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Der Deutsche Bundestag Bewährung und Herausforderung nach vierzig Jahren | APuZ 37-38/1989 | bpb.de

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APuZ 37-38/1989 Der Deutsche Bundestag Bewährung und Herausforderung nach vierzig Jahren Vierzig Jahre Deutscher Bundestag Erfahrungen und Maßstäbe Ist unser parlamentarisches System in guter Verfassung? Zum Selbstverständnis des Deutschen Bundestages Zwischen traditionellem und aufgeklärtem Parlamentsverständnis Der Bundestag in einer gespaltenen politischen Kultur Artikel 1

Der Deutsche Bundestag Bewährung und Herausforderung nach vierzig Jahren

Rita Süssmuth

/ 10 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit seiner konstituierenden Sitzung am 7. September 1949 hat der Deutsche Bundestag die zentrale Rolle eingenommen und mit Leben erfüllt, die ihm durch das Grundgesetz zugedacht war. Seine starke Stellung erklärt sich wesentlich aus den Lehren, die der Parlamentarische Rat aus den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung gezogen hatte. Auch in Zukunft wird der Bundestag vor bedeutenden Herausforderungen stehen. Er muß sich ihnen ebenso stellen wie mancher aktuellen Kritik an seinem Erscheinungsbild, an Verfahren und Ergebnissen seiner Gesetzgebung oder seinen öffentlichen Debatten. Es wird darauf ankommen, daß der Deutsche Bundestag, seine Mitglieder und die in ihm vertretenen Parteien das Verantwortungsbewußtsein, die Sachlichkeit und dasjenige Maß an Gemeinsamkeit bewahren, die von den Bürgerinnen und Bürgern mit Recht erwartet werden.

Als am 7. September 1949 um 16. 00 Uhr der Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, war dies ein bedeutendes und bewegendes Ereignis für die unmittelbar Beteiligten wie für das ganze deutsche Volk in West und Ost. Dieses Ereignis konnte darüber hinaus der gesteigerten Aufmerksamkeit unserer unmittelbaren Nachbarn, der Siegermächte und schließlich der zahlreichen ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands sicher sein.

Unter den Klängen von Ludwig van Beethovens Ouvertüre „Weihe des Hauses“ versammelten sich die ersten 402 frei gewählten deutschen Abgeordneten in einer feierlichen und würdevollen Sitzung im Deutschen Bundestag. Ihr Zusammentritt setzte einen Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Parlamentarismus. Jene Abgeordneten waren es, die als erste das wenige Monate zuvor vom Parlamentarischen Rat verkündete Grundgesetz mit Leben zu füllen begannen.

Das Grundgesetz — Lehren aus der Erfahrung mit der Weimarer Verfassung

Das Grundgesetz hatte dem Deutschen Bundestag die zentrale Rolle im staatlichen Willensbildungsprozeß zugeschrieben. Er ist die Vertretung aller Bürger und schöpft daraus die höchste demokratische Legitimation. Er beschließt die Bundesgesetze. Er war damit die Voraussetzung für den weiteren Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Erst nachdem das Parlament sich konstituiert hatte, konnten die anderen obersten Verfassungsorgane wie der Bundespräsident und die Bundesregierung gebildet werden.

Diese erhalten ihre demokratische Legitimation nicht unmittelbar vom Volk, sondern mittelbar vom Deutschen Bundestag. Die Festlegung der Bundesrepublik Deutschland auf ein parlamentarisches Regierungssystem haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates für so wesentlich angesehen, daß sie diese Staatsform jeder Verfassungsänderung entzogen haben. Sie ist selbstverständlicher Verfassungsbestandteil geworden, auch für diejenigen, die heute daneben eine Ausbildung plebiszitärer Elemente in der staatlichen Willensbildung fordern.

Erklärlich wird die starke Stellung, die die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dem Parlament gegeben haben, vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Zeit. Im Jahre 1933 wurde die Weimarer Verfassung mit ihren eigenen Mitteln ins Gegenteil verkehrt. Die Verfassung selbst war daran nicht schuldlos. Zum einen hatte sie es mit ihrer Machthäufung beim Reichspräsidenten den Politischen Parteien und dem Parlament nur allzu eicht gemacht, sich ihrer besonderen politischen Verantwortung zu entziehen. Der Parlamentarische Rat hat daraus die Konsequenz gezogen, den Bundespräsidenten nicht mehr vom Volk, sondern parlamentarisch wählen zu lassen und damit auch die politischen Parteien fest in die Verantwortung für das Ganze einzubinden.

Zur Zeit der Weimarer Verfassung herrschte zum anderen ein Verfassungsverständnis, das formalistisch war und die der Verfassung zugrunde liegenden Werte nicht in den Status der Unabänderlichkeit erhob. Dadurch wurde es möglich, diese Werte und damit die Weimarer Verfassung selbst zur Disposition der Mehrheit zu stellen. Es war dieser „zum Prinzip erhobene Relativismus“ (Hans Maier), der die Demokratie außer Kraft setzen konnte. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben daraus die Schlußfolgerung gezogen, die Verfassung zu „rematerialisieren". So ist der Parlamentarismus unter der Geltung des Grundgesetzes nicht eine formale Verfahrensweise, ein notwendiges Mittel zum Zweck der Erreichung demokratisch legitimierter Entscheidungen. Der Parlamentarismus ist unter der Ausprägung des Grundgesetzes vielmehr eine zutiefst materiale Sache dadurch, daß er diese Mehrheitsentscheidungen an die Wertorientierungen des Grundgesetzes und damit zuallererst an die Grundrechte knüpft. Durch diese Wertbindung war es dem Bundestag an erster Stelle aufgegeben, die staatlichen Aufgaben innerhalb der Eckpfeiler von Menschenwürde, Freiheit und sozialem Rechtsstaat zu erfüllen. Dieser Wertkonsens ist in nunmehr vier Jahrzehnten nicht in Frage gestellt worden und hat das parlamentarische Handeln geleitet.

Aufgabe des Deutschen Bundestages

Paul Löbe, der Alterspräsident des Ersten Deutschen Bundestages und ehemalige Reichstagspräsident, der die Mißachtung und Verhöhnung des Parlaments am eigenen Leibe erdulden mußte, hat zu Beginn der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages die Frage gestellt, was sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages erhoffe. Er hat darauf geantwortet: „Daß wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen.“ Er meinte beides: Wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage der Werte der Freiheit und Selbstbestimmung und der Garantie der Grundrechte. Was das von den Abgeordneten selbst verlangt, hat er nicht minder treffend und zeitlos gültig wie folgt ausgedrückt: „Wollen wir vor der deutschen Geschichte bestehen, dann müssen wir uns, ob in Koalition oder Opposition, soweit zusammenfinden, daß Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst, damit wir uns auch die Achtung für unser deutsches Volk in der Welt draußen zurückgewinnen.“

Es ist die Verpflichtung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Vieles ist dabei erreicht worden. Der Deutsche Bundestag hat die Bildung mehrheitsfähiger Regierungen ebenso ermöglicht wie die Ablösung einer Regierung durch eine andere. Er hat bewirkt, daß dies ohne größere Brüche geschehen konnte. Er hat damit demokratische Normalität in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt.

Wenn dem Deutschen Bundestag dies in der Vergangenheit gelungen ist, dann ist das sicherlich auch auf die klugen Bestimmungen zurückzuführen, die die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dem Grundgesetz gegeben haben. Jede noch so gute Bestimmung bleibt jedoch leer, wenn sie nicht mit Leben erfüllt wird. Zu dem Verfassungsgerüst müssen Menschen hinzutreten, welche die in ihm angelegten Chancen zu politischer Tat entfalten. Hält man sich vor Augen, welche Stemstunden der Bundestag erlebt hat — Westintegration, Wiederbewaffnung, Rentengesetzgebung, Aufhebung der Verjährung von NS-Verbrechen, Ost-Politik, Deutschlandpolitik, Nachrüstung, um nur einige zu nennen —, dann wurden das Sternstunden nicht gleichsam selbsttätig kraft guter Vorschriften, sondern hervorgebracht von leidenschaftlichen und engagierten Parlamentariern, die im Plenum des Deutschen Bundestages um den Weg der deutschen Politik gerungen haben.

In derartigen Debatten stellt sich der Deutsche Bundestag als das dar, was er für die Väter und Mütter des Grundgesetzes werden sollte: Als Forum der Nation, auf dem alle die Öffentlichkeit bewegenden Fragen in einem geregelten Verfahren beraten und entschieden werden. Gerade diese öffentliche Funktion des Deutschen Bundestages hat einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Meinungsgegensätze in der Bevölkerung und damit zur Integration geleistet. Voraussetzung dafür ist die gemeinsame Überzeugung, daß diese Form der staatlichen Willensbildung vor den Augen der Öffentlichkeit die allein angemessene für eine demokratische Gesellschaft ist. Dies ist die Grundlage dafür, daß einmal getroffene Entscheidungen von allen angenommen werden und daß das gesetzte Recht allseitige Geltung beanspruchen kann.

Die Ausrichtung am Gemeinwohl war und ist bestimmende Verpflichtung für den Deutschen Bundestag. Wer Gesetze beschließen kann, die für oder gegen jeden Bürger Geltung beanspruchen, hat eine ebenso wichtige wie verantwortungsvolle Aufgabe. Er hat damit maßgeblichen Anteil an derpolitischen Führung des Landes. Politische Leitentscheidungen sind Entscheidungen, die das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit betreffen und verbindliche Regelungen für jedermann enthalten. Prototyp dieser Entscheidungen ist das Gesetz, der generell-abstrakte Rechtssatz. Die Gesetzgebung kann ihren Geltungsanspruch für alle nur bewahren, wenn ihre Gemeinwohlverpflichtung grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen werden kann.

Das Parlament in der Kritik

Um so ernster ist es zu nehmen, wenn an diesem Teil staatsleitender Tätigkeit, an der Gesetzgebung, Kritik geübt wird. Daß daran in den letzten Jahren kein Mangel war, braucht hier nicht vertieft zu werden. Stichworte dieser Kritik sind die Vielzahl sowie die Kompliziertheit und Schwerverständlichkeit von Gesetzen.

Das darf ein Parlament nicht unberührt lassen, das den exklusiven Auftrag der Verfassung zu erfüllen hat, für die Bürger Recht zu setzen. Dabei ist es kein Trost, daß es Kritik an Gesetzen gegeben hat.seit es Gesetze gibt. Tröstlich ist es vielmehr, daß es auch schon immer Menschen gegeben hat, die hier nach Abhilfe suchten. Es sei hier an den Klassiker der Gesetzgebungslehre, an Montesquieu erinnert, der vor mehr als 240 Jahren in seinem „Geist der Gesetze“ Beherzigenswertes hierzu gesagt hat. Der Stil der Gesetze, so hat er ausgeführt, müsse bündig sein. Gesetze dürften nicht zu ausgetüftelt sein. Ohne zureichenden Grund, so hat er schon damals empfohlen, dürfe an einem Gesetz keine Änderung angebracht werden, und schließlich gehe es vor allem darum, bei der Gesetzgebung aus der Wirklichkeit für die Wirklichkeit zu denken.

Eine politische Nutzanwendung aus solchen Forderungen, die auch für uns heute eine Warnung enthält, hat Wilhelm von Humboldt formuliert: „Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern .,. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staates verläßt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träger.“

Bei aller Unvergleichbarkeit der damaligen und der heutigen Situation erscheint es doch angebracht, sich das Grundanliegen derartiger Aussagen vor Augen zu führen. Bei vielen Abgeordneten ist die Auffassung verbreitet, daß man perfekt sein müsse, um erfolgreich und zugleich glaubwürdig zu sein. Dies kommt der Gesetzgebung jedoch nicht immer zugute. Gesetze — und das gilt es mehr als bisher zu erkennen und nach außen zu verdeutlichen — sind Menschenwerk und damit nicht vollkommen. Was erstrebt und erreicht werden kann, ist lediglich ein größtmögliches Maß an Qualität. Zur Glaubwürdigkeit gehört, auch dies auszusprechen.

Es sind jedoch nicht nur die Gesetze, die der Kritik ausgesetzt sind, sondern auch das Verfahren, innerhalb dessen sie Zustandekommen. Das kann und darf ein Parlament ebenfalls nicht unbeeindruckt lassen, zumal der Prozeß der staatlichen Willensbildung mit Recht für viele Bürger genauso wichtig und interessant ist, wie das davon nicht unberührt bleibende Produkt. Die Kritik, die dem Gesetzgebungsverfahren gilt, trifft — da sie auf das Verhältnis des Parlaments zur Regierung abhebt — das Parlament im Kern. Die Parlamente standen und stehen immer vor der Herausforderung, ihre Stellung zu entwickeln und zu behaupten. Das zeigen die Beispiele des Deutschen Reichstages, der Parlamente junger Staaten, das zeigt aber auch das Europäische Parlament, das in dieser Hinsicht dieselben Erfahrungen machen muß wie nationale Parlamente früher.

Die Gründe hierfür rühren an das fundamentale Demokratieverständnis jedes Einzelnen. Parlamente — jedenfalls die frei gewählten Parlamente — sind Orte, an denen nicht einfach entschieden wird, sondern an denen zuvor diskutiert wird, und zwar in aller Regel streitig. Das ist mühsam und unbequem. Aber: Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument sind die Wesenselemente der Demokratie. Der Zwang zum Kompromiß, der Prozeß des Aushandelns und schließlich die Konsensfindung sind ein wichtiger Nebenzweck jeder Gesetzgebung. Wie sonst sollte die Berücksichtigung unterschiedlicher, sogar gegensätzlicher Interessen und damit schließlich Integration erreicht werden? Es gehört zu den vornehmsten und schwierigsten Aufgaben der Politiker, diese Zusammenhänge den Bürgern zu erläutern.

Damit soll und kann das Bild nicht entschuldigt werden, das viele Bürger vom Parlament haben. Daß dieses Bild unbefriedigend ist, wird gerne den Medien zugeschrieben. Ihre Berichterstattung ist zwar sicher nicht falsch; mit der bloßen Wiedergabe von Plenarsitzungen wird der Bürger jedoch häufig allein gelassen. Was immer wieder fehlt, ist ein Wort zur Begründung und Erläuterung, zur Herstellung von Zusammenhängen. Es spricht für die Kontinuität dieser Problematik, daß schon Paul Löbe in der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages die Vertreter der Presse gebeten hatte, „ihre Berichterstattung und ihre Kritik nicht in Sensationen und Zwischenfällen zu suchen, sondern die praktische Arbeit des Bundestages zu würdigen“.

Um der Sache und um seiner eigenen Glaubwürdigkeit willen ist es wichtig, daß sich auch der Deutsche Bundestag selber der Kritik an seiner Arbeit gestellt hat. Er hat dies in der Vergangenheit getan und wird es auch weiterhin tun. In den Jahren seit 1984 hat er sich in verschiedenen Gremien und mehreren Debatten mit seiner Stellung und seiner Arbeit befaßt. Diese sogenannten Selbstverständnisdebatten waren von hoher Bedeutung für das Bewußtsein seiner Stellung in unserer politischen Ordnung.

Die Herausforderung annehmen

Der Deutsche Bundestag ist dadurch sensibler geworden für die Themen, mit denen er sich befaßt, und für die Art und Weise, in der dies zu geschehen hat. Will der Deutsche Bundestag in der Öffentlich-keit und mit politischer Substanz weiterhin als aktiver Gestalter deutscher Politik in Erscheinung treten, dann bieten sich dafür unter anderem die folgenden Überlegungen an. Zum einen wird es eine zunehmend bedeutungsvollere Aufgabe für das Parlament sein, sich mit der Wirksamkeitskontrolle der von ihm beschlossenen Gesetze zu befassen. Gesetze und der Prozeß der Gesetzgebung sind keine Einbahnstraße. Es kommt darauf an, stärker den Regelkreischarakter der Gesetzgebung zu erfassen und daraus Konsequenzen für die parlamentarische Arbeit zu ziehen. Der Deutsche Bundestag muß sich Rechenschaft darüber geben, daß seine Aufgabe mit dem Gesetzesbeschluß nicht ausgeschöpft ist. Seine Stellung als Anwalt der Bürger und als Garant der Demokratie verlangt, daß er sich auch der Wirksamkeit der von ihm beschlossenen Gesetze vergewissert. Hinzu kommt ein Zweites: Immer mehr staatliche Aufgaben erfordern einen Blick in die Zukunft weit über die Wahlperiode hinaus. Auf zahlreichen Gebieten, global und national, vollziehen sich in Ausmaß und Geschwindigkeit oft dramatische Entwicklungen. Das gilt für technologische Entwicklungen, etwa auf den Gebieten der Klimaveränderungen, der Gentechnologie oder der weiteren Entwicklung der Mikroelektronik, ebenso wie für neue geistige Strömungen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Der Bundestag hat hier eine bedeutende Verantwortung: Er muß rechtzeitig erkennen, wo diese Wandlungsprozesse staatliches Handeln herausfordem und seine eigene Arbeit verändern, und er muß diese Entwicklungen im Blick auf das Gemeinwohl mit zu beeinflussen suchen. Die Arbeiten seiner verschiedenen Enquete-Kommissionen können als Beispiele für vorausschauende und verantwortungsbewußte Problembearbeitung dienen. Der Beitrag, den der Deutsche Bundestag in 40 Jahren für unsere Demokratie geleistet hat, wäre nicht denkbar gewesen ohne die politischen Parteien. Ihnen ist es im wesentlichen zu verdanken, daß stets mehrheitsfähige Regierungen zustandegekommen sind. Auch das außergewöhnliche Maß an sozialer Befriedung, das die Bundesrepublik Deutschland in diesen vier Jahrzehnten ausgezeichnet hat, ist ihr Verdienst. Dies war nur möglich, weil die großen Parteien einen bedeutenden Teil der politischen Richtungsdiskussion in ihren eigenen Reihen ausgetragen haben. Damit wurde eine bedeutende Leistung politisch-gesellschaftlicher Integration erbracht, die auch das Entstehen zahlreicher Splitterparteien verhindert hat. Vor diesem Hintergrund vermag man neueren Veränderungen des Parteiensystems, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts dies kürzlich ausgedrückt hat, „nicht ohne gemischte Gefühle zuzusehen“. • Helmut Herles hat am vierzigsten Geburtstag des Grundgesetzes geschrieben: „Die Deutschen spürten erst, was sie an der Paulskirche besaßen, als sie sie nicht mehr hatten. So war es mit dem Reichstag der Weimarer Republik, so wäre es mit dem Bundestag.“ Es ist Aufgabe des Parlaments, den Bürgern bewußt zu machen, welch hohes Gut und welchen gesellschaftlichen Fortschritt der Deutsche Bundestag verkörpert und durch seine tägliche Arbeit immer neu verwirklicht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rita Süssmuth, Dr. phil., geb. 1937; o. Professorin; Präsidentin des Deutschen Bundestages; Stellv. Bundesvorsitzende der CDU; Bundesvorsitzende der Frauenunion der CDU; 1985 — 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.