Zwischen traditionellem und aufgeklärtem Parlamentsverständnis Der Bundestag in einer gespaltenen politischen Kultur
Heinrich Oberreuter
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Zusammenfassung
Im Parlamentarischen Rat blieben wesentliche Fragen des parlamentarischen Regierungssystems ungeklärt. Auch eine öffentliche Diskussion darüber fand kaum statt. Gleichwohl gilt die parlamentarische Demokratie heute in der Bundesrepublik als fest verankert. Was die Bürger indessen tatsächlich über ihr Parlament denken, wissen wir nicht verläßlich. Ihre Kenntnisse über das Parlament sind offenbar unzulänglich. und Umfragen zeigen, daß aufgrund von Affären und einer Vielzahl strittiger politischer Fragen das Vertrauen zum Bundestag und zu seinen Abgeordneten nachgelassen hat. Zwischen dem Selbstverständnis der Abgeordneten und ihrer Einschätzung durch die Bürger klafft eine göße Lücke. Zudem wirken sich die Folgen des Wertewandels in den sechziger und siebziger Jahren aus. ie politische Kultur ist gespalten. Diese Befunde rechtfertigen es keineswegs, generell antiparlamentarische Affekte zu diagnostizieren oder den bundesdeutschen Parlamentarismus vor fundamentalen Herausforderungen zu sehen. Sie relativieren aber den Optimismus einer hohen generellen Systemzufriedenheit und signalisieren zudem, daß es weiten Teilen der Öffentlichkeit an Kenntnissen über den Bundestag und an einem tieferen Verständnis des Parlamentarismus immer noch mangelt.
Der Deutsche Bundestag wurde 1949 einer parlamentarismusskeptischen politischen Kultur eingepflanzt. Noch im späten 19. Jahrhundert charakterisierten und diffamierten politische und wissenschaftliche Publizistik den Parlamentarismus als „Korruptionssystem“, zu dem Deutschland kein Talent habe. Den besonderen, moralisch höherwertigen Weg sah man im monarchisch-exekutivisch geprägten Konstitutionalismus, der Parlamente keineswegs an die Schwelle der Macht im Staat heranführen sollte. Im Grunde blieben sie bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne den Willen und ohne die Chance zur Verantwortung für das gesamte politische System und zur politischen Führung. Auf den obrigkeitsstaatlichen Sonderweg folgte zunächst der inkonsequente Parlamentarismus in der Weimarer Republik und auf diesen der Antiparlamentarismus der NS-Diktatur.
I. Der Parlamentarismus im Prozeß der Verfassunggebung
Politische Kultur ist ein sozialwissenschaftlich problematischer Begriff -Aber er umfaßt doch mehr als die Elemente politischen Stils, welche die öffentliche Diskussion darunter versteht. Es geht dabei um elementare gesellschaftlich-politisch bedeutsame Einstellungen gegenüber den Fundamenten und Institutionen des politischen Systems. Diese Einstellungen sind von Traditionen geprägt. Sie haben ihre Geschichte. Sie können sich natürlich auch wandeln.
Abbildung 5
Tabelle 5
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» Trotzdem überrascht gerade angesichts des Versagens fast aller europäischer Parlamente in den zwanziger und dreißiger Jahren, daß zum Konsens-bereich der politischen Eliten in der Nachkriegsdiskussion das breite Votum für die parlamentarische Demokratie gehört, deren Willensbildungsprozeß ja durch die Konkurrenz politischer Parteien bestimmt wird. Zum Parlamentarismus gab es keine Alternative. Aber es gab durchaus unterschiedliche Ansichten darüber, wie er auszugestalten sei. Das parlamentarische Regierungssystem, das uns die Verfassungsberatungen von 1949 letztlich erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte mit aller Konsequenz beschert, haben, ohne daß es bis dahin ein funktionierendes Vorbild dafür auf deutschem Boden gegeben hätte, war durchaus nicht unum-stritten. Denn der Ansatz für alles Nachdenken über das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung war aufgrund der negativen Weimarer Erfahrungen das Problem der Stabilität der Regierung.
Abbildung 6
Tabelle 6
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Solange man den Parteien noch nicht zu trauen vermochte und ihr Verhältnis zu Macht und Verantwortung im Grunde für klärungsbedürftig hielt, besaß ein Regierungssystem, das auf der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament beruht, natürlich eine offene Flanke. Im Vorfeld des Parlamentarischen Rates war denn auch eine „Regierung auf Zeit“ nach eidgenössischem Vorbild oder nach bayerischer Lösung (der Ministerpräsident wird auf vier Jahre gewählt und kann nicht gestürzt werden) in der Diskussion. In Süddeutschland und in der FDP vermochte man sich zwischen 1945 und 1947 dafür zu erwärmen. Aber schon zu dieser Zeit hatte sich Theodor Heuss im Rahmen der Verfassungsdiskussion in Württemberg-Baden gegen diese Lösung ausgesprochen, die ihm für die Schweiz angemessen, für die deutschen Verhältnisse aber als zu „starr“ erschien, weil die vielfältigen Probleme des inneren Wiederaufbaus und die unsichere außenpolitische Situation ein beweglicheres Verfassungssystem verlangten
Abbildung 7
Tabelle 7
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Der Herrenchiemseer Konvent verwarf diese Lösung und stellte im Grunde bereits den Konsens über das parlamentarische System her Daher sprachen sich schon zu Beginn der Beratungen des parlamentarischen Rates Adolf Süsterhenn (CDU), Walter Menzel (SPD) und Theodor Heuss (FDP) eindeutig'für das parlamentarische Regierungssystem aus als dessen Kennzeichen die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament, die dominierende Rolle der politischen Parteien und die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments bezeichnet worden sind. So waren die Alternativen bereits ad acta gelegt, ohne daß man sich freilich systematische Klarheit über die Implikationen des parlamentarischen Regierungssystems verschafft hätte.
Abbildung 8
Tabelle 8
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Es wäre vielleicht nicht zu einer Grundsatzdiskussion gekommen, wenn die Abgeordneten Thomas Dehler und Max Becker sie nicht im Hauptausschuß heraufbeschworen hätten Sie sprachen sich für eine Regierung auf Zeit in Verbindung mit einem Präsidialsystem amerikanischer Prägung aus. Im Grunde reichten ihre Zweifel weiter. Ausgehend vom Versagen des Parlamentarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten die beiden Liberalen die Frage, was man denn nun anderes schaffe „als das Wiederaufleben dieser todkranken Demokratie“, von der man sehe, „daß sie nicht leben und nicht sterben“ könne, und von der zweifelhaft sei, daß sie zur Bewältigung der Aufgabe, die Massen zu lenken, in der Lage sei. Dehler und Becker wollten eine handlungsfähige Regierung auf Zeit, unabhängig von „jeder Krise im Parlament“. Im Grunde schaffe man mitten im 20. Jahrhundert ein Regierungssystem nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts, ohne dessen Elan und Optimismus noch haben zu können. Der unverantwortliche Verfall schwächlicher Koalitionen werde wiederkehren, und der Kanzler sein Amt nicht wirkungsvoll ausüben können. Diese Position wurde argumentativ zurückgewiesen. Carlo Schmid nahm die bereits bekannte Position von Theodor Heuss auf und plädierte für ein elastisches Regierungssystem dort, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse sich in Bewegung befänden. Gerade gesellschaftliche Veränderungen sollten auf die Institution zurückwirken und notfalls auch einen Regierungswechsel bewirken können, der ein Ventil für den Ausgleich sozialer Spannungen sei -
Abbildung 9
Tabelle 9
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Die Position Beckers und Dehlers blieb marginal. Es ist nicht so gekommen, wie sie es befürchtet hatten. Schon wenig später war in der Publizistik der Bundesrepublik vielmehr die Rede von der Kanzlerdemokratie — ein übertreibender und zugespitzter Begriff, aus dem jedoch zumindest zu erkennen ist, daß die befürchtete Entwicklung zum Parlamentsabsolutismus nicht angetreten wurde. Bewirkt wurde diese Entwicklung zu einem stabilen politischen System durch einen Mentalitätswandel, durch das ungebrochene Verhältnis der Parteien zur Verantwortung und zur Macht. Diese Mentalität entsprach den Konstruktionsprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems.
Darüber hinaus haben sich die Verfassungsväter redlich bemüht, die Stabilität der Regierung zu stärken. Das konstruktive Mißtrauensvotum und die Beschneidung der Möglichkeit, einzelne Minister aus dem Kabinett „herauszuschießen“, mögen als Indizien dafür genügen. Fraglich bleibt allerdings, ob diese Bestimmungen später in der politischen Praxis die ihnen zugemuteten Wirkungen tatsächlich entfaltet haben oder ob die spätere Entwicklung nicht viel mehr von jenem Mentalitätswandel geprägt war.
Keineswegs eindeutig verlief die Diskussion um die Stellung des Abgeordneten, in der zwar das freie Mandat abgesichert, aber mitnichten der Mandats-träger als klassisch-altliberaler Einzelgänger verstanden worden ist. Die bislang nicht publizierten Verhandlungen des Organisationsausschusses rechtfertigen die Annahme nicht, den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates sei der moderne Fraktionenparlamentarismus quasi nicht vorhersehbar oder bekannt gewesen oder sie hätten sich davon vielleicht absetzen wollen Er war ihnen in seinen Grundzügen vielmehr selbst aus Gegenwart und Vergangenheit vertraut. Daher sahen sie die Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion sowie seine Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern durchaus realistisch als politisch relevante Faktoren, welche die absolut gesetzte Bindung allein an das eigene Gewissen transzendieren, ergänzen oder selbst zum Bestandteil „gewissenhaften“ Handelns werden Wenn der Vorstoß von Walter Strauß scheiterte, diese deklaratorische Formel , aus dem späteren Artikel 38 zu streichen, dann daran, daß der Abgeordnete im Konfliktfall mit dem Parteiapparat eine zusätzliche Stütze haben sollte. Daß die Formel selbst nur Selbstverständliches festschrieb, war allgemeiner Konsens. Die Beratungen vermitteln bei durchaus unterschiedlichen Akzenten nicht den Eindruck, daß irgendjemandem das 19. Jahrhundert als Leitbild vorschwebte.
Auch jene, die den Schutz der Abgeordnetenpersönlichkeit betonten, besaßen ein klares Bild von den die Wirklichkeit im Normalfall strukturierenden Interessen-, Partei-und Wählerbindungen
Daß Artikel 38 den Blick auf diese Wirklichkeit verstellen und Interpretatoren, die ihn nicht verfassungsrechtlich, sondern moralisch verständen, dazu veranlassen werde, „dieselbe höhnische Kritik zu üben wie zur Zeit der Weimarer Verfassung“ war das Kemmotiv für den Vorschlag, auf eine Deklaration des Selbstverständlichen zu verzichten. Im Grunde war es ein volkspädagogischer Vorstoß in Richtung aufein realitätsnahes Verfassungsverständnis.
Diese Diskussion um die Kodifizierung des freien Mandats war eine der wenigen, die überhaupt die Einstellungen der Bürger zu elementaren institutioneilen Fragen und damit die erst später so genannte „politische Kultur“ miteinbezog. Wer die entsprechende Dauerkritik am Bonner Parlamentarismus kennt, wünscht sich, es wäre 1949 gelungen, das Abgeordnetenbild im Grundgesetz mit gleicher Komplexität zu gestalten, wie es grundsätzlich im Bewußtsein der Verfassunggeber verankert war. „Wer sind denn die Parteien, und wie kommen Meinungen der Parteien in den Parlamenten zustande? Doch dadurch, daß die Vielzahl der Abgeordneten dieser Partei in ihrer Fraktion die Meinung der Partei herausbildet. . .“ meinte Heiland zutreffend und Löwenthal fügte hinzu: „Natürlich ist der Abgeordnete seinem Gewissen gegenüber verantwortlich, aber nicht nur seinem Gewissen, sondern auch wieder seinen Wählern. Man kann nicht darüber hinweg, daß er letzten Endes seinen Wählern Rede und Antwort stehen muß.“ Dem Parlamentarischen Rat war durchaus bekannt, daß die Freiheit des Abgeordneten im Dreieck von Partei, Wählerschaft und Parlamentarier angesiedelt ist.
Im Sinnzusammenhang des Grundgesetzes spiegelt sich diese Einsicht wider. Aber der Wortlaut des Artikels 38 gibt bis heute Anlaß zu Mißverständnissen.
Wurden hier die unterschiedlichen Perspektiven und partiell sogar jhre potentiellen Wirkungen bedacht, so blieb das parlamentarische Regierungssystem — wenigstens in der politikwissenschaftlichen Bedeutung dieses Begriffs — in der Verfassungsdiskussion systematisch ausgeklammert. Viele Fragen blieben offen — eigentlich alle Grundfragen, so zum Beispiel die Verschmelzung von Parlament (genauer: Parlamentsmehrheit) und Regierung als regierende Mehrheit, die immer dann eintreten muß, wenn dem Parlament die Aufgabe der Regierungsbildung unabweisbar zugemutet wird; die daraus entstehende besondere verfassungspolitische Funktion der Opposition oder auch das Problem eines umfassenderen und moderneren Gewaltenteilungsbegriffs. Von Ludwig Bergsträsser ausgehend, hat es einen Vorstoß gegeben, diese Diskussion zumindest anzusprechen Er verlief nicht erfolgreich. Insofern verbarg sich hinter der modernen Konstruktion eines parlamentarischen Regierungssystems ein im Grunde nach wie vor konstitütionalistisches Parlamentsverständnis.
Ein solches Parlamentsverständnis charakterisiert selbst die marxistische und gemäßigte Kritik, die als Ergebnis der Verfassungsdiskussion die Sicherung der Regierungsstabilität auf Kosten von Parlamentsfunktionen beklagt. Diese Kritik beruht auf einem Mißverständnis, denn Regierungsstabilität ist Regierungslagerstabilität. Regierung ist, wie Hugo Preuß es 1919 ausgedrückt hatte, „Fleisch vom Fleische“ des Parlaments. Aber das hatte schon die Weimarer Nationalversammlung nicht begreifen mögen. Man könnte vielleicht sogar das konstruktive Mißtrauensvotum selbst als Mißverständnis bezeichnen, zumindest dann, wenn man von einer systemkonformen parlamentarischen Mentalität ausgeht. Diese Mentalität war damals noch nicht vorhanden, hat sich aber im historischen Gefolge im praktischen Verhalten deutlich herausgebildet. Der Wille zur Macht und das Wechselspiel zwischen regierender Mehrheit und Opposition haben sich anders als in Weimar eingestellt — nicht zuletzt auch aufgrund eines zeitgemäßen Parlamentsverständnisses der beiden Parteiführer Adenauer und Schumacher, das frühzeitig zum Ausdruck kam. In diesem Punkt waren — und sind -Adenauer und Schumacher der Öffentlichkeit weit voraus.
II. Der Bundestag — eingewurzelt in die politische Kultur?
Abbildung 2
Tabelle 2: Von 100 Befragten haben Vertrauen in den Bundestag 1981 64 Quelle: S. 36. 1982 61 1983 71 1984 68 Emnid-Umfragen, in: 1986 74 Der 1988 60 Spiegel, 1989 60 (1989) 21,
Tabelle 2: Von 100 Befragten haben Vertrauen in den Bundestag 1981 64 Quelle: S. 36. 1982 61 1983 71 1984 68 Emnid-Umfragen, in: 1986 74 Der 1988 60 Spiegel, 1989 60 (1989) 21,
Im Parlamentarischen Rat blieben elementare verfassungspolitische Zusammenhänge des parlamentarischen Regierungssystems ungeklärt. Auch eine begleitende öffentliche Diskussion fand kaum statt.
Gleichwohl gilt heute die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik als eingewurzelt (siehe Tabelle 1). Vielfach wurde nachgewiesen, daß die Zustimmung zu diesem System zunächst über seine (ökonomische) Leistungsfähigkeit wuchs, seit den späten sechziger Jahren aber seine demokratischpartizipatorischen Qualitäten eigene Attraktivität entfalteten und Stabilität und Legitimität stifteten Die grundsätzliche Unterstützung für den Bundestag wuchs schon seit dem ersten Jahrzehnt seiner Existenz in wachsendem Umfang unabhängig davon, ob die Befragten die Regierung ablehnten oder die konkrete parlamentarische Arbeit ungünstig einschätzten
Allerdings fragt sich, ob mit dem üblichen demoskopischen Instrumentarium nicht nur formale und oberflächliche Befunde erhoben, sondern auch Fragen nach der Qualität der Demokratie, nach ihren institutioneilen Implikationen und nach ihrem komplexen Verständnis beantwortet werden können. Das Rüstzeug dafür steht nicht zur Verfügung, und immer wieder erheben sich Zweifel, ob die demoskopischen Analytiker — aber nicht nur sie — hinreichende systematische Kenntnisse über Theorie und Praxis der parlamentarischen Demokratie besitzen. Der Bundestag nutzt indessen nicht einmal dieses unzulängliche Instrumentarium und begibt sich damit der Chance, auf dessen Weiterentwicklung Einfluß zu nehmen: Das anfallende Material wird lediglich gesammelt.
Das Vertrauen zum Bundestag hat sich aufeinem in jüngster Zeit niedriger werdenden Niveau stabilisiert (siehe Tabelle 2). Die Vertrauenseinbrüche zwischen 1986 und 1988 erfolgten besonders in den unteren Bildungsschichten. Zusätzlich zeigte sich, daß bei Anhängern von Protestparteien das Mißtrauenspotential — von den Anhängern der GRÜNEN vertrauten dem Bundestag 1986 nur 41 Prozent, von denen der Republikaner 1989 nur 31 Prozent — überwiegt: An den Rändern wächst ein systemkritisches Potential und fordert das Parlament heraus. Das Mißtrauen der GRÜNEN gegen „Stellvertreterpolitik“, d. h. gegen repräsentative Demokratie, ist bekannt. Die Republikaner stehen noch vor den Türen und offenbaren in ihrer Programmatik pluralismusskeptische Tendenzen. Was sich hinter Vertrauen oder Mißtrauen konkret verbirgt, können nur qualitative Analysen offenlegen.
Wenn die Frage nach dem Vertrauen zum Bundestag besser als alle anderen geeignet erscheint, den Umfang prinzipieller, parteibindungs-und leistungsunabhängiger Unterstützung zu messen so wird in den jüngsten Umfragen ein erheblicher Schwund an Grundvertrauen während der letzten Jahre deutlich. Diesen Vertrauensschwund erfah-ren die Abgeordneten als Ansehensverlust. Ende 1988 assoziierten 40 Prozent der Bürger mit dem Begriff Bundestagsabgeordneter „Diäten, Großverdiener, Schmarotzer und Selbstbediener“, 32 Prozent Arroganz, 29 Prozent Unaufrichtigkeit und 22 Prozent Abhängigkeit Prozent Abhängigkeit 21). Zuvor schon war die Einschätzung der Fähigkeiten der Abgeordneten fast auf das Niveau von 1951 gesunken (siehe Tabelle 3), und das Ansehen des Bundestagsabgeordneten unter 25 Berufen auf eine mittlere Position noch hinter „Hausfrau/Hausman" zurückgefallen.. Die Abgeordneten empfinden selbst einen deutlichen Ansehensverlust, wobei ihre Perzeption dieses Ansehensverlustes sogar noch sehr viel ungünstiger ausfällt als das Urteil der Bürger (siehe Tabelle 4).
Wahrscheinlich trifft die These zu, die geringe Selbsteinschätzung des Abgeordneten sei vor allem auf das Politikerbild in der Berichterstattung der Medien zurückzuführen Berufen auf eine mittlere Position noch hinter „Hausfrau/Hausman" zurückgefallen 22). Die Abgeordneten empfinden selbst einen deutlichen Ansehensverlust, wobei ihre Perzeption dieses Ansehensverlustes sogar noch sehr viel ungünstiger ausfällt als das Urteil der Bürger (siehe Tabelle 4).
Wahrscheinlich trifft die These zu, die geringe Selbsteinschätzung des Abgeordneten sei vor allem auf das Politikerbild in der Berichterstattung der Medien zurückzuführen 23), die durchaus kritikbedürftig erscheint, was das dort anzutreffende Parlamentsverständnis betrifft 24). Die Einbrüche im Vertrauen zum Bundestag und die Prestigeverluste der Abgeordneten sind indes auf Entwicklungen seit der Mitte der achtziger Jahre zurückzuführen. Ihre Ursachen dürften in zwar ganz wenigen, dafür aber tiefgreifenden Affären sowie im diffusen Erscheinungsbild der politischen Führung und der Strittigkeit einiger wichtiger Gesetzgebungsprojekte zu finden sein. Das würde bedeuten, daß das Grundvertrauen zur Institution und zu den Abgeordneten aufgrund konkreter politischer (Fehl-) Leistungen geschwunden ist und das Parlament ein Stück bereits gewonnener selbstverständlicher Legitimität verloren hat — ein Umbruch, der zum einen die bisher überwiegend positiven Einschätzungen (auch soweit sie vorsichtiger argumentieren) hinsichtlich der Einbürgerung des Parlamentarismus in die politische Kultur der Bundesrepublik relativiert und der es zum anderen den Abgeordneten erschwert, durch Wahlkreisarbeit zur (Re-) Stabilisierung hohen Grundvertrauens zum Bundestag beizutragen.
Es könnte sogar sein, daß die jüngste Entwicklung die „Arbeitsbedingungen“ der Abgeordneten in der politischen Öffentlichkeit beeinträchtigt. Zudem müssen wohl aktuelle Folgen des Wertwandels in den sechziger und siebziger Jahren einkalkuliert werden. Seither durchzieht eine Spannungslinie zwischen „alten“ und „neuen“ Wertdimensionen unsere politische Kultur. Wo die „neue“, akzentuiert auf Selbstverwirklichung angelegte Dimension vorherrscht, dort besteht zugleich eine — wenn auch schwach ausgeprägte — Disposition zu negativen Einstellungen gegenüber dem Staat und seinen Organen; die Zufriedenheit mit dem Bundestag ist äußerst gering Im Bereich verfassungspolitischen Grundvertrauens — „diffuser“, also von konkreten Leistungen unabhängiger und auf positive Affekte abgestützter Legitimität — ist bei dieser Bevölkerungsgruppe nur von „Restbeständen der Legitimitätsgewährung“ die Rede.
Die neue Spontaneität drückt sich in antiinstitutionellen Einstellungen aus. Sie verwirklicht sich in einem Partizipationsbegehren, das weitgehend als Selbstverwirklichung gegen eine als Einzwängung empfundene Verfassungsordnung verstanden wird und zu seiner Durchsetzung andere als parlamentarische Verfahren einzuschlagen sucht. Daher bedeutet Partizipation durchaus nicht immer Akzeptanz der parlamentarischen Prozeduren und Verfahren, sondern sie kann im Gegenteil Herausforderung anzeigen. Wer repräsentative Demokratie als Notbehelf und Demokratie als plebiszitäre Selbstentfaltung begreift, muß zwangsläufig gegen „Stellvertreterpolitik“ (Repräsentation) und „Stellvertreter“ (Repräsentanten) opponieren: Der Legitimitätsglaube ändert sich. Zu untersuchen wäre. ob zwischen dieser gewandelten Einstellung und der geringen Einschätzung der Fähigkeiten der Abgeordneten sowie dem ebenfalls abnehmenden Glauben, diese verträten in erster Linie die Interessen der Bevölkerung (vgl. Tabelle 5, Seite 33), ein Zusammenhang besteht. Für den gegenwärtigen Einbruch „diffuser Legitimität“ (Grundvertrauen) könnte ein Zusammenwirken aktueller und struktureller Entwicklungen ursächlich sein.
Falls dies zutreffen sollte, wäre es für die Abgeordneten um so schwieriger, darauf zu reagieren. Je mehr ihr Prestige sinkt, um so weniger sind sie in der Lage, durch konkrete Wahlkreis-und Öffentlichkeitsarbeit die Position des Bundestages zu festigen. Generell gilt bei Umfragen, daß das Urteil um so schlechter wird, je abstrakter die abgefragten Objekte sind. Der einzelne Abgeordnete ist erfahrbarer als das Parlament oder gar als „die Politik“. Insofern hat das Bild des Bundestages bisher immer von der bessereren Einschätzung seiner Mitglieder profitiert Soweit sich diese reduziert, verliert natürlich auch jener Profit an Bedeutung.
Für die Abgeordneten hat die Arbeit an der Basis nicht an Bedeutung verloren. Die Wahlkreisarbeit ist für sie von hoher Wichtigkeit (Tabelle 6, Seite 33), und sie widmen ihr traditionell einen erheblichen Anteil ihres Zeitbudgets. Auf der Liste der Personen, zu denen sie besonders häufig Kontakt pflegen, nehmen „Parteifreunde aus dem --------------------t „Wahlkreis“ und „Bürger“ einen gesicherten Platz ein, und zwar in generellen Gesprächen (Tabelle 7) wie auch in Gesprächen über die Themengebiete, auf die sich die Parlamentarier spezialisiert haben Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Bundestags-und Landtagsabgeordneten. Sie schätzen sich im übrigen als zugänglich und offen für gesellschaftliche Anforderungen und Anfragen ein, sehen sich aber, soweit es um Fragen von großer Bedeutung geht, im Prozeß der Meinungsbildung mehr in der Rolle des Beeinflußten denn in der des Beeinflussenden (vgl. Tabelle 8).
Konfrontiert man die hohe Bedeutung der Präsenz im Wahlkreis für die Abgeordneten, ihre dichten kommunikativen Beziehungen zu Bürgern und Interessenorganisationen sowie ihre deutliche Sensibilität für Einflüsse aus der Öffentlichkeit mit der Einschätzung ihrer Reaktionsbereitschaft auf den Wählerwillen durch die Bürger (Tabelle 9), so tut sich zwischen Selbst-und Fremdeinschätzung offensichtlich eine tiefe Kluft auf: Die Bürger nehmen den Abgeordneten ihr Engagement nicht ab. Während die einen unter der Last der Basisarbeit stöhnen, bescheinigen ihnen die anderen, sie kümmerten sich nicht darum. Die Erklärung dafür kann nur die Tatsache sein, daß der einzelne Mandatsträger auch bei großem Engagement und Zeitaufwand an der Basis immer nur Minderheiten erreicht — und daß es auch stets nur Minderheiten sind, die sich erreichen lassen bzw.selbst Kontakt zum Volksvertreter aufnehmen wollen. Soweit dieser nicht er-29 kennt, daß seine Responsivität lediglich durch Minderheiten ausgebeutet wird, gewinnt er für sich selbst ein hohes Maß kommunikativer Zufriedenheit -Dem Parlamentarismus erwächst an dieser Front jedoch eher Kritik als Zustimmung und Unterstützung. „Responsivität“ bezeichnet die Ansprechbarkeit, Reaktionsfähigkeit und Antwortbereitschaft der Parlamentarier Sie ist die partizipatorische Tugend politischer Führung und damit von fundamentaler Bedeutung für die Verankerung des Parlaments in der politischen Kultur, gilt es doch als zentrales Organ demokratischer Legitimation politischen Handelns. Aus den vorgelegten Befunden ergibt sich keineswegs eine defizitäre, sondern eine leerlaufende Responsivität, da die Bürger in breiter Mehrheit die Zugänglichkeit der Abgeordneten erheblich unterschätzen und deren praktische Angebote nicht nutzen
Diese Befunde rechtfertigen es keineswegs, antiparlamentarische Affekte zu diagnostizieren Sie relativieren aber den Optimismus, der von einer hohen generellen Systemzufriedenheit ausgeht. Hinter dieser Fassade gilt es zu differenzieren. Für fundamentale Herausforderungen des Parlamentarismus gibt es gegenwärtig sicher keinen sehr fruchtbaren Nährboden. Aber ebensowenig gibt es fundierte Kenntnisse über das Parlament und reges Interesse an ihm Die Deutschen haben ein gerade im internationalen Vergleich funktions-und leistungsfähiges Parlament in ihrer Mehrheit wissen sie es jedoch nicht. Daß es heute wie vor vierzig Jahren keine realistische Alternative zum Parlamentarismus gibt, bedeutet noch nicht dessen krisenfeste Einwurzelung in der politischen Kultur. Wo Kenntnisse fehlen, fehlen zwangsläufig angemessene Urteilskriterien.
Ohne etablierte Traditionen sind die politischen Eliten aus Vernunft und Überzeugung 1949 pragmatisch in die parlamentarische Demokratie eingestiegen. Nimmt die Mehrheit der Bürger diese Demokratie bis auf den heutigen Tag eher hin, statt sie sich kognitiv und affektiv anzueignen? Das hier angedeutete Defizit verschärft sich, sobald die Funktionen des Bundestages, ihr grundlegendes Verständnis und die Einschätzung ihrer aktuellen Erfüllung in die Untersuchung einbezogen werden oder gar jene Fragen über elementare Strukturen und Prozesse des parlamentarischen Regierungssystems (regierende Mehrheit als Funktionseinheit, Opposition als Widerpart, Elemente moderner Machtbalancierung), die auch 1949 im Parlamentarischen Rat offen und unbehandelt geblieben waren.
In mancherlei Hinsicht weisen Parlamentarier und Bürger die gleichen Defizite auf. Der Bundestag ist selbst allzu lange vor Öffentlichkeitsarbeit zurück-geschreckt. Seine Verfahrensweisen sind noch immer zu intransparent, um die Öffentlichkeit tatsächlich in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Dies ist ein Dauerthema der Parlamentskritik. Es gibt also auch innerparlamentarische Ursachen für die genannten empirischen Befunde. Deren Bedeutung liegt darin, daß an sich ein angemessenes Verständnis des Parlamentarismus für Legitimität und Grundvertrauen wesentlich ist. Bei mangelhafter im Bewußtsein der Bürger könnten die tragenden Prinzipien repräsentativer Demokra-Verankerung in der Tat erodieren
III. Gegenkonzepte als Herausforderung und Hypothek
% 21 /18 23 17 15 17 17 20 15 17 17 20 14 18 14 13 16 19 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, zit. nach Peter Schindler, Datenhandbuch zur Gescﶃ¾
Trotzdem: Bonn kennt den verbissenen, kämpferischen fundamentalen Antiparlamentarismus der Weimarer Republik nicht. Aber Gegenkonzepte zum Parlamentarismus waren und sind auch in der Bonner Demokratie virulent. Am weitesten ging noch die radikale spätmarxistische Systemkritik der Außerparlamentarischen Opposition seit den späten sechziger Jahren, die aus der angeblichen Korrumpierung des klassischen Parlamentarismus in der Gegenwart die Notwendigkeit seiner Überwindung in der Zukunft folgerte.
Dieser Ansatz geht von irrealen historischen Voraussetzungen aus und erhebt literarische Fiktionen zum Idealtypus und zum kritischen Maßstab aktueller Phänomene. Ein methodischer Irrweg, der nichtsdestoweniger unverdrossen weiter beschritten wird. An den Idealen — nicht der konkreten Realität — des 19. Jahrhunderts gemessen, muß der gänzlich anders entwickelte Parlamentarismus des 20. Jahrhunderts um so tiefer fallen. Wenn Johannes Agnoli beklagt, es gebe „die klassische parlamentarische Demokratie schon längst nicht mehr“ und wenn er sie, so wie er sie versteht, in Deutschland überwunden sieht, so kann man dagegen nur sagen: Es gab sie noch nie — schon gar nicht in der deutschen Verfassungsgeschichte.
Der Scheidebegriff der Auseinandersetzung ist „Herrschaft“. Legitimation von Herrschaft als wichtigste Funktion des Parlaments in der Demokratie kann nur kritisieren und als Dekadenz verurteilen, wer Herrschaft an sich ablehnt und Demokratie als Selbstherrschaft des Volkes, nicht auch als legitime, verantwortliche und rechtsstaatlich eingehegte Herrschaftsordnung begreift. Dieser Ansatz bekennt sich auch noch heute zu ungebrochener Kontinuität, nur daß man inzwischen von gesellschaftlicher Autonomie spricht, wenn der Zustand der Herrschaftslosigkeit gemeint ist.
Ende der sechziger Jahre wurde uns — ebenso wie heute wieder — das Rätesystem als Alternative angeboten: hoffnungsfroh und ohne empirische Absicherung. Der Weg dorthin soll gebahnt werden durch Fundamentalopposition, permanente Obstruktionspolitik und Organisation von gesellschaftlichem Dissens: Argumente nicht von 1968, sondem aus den achtziger Jahren Zweifel sind erlaubt, ob die vorgeschlagene Alternative von den Voraussetzungen her dazu führen kann, die demokratischen Verheißungen zu verwirklichen, noch größere Zweifel, ob sie in der Lage ist, jene Problemlösungskapazität und Steuerungsfunktion zu entwickeln, die angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen notwendig sind, Die große Alternative scheitert an beiden Problemen. Das muß die nicht stören, denen Empirie und Parlamentarismus gleichgültig sind, aber es muß jene alarmieren, die Wert auf eine pluralistische Demokratie und auf Parlamentarismus als legitimierende Struktur politischer Willensbildung legen. Diese Sorge muß inzwischen auch vereinzelten intellektuell verbrämten rechtsreaktionären Positionen gelten, die von den Parlamenten die Rückkehr zur Unterordnung unter den Mythos der Nation und statt der Artikulation parteipolitischer Vielfalt die Demonstration von Geschlossenheit, bestem falls eine Art ständischer Repräsentation erwarten Man brauchte solche Abstrusitäten nicht weiter zu beachten, ginge es nicht auch ihnen um die Entmachtung des Parlaments und um die Einebnung gesellschaftlicher Pluralität von oben her, und zeichnete sich gegenwärtig nicht eine in ihrer Breite schwer abzuschätzende antiparlamentarische oder apolitische Diskussion ab. Auf einmal wird auch von Hayeks verstaubtes elitäres Konzept ausgegraben, und in aller Öffentlichkeit und mit allem Emst suchen honorige Zirkel nach einer neuen Versammlung oder einem neuen Experten-gremium für Gesetzgebung obgleich wir dieses Gremium längst besitzen: den Bundestag. Auch dahinter stehen natürlich Vorbehalte gegen die pluralistisch-parlamentarische Willensbildung.
All diese kritischen Ansätze widerstreiten sich zwar in ihren Ausgangsorientierungen. Aber sie haben das gleiche Ziel, nämlich die Entmachtung des Parlaments. Entweder sollen gegen das Parlament Einheit und Staatsmacht gestärkt werden oder aber Basis und Volk. Die Diskussion ist offen und viel fältig. Sie zusammenzufassen, bedeutet mit Sicherheit. sie zuzuspitzen. Trotzdem seien noch folgende Bemerkungen gewagt: In der Zielvorgabe, „das parlamentarische System grundsätzlich hin auf eine direkte Demokratie zu verändern“ (Die GRÜNEN Hessen), liegt kein Bekenntnis zum repräsentativen Parlamentarismus, sondern die Absicht zu seiner Überwindung. Die Richtung offenbart sich in Vorschlägen, möglichst viele Kompetenzen aus den Parlamenten herauszuverlagern. Als Stichworte seien genannt: Basis-und Betroffenheitsdemokratie, imperatives Mandat, Plebiszit und „Druck auf das Parlament“ Mehr als ein Mißverständnis des Parlamentarismus ist auch die Idee, ihn lediglich „mitzubenutzen“ bei einer Strategie der Mobilisierung der Massen und des Systemumbaus. Gegen die plurale Konkurrenz richtet sich die postulierte Herrschaft höheren Bewußtseins über die angeblich apathische und unaufgeklärte Mehrheit: der land-auf landab geführte Kampf gegen die „Mehrheitsdemokratie“ die in Wirklichkeit Minderheiten umfassend schützt, sich aber der Notwendigkeit zu Entscheidungen im Rahmen einer Freiheit und Recht schützenden wertgebundenen Ordnung nicht begeben kann. „Neue Spontaneität“ und opportu-nistisches Verhältnis zur Gewalt laufen auf eine Entformalisierung der politischen Willensbildung und auf die Erosion legitimierender Strukturen und Verfahren hinaus.
Institutionen und Verfahren sind jedoch nicht nur „formal“. Sie repräsentieren vielmehr „Sinn“. Von daher ist dem Versuch zu widersprechen, eine Kluft zwischen der Staatsidee und der Staatsorganisation der Bundesrepublik aufzureißen. Dieser Versuch ist künstlich. Die Verfassunggeber haben vielmehr in dieser Form parlamentarischer Demokratie das organisatorische Mittel zur Verwirklichung der freiheitlichen Staatsidee gesehen — und sie stehen dabei nicht allein; sie stehen vielmehr in einer langen Tradition verfassungsgeschichtlicher Kämpfe um die Verwirklichung dieser Idee.
Die parlamentarische Demokratie wird an den geschilderten Herausforderungen nicht scheitern. Aber die Defizite und Hypotheken der politischen Kultur sollte man kennen, weil sie den Alltag und die Entfaltungschancen dieser Demokratie belasten. Sie erschließen sich nicht durch den üblichen Blick auf demoskopische Daten.
IV. Was denken die Bürger?
Abbildung 4
Tabelle 4: Image der Abgeordneten Frage: „Hat sich Ihrer Meinung nach das Ansehen der Abgeordneten in der Bundesrepublik in den letzten 5 Jahren . sehr verbessert etwas verbessert nicht verändert etwas verschlechtert stark verschlechtert MdB % — — 15 57 28 MdL % — — 11 38 51 Bevölkerung
% 5 34 40 20 Quelle: Henry Puhe/H. Gerd Würzberg, Lust und Frust. Das Informationsverhalten des deutschen Abgeordneten. Köln 1989, S. 11.
Tabelle 4: Image der Abgeordneten Frage: „Hat sich Ihrer Meinung nach das Ansehen der Abgeordneten in der Bundesrepublik in den letzten 5 Jahren . sehr verbessert etwas verbessert nicht verändert etwas verschlechtert stark verschlechtert MdB % — — 15 57 28 MdL % — — 11 38 51 Bevölkerung
% 5 34 40 20 Quelle: Henry Puhe/H. Gerd Würzberg, Lust und Frust. Das Informationsverhalten des deutschen Abgeordneten. Köln 1989, S. 11.
Was denken die Bürger wirklich über ihr Parlament? Wir wissen es nicht verläßlich, da uns systematische Erhebungen fehlen. Langjährige Beobachtung und Erfahrung führen jedoch zu der These, daß traditionsbestimmte Inhalte des politischen Bewußtseins, die Grundzügen des Parlamentarismus widerstreiten, keineswegs gänzlich überwunden sind. Dazu nur einige skizzenhafte Hinweise.
Parlamente, gemäß den unterschiedlichen Interessen und Meinungen der Bürger zusammengesetzt, repräsentieren das Gemeinwesen in seinen Auseinandersetzungen. Sie müssen diese Auseinandersetzungen geradezu zum Ausdruck bringen. Unsere politische Kultur ist aber von einer Hypothek beladen, die den profilierten und polemischen parlamentarischen Dialog als unwillkommenen, ja stillosen Streit auffaßt. Inhalt und Form der Debatten sind gar nicht so ausschlaggebend dafür, daß Bürger sich brieflich gegen „ein unwürdiges und beschämendes Bild“ der Volksvertretung, gegen „polemische Ausbrüche, Infamie“ der Abgeordneten verwahren und „ein dreimaliges Pfui“ gegen den Bun-destag schleudern In den fünfziger Jahren erfolgten auf Rundfunkübertragungen aus dem Plenum derart heftige Reaktionen, daß Präsidium und Ältestenrat über die Einstellung dieser Sendungen nachdachten. Alles in allem ist der Debattenstil im Bundestag indes alles andere als stil-und würdelos. Traditionelle Harmoniebedürfnisse kann er freilich nicht befriedigen, solange die parlamentarische Demokratie durch eine breite, konfliktoffene Zone gekennzeichnet ist.
Parlamente sind notwendigerweise parteiendemokratisch strukturiert und organisiert. Parteien sind aber nach wie vor jene politischen Institutionen, gegen die erhebliche Vorbehalte bestehen. Sie leiden derzeit ganz besonders unter Vertrauensentzug Darüber hinaus bestehen sehr diffuse Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Abgeordnetem und Fraktion — gerade so, als ob es einen Gegensatz zwischen freiem und fraktionsgebundenem Abgeordneten gäbe. Befürchtungen des Parlamentarischen Rats bestätigen sich heute. Fraktionen sind Sohdargemeinschaften. Ständig gewinnt man aber den Eindruck, daß die Öffentlichkeit ihr Ideal im unsolidarischen, zumindest parteilich ungebundenen Abgeordneten sieht, während Abge-ordnetet doch nur werden kann, wer sich im Rahmen einer Partei besonders profiliert hat.
Schließlich: Gegenüber Harmoniebedarf. Konflikt-scheu und Antiparteienaffekt ist Opposition geradezu als Konflikt, Parteilichkeit und Widerspruch institutionalisiert. Wir definieren unser politisches System vor allem damit und unterscheiden es dadurch von anderen Aber diese Einsichten greifen verfassungspolitisch nicht, wenn in der Alltags-praxis die Akzeptanz der kritisch-alternativen Oppositionsrolle an politisch-kulturellen Hypotheken scheitert.
Die Öffentlichkeit weiß wenig von der tatsächlichen verfassungsrechtlichen und -politischen Rolle des Bundestages, von seinen Kompetenzen und Verfahrensweisen, seiner Stellung im Machtgefüge der Republik Im wesentlichen verweilt sie bei Oberflächenphänomenen wie Debattenstil und leerem Plenum Die populäre Diskussion dringt zum Grundproblem der Einwurzelung des Parlamentarismus in der politischen Kultur nicht vor. Sie orientiert sich zudem weitgehend an überkommenen und unzutreffenden „klassischen“ Leitbildern, die in der Tat in der politischen Kultur verankert zu sein scheinen — also zu grundlegenden Einstellungen und Werten gehören. Von daher besteht ständig die Gefahr, den modernen Parlamentarismus, der diese überholten Orientierungen tatsächlich — und auch von Verfassungs wegen — hinter sich gelassen hat, an antiquierten und fiktiven Maßstäben zu messen.
Das Grundgesetz vollzog den Bruch mit den machtlosen Phasen des Parlamentarismus, die viele für seine goldenen halten.
Ist in die politische Kultur tatsächlich die Einsicht eingegangen, daß sich die Aufgaben des Bundestages nicht nur in Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung erschöpfen, sondern daß ihm durch die konsequente Entscheidung des Parlamentarischen Rates die Funktion politischer Führung zugefallen ist — konzeptionell wie personell Der Bundestag muß nicht nur debattieren. Er — genauer: seine Mehrheit — muß die Regierung bilden und stabil halten, akzeptable Regierungskonzepte erarbeiten und Legitimität sichern. Er muß dies angesichts sprunghaft gewachsener Staatsaufgaben tun, denn auch der Staat ist nicht mehr der des 19. Jahrhunderts, der sich von Eingriffen in die Gesellschaft weitgehend zurückzog. Anders der heutige Sozialstaat. Soll unter diesen gewandelten und komplexen Bedingungen kompetent politisch gestaltet werden, dann verlangt politische Führung im modernen Staat parlamentarische Arbeitstechniken jenseits der traditionellen Orientierungen, nämlich Spezialisierung, Arbeitsteilung und moderne Hilfsmittel. Politische Führung durch das Parlament heißt auch, daß der Bundestag der Macht im Staat nicht mehr gegenübersteht, sondern in sie eingerückt ist. Die Mehrheit regiert, und die Opposition bildet den öffentlich kontrollierenden Widerpart. Das Grundgesetz verlangt das so. Also muß man über „Gewaltenteilung“ — in Wahrheit über Hemmung und Kontrolle von Macht — phantasievoller nachdenken als üblich Die Frage, die sich am Ende aufdrängt, lautet: Kann man tatsächlich von einer Verankerung des Bundestages, des modernen Parlamentarismus, in der politischen Kultur der Deutschen ausgehen, wenn sich tagtäglich Zweifel aufdrängen, ob dessen umfassende Aufgabenstellung und die grundlegende Struktur des politischen Systems, in dem er wirkt, angemessen verstanden werden? Wir haben gewiß mindestens ebenso viele diffuse Parlamentarismusvorstellungen, wie wir „diffuse“ Legitimität besitzen. Die Vorstellungswelt der Bürger ist weitgehend von der Tradition bestimmt. Das Grundgesetz hat diese Traditionen mit seinen spezifischen Aufgabenzuweisungen an den Bundestag und mit seiner Systemkonstruktion ebenso hinter sich gelassen, wie die meisten Abgeordneten in der parlamentarischen Praxis „klassischen“ Wegweisern nicht gefolgt sind. Folglich gibt es Friktionen zwischen parlamentarischer Praxis und politischer Kultur: Parlamentarier handeln unter Rahmenbedingungen, die dort nicht zweifelsfrei verankert sind. Diese Zweifel erstrecken sich weniger auf „den“ Parlamentarismus als auf seine konkrete Ausprägung im parlamentarischen Regierungssystem.
Vielleicht ist die These mehr als ein Wortspiel, daß es hinsichtlich der Einstellungen zum Parlament hierzulande zwei politische Kulturen gibt: eine starke, sich auch wirkmächtig artikulierende, die vom traditionellen Erbe beherrscht ist, und eine aufgeklärte, für die moderne Entwicklung offene, die freilich schwächer zu sein scheint und im wesentlichen unter Praktikern und Experten im Verborgenen blüht.
Heinrich Oberreuter, Dr. phil., geb. 1942; Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau; 1978— 1980 Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Parlamentarische'Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg 1975; (mit Hans Maier u. a.) Parlament und Parlamentsreform, München 19792; (Hrsg.) Freiheitliches Verfassungsdenken und politische Bildung, Stuttgart 1980; (Hrsg.) Pluralismus — Grundlegung und Diskussion, Opladen 1980; (Hrsg.) Parlamentsreform. Probleme und Perspektiven in westlichen Demokratien, Passau 1981; Übermacht der Medien, Zürich 1982; Parteien — zwischen Nestwärme und Funktionskälte, Zürich 1983; (Hrsg.) Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der parlamentarischen Demokratie, München 1986; Stimmungsdemokratie, Zürich 1987; (Hrsg, mit Rudolf Lill) 20. Juli — Porträts des Widerstands, München 19892; Bewährung und Herausforderung. Zum Verfassungsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989.
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