Demokratische Entwicklung und politische Kompetenz. Eine vergleichende Analyse des Kompetenzbewußtseins der bundesdeutschen und amerikanischen Bevölkerung | APuZ 25/1990 | bpb.de
Demokratische Entwicklung und politische Kompetenz. Eine vergleichende Analyse des Kompetenzbewußtseins der bundesdeutschen und amerikanischen Bevölkerung
Oscar W. Gabriel
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Zusammenfassung
Mit dem Begriff „subjektive politische Kompetenz“ bezeichnet man in der Einstellungsforschung das Gefühl, mit gewissen Erfolgsaussichten Einfluß auf politische Vorgänge nehmen zu können. Als die wichtigsten Bestimmungsfaktoren des Kompetenzbewußtseins werden individuelle Erfahrungen erfolgreicher Einflußnahme angesehen, die ihrerseits wiederum von den institutioneilen Strukturen eines politischen Systems und den kulturellen Traditionen eines Landes bestimmt werden. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel zweier Staaten mit unterschiedlichen politischen Institutionen und Traditionen, den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland, die Struktur und die Bestimmungsfaktoren des Kompetenzbewußtseins der Bevölkerung in der lokalen und nationalen Politik. Er zeigt auf. daß in den fünfziger Jahren ein beträchtliches Kompetenzgefälle zwischen der Bevölkerung dieser beiden Staaten bestand, besonders im Hinblick auf die nationale Politik. Diese Einstellungsmustcr spiegeln den Verlauf der politischen Entwicklung beider Länder wider. Nach der Etablierung einer funktionsfähigen Demokratie in der Bundesrepublik sind die Unterschiede im Kompetenzbewußtsein der Bürgerinnen und Bürger zwar nicht verschwunden, sie haben sich aber deutlich abgeschwächt. Die wichtigste Ursache hierfür ist im Prozeß des Generationenaustausches zu sehen, in dessen Verlauf die in obrigkeitsstaatlichen Traditionen aufgcwachscncn Angehörigen der deutschen Vorkriegsgeneration zunehmend durch Bevölkerungsgruppen ersetzt wurden, die ihre politischen Erfahrungen in einem demokratisch verfaßten politischen Regime sammelten.
I. Die Gemeindepolitik — eine Schule der Demokratie?
Zwischen Theoretikern und Praktikern der kommunalen Selbstverwaltung ist die Funktion der Kommunalpolitik als „Schule der Demokratie“ umstritten, insbesondere was die Situation in Deutschland betrifft. Der These, die Kommune sei derjenige Bereich, in dem sich am ehesten eine umfassende politische Mitwirkung der Bürger verwirklichen lasse, halten Kritiker die Brüche in der demokratischen Selbstverwaltungstradition Deutschlands und die Einschränkung der Effektivität bürgerschaftlicher Mitbestimmungsrechte durch die Einbindung der Kommunen in den gesamtstaatlichen Aufgabenverbund sowie deren Abhängigkeit von den ökonomischen Rahmenbedingungen entgegen.
Die Bedeutung der Kommunalpolitik und des kommunalpolitischen Engagements für den Erwerb demokratischer Werte und Verhaltensformen läßt sich nur empirisch klären. Zumindest von den folgenden drei Merkmalen dürfte die Eignung der Kommunalpolitik als „Trainingsfeld der Demokratie“ jedoch abhängen:
1. Von der institutioneilen Ausgestaltung des Selbstverwaltungsrechts und vom Zuschnitt der kommunalen Aufgaben: Nur wenn den Gemeinden das Recht eingeräumt ist, über materiell bedeutsame Fragen frei zu entscheiden, wenn sie über die zur Verwirklichung ihrer Präferenzen benötigten Mittel verfügen und wenn die kommunalen Institutionen demokratisch verfaßt sind, können die Kommunen als Basiseinheiten eines demokratischen politischen Systems fungieren.
2. Von der Verankerung demokratisch-partizipativer Werte und Normen in den politischen Traditio-nen eines Landes: Je umfassender und effektiver die institutionalisierten Partizipationsrechte der Bevölkerung in der kommunalen und nationalen Politik sind und je länger und kontinuierlicher die Bürger Erfahrungen mit diesen Partizipationsrechten sammeln konnten, desto eher bietet die Kommunalpolitik eine Chance, durch politische Aktivität die für eine Demokratie typischen Werte, Einstellungen und Verhaltensmuster zu erwerben. 3. Von den Einstellungen der Bevölkerung zur Kommunalpolitik im Vergleich zur Staatspolitik: Die Kommunalpolitik kann vor allem dann eine Sozialisationsfunktion für die nationale Politik erfüllen, wenn die Bevölkerung sie als einen integrierten Bestandteil eines demokratisch verfaßten Staates, und nicht als einen vom Staat qualitativ zu unterscheidenden vorpolitischen Lebensbereich wahrnimmt, in dem ganz andere Spielregeln gelten als in der nationalen Politik.
Gegenstand dieser Untersuchung ist ein Vergleich des Kompetenzbewußtseins der Bevölkerung demokratischer Staaten in der lokalen und nationalen Politik. Als Gefühl subjektiver politischer Kompetenz bezeichnet man die Einschätzung der Möglichkeit zur politischen Einflußnahme Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger in der Kommunalpolitik tatsächlich größere Mitwirkungschancen sehen als in der nationalen Politik und welche Faktoren diese Einstellungen beeinflussen. Aus der Beschreibung der Kommunen als „Trainingsfeld der Demokratie“ ergibt sich die Forderung, daß das kommunalpolitische Kompetenzbewußtsein zumindest nicht schwächer entwickelt sein darf als das Gefühl, Vorgänge auf der nationalen Ebene des politischen Systems beeinflussen zu können.
Die Untersuchung bezieht sich auf die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten* im Zeitraum von 1959 bis 1980/81. Für 1985 vorliegende Daten werden nur ergänzend herangezogen, da sie aus methodischen Gründen mit denen der Vorjahre nicht vergleichbar sind. Die Auswahl dieser beiden Länder ist nicht nur durch die Daten-lage begründet. Sie eignen sich auch im Hinblick auf die institutionelle Stellung der Kommunen und auf ihre politische Tradition hervorragend für eine vergleichende Analyse des politischen Kompetenzbewußtseins.
II. Das Konzept der politischen Kompetenz
Abbildung 5
Abbildung 1: Lokalpolitisches Kompetenzbewußtsein und Generationszugehörigkeit in der Bundesrepublik und in den USA, 1959— 1980/81 (Angaben: Prozentanteile)
Abbildung 1: Lokalpolitisches Kompetenzbewußtsein und Generationszugehörigkeit in der Bundesrepublik und in den USA, 1959— 1980/81 (Angaben: Prozentanteile)
1. Der aktive Bürger in der Demokratietheorie
Nach den Annahmen der empirischen Demokratietheorie besteht in allen politischen Systemen eine enge Wechselbeziehung zwischen politischen Strukturen, politischen Einstellungen und politischen Verhaltensweisen Die Verfassung und ihre Institutionen stellen demnach nur eine notwendige Bedingung für das praktische Funktionieren eines demokratischen Regimes dar. Lebensfähig wird eine Demokratie erst durch ihre Verankerung in den Einstellungen und im Verhalten der politischen Akteure — oder in den Worten von Almond und Verba: „Ein demokratisch verfaßtes partizipatorisches politisches System benötigt eine ihm entsprechende politische Kultur.“
Mit der Annahme einer Entsprechung zwischen der politischen Struktur und der politischen Kultur werden die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung zum Angelpunkt der empirischen Demokratietheorie. Im Hinblick auf das Selbstverständnis der Demokratie als Regierung für und durch das Volk nehmen die politischen Teilhaberechte sowie die partizipativen Orientierungen und Verhaltensweisen der Bürger einen besonderen Rang unter den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ein Die Verfassung einer liberalen Demokratie gewährleistet allen Staatsbürgern das Recht zur freien Artikulation politischer Forderungen und zur Bildung politischer Organisationen. Sie räumt ihnen eine gleiche Chance ein, für diese Forderungen bei der politischen Führung Gehör zu finden, und zwar unabhängig von der Herkunft und dem Inhalt der Forderungen Dadurch verfügen die Regierten über die Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Regierenden. Dies wiederum bindet die Regierungspolitik an die Präferenzen der Bevölkerung.
Im Gegensatz zur abstrakten Norm staatsbürgerlicher Beteiligung ist das für das Funktionieren einer Demokratie benötigte Ausmaß an aktiver politischer Partizipation der Bevölkerung umstritten. Der vom „rational-aktivistischen Modell“ der Demokratie geforderte Typus des Bürgers zeichnet sich durch ein starkes politisches Interesse, ein hohes Informationsniveau und eine große Handlungsbereitschaft aus. Durch den ständigen Austausch mit der politischen Führung stellt er eine bürger-nahe oder „responsive" Politik sicher Allerdings entsprechen diese Ideale, selbst in traditionsreichen Demokratien, nicht der politischen Wirklichkeit. Nach den Ergebnissen der empirischen Forschung beteiligt sich nur eine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger aktiv an der Politik, die Mehrheit ist entweder inaktiv oder übt allenfalls periodisch, besonders bei der Wahl der politischen Führung, ihre politischen Rechte aus
2. Das Konzept der subjektiven politischen Kompetenz
In ihrem Entwurf einer „Civic Culture“ unternahmen Almond und Verba den Versuch, diesen Widerspruch zwischen dem normativen Leitbild des rational-aktivistischen Bürgers und der politischen Wirklichkeit zu entschärfen, ohne dabei die demokratietheoretische Normvorstellung einer aktiven Beteiligung der Öffentlichkeit am politischen Leben völlig aufzugeben. Zu diesem Zwecke führten sie das Konzept der subjektiven politischen Kompetenz als Bindeglied zwischen Norm und Realität ein. Die als politisches Kompetenzbewußtsein beschriebene Einstellung, die man in der Literatur auch unter anderen Bezeichnungen findet wurde aus der Sozialpsychologie übernommen und seit Beginn der fünfziger Jahre mehrfach empirisch untersucht. In einer der Pionierstudien der politikwissenschaftlichen Einstellungs-und Verhaltensforschung beschrieben Campbell u. a. das Gefühl politischer Effektivität als die Überzeugung, die politische Aktivität des Normalbürgers sei wichtig und erfolgversprechend. Sie eröffne ihm die Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Regierungspolitik. Diesen Aspekt bezeichnete man später als „interne politische Effektivität“ und trennte ihn analytisch von der „externen politischen Effektivität“, dem Vertrauen in die Offenheit und Verantwortlichkeit des politischen Führungspersonals gegenüber der Wählerschaft
Das von Almond und Verba entwickelte Konzept der subjektiven politischen Kompetenz ähnelt dem der internen politischen Effektivität. Wie dieses zielt es auf die subjektive Einschätzung der eigenen politischen Einflußmöglichkeiten durch eine Person. Die mit diesem Konzept verbundenen demokratie-theoretischen Überlegungen lassen sich relativ leicht rekonstruieren: Almond/Verba halten es in einer Demokratie nicht für erforderlich, daß alle Personen sich jederzeit aktiv an der Gestaltung politischer Angelegenheiten beteiligen. Die Verantwortlichkeit der Gewählten gegenüber den Wählern ist ihrer Auffassung nach bereits dann gewährleistet, wenn die Regierten über das Recht zur Einflußnahme auf die Regierenden verfügen und da-von überzeugt sind, dies jederzeit mit gewissen Erfolgsaussichten ausüben zu können. Personen mit diesen Einstellungen bezeichnen Almond und Verba als subjektiv kompetent. Damit der demokratische Mechanismus des Austauschs zwischen der Bevölkerung und den politischen Entscheidungsträgern funktioniere, müsse die subjektive Kompetenz der Bürger aber eine Entsprechung in den Einstellungen der Inhaber politischer Führungspositionen finden. Bei diesen müsse die Erwartung vorherrschen, daß sich die Wähler im Bedarfsfälle tatsächlich politisch betätigen, um ihre Interessen zu wahren
Für das Handeln der politischen Führung ist die subjektive politische Kompetenz der Bevölkerung deshalb bedeutsam, weil sie die Entscheidungsträger dazu zwingt, im Einklang mit den Präferenzen der Öffentlichkeit zu handeln. Anderenfalls sind nämlich von ihrer Seite Sanktionen zu erwarten. Doch selbst wenn die Bürgerschaft ihre Sanktionsinstrumente nicht in jedem Falle einsetzt, trägt schon deren Androhung zur „Responsivität" der politischen Führung bei Ein derartiger Zwang zu einer „responsiven" Politik der Regierung besteht in einer „Untertanenkultur“ dagegen nicht. Vielmehr hängt die Bereitschaft der Regierung, die Belange der Bevölkerung zu berücksichtigen, in diesem Falle vornehmlich von ihrem guten Willen und von ihrer Gemeinwohlorientierung ab.
In „The Civic Culture" beschäftigten sich Almond und Verba mit mehreren Aspekten des Kompetenzbewußtseins. In unserem Zusammenhang ist vor allem die Unterscheidung zwischen den wahrgenommenen Einflußmöglichkeiten in der lokalen (lokalpolitische Kompetenz) und in der nationalen Politik (nationale politische Kompetenz) von Interesse
III. Demokratische Entwicklung und subjektive Kompetenz
Abbildung 6
Abbildung 2: Nationalpolitisches Kompetenzbewußtsein und Generationszugehörigkeit in der Bundesrepublik und in den USA, 1959— 1980/81 (Angaben: Prozentanteile)
Abbildung 2: Nationalpolitisches Kompetenzbewußtsein und Generationszugehörigkeit in der Bundesrepublik und in den USA, 1959— 1980/81 (Angaben: Prozentanteile)
Kompetenzbewußtsein können die politischen Akteure auf unterschiedliche Weise erwerben. Seine Vermittlung im Rahmen der Primärsozialisation ist zwar nicht auszuschließen, doch liefert die bisherige Forschung dafür kaum Anhaltspunkte Allenfalls mittelbar beeinflussen die Erziehung im Elternhaus und die individuelle Bildungskarriere das Gefühl subjektiver politischer Kompetenz; denn sie können die Herausbildung allgemeiner Persönlichkeitsmerkmale (Selbstvertrauen, Ich-Stärke) fördern, die später auch in der Politik wirksam werden Der Einfluß der Schul-bzw. Hochschulbildung auf die subjektive politische Kompetenz wird im Rahmen der empirischen Analyse geprüft. Diese Untersuchung basiert auf der Annahme, daß der in der Nachkriegszeit eingetretene Anstieg des formalen Bildungsniveaus in den USA — noch stärker aber in der Bundesrepublik Deutschland — eine Zunahme des politischen Kompetenzbewußtseins bewirkte
Im Gegensatz zur Primärsozialisation schreibt Abramson der Verarbeitung tatsächlicher politischer Erfahrungen eine große Bedeutung für den Erwerb politischer Kompetenz zu. Das Erlebnis erfolgreicher Einflußnahme vermittele der betreffenden Person ein Gefühl politischer Kompetenz, wiederholte Erfahrungen dieser Art stabilisierten ihr Kompetenzbewußtsein Diese Annahme macht plausibel, daß sich die Bevölkerung in lokal-politischen Fragen im allgemeinen kompetenter fühlen dürfte als in der nationalen Politik. Im Vergleich zum nationalen politischen System bietet die Kommunalpolitik bessere Möglichkeiten zur direkten politischen Einflußnahme und zur Sammlung politischer Erfolgserlebnisse.
Im Hinblick auf ihre politische Entwicklung während der vergangenen zwei-bis drei Jahrhunderte eignen sich Deutschland und die Vereinigten Staaten in besonderem Maße für eine vergleichende Analyse lokaler und nationaler politischer Kompetenz. Beide Länder verfügen über eine lange Tradition kommunaler Selbstverwaltung. Sie reicht in den Vereinigten Staaten bis in die Kolonialzeit, in Deutschland bis ins frühe 19. Jahrhundert — in den Städten sogar bis ins Mittelalter — zurück Während bürgerschaftliche Mitwirkungsrechte in den Städten und Gemeinden beider Staaten zumindest für einen Teil der Bevölkerung frühzeitig institutionalisiert wurden, unterscheiden sich ihre nationalen politischen Traditionen grundlegend. Demokratische Strukturen wurden in der amerikanischen Bundespolitik nahezu zweihundert Jahre früher eingeführt als in Deutschland Zu Recht gelten die Vereinigten Staaten neben der Schweiz als das Musterbeispiel einer „partizipativen Demokratie“. Diese Bewertung stützt sich auf eine 200jährige Tradition kontinuierlicher demokratischer Regierung auf allen Ebenen des politischen Systems und auf ein umfassendes System unmittelbarer politischer Mitwirkungsrechte, besonders auf der subnationalen Ebene. Mit der Verabschiedung der US-Verfassung erlangten die bereits im Mayflower Compact von 1620 statuierten Prinzipien der politischen Selbstbestimmung und der Volkssouveränität auch für das nationale politische System Verbindlichkeit. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als in Europa noch die Staatsdoktrin des aufgeklärten Absolutismus vorherrschte. Obgleich das politische System der USA im 19. Jahrhundert keineswegs in jeder Hinsicht den heutigen Vorstellungen von einer liberalen Demokratie entsprach, waren die wichtigsten Merkmale einer demokratischen Regierungsform bereits in der Verfassung von 1787 bzw. 1791 verankert. Anders als in Kontinentaleuropa implizierte die Durchsetzung einer modernen Demokratie nicht die vollständige Neuordnung des politischen Systems, sondern in erster Linie die Universalisierung der Bürgerrechte innerhalb eines bereits bestehenden demokratischen Institutionen-systems. Die Verfassungen des Bundes, der Gliedstaaten und der Kommunen beruhen in den Vereinigten Staaten auf den Prinzipien des politische Li-beralismus Insofern stützen sich die Demokratie aufder nationalen und der lokalen Ebene gegenseitig. Nicht nur in historischer Perspektive, sondern auch in funktionaler Sicht stellen die amerikanischen Kommunen die Basiseinheiten eines demokratisch verfaßten politischen Systems dar.
Die politische Entwicklung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert verlief grundlegend anders. Die Reichsgründung von 1871 erfolgte unter den politischen Rahmenbedingungen eines autoritären Obrigkeitsstaates. Institutionell abgesicherte Einflußmöglichkeiten der Bevölkerung auf die nationale Politik waren entweder nicht vorhanden oder formal zwar gegeben, faktisch aber wirkungslos. Die Verfassung von 1871 enthielt keinerlei Grundrechtsgarantien, die die Ausübung von Partizipationsrechten abgesichert hätten. Das seit 1871geltende allgemeine und gleiche Männerwahlrecht auf der nationalen Ebene war wegen des fehlenden Einflusses des Reichstags auf die Regierungsbildung und wegen seiner begrenzten Kompetenzen im Gesetzgebungsprozeß politisch relativ wertlos. Unter diesen Voraussetzungen konnten sich partizipative Orientierungen in der Bevölkerung kaum entwickeln. Da es auch in der Weimarer Republik nicht gelang, eine Tradition demokratischer politischer Beteiligung zu begründen, bestanden die partizipativen Defizite der politischen Kultur Deutschlands bis in die Gründungsphase der Bundesrepublik fort Darüber hinaus interpretierte die deutsche Verfassungslehre die kommunale Selbstverwaltung bis zur Gründung der Bundesrepublik als einen vom Staat qualitativ verschiedenen Bereich. Noch die Weimarer Verfassung behandelte die Kommunen als gesellschaftlich-genossenschaftliche Körperschaften. Seinen Ausdruck fand dies unter anderem in der Einordnung des Selbstverwaltungsrechts in den Verfassungsabschnitt „Gemeinschaftsleben“, der neben den politischen Grundrechten Bestimmungen über den Schutz der Familie enthielt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten basierte die politische Ordnung des Staates und der Kommunen nicht aufeiner einheitlichen politischen Philosophie. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik sah man in den Kommunen einen integrierten Bestandteil des — nunmehr auch demokratisch verfaßten — Staates
Die gegensätzlichen politischen Traditionen der USA und Deutschlands dürften nicht folgenlos für das politische Kompetenzbewußtsein der Bevölkerung geblieben sein. Das in den USA geltende System politischer Werte und Normen fordert den potentiell aktiven Bürger in der lokalen und in der nationalen Politik. In der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands wurde dem Bürger allenfalls auf der Gemeindeebene eine aktive Rolle zugebilligt, die aber nicht als politisch angesehen wurde. In der nationalen Politik waren die für eine „Untertanenkultur“ typischen Einstellungen gefordert
In Anbetracht der unterschiedlichen politischen Entwicklung der beiden Länder dürfte das politische Kompetenzbewußtsein in den Vereinigten Staaten stärker ausgeprägt sein als in der Bundesrepublik, vor allem in Fragen der nationalen Politik. Allerdings wurde den Bundesbürgern die deutsche Tradition einer „Untertanenkultur“ in unterschiedlichem Maße vermittelt. Wir werden im Rahmen der empirischen Analyse prüfen, ob sich die beschriebenen Traditionen in unterschiedlichen Kompetenzprofilen der Bevölkerungsgruppen niederschlagen, die ihre politischen Erfahrungen in unterschiedlichen politisch-kulturellen Kontexten sammelten.
IV. Entwicklung der subjektiven politischen Kompetenz
Die erste vergleichende Analyse des politischen Kompetenzbewußtseins in der Bundesrepublik und den USA legten Almond und Verba zu Beginn der sechziger Jahre vor. Den Befragten wurde eine hypothetische Konfliktsituation vorgegeben, in der sie ihre politischen Handlungsmöglichkeiten bewerten sollten (vgl. zum genauen Wortlaut der Fragen die Angaben in Tabelle 1). Die Auswertung der Antworten ist unter zwei Gesichtspunkten sinnvoll: In unserem Falle ist zu prüfen, ob die Bürger in derartigen Situationen überhaupt Einflußmöglichkeiten sehen. Die ebenso interessante Frage, welche konkreten Formen sie zur Wahrung ihrer Interessen in Erwägung ziehen, bleibt unberücksichtigt.
Wie bereits Almond/Verba ausführlich beschrieben, bestand in den Jahren 1959/60 zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland ein beachtliches Kompetenzgefälle, vor allem in der nationalen Politik, in abgeschwächter Form aber auch in der Kommunalpolitik. Der Anteil national kompetenter Personen war in den USA fast doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik, und selbst in der Einschätzung der kommunal-politischen Einflußmöglichkeiten lag zwischen den beiden Ländern eine Differenz von 15 Prozentpunkten. Insofern belegen die Befunde der Civic Culture-Studie den Einfluß der politisch-kulturellen Traditionen der beiden Länder auf die aktuellen politischen Einstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Während sich in beiden Ländern die Mehrheit der Befragten als lokalpolitisch kompetent einstuffe, war dies bezüglich der nationalen Politik nur in den USA der Fall. Die Kompetenz der US-Bürger in Fragen der lokalen und nationalen Politik war etwa gleich groß. Im Gegensatz dazu trauten sich nicht einmal vier von zehn Bundesbürgern zu, etwas gegen unerwünschte gesetzgeberische Vorhaben des Bundestages zu unternehmen. Auf der lokalen Ebene sahen mehr als sechzig Prozent der bundesdeutschen Befragten eine Einflußmöglichkeit (vgl. Tabelle 1). In der Sicht der Bevölkerung stellte sich die staatliche Politik in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre als „Große Politik“ dar, da sie sich außerhalb der Einflußsphäre der Durchschnittsbürger befand.
Die in Tabelle 1 enthaltenen Daten verleihen der These, seit dem Beginn der sechziger Jahre habe sich in der westlichen Welt eine „partizipatorische Revolution“ ereignet, zumindest für die Bundesrepublik eine gewisse Stichhaltigkeit. Die Kompetenz in Fragen der nationalen Politik stieg zwischen 1959 und 1974 um fast 20 Prozentpunkte an, erreichte aber gleichwohl nicht den für die USA zu verzeichnenden hohen Wert. In Anbetracht des höheren Ausgangsniveaus fiel das Wachstum der lokalpolitischen Kompetenz schwächer aus (+ 5 Prozent), jedoch trat auch auf der lokalen Ebene ein Kompetenzzuwachs ein. Die im gleichen Zeitraum in den USA ablaufenden Veränderungen waren nur gradueller Natur. Das lokalpolitische Kompetenzbewußtsein ging geringfügig zurück (— 2 Prozent). Das bereits 1959 außerordentlich starke Gefühl nationaler politischer Kompetenz stieg nochmals an. nämlich um sieben Prozentpunkte. Wie schon 1959, bestand zwischen der lokalen und der nationalen Kompetenz in den USA ein ausbalanciertes Verhältnis, in der Bundesrepublik schwächte sich die Lücke zwischen dem lokalen und dem nationalen Kompetenzbewußtsein etwas ab. Verglichen mit den Jahren 1959 bis 1974 war der Zeitabschnitt zwischen 1974 und 1980/81 in beiden Ländern eher durch Kontinuität als durch Wandel charakterisiert. In der Bundesrepublik nahm das lokale (-1 Prozent) und das nationale Kompetenzbewußtsein (— 4 Prozent) geringfügig ab, in den Vereinigten Staaten trat auf beiden Ebenen ein leichter Anstieg ein (+ 6 bzw. 3 Prozent). Damit stellte sich die Situation im Ländervergleich und im Hinblick auf das Verhältnis zwischen lokaler und nationaler Kompetenz 1980/81 ähnlich dar wie 1974. Im Jahre 1985 war das Kompetenzbewußtsein in den USA ebenfalls stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik. Wie in den Vorjahren fielen die Unterschiede in der Bewertung der Einflußmöglichkeiten in der Lokalpolitik schwächer aus als in der nationalen Politik.
Der in der Bundesrepublik eingetretene Einstellungswandel verweist auf die Möglichkeit, durch partizipative Erfahrungen eine positivere Sicht der eigenen Einflußmöglichkeiten in der Politik zu gewinnen. In diesem Zeitraum veränderten sich die politischen Strukturen der Bundesrepublik nachhaltig, und dem entsprach auch ein Wandel im Kompetenzbewußtsein der Bevölkerung. Allerdings vermochte der kulturelle Angleichungsprozeß zwischen unseren beiden Ländern nicht, das traditionelle partizipative Defizit der deutschen Politik und das Kompetenzgefälle zwischen der Bundesrepublik und den USA völlig abzubauen
V. Generationszugehörigkeit, Bildungsniveau und Kompetenzbewußtsein
Nach den Annahmen der politischen Kulturforschung resultieren die Unterschiede im Niveau subjektiver politischer Kompetenz und in den Formen der Einflußnahme auf politische Entscheidungen unter anderem aus den politischen Traditionen eines Landes, aus den damit verbundenen Sozialisationsprozessen und aus den institutionell verfügbaren Beteiligungsmöglichkeiten, die die zum Erwerb politischer Kompetenz erforderlichen Erfolgserlebnisse vermitteln. Daß in den fünfziger Jahren ein größeres Kompetenzgefälle zwischen den USA und der Bundesrepublik bestand als in den siebziger und achtziger Jahren, ist auf dem Hintergrund dieser Erklärungsstrategie plausibel. Etwa zehn Jahre nach der Etablierung der Demokratie in der Bundesrepublik konnte noch kein definitiver Bruch mit der Tradition einer Untertanenkultur erfolgt sein, zumal die strikt antiplebiszitäre Ausgestaltung des Grundgesetzes ein direktes politisches Engagement der Bevölkerung nicht ermutigte. Wenn die partizipativen Defizite auf der lokalen Ebene weniger deutlich zu erkennen waren als in der nationalen Politik, dann hat dies vermutlich mit der stärkeren Verankerung partizipativer Normen in der Tradition kommunaler Selbstverwaltung zu tun.
Eine direkte empirische Prüfung der Auswirkung der historischen Entwicklung auf die aktuelle Wahrnehmung und Bewertung bürgerschaftlicher Einflußmöglichkeiten in der nationalen und lokalen Politik ist nicht möglich. Jedoch läßt sich die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen für die Einstellungen zur Partizipation an der nationalen und lokalen Politik mittelbar und näherungsweise durch einen Vergleich des Kompetenzbewußtseins einzelner Generationseinheiten feststellen
Auf Grund der politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik war die Bevölkerung dieser beiden Staaten mit sehr unterschiedlichen Regimekontexten konfrontiert. Während sich die politischen Strukturen der USA seit der Staatsgründung zwar graduell änderten, eine grundlegende Systemtransformation aber ausblieb, erlebte Deutschland während der vergangenen 120 Jahre vier Regimewechsel, in deren Gefolge es jeweils zu einem Umbruch in den Beziehungen der Bevölkerung zum politischen System kam. Der Verlauf der politischen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert läßt erwarten, daß die Angehörigen der bundesdeutschen Vorkriegsgeneration, die ihre ersten politischen Erfahrungen unter dem Einfluß obrigkeitsstaatlicher kultureller Traditionen sammelten, ein wesentlich schwächeres Kompetenzbewußtsein aufweisen als die nach der Gründung der Bundesrepublik in der Kontinuität demokratischer Strukturen aufgewachsenen Bevölke- rungsgruppen. Dementsprechend dürfte auch das Kompetenzgefälle zwischen den Angehörigen der amerikanischen und der bundesdeutschen Vorkriegsgeneration stärker ausfallen als in der Nachkriegsgeneration.
Leider erlauben die verfügbaren Daten keine theoretisch und historisch völlig überzeugende Abgrenzung politischer Generationseinheiten Die deutschen Befragten wurden zu zwei Altersgruppen mit relativ einheitlichen politischen Erfahrungshorizonten zusammengefaßt. Der Vorkriegsgeneration wurden alle vor 1934 geborenen Befragten zugeordnet. Sie waren bei der Gründung der Bundesrepublik mindestens fünfzehn Jahre alt und hatten bis dahin kaum die Möglichkeit, die für den Erwerb politischen Kompetenzbewußtseins erforderlichen Erfahrungen zu sammeln. Die Nachkriegsgeneration besteht ausschließlich aus nach 1934 geborenen Personen, die bereits beim Eintritt ins Erwachsenenalter ein demokratisch verfaßtes politisches System vorfanden. Die US-Bürger entsprechenden Alters dienen als Kontrollgruppe bei der Analyse des Einflusses des Systemkontextes auf die politischen Einstellungen.
Die für die Bildung von Generationseinheiten maßgebliche Variable „Lebensalter“ kann noch unter einem weiteren Gesichtspunkt die Entwicklung des Gefühls subjektiver politischer Kompetenz beeinflussen. Nach unseren Annahmen fördert die Erfahrung erfolgreicher politischer Einflußnahme das individuelle Kompetenzgefühl. Die Wahrscheinlichkeit, derartige Erfahrungen zu sammeln, steigt in demokratisch verfaßten politischen Systemen mit der Dauer der Verfügung über Partizipationsrechte, d. h. mit dem Lebensalter Dieser Konzeption zufolge ist in den USA mit einem überdurchschnittlichen Kompetenzbewußtsein in der älteren und einem unterdurchschnittlichen Gefühl subjektiver politischer Kompetenz in der jüngeren Befragtengruppe zu rechnen. Wegen der diskontinuierlichen politischen Entwicklung Deutschlands ist diese Annahme über die schrittweise Ansammlung partizipativer Erfahrungen auf die Bundesrepublik allenfalls bedingt anwendbar. Für die Erklärung des politischen Kompetenzbewußtseins kommt vielmehr in erster Linie das Konzept generationsspezifischer Erfahrungen in Frage.
Neben den originär politischen Bestimmungsfaktoren des Kompetenzbewußtseins ist das Bildungsniveau der Bevölkerung als weiterer Einflußfaktor zu berücksichtigen. Im Kontext einer Analyse generationenspezifischer Kompetenzmuster liegt die Relevanz dieser Größe auf der Hand. In der Nachkriegszeit vollzog sich nämlich in allen westlichen Demokratien eine Öffnung der höheren Bildungsinstitutionen. In Folge dieses Wandels des Bildungssystems kamen die Angehörigen der Nachkriegsgeneration zunehmend in den Genuß einer qualifizierten Schulbildung. Der Anstieg des formalen Bildungsniveaus war nach Inglehart und Dalton mit einer kognitiven Mobilisierung verbunden, die auch eine Zunahme der subjektiven politischen Kompetenz einschloß Wenn diese Annahme zutrifft, dann dürften die divergierenden Kompetenz-profile in der Bundesrepublik und in den USA sowie in der Vor-und der Nachkriegsgeneration beider Länder zumindest teilweise aufdas unterschiedliche formale Bildungsniveau der betreffenden Gruppen zurückgehen. Zum Zweck der empirischen Prüfung des Einflusses der Bildungseffekte wurden zwei Bildungsstrata gebildet. Die erste Gruppe umfaßte alle Befragten mit einer Elementarausbildung und einem mittleren Bildungsabschluß, die zweite die Personen mit einer Gymnasial-bzw. College-und Hochschulbildung
In einer länderweise getrennten Betrachtung der Beziehungen zwischen Bildung, Generationszugehörigkeit und dem Gefühl politischer Kompetenz bestätigt sich zunächst in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik die Annahme, daß die Kompetenz in der lokalen und nationalen Politik mit dem Bildungsniveau steigt. Das Antwortverhalten der Altersgruppen entspricht ebenfalls den aus dem Generationenkonzept ableitbaren Erwartungen: In den Vereinigten Staaten bestehen keine substantiellen Unterschiede im Kompetenzbewußtsein der Vor-und der Nachkriegsgeneration. Dagegen weist die bundesdeutsche Nachkriegsgeneration, außer im Jahre 1959, ein deutlich stärkeres Gefühl subjektiver politischer Kompetenz auf als die Vorkriegsgeneration. Abgesehen von 1959 fällt dementsprechend das Kompetenzgefälle zwischen den Angehörigen der Vorkriegsgeneration beider Länder wesentlich größer aus als es in der Nachkriegsgeneration der Fall ist
Dies wirft die Frage auf, ob die Unterschiede im Kompetenzniveau eher auf das divergierende formale Bildungsniveau der Bevölkerung oder auf die über die Generationszugehörigkeit wirksamen politischen Traditionen dieser beiden Länder zurückzuführen sind. Im ersten Falle müßten die Generationseffekte bei einer Kontrolle des Bildungsniveaus verschwinden oder sich zumindest stark verringern, im zweiten Falle ist auch innerhalb der gleichen Bildungsschicht mit einem generationsspezifischen Kompetenzgefälle zu rechnen. In der empirischen Analyse der generationsspezifischen Kompetenzmuster in den beiden Bildungsstrata treten die differenzierenden Effekte der Generationszugehörigkeit und die vereinheitlichenden Effekte des Bildungsniveaus klar zu Tage. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, unterscheidet sich das lokalpolitische Kompetenzbewußtsein der formal gut gebildeten Angehörigen der bundesdeutschen Nachkriegsgeneration nur graduell von dem der US-amerikanischen Vergleichsgruppe. Dagegen besteht zwischen den Angehörigen der Vorkriegsgeneration beider Länder auch dann noch ein deutliches Kompetenzgefälle, wenn sie eine vergleichbare Bildungskarriere durchlaufen haben. Im unteren Bildungsstratum fallen die generationenspezifischen Unterschiede zwischen beiden Ländern etwas stärker aus als in der besser gebildeten Gruppe. Zudem ist hier eine deutliche Differenz im Entwicklungsmuster der Vor-und der N achkriegsgeneration zu erkennen, die unseren Annahmen über die Bedeutsamkeit der makropolitischen Rahmenbedingungen für die Formierung subjektiver politischer Kompetenz entspricht. Die formal weniger gut gebildeten Angehörigen der bundesdeutschen Vorkriegsgeneration weisen nicht nur ein im Vergleich mit allen übrigen Gruppen auffallend schwaches lokalpolitisches Kompetenzbewußtsein auf. darüber hinaus blieben ihre Einstellungen zu den kommunalpolitischen Einflußmöglichkeiten zwischen 1959 und 1980 bemerkenswert stabil. Da sich das Kompetenzbewußtsein der amerikanischen Vergleichsgruppe während des untersuchten Zeitraumes ebenfalls nicht veränderte, bestand zwischen diesen beiden Gruppen während des gesamten Untersuchungszeitraumes ein annähernd gleich großes Kompetenzgefälle. Ganz anders entwickelten sich die Einstellungen derjüngeren bundesdeutschen Befragten mit niedrigem formalem Bildungsniveau: Von allen vier Gruppen wiesen sie 1959 das schwächste Kompetenzbewußtsein auf, sie verzeichneten aber bis 1974 die weitaus stärkste Zunahme. Nach 1974 stabilisierte sich ihr Kompetenzbewußtsein auf dem erreichten Niveau.
Zusammenfassend lassen sich die Befunde folgendermaßen interpretieren: Die bundesdeutsche Vorkriegsgeneration ist noch stark in der Tradition der Untertanenkultur verhaftet. Eine qualifizierte Schulbildung schwächt das damit verbundene Kompetenzdefizit zwar graduell ab, beseitigt es aber nicht völlig. Dagegen bewirkte der veränderte Systemkontext eine Annäherung der Einstellungen der Nachkriegsgeneration an das Leitbild einer partizipativen politischen Kultur. Der Erwerb einer qualifizierten formalen Bildung stützt diesen Vorgang zusätzlich ab.
Obgleich beim Gefühl nationaler politischer Kompetenz im Prinzip ähnliche Muster auftreten, erweisen sich die über die Generationsvariable wirksamen anti-partizipativen Traditionen Deutschlands in der nationalen Politik der Bundesrepublik als besonders langlebig. Trotz einer deutlichen Zunahme des Kompetenzbewußtseins lag der Anteil national kompetenter Personen in der oberen Bildungsgruppe der bundesdeutschen Nachkriegsgeneration 1974 und 1980/81 immerhin noch um 11 Prozentpunkte unter dem Niveau der amerikanischen Vergleichsgruppe, 1959 hatte allerdings eine fast dreimal so große Differenz bestanden. Im betreffenden Bildungsstratum der Vorkriegsgeneration blieb der Abstand zwischen den USA und der Bundesrepublik zwischen 1959 und 1980/81 nicht nur größer, sondern auch ziemlich stabil. Erwartungsgemäß wiesen die formal weniger gut gebildeten Angehörigen der bundesdeutschen Vorkriegsgeneration das weitaus schwächste Kompetenzbewußtsein auf. Dieser Gruppe fehlten sowohl die makropolitischen als auch die bildungsmäßigen Voraussetzungen für den Erwerb subjektiver politischer Kompetenz. Im Durchschnitt der drei Erhe-bungen lag ihr Kompetenzbewußtsein in Fragen der nationalen Politik um 32 Prozentpunkte unter dem der US-amerikanischen Vergleichsgruppe. Dieser große Unterschied schwächte sich während des untersuchten Zeitraumes nicht ab. Zwar ließen die formal gut gebildeten bundesdeutschen Angehörigen der Vorkriegsgeneration ein stärkeres Gefühl der Kompetenz in der nationalen Politik erkennen als ihre weniger gut gebildeten Mitbürger. Jedoch konnte eine vergleichbare Bildungskarriere die Wirkung der verschiedenartigen politischen Rahmenbedingungen, mit denen die Deutschen und die Amerikaner vor 1949 konfrontiert waren, praktisch nicht auffangen (vgl. Abbildung 2).
Damit läßt sich die Frage nach der Bedeutung der Bildung und der Generationszugehörigkeit für das Niveau subjektiver politischer Kompetenz ziemlich schlüssig beantworten. Personen, deren politisches Überzeugungssystem sich unter den Bedingungen einer obrigkeitsstaatlichen politischen Kultur formierte, können sich auch langfristig nicht völlig von dieser Tradition lösen. Sie fühlen sich in der lokalen. vor allem aber in der nationalen Politik weniger kompetent als solche Personen, die ihre politischen Erfahrungen unter den Bedingungen eines demokratischen Systems sammelten. Eine qualifizierte Bildung trägt nur bedingt dazu bei. diese makro-politischen Einflüsse zu neutralisieren. Sie überdauern selbst einen Regimewechsel. Dagegen zeigt die Entwicklung des politischen Kompetenzbewußtseins der bundesdeutschen Nachkriegsgeneration, daß die Etablierung eines demokratischen Regimes einen Wandel in den Einstellungen der Bevölkerung zum politischen System mit sich brachte. Eine qualifizierte Schulbildung verstärkte die Wirkung der politischen Kontextfaktoren zusätzlich.
Gemeinsam leisten die Variablen Generation. Nation. Bildung und Erhebungszeitpunkt nur einen begrenzten Beitrag zur Erklärung der lokalpolitischen Kompetenz. Knapp 7. 5 Prozent der individuellen Unterschiede im Kompetenzbewußtsein lassen sich auf diese Größen zurückführen, wobei die nationale Herkunft (2, 5 Prozent) und das Bildungsniveau (2, 3 Prozent) die wichtigsten Erklärungsvariablen darstellen. Zu einem erheblichen Teil sind die Kompetenzunterschiede in unseren Stichproben auf die Wirkung von Faktoren zurückzuführen, die hier nicht kontrolliert wurden, z. B. auf situationsspezifische Größen oder auf die Eigenart der lokalen politischen Kultur. Etwas besser, immerhin nämlich zu 16, 2 Prozent, lassen sich die Unterschiede im nationalpolitischen Kompetenzbewußtsein mittels der genannten Größen erklären. Die weitaus bedeutsamste Bestimmungsgröße des nationalpolitischen Kompetenzbewußtseins ist dabei die nationale Zugehörigkeit. Sie steuert fast drei Viertel zur Erklärungsleistung des Gesamtmodells bei (10. 7 Prozent) und reflektiert die unabhängig vom Generationenwandel und von der Bildungsexpansion wirksamen nationalen Traditionen Deutschlands und der Vereinigten Staaten. Nach deren Berücksichtigung üben das Bildungsniveau, die Generationszugehörigkeit und die spezifischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Erhebungsjahrs einen Einfluß auf das Kompetenzbewußtsein einer Person aus: Angehörige der Nachkriegsgeneration fühlen sich in der Bundesrepublik und in den USA eher zur Einflußnahme auf die nationale Politik befähigt als Angehörige der Vorkriegsgeneration, mit dem Bildungsniveau steigt das nationalpolitische Kompetenzbewußtsein, und unabhängig vom Prozeß des Generationenwandels und der Bildungsrevolution fühlt sich die Bevölkerung der Bundesrepublik und der Vereinigten Staaten in den siebziger und achtziger Jahren politisch kompetenter als in der ersten Nachkriegs-dekade.
VI. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
Obgleich in dieser Untersuchung der Zusammenhang zwischen der subjektiven politischen Kompetenz und den Einstellungen zur Demokratie nicht geprüft wurde und somit Aussagen über die Sozialisationsfunktion der Kommunalpolitik nur bedingt möglich sind, geben unsere Analysen doch einige Hinweise auf die mögliche Funktion kommunal-politischen Engagements in der Demokratie.
In der Bundesrepublik Deutschland als einem Land mit problematischen demokratischen Traditionen war das lokalpolitische Kompetenzbewußtsein der Bevölkerung zwischen 1959/60 und 1985 stets stärker ausgeprägt als das Gefühl nationaler politischer Kompetenz. Dies dürfte auf die traditionell größeren Mitwirkungsrechte der Bürger in der Kommunalpolitik, aber auch auf die organisatorischen Rahmenbedingungen auf der lokalen Ebene zurückzuführen sein, die im Vergleich mit dem Nationalstaat effektivere Möglichkeiten zur direkten politischen Einflußnahme eröffnen. Der starke Anstieg des nationalen Kompetenzbewußtseins in den Jahren 1959 bis 1974 wurde mit großer Wahrscheinlichkeit durch partizipative Erfahrungen auf der lokalen Ebene, etwa durch die Mitarbeit in Bürgerinitiativen, die Beteiligung an kommunalen Planungen oder die Mitarbeit in lokalpolitischen Organisationen, vorbereitet. In der Bevölkerung der Vereinigten Staaten war die nationale politische Kompetenz bereits am Beginn unserer Untersuchung fast so stark ausgeprägt wie das Kompetenzbewußtsein in lokalpolitischen Fragen. Die Balance zwischen diesen beiden Einstellungen blieb während des gesamten Untersuchungszeitraumes erhalten. Dennoch scheinen auch hier vom lokalpolitischen Kompetenzbewußtsein positive Effekte für die nationale Politik auszugehen. Vermutlich strahlen die umfassenden lokalpolitischen Mit-wirkungsmöglichkeiten auf die nationale Politik der USA aus und fördern das Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger, auch auf dieser Ebene Einfluß ausüben zu können.
Personen mit einem niedrigen formalen Bildungsniveau lassen zumindest in der Bundesrepublik in Fragen der lokalen Politik ein größeres Selbstbewußtsein erkennen als in nationalen politischen Angelegenheiten. Es müßte genauer geprüft werden, ob diese Unterschiede aus einer engeren Bindung der unteren Bildungsschichten an die lokale politische Gemeinschaft oder aus der größeren Anschaulichkeit der lokalpolitischen Aufgaben resultiert. In beiden Fällen aber enthält das lokalpolitische Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger demokratische Potentiale, die auch der Demokratie auf der nationalen Ebene des politischen Systems zu Gute kommen können. In den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik, zwei Ländern mit unterschiedlichen politischen Strukturen und Kulturen, erfüllt das lokale politische System somit eine Sozialisationsfunktion für die nationale Politik.
Oscar W. Gabriel, geb. 1947; Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Systeme an der Universität Bamberg; zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Mainz, Köln, Trier, Koblenz-Landau und an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Grundkurs Politische Theorie, Köln-Wien 1978; (Hrsg.) Bürgerbeteiligung und kommunale Demokratie, München 1983; Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986; (Hrsg.) Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung, München 1989.
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