische Avantgardepartei — sei nicht in der Lage gewesen, für die sozialistische Umgestaltung eine genügend breite Basis im Land zu schaffen. Damit sei für die Sowjetunion die Voraussetzung ihrer militärischen Intervention entfallen, nämlich der Schutz einer erfolgreichen Revolution.
Die sowjetischen Klientelen der ersten Generation erwiesen sich wegen ihres nationalen Unabhängigkeitsdrangs in vielen Fällen als unberechenbar und unzuverlässig: Die Klientelen der zweiten Generation wurden umgekehrt wegen ihrer zu schmalen nationalen Basis im eigenen Land eine schwere Bürde, so daß sich Gorbacev veranlaßt sieht, Engagements abzubauen und die Pflöcke zurückzustekken.
VIII. Perspektiven zukünftiger Entwicklung
Die vorangegangenen Ausführungen sollten deutlich machen, daß der Nationalismus der Sowjet-macht sowohl im Inneren als auch in den internationalen Beziehungen Grenzen setzt. Gorbacev hat die „wachsende Rolle der Völker, Nationen und der neuen sich formenden nationalen Gebilde“ in seiner Rede vor der 19. Parteikonferenz bestätigt. In der internationalen Politik müsse man mit dieser „Vielfalt der Interessen“ rechnen Zwei Ein-
Schränkungen erscheinen angebracht: 1. Nationalismus ist nicht die einzige Kraft, die der Machtexpansion in den vergangenen Jahrzehnten Schranken auferlegt hat. Wichtige andere Faktoren, die in die gleiche Richtung gewirkt haben, sind die mangelhafte Leistungsfähigkeit der Sowjetwirtschaft und der Zusammenbruch der Politik der Detente am Ende der siebziger Jahre. Seitdem treten die Vereinigten Staaten wieder als Herausforderer gegenüber sowjetischen Machtinteressen auf. 2. Der Nationalismus hat innerhalb und außerhalb der Staatsgrenzen der UdSSR neue Konflikte geschaffen oder alte verstärkt. Dies hat jedoch bislang nicht dahin geführt, daß der Herrschaftsverband sich in Auflösung befindet. Am weitesten fortgeschritten ist der Verfall der internationalen kommu27 nistischen Bewegung. Er dürfte nicht rückgängig zu machen sein. Dennoch gibt es auch hier nach wie vor eine beträchtliche Zahl moskautreuer nicht-regierender kommunistischer Parteien. Der osteuropäische Hegemonialbereich hat sich wegen der zunehmenden zentrifugalen Kräfte aus einer Basis der sowjetischen Weltmachtstellung nach 1945 zu einer Bürde gewandelt. Dennoch sind die War-schauer-Pakt-Staaten bisher nicht unregierbar geworden. und es gibt keinen Grund anzunehmen, die Gorbacev-Führung könnte die Staaten Ostmittelund Südosteuropas in die Neutralität entlassen. Die UdSSR hat zwar in der Dritten Welt empfindliche Rückschläge hinnehmen müssen, längerfristig können sich jedoch hier neue Möglichkeiten zum Ausbau der Machtinteressen ergeben.
Wie sind die Zukunftsperspektiven zu beurteilen? Der Pluralismus der Nationen und Nationalismen nicht nur im osteuropäischen Hegemonialbereich und in der kommunistischen Weltbewegung, sondern auch innerhalb der UdSSR ist ein Faktor, den keine sowjetische Führung wird unberücksichtigt lassen können, wenn sie nicht die Stabilität gefährden oder zu Methoden des Massenterrors zurückkehren will. Man mag darüber streiten, ob und inwieweit sich die Sowjetunion zu einem wie auch immer eingeschränkten Pluralismus hin entwickelt, unter nationalem Aspekt ist sie pluralistisch. Dieser Pluralismus kann dazu beitragen, auch in anderen Bereichen von Herrschaft und Gesellschaft ein ehemals totalitäres System weiter von innen auszuhöhlen. So leistet der Nationalismus — in Umkehrung des marxistischen ideologischen Axioms — einen Beitrag zur Überwindung des Marxismus-Leninismus. In Ostmittel-und Südosteuropa hat die wachsende Diversifikation dazu geführt, daß die Sowjetunion ihren Herrschaftsumfang hat reduzieren müssen.
Auch im Inneren sind längerfristig Maßnahmen der Dezentralisierung und der regionalen Autonomie unabweisbar. Allerdings hat die Gorbacev-Führung in dieser Hinsicht bisher weder ein Programm entwickelt, geschweige denn konkrete Schritte unternommen. Eine Perestrojka der nationalen Beziehungen innerhalb der UdSSR steht noch aus. Diese Nichtpolitik der Gorbacev-Führung steht in scharfem Kontrast zu dem besonders seit 1987 wachsenden Druck auf Umgestaltung von unten. Als verfassungsrechtliches Instrument eines „neuen Denkens“ in der nationalen Frage bietet sich der Sowjetföderalismus an. In der Geschichte der Sowjetunion ist wiederholt versucht worden, diese weitgehend leere Hülse mit politischem Inhalt zu füllen. Jede Dezentralisierung bedeutet per definitionem eine Reduzierung des Herrschaftsumfangs der zentralen Parteiführung. Die Alternative dazu wäre ein weiteres Anwachsen des Konfliktpotentials mit der Gefahr einer explosiven Zuspitzung dieser Konflikte. Dieser Punkt wäre beispielsweise erreicht, wenn die, Selbstorganisation der armenischen Nation sich im Rahmen der gesamten Ukraine oder ganz sowjetisch Zentralasiens wiederholen würde. Gorbacevs oberste Priorität heißt Revitalisierung des Sowjetsystems. Wie in anderen Bereichen auch ist sie ohne eine Begrenzung des Herrschaftsumfangs der zentralen Parteiführung nicht zu erreichen. Die Dialektik — d. h. die Gleichzeitigkeit von totalitärer Herrschaft und Stabilität im Inneren. die Stalin durch Terror gesichert hatte — ist erschöpft.
Gerhard Simon, Dr. phil., geb. 1937, wissenschaftlicher Oberrat am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln; Privatdozent an der Universität zu Köln; derzeit Gastprofessor an der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Die Kirchen in Rußland, München 1970; (zus. mit Astrid v. Borcke) Neue Wege der Sowjetunionforschung, Baden-Baden 1980; Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986; (Hrsg.) Weltmacht Sowjetunion, Köln 1987.