Die seit 1987 zunehmende Zahl der Ausreisen von Deutschen aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik hat durch die daraus entstandenen Probleme großes Interesse in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Häufig ist über die Aussiedler nur wenig bekannt. Einem Erlaß der Zarin Katharina II. aus dem Jahre 1763 folgend, gelangten ihre Vorfahren in das Russische Reich. Nach der Revolution von 1917 erhielten die Deutschen in einigen Regionen der Sowjetunion autonome Gebiete. So wurde 1924 die „Republik der Wolgadeutschen“ gegründet. Deportationen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Sibirien und Kasachstan veränderten ihre Lage und ihren Status entscheidend. Daraus resultierende, bis heute spürbare Folgen wie etwa die mangelnden Möglichkeiten, deutsche Sprache und Kultur zu pflegen sowie die Religion auszuüben’, sind mit für die Ausreisen verantwortlich. Aufgrund von Befragungsstudien mit Aussiedlern ergeben sich einige detaillierte Einblicke in die Situation der deutschen Bevölkerung in der UdSSR — u. a. die Erkenntnis, daß die Deutschen durch ihre Einbindung in die unterschiedlichsten Kontexte der Sowjetgesellschaft nicht, wie häufig angenommen, eine homogene Bevölkerungsgruppe sind. Die Befragungsergebnisse vermitteln auch für den Integrationsprozeß in der Bundesrepublik wichtige Hintergrundinformationen.
Zahlen, Fakten und neue Forschungsergebnisse
Mit der zunehmenden Zahl von deutschen Aussiedlern aus der Sowjetunion in den letzten Jahren ist das Thema „Deutsche in der UdSSR“ in das Blickfeld der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gerückt. Erregte Diskussionen nicht nur seitens der politisch Verantwortlichen sind Zeugnis dafür, daß man den Deutschen in der Sowjetunion und dem Integrationsprozeß der Aussiedler in der Bundesrepublik zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Von der Öffentlichkeit zu wenig beachtet, hatte sich jedoch die Wissenschaft bereits seit Beginn der achtziger Jahre verstärkt diesem Themenbereich gewidmet Ihr folgten mit einiger Verzögerung die Medien. Wenig bekannt sind in der Öffentlichkeit vor allem die Ursprünge der Deutschen in der UdSSR, ihr historisches Schicksal, das die deutschen Aussiedler aus der Sowjetunion prägt.
I. Historische Entwicklung im Überblick
Abbildung 2
Abbildung 1: Deutsch als Muttersprache; Anteil der Deutschen an der russischlsowjetischen Bevölkerung (in Prozent)
Abbildung 1: Deutsch als Muttersprache; Anteil der Deutschen an der russischlsowjetischen Bevölkerung (in Prozent)
1. Von Katharina II. bis zum Ersten Weltkrieg Die Vorfahren der heute in der Sowjetunion lebenden Deutschen gehörten verschiedenen Einwanderergruppen an, die über mehr als ein Jahrhundert hinweg nach Rußland kamen. Ihrer sozialen Herkunft nach lassen sie sich zwei verschiedenen Gesellschaftsschichten zuordnen: Entweder waren sie gutausgebildete Verwaltungsbeamte, Offiziere, Ärzte, Handwerker und Techniker oder aber bäuerliche Siedler.
Die erstgenannte Gruppe war relativ klein und kam bereits unter Peter I. (1682— 1725) ins Land, um zur Modernisierung der Wirtschaft, der Verwaltung und des Militärs sowie zur städtebaulichen Erneuerung beizutragen. Diese Einwanderer integrierten sich zum größten Teil in das städtische Bürgertum Rußlands. Der weitaus größte Teil der Einwanderer war jedoch bäuerlicher Herkunft und kam zuerst unter Katharina II. (1762— 1796) nach Ruß-land, genauer gesagt: in die Steppengebiete der unteren Wolga, die ihnen zur landwirtschaftlichen Nutzung zugewiesen worden waren. In einem Manifest vom 22. Juli 1763 hatte Katharina II.fremden Siedlern (Kolonisten) Land angeboten, zudem die Befreiung von Steuern und vom Militärdienst in Aussicht gestellt und das Recht zur selbständigen Verwaltung der Dörfer gewährt. Dies veranlaßte zwischen 1764 und 176827 000 Siedler aus Deutschland zur Auswanderung in die Wolgagebiete. Zur gleichen Zeit wurden nahe St. Petersburg und im Schwarzmeergebiet deutsche Siedlungen gegründet. Die nächste größere Gruppe deutscher Einwanderer kam unter Alexander I. (1801 — 1825) nach Rußland. Zu dieser Zeit wurden für die Gebiete der heutigen Ukraine, der Krim, des Transkaukasus und Bessarabiens Siedler angeworben. Zwischen 1763 und 1862 hatten die deutschen Siedler in Ruß-land mehr als 3 000 Kolonien im europäischen Teil des Russischen Reiches, im Kaukasus und in Sibirien gegründet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch in Kasachstan und Mittelasien Tochterkolonien errichtet.
Die deutschen Siedler waren wirtschaftlich erfolgreich. Zum einen war dies ihrer Disziplin und ihrem Streben nach effektiver Produktion zuzuschreiben, zum anderen kamen sie in den Genuß der bereits genannten Privilegien der russischen Regierung. Spannungen mit der russischen Bevölkerung entstanden durch die wirtschaftlichen Erfolge der Kolonisten, insbesondere mit den anwachsenden pan-3 slawistischen Kräften. Reformen Alexanders II. (1855— 1881) nahmen schließlich im Jahre 1871 die Vorrechte zurück, die den Kolonisten gewährt worden waren. Sie wurden von diesem Zeitpunkt an wie „russische Bürger“ behandelt und hatten auch den Militärdienst zu leisten. Vor allem die allgemeine Pflicht zum Militärdienst veranlaßte daraufhin zahlreiche deutsche Siedler (hauptsächlich Mennoniten, die aus religiösen Gründen den Dienst mit der Waffe ablehnten), nach Amerika auszuwandem. Trotz der veränderten Bedingungen blieben viele deutsche Einwanderer im Land; ihre Zahl und regionale Verteilung wurden durch die erste allgemeine Volkszählung im zaristischen Rußland (1897) festgehalten. Aus ihr geht hervor, daß damals 1, 8 Millionen Deutsche in Rußland lebten: 22 Prozent im Wolgagebiet, 21 Prozent am Schwarzen Meer und weniger als ein Prozent in Mittelasien oder Sibirien. Alle anderen hatten im übrigen Teil des europäischen Rußland ihren Wohnsitz. Ohne hier näher auf die sozialen Unterschiede der deutschen Bevölkerung in den einzelnen Kolonien bzw. Regionen einzugehen, ist zu betonen, daß die deutschsprachigen Einwohner Rußlands wenig über den — allerdings recht engen — Zusammenhang innerhalb der einzelnen Kolonien bzw. Regionen hinaus Kontakt untereinander hatten. Die soziale Distanz zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung sowie zu den im Baltikum lebenden Deutschen war groß.
Neben der regionalen Verteilung der Deutschen in Rußland im Jahre 1897 ist auch ihre religiöse Zugehörigkeit aus der Volkszählung bekannt. Die größte Gruppe bildeten mit 76 Prozent die Lutheraner, gefolgt von 13 Prozent Katholiken; Mennoniten und Reformierte machten jeweils ca. vier Prozent aus. Alle übrigen gehörten anderen Glaubensgemeinschaften an.
Bis zum Jahre 1914 wuchs die deutsche Bevölkerung in Rußland nochmals relativ stark auf nunmehr insgesamt 2, 4 Millionen an. Ihre Verteilung auf die versch Millionen an. Ihre Verteilung auf die verschiedenen Siedlungsgebiete hatte sich nur sehr geringfügig geändert; in Mittelasien und Sibirien lebten nun etwas mehr Deutsche, ihr Anteil betrug jedoch weiterhin nur vier Prozent der deutschen Siedler in Rußland. 2. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Der Erste Weltkrieg verschlechterte die Lebensbedingungen der Deutschen in Rußland erheblich. Aufgrund eines Gesetzes von 1915 wurden die Deutschen deportiert, die innerhalb einer 150 km breiten Zone entlang der Westgrenze des Russischen Reiches, der Ostseeküste und des Schwarzen Meeres lebten. Etwa 150 000 Deutsche aus Wolhynien wurden in den Osten gebracht, wobei viele den Transport nicht überlebten. Die bereits geplante Deportation der übrigen deutschen Bevölkerung wurde durch die Revolution von 1917 verhindert.
Der nach der Revolution einsetzende Bürgerkrieg (1918— 1921) brachte für die deutschen Kolonien in der Ukraine und an der Wolga nochmals schwere Notzeiten. Dies hatte weniger mit ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität als vielmehr damit zu tun, daß ihre Siedlungsgebiete in der Ukraine heftig umkämpft waren und daß im Wolgagebiet — vor allem infolge des Krieges und der rigiden Lebensmittelbeschaffungsmaßnahmen — in den Jahren 1921/22 eine Hungersnot ausbrach. Erst das Ende der Kriegshandlungen und die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) verbesserten allgemein die Lebensbedingungen der Bevölkerung in diesen Gebieten. Die deutsche Bevölkerung hatte sich jedoch bis zur Volkszählung von 1926 auf 1, 2 Millionen, also insgesamt um die Hälfte verringert. Die Sowjetregierung hatte bereits 1917 die Gleichberechtigung aller Nationalitäten proklamiert, die auf russischem Territorium lebten. Für die Deutschen, wie für die übrigen Minderheiten auch, gab dies den Anstoß dazu, nationale Interessenvertretungen zu bilden; es wurden das Zentralkomitee der Wolgadeutschen, das südrussische Zentralkomitee in Odessa sowie Komitees in Slawgorod und Tiflis gegründet. Durch die Erhebung des 1918 gegründeten autonomen Gebiets der Wolgadeutschen zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik im Januar 1924 3) wurde zumindest für die dort lebende deutsche Bevölkerung das Ziel der nationalen Autonomie in der Sowjetunion teilweise erreicht. Im Laufe der nächsten Jahre wurden noch weitere deutsche Verwaltungseinheiten geschaffen, sechs davon in der RSFSR, eine jeweils in Georgien und Azerbajdschan sowie neun in der Ukraine. Die deutsche Sprache, die während des Ersten Weltkriegs verboten worden war, wurde dort Amtssprache; es gab deutsche Hochschulen und Technika 4), Theater, Bibliotheken sowie einige deutsche Zeitungen und Zeitschriften. Die 1928/29 beginnende Zwangskollektivierung traf die bäuerliche deutsche Bevölkerung dann jedoch außerordentlich hart. Großbauern und Angehörige der relativ wohlhabenden bäuerlichen Mittelschicht in der Ukraine, im Wolga-und Schwarzmeergebiet wurden als Kulaken in den hohen Norden der Sowjetunion, nach Sibirien oder nach Kasachstan deportiert bzw. zwangsumgesiedelt. Trotz der harten Lebensbedingungen und obwohl auch die deutsche Bevölkerung von den „Säuberungen“ der dreißiger Jahre betroffen war, wuchs ihre Zahl nach offiziellen Angaben bis zum Jahre 1939 auf 1, 4 Millionen an. (Über ihre regionale Verteilung zum damaligen Zeitpunkt ist nichts bekannt.)
Spätestens der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bedeutete auch für die deutschen Bewohner der Wolgarepublik eine radikale Veränderung ihrer Lebensbedingungen. Die sowjetische Regierung hatte bald nach Kriegsausbruch aus Furcht vor Kollaboration der Deutschen mit der einmarschierenden Wehrmacht die Deportation aller im westlichen Teil der UdSSR lebenden Deutschen nach Sibirien, Mittelasien und Kasachstan angeordnet. Da die deutschen Truppen jedoch unerwartet rasch vordrangen und die Gebiete westlich des Dnjepr besetzten, wurden die dort lebenden Deutschen nicht mehr in den Osten deportiert. Ihr Schicksal nahm einen anderen, wenn auch kaum weniger tragischen Verlauf als das der von der Sowjetregierung in den Osten verschleppten Deutschen.
Nach der Niederlage der Wehrmacht vor Stalingrad im Winter 1942/43, als sich die deutschen Truppen nach Westen zurückziehen mußten, begann die Aussiedlung derjenigen Deutschen, die bis dahin noch in den besetzten, ursprünglich sowjetischen Gebieten lebten. Von Januar 1943 an verließen sie in großen Trecks das Reichskommissariat Ostland, die Gebiete des Reichskommissariats Ukraine und Transnistrien. Die meisten von ihnen kamen in den sogenannten Warthegau (im besetzten Westpolen) und manche nach Ober-und Niederschlesien, wo sie angesiedelt werden sollten. Durch den Einmarsch der sowjetischen Armee in den Warthegau (Januar 1945) konnte die dortige deutsche Zivilbevölkerung aus der Sowjetunion bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr evakuiert werden. Es wird geschätzt, daß sich dort etwa 200 000 Deutsche aus der Sowjetunion befanden.
Für die sowjetische Regierung waren diese und auch alle anderen Deutschen aus der Sowjetunion, die in den Westen geflohen oder umgesiedelt worden waren, nach wie vor sowjetische Staatsbürger, ob sie nun im Zuge der Eingliederungsmaßnahmen die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt bekommen hatten oder nicht. Alle, die sich in den von der Roten Armee besetzten Gebieten befanden, wurden sogleich in die Sowjetunion repatriiert, d. h. in Lager z. B. bis nach Sibirien gebracht. Mit den westlichen Alliierten hatte die Sowjetregierung zudem das (auf Gegenseitigkeit beruhende) Abkommen getroffen, daß alle sowjetischen Staatsangehörigen, die sich in den westlichen Besatzungszonen befanden, repatriiert werden sollten. Darunter waren schätzungsweise 250 000 Deutsche aus der Sowjetunion. 3. Die Entwicklung nach 1945
Bis 1955 war über das Schicksal der in der Sowjetunion lebenden Deutschen — sei es in Lagern oder Sondersiedlungen, sei es in ihren ursprünglichen Wohngebieten in Sibirien, Mittelasien und Kasachstan — wenig bekannt. Dies änderte sich erst mit einer Verordnung vom 17. September 1955 und dem Dekret vom 13. Dezember 1955 „Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befinden“. Letzteres führte zu ihrer Entlassung aus den Zwangsarbeitslagem. Es war ihnen jedoch nicht gestattet, in ihre früheren Heimatgebiete zurückzukehren, und sie mußten auf ihr dort zurückgelassenes Vermögen ausdrücklich verzichten. Dennoch bedeutete diese Verordnung, die im Zusammenhang mit dem Besuch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion gesehen werden muß, eine Erleichterung ihrer Lebensbedingungen. Eine weitere Verbesserung ihrer Situation sollte durch ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR eingeleitet werden, das am 29. August 1964 erlassen wurde. Es nahm u. a. die Anschuldigung der Kollaboration mit dem faschistischen Deutschland zurück, die am 28. August 1941 gegen die in der Wolgarepublik lebenden Deutschen erhoben worden war. Die Rückkehr in ihre früheren Wohngebiete wurde ihnen jedoch nicht gestattet — ein Grunddilemma, dessen Folgen bis heute spürbar sind und sowohl in den Forderungen nach der Wiederherstellung der Autonomen Republik Ausdruck finden als auch in dem Wunsch, aus der UdSSR auszureisen.
Seit 1955 hat sich die soziale und wirtschaftliche Lage der Deutschen gebessert. Schulen und Ausbildungsstätten sind wieder zugänglich; Berufswünschen stehen meist keine national bedingten Hin-5 demisse im Wege. Es gibt wieder deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksendungen; im Bildungssystem soll der eigens für die deutsche Bevölkerung geschaffene „Muttersprachliche Deutschunter-richt“ die Pflege von Sprache. Kultur und Geschichtsbewußtsein garantieren. Diese Ansätze bilden ein positives Potential; in der Realität sieht es dagegen oft noch wesentlich anders aus
II. Demographische Entwicklung und Volkszählungsergebnisse
Abbildung 3
Tabelle 1: Regionale Verteilung der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion nach den Volkszählungen von 1959, 1970 und 19799) (in Prozent)
Tabelle 1: Regionale Verteilung der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion nach den Volkszählungen von 1959, 1970 und 19799) (in Prozent)
Über die demographische Entwicklung der Deutschen in der Sowjetunion können bei sonst mangelhafter Quellenlage die Ergebnisse der Volkszählungen Auskunft geben. Daraus lassen sich auch Angaben über ihre Zahl und regionale Verteilung ermitteln. In der Statistik der Volkszählung von 1979 nehmen die Deutschen in der Sowjetunion den 14. Platz unter den mehr als 100 Nationen ein; sie sind zahlenmäßig größer als Nationalitäten wie z. B. die Kirgisen und Esten, jedoch haben diese eine eigene Unionsrepublik und verfügen somit, im Gegensatz zu Deutschen, Koreanern, Griechen und Türken, über ein „eigenes“ Territorium. Daraus ergibt sich, daß z. B. Kirgisen im Vergleich zu den Deutschen Schulen haben, an denen der Unterricht in der Muttersprache erfolgt.
Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die Angabe zur Nationalität die subjektive Einschätzung der Sowjetbürger wiedergibt, man diese daher von der Eintragung der Nationalität im Paß trennen muß, die von der Nationalität der Eltern abgeleitet wird Diese Aspekte sind bei der Analyse der Volkszählungsergebnisse von großer Bedeutung. Abbildung 1 enthält Angaben zum deutschen Anteil an der Gesamtbevölkerung und zur Muttersprache
Ein kurzer Vergleich der Volkszählungsergebnisse von 1926 mit denen von 1897 und 1914 macht deutlich, daß nur die im asiatischen bzw. sibirischen Teil der UdSSR lebende deutsche Bevölkerung über den gesamten Zeitraum kontinuierlich zunahm. Dies liegt zum einen daran, daß diese Gebiete weniger dem Kriegsgeschehen, den Hungersnöten und der dadurch bedingten Emigration ausgesetzt waren; zum anderen daran, daß es sich hierbei um Deportationsgebiete handelte. Zudem weisen Angaben zur annullierten Volkszählung von 1937 darauf hin, daß die Resultate des Zensus von 1939 und alle aus dieser Periode stammenden statistischen Angaben mit größter Vorsicht zu interpretieren sind
Aus der Abbildung wird der sinkende Anteil der deutschen Bevölkerung deutlich; gleichzeitig sinkt auch der Stellenwert von Deutsch als Muttersprache. Zwischen 1959 und 1970 nahm die deutsche Bevölkerung von 1 620 000 auf 1 846 000 zu, und bis 1979 wuchs sie auf 1 936 000. Es ist festzustellen, daß sie sich zwischen 1959 und 1970 in der RSFSR absolut und anteilsmäßig verringerte, in Kasachstan und Kirgisien dagegen vergrößerte. Zwischen 1970 und 1979 sind zwischen den angegebenen Republiken keine stärkeren regionalen Migrationsbewegungen mehr zu beobachten — die deutsche Bevölkerung nahm in allen Republiken im Verhältnis etwa gleichmäßig zu, so daß ihre prozentuale Verteilung nahezu gleich blieb. Die Abnahme der deutschen Bevölkerung in der RSFSR zwischen 1959 und 1970 läßt vermuten, daß viele Deutsche infolge der möglich gewordenen größeren Freizügigkeit in die klimatisch günstigeren Gebiete Kasachstans und Kirgisiens abwanderten, in denen sich bereits Landsleute befanden. Auch das Streben, die vielfach durch die Ereignisse seit Ende der dreißiger Jahre getrennten Großfamilien wieder zu vereinen, mag dazu beigetragen haben.
Trotz der relativ unergiebigen Daten der drei letzten Volkszählungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist klar zu erkennen, daß sich die regionale Verteilung der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion grundlegend verändert hat. Während die Deutschen vor dem Krieg hauptsächlich im europäischen Teil der UdSSR ansässig waren, lebt nun die überwiegende Mehrheit in Kasachstan, Mittelasien und dem sibirischen Teil der RSFSR. Es kam zu einer tiefgreifenden Regionalverschiebung der Bevölkerung. Ein ähnlicher Wandel, der allerdings für die letzten Jahre schwer zu belegen ist, hat sich in der Verteilung der Deutschen auf städtische und ländliche Gebiete vollzogen. Ein relativ großer Teil der traditionell in ländlichen Gebieten wohnenden Deutschen ist in städtische Gebiete gezogen. Sicherlich geht mit dieser Veränderung auch ein Wandel in der Ausbildungs-und Berufsstruktur der Deutschen in der Sowjetunion einher, über den bislang kaum detaillierte Angaben vorliegen. Die für Januar 1989 vorgesehene Volkszählung könnte auch in diesem Zusammenhang wertvolle Informationen liefern.
III. Ergebnisse einer Befragungsstudie
Abbildung 4
Tabelle 2: Teilnahme und Mitgliedschaft bei politischen und gesellschaftlichen Organisationen (in Prozent)
Tabelle 2: Teilnahme und Mitgliedschaft bei politischen und gesellschaftlichen Organisationen (in Prozent)
1. Allgemeines zur Studie Über das Leben der Deutschen in der Sowjetunion heute ist, wie bereits erwähnt, in der Bundesrepublik noch relativ wenig bekannt. Aus den Ergebnissen der sowjetischen Volkszählungen geht zwar hervor, in welchen Republiken sie ansässig sind; auch über ihr Sprachverhalten gibt es einige Informationen. Bisher undokumentiert sind ihre Ausbildungssituation, ihre Berufsstruktur, ihre religiösen und kulturellen Bindungen sowie ihre politische und gesellschaftliche Partizipation in der Sowjetgesellschaft. Die wenigen in der Sowjetunion durchgeführten Untersuchungen sind älteren Datums bzw. auf eine Teilgruppe der Deutschen in der Sowjetunion beschränkt Um mehr über das Leben der Deutschen in der Sowjetunion zu erfahren, wurde vom Osteuropa-Institut München eine großangelegte Befragung mit deutschen Spätaussiedlern aus der Sowjetunion durchgeführt -Die Ergebnisse dieser Studie klären manche der oben angesprochenen Fragestellungen.
Bevor einige aufschlußreiche Resultate vorgestellt werden, soll kurz auf die Wesensmerkmale der Befragungsstudie eingegangen werden Ausgangs-bedingung für die Untersuchung war, daß die Befragungspersonen zwischen dem 1. Januar 1979 und dem 31. Dezember 1983 in die Bundesrepublik Deutschland gekommen und zum Zeitpunkt ihrer Ausreise zwischen 21 und 70 Jahre alt waren. Zudem sollten die interviewten Spätaussiedler die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion so gut wie möglich repräsentieren. Mittels einer relativ komplizierten Auswahlprozedur und trotz einiger Schwierigkeiten, Spätaussiedler für die Befragung zu gewinnen, konnten schließlich 516 Personen interviewt werden, die den vorab festgelegten Anforderungen entsprachen 2. Grundinformationen über die Befragten Welchen sozialen Hintergrund hatten die befragten Spätaussiedler und woher kamen sie? Obschon beinahe selbstverständlich, sei dennoch erwähnt, daß fast alle (93 Prozent) ihrer Paßeintragung nach die deutsche Nationalität besaßen Auffallend und von der Intention der Befragung nicht geplant, war die zahlenmäßige Dominanz männlicher Befragungspersonen mit 59, 1 Prozent. Es ist jedoch bekannt, daß sich Frauen generell in geringerem Maße als Männer dazu bereit finden, an Befragungen teilzunehmen. Besonders gilt das für Personengruppen, die — wie auch die Deutschen aus der Sowjetunion — noch stark an traditionelle Wertvorstellungen gebunden sind.
Die überwiegende Mehrheit der Befragten (87, 7 Prozent) zählt sich einer Religionsgemeinschaft zu, was nach den zugänglichen Informationen typisch für die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion sein dürfte. Beinahe die Hälfte (46. 5 Prozent) bekennt sich zur evangelisch-lutherischen und etwa ein Viertel (23, 4 Prozent) zur katholischen Konfession. Weniger stark vertreten sind Mennoniten (9. 1 Prozent), Evangeliumschristen-Baptisten (8, 3 Prozent) sowie andere Glaubensbekenntnisse (0, 4 Prozent). Die Wohnorte der interviewten Spätaussiedler waren über die ganze Sowjetunion verstreut: 40 Prozent von ihnen hatten im europäischen Teil der Sowjetunion gelebt, sieben Prozent in Sibirien und 53 Prozent in Kasachstan und Mittelasien. Die Spätaussiedler kamen vom Lande ebenso wie aus kleinen Städten und Großstädten. Nach der Definition der sowjetischen Statistik waren 65 Prozent von ihnen in ländlichen Gegenden der Sowjetunion ansässig und 35 Prozent in städtischen. Diese Angaben sowie alle weiteren, die sich aufdie Lebenssituation der Befragten in der Sowjetunion beziehen, wurden für einen Zeitraum abgefragt, der in unserer Studie „letzte normale Lebensperiode“ benannt ist. Das war die Fünfjahresperiode im Leben der Interviewten, bevor sich ihre Situation — durch den Ausreisewunsch bedingt — fundamental änderte.
Bemerkenswerterweise weist die Ausbildungsstruktur der Interviewten ein breites Spektrum auf. Relativ wenige (16 Prozent) hatten nur die Grundschule besucht, während 47 Prozent die allgemeine Mittelschulbildung besaßen. Immerhin 14 Prozent konnten einen Universitätsabschluß erreichen. Die überwiegende Mehrzahl der Befragten war berufstätig: 60 Prozent als Arbeiter und 20 Prozent als Angestellte, und das in praktisch allen Branchen der sowjetischen Wirtschaft. Die übrigen studierten, arbeiteten im Haushalt oder waren Rentner.
Diese wenigen Angaben zeigen bereits, daß die befragten Spätaussiedler keineswegs ungewöhnliche soziale Charakteristika aufweisen und daß es sich auch nicht um eine auffallend homogene Gruppe handelt. Beides wird oft bei Emigranten vermutet und kann dazu führen, daß ein verzerrtes Bild über deren Lebensbedingungen und Einstellungen entsteht.
Im folgenden soll anhand ausgewählter Themen, die auch heute besonders aktuell sind, untersucht werden, ob und in welcher Weise die Befragten an politischen und gesellschaftlichen Prozessen in der Sowjetunion partizipierten, wie sie ihre alltäglichen Lebensbedingungen wahmahmen, wie es um ihre sprachliche Situation bestellt war und schließlich, worin das Motiv bestand, die Sowjetunion zu verlassen. Da es uns bei diesen Fragestellungen wichtig erscheint, nur einen bestimmten Zeitabschnitt zu beleuchten — nämlich die siebziger Jahre — werden hier nur die Personen einbezogen, deren „letzte normale Lebensperiode“ in den siebzigerJahren lag und die zu diesem Zeitpunkt mindestens 18 Jahre alt waren. Die oben genannten Kriterien treffen auf 450 Befragte zu. 3. Sprache und einige Einflußfaktoren Sowohl in der heutigen Diskussion um die Sprach-situation bei den Deutschen in der Sowjetunion als auch bei den Aussiedlern in der Bundesrepublik bildet die Sprache einen der wesentlichsten Integrationsfaktoren in die jeweilige Gesellschaft. Für die Deutschen in der UdSSR sind die Möglichkeiten, ihre Sprache inner-wie außerhalb der Schule zu lernen und zu pflegen, mehr als eingeschränkt Dies hat sich daher auf die Sprachbeherrschung und -Verwendung ausgewirkt.
88, 9 Prozent der Befragten gaben Deutsch als Muttersprache an, wobei der Anteil einer deutschen Mundart mit 58, 2 Prozent als hoch einzuschätzen ist — eine Tatsache, die man in den aktuell geführten Diskussionen in der Öffentlichkeit nicht genügend berücksichtigt. So fällt es z. B. Schulkindern in Kasachstan schwer, auf die Fragen eines Fernsehreporters aus der Bundesrepublik auf Hochdeutsch zu antworten, in der Mundart dagegen hätten sie weniger Probleme; dieser Hinweis fehlt häufig. Vergleicht man die Angaben zur Muttersprache mit den Ergebnissen der Volkszählung von 1979 (57, 0 Prozent), muß man darauf hinweisen, daß es sich bei den Ausreisewilligen um eine Gruppe handelt, die sich ganz bewußt zu ihrer Muttersprache bekennt.
In der Sowjetunion konkurriert Deutsch immer mit Russisch, der notwendigen Verkehrssprache. Unter den Interviewten war daher der Anteil derjenigen, die außer Deutsch noch eine andere Sprache beherrschten sehr hoch: Von diesen 74, 4 Prozent gaben über 90 Prozent Russisch als die Sprache an, die sie neben der Muttersprache beherrschen. Die herausragende Stellung des Russischen wird noch dadurch gestützt, daß auf die Frage nach der am besten beherrschten Sprache 56, 2 Prozent Russisch angaben und 31, 9 Prozent zwei Sprachen, darunter mit sehr hohem Anteil auch Russisch. Ein Blick auf die Volkszählungsergebnisse unterstreicht, wie bereits gezeigt, die zunehmende Bedeutung der russischen Sprache für die deutsche Bevölkerung in der UdSSR: Russisch als Muttersprache nimmt zu und als Zweitsprache ab.
Dies wirkt sich auch aufdie verschiedenen Kommunikationsbereiche aus. So gaben 91, 5 Prozent der Befragten an, sie hätten am Arbeitsplatz Russisch gesprochen. Auch in Mischehen gewinnt es an Bedeutung, denn 49, 7 Prozent sprachen mit ihrem Ehepartner Russisch. Deutsch dagegen — hierunter zählen Hochsprache und Mundart — hat grundsätzlich im familiären Bereich eine größere Bedeutung: Mit den Eltern sprachen 87, 2 Prozent
Deutsch, darunter 57, 8 Prozent eine Mundart. Bei der Kommunikation mit den Kindern nimmt Deutsch mit 59, 1 Prozent noch einen relativ hohen Rang ein, jedoch ist darauf hinzuweisen, daß jüngere Ehepaare immer mehr zum Russischen übergehen. Mit ihren Freunden sprachen 38, 3 Prozent Deutsch, darunter 27 Prozent eine Mundart.
Insgesamt hängt der Rückgang im Gebrauch der deutschen Sprache und ihrer Beherrschung bei den Befragten mit der historischen Entwicklung vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Damals wurde Deutsch oft diskriminiert und in der Öffentlichkeit im Vergleich zu vorher, als noch größere geschlossene deutsche Siedlungsräume bestanden, immer seltener verwendet. Andere Sprachen, hierunter in erster Linie Russisch, haben einen höheren Stellenwert erhalten und damit auch entsprechende Funktionen übernommen. Auch diejenigen Faktoren, die Sprachbeherrschung und -Verwendung des Deutschen positiv beeinflussen könnten, hatten nicht den dazu notwendigen Erfolg zu verzeichnen: Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache existieren im „normalen“ allgemeinbildenden Schulwesen nicht; der für die deutsche Bevölkerung eingeführte „Muttersprachliche Deutschunterricht“ ist auch nach Angaben der Befragten wenig verbreitet; nur 8, 1 Prozent gaben an, der Unterricht habe an ihrem Wohnort stattgefunden. Daneben ist Deutsch im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts für die heutige Situation von großer Relevanz und oft die einzige Möglichkeit, Unterricht in der Muttersprache zu erhalten. 74, 2 Prozent bestätigten, es habe fremdsprachlichen Deutschunterricht am letzten Wohnort gegeben. Mit Hilfe der Lektüredeutschsprachiger Zeitungen könnten, so sollte man meinen, vorhandene Mängel beseitigt werden; damit einher gingen dann auch eine Verbesserung der Sprachkompetenz im Deutschen sowie die Möglichkeit, spezifisch deutschen Fragestellungen in der Presse nachzugehen. Der Zulassung deutschsprachiger Zeitungen könnte hier eine wesentliche Bedeutung zukommen. Die Resultate der Befragung stehen dem jedoch entgegen: „Neues Leben“ und „Freundschaft“, die wichtigsten Zeitungen für die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion, wurden nur von 10, 7 Prozent regelmäßig gelesen. Auch gelegentliche Lektüre (34, 4 Prozent) hat die Sprachkompetenz sicher nicht verbessern können. 4. Die politische und gesellschaftliche Partizipation der Befragten Zwei Überlegungen sind es, die uns hier vor allem beschäftigen: erstens, in welchem Maße und in welB eher Form sich die befragten Spätaussiedler politisch artikulierten, und zweitens, ob sie sich in auffallender Weise an nichtkonformen politischen Aktivitäten beteiligten.
Die politische und gesellschaftliche Partizipation läßt sich durch die Mitgliedschaft und die aktive Teilnahme an entsprechenden Organisationen einschätzen. Ein weiterer Hinweis darauf ist die Teilnahme an Wahlen und das selbst bekundete politische Interesse. Letzteres bietet, als subjektive Einschätzung, eine erste Richtlinie, um die Aufgeschlossenheit für politische Fragen beurteilen zu können. Immerhin antworteten 13, 6 Prozent der Befragten, sie seien sehr, und 32, 9 Prozent, sie seien einigermaßen an politischen und gesellschaftlichen Problemen interessiert gewesen. Die Untersuchung der Wahlbeteiligung und der Mitgliedschaft der Befragten in politischen und sozialen Organisationen enthüllt eine aufschlußreiche Rangordnung (Tabelle 2).
An höchster Stelle stehen solche Aktivitäten, die im Kontext des sowjetischen Systems Konformität signalisieren, wie die Wahlbeteiligung und die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Die Teilnahme an anderen politischen und sozialen Organisationen zeigt, daß sich die befragten Spätaussiedler eher an solchen Gruppen oder Institutionen beteiligten, die direkt mit ihrem gesellschaftlichen Leben zu tun hatten, wie z. B. Elternkomitees oder Kommissionen am Arbeitsplatz. Die Befragungsergebnisse belegen insgesamt eindeutig, daß sich die interviewten Spätaussiedler dort am stärksten engagierten, wo der persönliche Einsatz und die politischen bzw. gesellschaftlichen Anforderungen am geringsten waren.
Wie sah es nun mit der Beteiligung der Befragten bei nichtkonformen Aktivitäten aus? Es ist in der UdSSR allgemein üblich, ausländische Rundfunk-sender zu hören. Von den Befragten gaben 72, 2 Prozent an, ausländische Rundfunksendungen verfolgt zu haben, 40 Prozent davon fast jeden Tag. Die Teilnahme an anderen nichtoffiziellen Aktivitäten war von unterschiedlicher Intensität; bei keiner waren jedoch mehr als ein Fünftel der Befragten engagiert (Tabelle 3).
Hier zeigt sich, daß solche Aktivitäten die höchste Beteiligung hatten, die entweder kein besonderes politisches Bekenntnis erfordern (z. B.der Besuch inoffizieller Kunstausstellungen) oder aber ein persönliches Anliegen der Interviewten zum Ziel haben (z. B. die Mitgliedschaft bei einer Gruppe, die das Recht auf Ausreise forderte). Insgesamt lassen die Angaben der Befragten zu ihrer politischen und gesellschaftlichen Partizipation in der sowjetischen Gesellschaft den Schluß zu, daß sie weder politisch besonders aktive Personen waren noch offen gesellschaftskritische.
5. Alltägliche Lebensbedingungen
Durch die Befragung läßt sich in einigen Punkten nachzeichnen, wie die interviewten Spätaussiedler ihre alltäglichen Lebensbedingungen in der Sowjetunion subjektiv wahrnahmen. Zunächst sei das sicher für viele überraschende Ergebnis zitiert, daß beinahe ein Drittel von ihnen der Ansicht war, ihr Lebensstandard liege — verglichen mit anderen Sowjetbürgern — wesentlich oder etwas über dem Durchschnitt. 57 Prozent meinten, er sei durchschnittlich gewesen, und nur zehn Prozent hielten ihren Lebensstandard für unterdurchschnittlich. Ein entsprechendes Bild entsteht, wenn untersucht wird, wie zufrieden die Interviewten mit bestimmten, im alltäglichen Leben wichtigen Bereichen waren, wie z. B. mit ihrer Arbeit, mit ihrer Wohnung und der medizinischen Versorgung. Drei Viertel der Befragten (76 Prozent) waren sehr oder einigermaßen mit ihrer Arbeit zufrieden, 69 Prozent gaben das gleiche Urteil über ihre Wohnsituation ab. Die medizinische Versorgung wurde von 58 Prozent als sehr oder einigermaßen zufriedenstellend bewertet. Mit ihrem Lebensstandard sehr oder einigermaßen zufriedengestellt fanden sich 61 Prozent — ein überraschend hoher Anteil für Personen, die schließlich aus der Sowjetunion ausgereist sind. Verständlicher wird diese Einschätzung allerdings dann, wenn man berücksichtigt, daß 45 Prozent der Befragten in ihren eigenen Wohnungen bzw. Häusern lebten und daß etwa ein Viertel ein eigenes Auto besaß. Auch dieses Ergebnis dürfte nicht mit dem in der Bundesrepublik vorherrschenden, überwiegend negativen Bild über die Lebensverhältnisse der Deutschen in der Sowjetunion übereinstimmen. Ein Punkt genereller Unzufriedenheit konnte jedoch deutlich ausgemacht werden: Der Zugang zu Konsumgütern an den entsprechenden Wohnorten wurde durchgängig als mangelhaft bewertet. Die meisten der Befragten, nämlich 76 Prozent, waren sehr oder einigermaßen mit der Konsumgüterversorgung unzufrieden.
Insgesamt aber weisen bereits diese kurzen Angaben darauf hin, daß es sich bei den befragten Spät-aussiedlern weder um eine generell unzufriedene noch um eine materiell vergleichsweise unterprivilegierte Gruppe in der sowjetischen Gesellschaft handelt. 6. Ausreise und Ausreisemotiv Trotz der relativen Zufriedenheit mit den allgemeinen Verhältnissen in der UdSSR haben sich die Befragten zur Ausreise entschlossen. Der Ausreisestrom hat nach 1987 (ca. 15 000) im Jahre 1988 mit mehr als 30 000 Aussiedlern eine neue Rekord-zahl erreicht. Mit dem Entschluß zur Ausreise sind zahlreiche Probleme verbunden, die die Lebensumstände der Betroffenen entscheidend berühren. Viele haben jahre-bzw. sogar jahrzehntelang darauf gewartet, nach dem Entschluß, die Sowjetunion zu verlassen, tatsächlich auszureisen. Das machen auch die Ergebnisse der Befragung deutlich: 29, 1 Prozent der Befragten trafen vor 1974 und 16, 2 Prozent vor 1971 den Entschluß, die UdSSR zu verlassen. Für die Zeit danach läßt sich feststellen, daß die Interviewten meist nicht später als zwei Jahre nach ihrem Ausreiseentschluß die Sowjetunion verlassen haben. Dem Entschluß z. B. von 1977 zur Ausreise folgte die Übersiedlung in die Bundesrepublik 1979.
Diese ab Mitte der siebziger Jahre gültige Entwicklung war Mitte der fünfziger Jahre noch nicht gegeben: Mit der Aufhebung der Beschränkungen sahen viele Deutsche die Möglichkeit, die UdSSR zu verlassen; es verwundert daher nicht, daß z. B. 9, 4 Prozent der befragten Spätaussiedler schon 1956 zum ersten Mal den Antrag auf Ausreise stellten. Tatsächlich reisten die ersten von ihnen erst 1978 aus.
Die Forderung nach einer wie auch immer gearteten Autonomie für die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion ist derzeit Gegenstand der Diskussionen in der deutschen Presse der UdSSR Heutzutage erhält die öffentliche Unterstützung dafür unter den Deutschen eine immer breitere Basis — eine Tatsache, die noch vor zwei oder gar zehn Jahren einfach undenkbar war. Von den Befragten gehörten lediglich 4, 5 Prozent zu einer Gruppe, die sich für eine Autonomie der Deutschen einsetzte; 9, 5 Prozent unterzeichneten Petitionen. Das damals geringe Interesse an einer Autonomie und deren unwesentlicher Einfluß auf den Ausreise-wunsch werden gleichfalls an folgendem deutlich:
Auf die Frage, ob sie bei einer Autonomie für die deutsche Minderheit die UdSSR dennoch verlassen würden, antworteten 66, 7 Prozent mit „ja“. Dafür waren in erster Linie ethnische und religiöse Gründe ausschlaggebend. Des weiteren hielten 4, 5 Prozent die Autonomie nicht für ausreichend, um ihren Ausreiseentschluß zurückzunehmen; neun Prozent hielten die Wiederherstellung einer Autonomie für unmöglich. Diese allgemeine Skepsis mag ein wesentlicher Grund für das mangelnde Interesse an der Autonomie gewesen sein Aus einer Vielzahl von Gründen nahm der Hinweis, man wolle in das Land zurückkehren, aus dem die Vorfahren damals nach Rußland ausgewandert seien, den höchsten Stellenwert ein (18, 3 Prozent), ebenso bei der Nennung des zweiten Grundes für die Ausreise. Eine Unzufriedenheit mit den allgemeinen Lebensumständen war jedoch auch hier nicht zu beobachten.
IV. Schlußfolgerungen
Abbildung 5
Tabelle 3: Teilnahme und Mitgliedschaft bei nichtkonformen Aktivitäten und Gruppen (in Prozent)
Tabelle 3: Teilnahme und Mitgliedschaft bei nichtkonformen Aktivitäten und Gruppen (in Prozent)
Die bei der bisherigen Auswertung gewonnenen Ergebnisse der Befragung waren teilweise überraschend und haben gezeigt, daß die besondere Lage der deutschen Minderheit in der Sowjetunion sich auf vielfältigste Weise in den unterschiedlichen Lebensbereichen widerspiegelte. Aus den hier kurz vorgestellten Resultaten wird jedoch auch deutlich, daß es mit Hilfe von Befragungen möglich ist, einen vertieften Einblick in die Lebensumstände innerhalb der Sowjetgesellschaft zu gewinnen
Bislang tabuisierte oder über die Fachliteratur nicht zugängliche Bereiche können vermittels von Befragungen nun besser oder neu erschlossen werden und verleihen dem oft noch unklaren Bild über die Deutschen in der Sowjetunion und die deutschen Aussiedler in der Bundesrepublik sowie ihrer Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft schärfere Konturen Mit langfristig ausgerichteten Befragungsstudien ließe sich nicht nur der Kenntnisstand über die Verhältnisse der deutschen Bevölkerung in der UdSSR erweitern, sondern auch der vielfältigen Einflüssen unterworfene Integrationsprozeß deutscher Aussiedler. Davon würden nicht allein die dafür zuständigen Personen profitieren, sondern letztlich und vor allem die Betroffenen selbst.
Barbara Dietz, Dipl. Volkswirtin, geb. 1949; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut München. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Zukunftsperspektiven der Sowjetunion. Programm und Wirklichkeit, München 1984; Arbeiten über die deutsche Minderheit in der Sowjetunion im Rahmen der laufenden Auswertung des Forschungsprojekts „Deutsche in der Sowjetgesellschaft“ am Osteuropa-Institut. Peter Hilkes, cand. phil., geb. 1955; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut München. Veröffentlichungen u. a.: neben Zeitschriften-Publikationen Arbeiten über die deutsche Minderheit in der Sowjetunion im Rahmen der laufenden Auswertung des Forschungsprojekts „Deutsche in der Sowjet-gesellschaft“ am Osteuropa-Institut.
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