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Aus der Diaspora ins Exil: Der doppelte Ursprung der Sefarden. Zur Psychodynamik von Heimatlosigkeit und vergangenheitsorientierter Identitätsbildung | APuZ 37/1992 | bpb.de

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APuZ 37/1992 Conquista und Mission Eroberung und Missionierung Lateinamerikas Der Jesuitenstaat von Paraguay Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 Aus der Diaspora ins Exil: Der doppelte Ursprung der Sefarden. Zur Psychodynamik von Heimatlosigkeit und vergangenheitsorientierter Identitätsbildung

Aus der Diaspora ins Exil: Der doppelte Ursprung der Sefarden. Zur Psychodynamik von Heimatlosigkeit und vergangenheitsorientierter Identitätsbildung

Hanna Rheinz

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel im Jahre 1492 hielten die spanischen Juden in ihren neuen Heimatländern an ihrer kulturellen und sprachlichen Identität fest. Neben der jüdischen Orientierung an Eretz Israel sowie neben dem Wunsch, das Exil zu überwinden, identifizierten sich die Sefarden 500 Jahre lang mit ihrer einstigen Heimat Spanien, obwohl sie das Trauma erlitten, von den Spaniern vertrieben worden zu sein. In einer Gegenwart, die von Genoziden und Völkerwanderungen geprägt ist, gewinnt das Schicksal der Sefarden neue Aktualität, denn es zeigt, wie Heimatlosigkeiten bewältigt werden können.

500 Jahre in der Fremde -und doch hielten die Sefarden an der Kultur ihrer einstigen Heimat fest. Sprache, Musik, Brauchtum, Kleidung, Lebensweisen waren spanisch. Noch 500 Jahre nach ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel gelang es den Sefarden, ihre kulturelle und sprachliche Identität zu bewahren. Durch die jüdischen Gemeinden von Rhodos und Saloniki, Konstantinopel und Venedig ging eine Trennlinie. Sie zu übertreten, war tabu. Sefardische und aschkenasische Juden -jene, die Anfang des 16. Jahrhunderts aus Spanien geflüchtet waren, und ihre Nachbarn, die nach den Pogromen aus Ost-und Mitteleuropa zuwanderten, auf halbem Weg nach Palästina Halt machten, nicht zu vergessen die dritte Gruppe derer, die bereits ansässig war -vermischten sich nicht. Enklaven mit Spaniolisch sprechenden Gemeinschaften, die von Exilierten abstammten, fanden sich noch bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten. Die löschten die einst blühenden sefardischen Gemeinden aus, als sie, ungeachtet ihrer Herkunft, Juden zusammentrieben, deportierten und in den Vernichtungslagern ermordeten.

Bei der Betrachtung anderer Völkergemeinschaften, von denen sich nach der Einwanderung in andere Kulturen rasch alle Spuren verlieren, weil sie aufgesogen wurden und sich assimilierten, stellt sich die Frage, wie es möglich war, daß die Sefarden so lange an ihrer kastilianischen Identität festhielten, die sie, ohne je wieder den Fuß in das katholische Spanien setzen zu können, von ihren Vorfahren übernahmen.

I. Geschichtliche Hinführung

Die Geschichte der spanischen Juden, der Konvertiten und die Geschichte der Inquisition ist auch eine Geschichte der Angst vor Überfremdung und der Abwehr von Modernität. Ihren deutlichsten Niederschlag fand sie in der Doktrin der Blutreinheit, der „limpieza de sangre“ die von der spanischen Krone und der Katholischen Kirche in die Welt gesetzt wurde, um den Einfluß der Neuchristen, der konvertierten Juden, verächtlich „marranos“, „Schweine“, genannt, zu brechen. Damit sollte nicht nur die Einheirat einer ursprünglich nicht-christlichen Volks-und Religionsgemeinschaft in den katholischen spanischen Adel, sondern auch die Entstehung eines wirtschaftlich unabhängigen, zu Klerus und Krone in Rivalität tretenden Mittelstandes unterbunden werden. An der Wiege der spanisch-katholischen Nation stand das Verbot der Vermischung, stand die Politik des christlichen Gottesstaates gemäß der Devise: „unum ovile et unus pastor“ (eine Herde und ein Schäfer). Es gehört zu den nachfolgend analysierten kulturgeschichtlichen Ungereimtheiten, daß ausgerechnet die von der Forderung der Blutreinheit -jenem spätmittelalterlichen Vorläufer der Rassenbiologie -vertriebenen Juden diese Doktrin als seelenverwandt übernahmen. Eine bis heute weitgehend ungebrochene Endogamie war die Folge, die gleichwohl Identitätsbildung und Überleben der sefardischen Volksgruppe im Exil sicherte. Fast eine Viertel Million Sefarden machte sich Anfang des 16. Jahrhunderts auf den gefährlichen Weg ins Exil; auf jene Wanderschaft der vielen Etappen, die nur für eine verschwindend geringe Zahl der Nachkommen Rückkehr nach Spanien bedeutete, wie sie heute durch das spanische Rückkehrgesetz für Nachkommen spanischer Juden möglich wäre. Sefardische Gemeinden entstanden im gesamten Mittelmeerraum, in Mittelasien und Palästina und in Nordeuropa. Mit dem Zerfall des Ottomanischen Reiches, mit der Kolonisierung Amerikas, wurde auch die Neue Welt, insbesondere die Pazifikküste, zur „Anlegestelle“. Neben dem Beitrag der protestantisch-calvinistischen Tradition mit ihrer ausgeprägten, sich imDiesseits verwirklichenden Leistungsethik, wie sie von Max Weber beschrieben wurde, wird nunmehr auch die sefardisch-jüdische Tradition erkennbar als Katalysator des sich herausbildenden Kapitalismus.

II. Facetten der Vergangenheitsorientierung: die sefardische Identität

Mystik und Poesie, Religionsphilosophie und Diät-anweisungen, Romanzen und Balladen gehören zur jüdisch-spanischen Hochkultur, an denen die Sefarden im Exil über ein halbes Jahrtausend mit unverbrüchlicher Treue festhielten. Der Baum, der das Leben der Sefarden symbolisiert, ist mit Wurzeln und Stamm fest im Boden der Vergangenheit verankert, und auch seine Blätter sinken, während sie auf dem Boden vermodern, zurück in die Vergangenheit. Das Kennzeichen des sefardischen Exils ist ein beharrliches Festhalten, ja eine trotzig anmutende Treue zu den Sitten und Gebräuchen, der Nationaltracht und der Kochkunst Spaniens. In Liturgie und Philosophie, in Werken, die noch heute als Klassiker der jüdischen Literatur anerkannt werden, entfaltete sich sefardische Universalität. In der Volksdichtung, in der Musik mit ihren von Sehnsucht getragenen Wiegenliedern und Romanzen dagegen klingt auch vorwurfsvolle Gekränktheit an, wie sie für Verstoßene typisch ist; die Botschaft vom ungerechten Urteil und dem unschuldigen Opfer -sie wird in unzähligen Balladen verbreitet. Hinter der Klage über die verlorene Liebe, über Treue und Selbstverleugnung, Verrat, Aufopferungsbereitschaft und Reue schimmert die Sehnsucht nach dem verlorenen Heimatland.

Identität, die innere Verwurzelung, die Bindungen der sefardischen Seele beruhen auf Bildern eines Gestern, das nie persönlich erfahren wurde. Traditionsverbundenheit steht im Mittelpunkt dieser Identität und wird Grundlage der Geistes-und Lebenshaltung, die von den Mitgliedern der sefardischen Gemeinschaft im Laufe Geschichte herausgebildet und aufrechterhalten wurde. Jüdische Identität zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr religiöse und nationale Elemente verschmolzen sind. Sie umfaßt dabei sowohl Zuschreibungen durch andere, die bestimmen, „was ich bin“, als auch die Dimension der Selbstbeschreibung: „Wie ich mich als Individuum und als Gruppe bestimme und wie ich gerne sein will.“

Persönliche und ethnische Identität beschreiben gleichermaßen, wie ein Individuum oder eine Gruppe von den anderen, Fremden gesehen wird. Dabei verschmelzen die Selbst-Ideale des einzelnen mit den Positiv-und Negativ-Bildern des Kollektivs. Erik Erikson definiert Identität als Bereitschaft, bestimmten Werten anzuhängen, die zum Band werden, „das den einzelnen Menschen mit den von seiner einzigartigen Geschichte geprägten Werten seines Volkes verbindet... Der Begriff , Identität* drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt.“ Und weiter: „Jede Einzelerfahrung, die ein Mitglied einer dieser Gruppen machte oder die von Mitgliedern beider Gruppen geteilt oder diskutiert wurde, mußte natürlich hinsichtlich ihres Ortes auf den Koordinaten der beiden ineinandergreifenden Lebenspläne definiert werden.“

Getragen vom Grundbedürfnis jedes Menschen, sich zu einer Familie und Gruppe zugehörig zu fühlen und Ängste abzuwehren, stehen im Mittelpunkt jeder Identität die Identifikationen. Ich-Identität entsteht als allmähliche Integration unterschiedlicher Identifikationen, die sowohl die Sprache und andere Attribute der eigenen sozialen Gruppe, etwa Symbole des gemeinsamen Schicksals, aber auch Attribute aus der Mehrheitsgesellschaft wie Erziehungsideale und Weltanschauungen enthalten.

Woraus bestanden die zentralen Identifikationen der „Sefardim“, was verband einen marokkanischen Juden mit einem türkischen, der im osmanischen Reich lebte, einen Nachkommen einer Marranenfamilie in Amsterdam mit einem Sefarden in Bordeaux oder Venedig? Es war die kollektive unbewußte Fantasie über die Vergangenheit, die dem Familienroman gleichkam, wie ihn Sigmund Freud als kennzeichnend für das gemeinsame Fantasieren in Familien mit unbewältigten Konflikten beschreibt. Die Konstruktion der eigenen Vergangenheit und der Vergangenheit der Gruppe erscheint dabei als Ziel des gemeinsamen Fantasie-ren. „Der Mensch muß als eingebettet in eine zeitliche Matrix gesehen werden, die er nicht selbst geschaffen hat, die aber eigentümlich und subtil auf etwas von ihm selbst Geschaffenes bezogen ist -nämlich auf seine Auffassung von der Vergangenheit als Bestimmung seiner selbst.“

In jeder Generation mußte die Vertreibung, das Vertriebenwerden und Verlassen des Mutterlandes, die Wahl des Eigenen und das Ausschlagen des Fremden und seiner fremden Religion -um den Preis des Bleiben-Dürfens -auf der Ebene der Fantasie aufs Neue erfahren und inszeniert werden. Nur so konnte jeder einzelne der Gemeinschaft sich persönlich mit dem Schicksal seines Volkes identifizieren.

Mit welchen Strategien gelang es den sefardischen Gemeinschaften, die Identifikationen mit der eigenen Geschichte in jeder Generation lebendig zu halten? Zunächst fällt der exzessive Ahnenkult der Sefarden auf. Die Vorfahren garantieren die Bindung an die spanische Vergangenheit. Und die Sefarden können sich zahlloser Ahnen rühmen, die in Spanien und im gesamten Mittelmeerraum, aber auch in Übersee verstreut lebten: Rabbiner und berühmte Arzte, der Leibarzt des Sultan oder sein Berater. Sefardische Genealogien füllen Bände. Man kennt seine Ahnen so, als würden sie noch leibhaftig unter den Lebenden weilen, und in den Sommernächten erzählen sie von ihrer abenteuerlichen Flucht aus Spanien, von ihrer Rettung, erzählen von wundersamen Begegnungen und göttlichen Fügungen.

Die Sefarden tauchen in ein Meer aus vergilbten Handschriften und obskuren Dokumenten. Engel weisen den Weg. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit wird vage, verschwimmt. Die Zeit selbst verharrt. Sie beugt sich den Jahrhunderten des Exils, diesem alles durchdringenden Willen, der Vergangenheit Leben einzuhauchen. Sefarad ist auch eine Provinz orientalischer Fabulierkunst. Die Vorfahren sind mutige, unbeugsame, begabte Männer und Frauen, und was nicht aus den Aufzeichnungen erahnt werden kann, wird hinzugedichtet. Die seelisch empfundene Wahrheit behauptet sich in der Wirklichkeit. Die psychische Realität triumphiert über die Geschichte. Sefarad als Beispiel für die realitätsbildende Kraft der Fantasie, die Berge zu versetzen und Urteilssprüche der Geschichte ungültig zu machen vermag?

Bei den Sefarden nimmt die Beschäftigung mit der Vergangenheit, den eigenen Vorfahren -diese zutiefst jüdische Passion -, zuweilen überwertige Züge an. Oft scheint es, als werde die Gegenwart von der Vergangenheit verdrängt. Der Blick auf das Vergangene läßt sich nicht mehr ablenken, er wird starr. Bewußtsein und Selbstbild werden abhängig davon, was über die Taten der Vorfahren berichtet wird. Man steht auf einem Boden, der nicht der eigene ist, den man sich nicht in eigener Lebenserfahrung aneignete. Das nicht Gelebte, nur Übernommene, stellt eine besondere Verletzlichkeit dar. Gepolt sein auf Vergangenheit bereitet kaum auf die Wirklichkeit vor. Dieser verhangene, zu Mystifikationen neigende Blick auf das Nicht-Gegenwärtige bereitet den Boden für Wunder, aber auch für Scharlatane, für jene, die Betrug als Wunder ausgeben. Die Begeisterungswellen, die ein Sabbatai Zwi im 17. Jahrhundert, einer der vielen Möchtegem-Messiase, die die Geschichte des Morgen-und Abendlandes heimsuchten, auslöste, haben hier wohl eine ihrer psychologischen Wurzeln.

III. Kultur der Verleugnung

Nicht Gleichgültigkeit, Haß oder Verachtung kennzeichnete jahrhundertelang die Einstellung der Sefarden Spanien gegenüber, sondern im Gegenteil, Überhöhung, ein romantisch verklärter Blick, die Abwehr der Kränkung, vertrieben worden zu sein. Fremd wird man nur, wenn der Ursprung, die eigene Verwurzelung nicht mehr gefühlt werden kann. In diesem Sinne waren die Sefarden, war Israel in der Diaspora nicht „fremd“, war stets einem Ort, einer Zeit zugehörig. Die Sefarden setzten eine zutiefst jüdische Tradition fort: die Tradition, sich nicht vom einmal Erworbenen abbringen zu lassen, die eigene Verwurzelung, Sprache und Gebräuche in die Wüste mitzunehmen und daraus Zelte zu errichten.

Das jeweilige Heimatland des Sefarden war nicht sein wirkliches. Der Sefarde, der in Konstantinopel lebte, betrachtete nicht die Türkei als eigentliches Herkunftsland. Spanien ist das Land, dem er sich zugehörig fühlt. Doch auch Spanien ist letztlich nicht das Land, durch das er sich definiert. Denn sein wahres Heimatland, das Land der religiösen und geistigen Einheit seines Volkes ist Eretz Israel.

Im Gegensatz zur aschkenasischen Diaspora-Existenz mit ihren beiden Polen Gastland und Eretz Israel ist die sefardische Identität somit komplexer. Die Vorgefundene Umgebung, das reale Heimatland ist nicht das Land der Muttersprache; und das Land der Muttersprache, Spanien, ist nicht das Vaterland, Israel. Vom Standpunkt der Identitätsentwicklung aus befindet sich das jüdische Selbstverständnis in einem Spannungsverhältnis. Die Zugehörigkeit zu zwei und mehr Traditionen kann nach außen verlagert, geographisch verschiedenen Orten zugeschrieben werden. Für das eigene Anderssein werden geographische Schablonen gefunden, die sich als Metaphern innerpsychischer Konflikte zeigen. Seelisch Unvereinbares, Widersprüchlichkeiten der eigenen Diaspora-Existenz, werden nach außen projiziert. Die sefardische Identität ist eine Identität der vielen Eigenschaften, Loyalitäten und Sprachen: Ladino, Türkisch, Griechisch oder Niederländisch, schließlich Hebräisch. Eine vielschichtige, komplexe Existenz mit zahlreichen Bezügen, vielen geistigen und verwandtschaftlichen Bindungen. Elias Canetti, Sefarde aus Rustschuk an der unteren Donau in Bulgarien, beschreibt seine Kindheit: „An einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören... Die Loyalitäten der Spaniolen waren einigermaßen kompliziert. Sie waren gläubige Juden, denen ihr Gemeindeleben etwas bedeutete. Es stand, ohne Überhitztheit, im Mittelpunkt ihres Daseins. Aber sie hielten sich für Juden besonderer Art, und das hing mit ihrer spanischen Tradition zusammen. Im Lauf der Jahrhunderte seit ihrer Vertreibung hatte sich das Spanisch, das sie untereinander sprachen, sehr wenig geändert. ... Die ersten Kinderlieder, die ich hörte, waren Spanisch, ich hörte alte spanische „Romances“, was aber am kräftigsten war und für ein Kind unwiderstehlich, war eine spanische Gesinnung. Mit naiver Überheblichkeit sah man auf andere Juden herab, ein Wort, das immer mit Verachtung geladen war, lautete „Todesco“, es bedeutete einen deutschen oder aschkenasischen Juden. Es wäre undenkbar gewesen, eine „Todesca“ zu heiraten, und unter den vielen Familien, von denen ich in Rustschuk als Kind reden hörte oder die ich kannte, entsinne ich mich keines einzigen Falles einer solchen Mischehe... Aber mit dieser allgemeinen Diskriminierung war es nicht getan. Es gab unter den Spaniolen selbst die , guten Familien , womit man die meinte, die schon seit langem reich waren. Das stolzeste Wort, das man über einen Menschen hören konnte, war , es de buena famiglia , er ist aus guter Familie.“

Die sefardische Identität bewegt sich zwischen den beiden Polen des Unveränderlichen und des Offenen. Daß die Sefarden nicht von den Kulturen ihrer Gastländer absorbiert wurden, verhinderte nicht zuletzt der Rabbinismus. Marcu bezeichnet ihn als das feste Gestein, „ebenso trocken wie widerstandsfähig“, als „stationäres Element des Judentums“, als „innere Bastionen“, die seit Jahrtausenden jüdische Existenz ermöglichten. Erst diese innere Verwurzelung erklärt den Zusammenhalt der Gemeinschaft nach der Vertreibung.

Die Frömmigkeit der Sefarden wird von Religionssoziologen als selbstverständlicher und damit weltoffener beschrieben. Der Grund ist darin zu suchen, daß jene Sefarden, die in einer islamischen Kultur lebten, im Vergleich zu den Aschkenasen, die in einer christlichen Umwelt lebten, auf weniger Antisemitismus stießen und man ihnen in der orientalischen Umwelt mehr Verständnis für die Ausübung ihrer Religion entgegenbrachte. In der Folge erscheinen die Sefarden weniger defensiv und starr.

Der führende sefardische Oberrabbiner in Israel -Chouraqui -charakterisierte die Natur der sefardischen Frömmigkeit anläßlich eines Disputs mit einem aschkenasischen Rabbiner. Chouraqui verweist auf die tiefe, aber zugleich tolerante Frömmigkeit der Juden aus dem Maghreb: „Das Judentum auch noch der konservativsten Maghreber Juden zeichnete sich durch Flexibilität, Gastfreundschaft und eine Toleranz aus, die sich so sehr von der unnachgiebigen und aggressiven Orthodoxie unterscheidet, die typisch für die Frömmigkeit ist, wie sie unter europäischen Juden verbreitet ist, und die ihrerseits ja als Oppositionsbewegung entstand und damit auch als Verteidigung gegen die Reformbewegung und die Emanzipation der Juden Europas am Ende des 18. Jahrhunderts. Doch nicht nur die geschichtlichen Rahmenbedingungen zwischen Sefarden und Aschkenasen unterscheiden sich, sondern auch die Art ihres Lebensalltags und ihr Weltbild. Die Juden Nordafrikas mit ihrer Unkenntnis von Fraktionskämpfen und ihrer angeborenen Abneigung gegen Reglementierungen zeigten zugleich geistige Weite und einen tiefverwurzelten Respekt für das Gebet.“

So wie für die aschkenasischen Juden die Abgrenzung von einem aggressiven, missionierenden Christentum notwendig war, so ist die sefardische Kultur entscheidend von der religiösen (sunnitischen) Toleranz der islamischen Welt geprägt: „Was die Gebote anbelangt, die erlaubten und unerlaubten, neigen die Aschkenasen zur Strenge, während die Sefarden eine liberale Auslegung bevorzugen. Was jedoch den Kontakt zwischen Juden und Nicht-Juden anbelangt, sind die Sefarden strenger. Dies liegt an der Art von nachbarschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen aschkenasischen und sefardischen Gemeinschaften unterscheiden: Im Kulturbereich des Islam waren die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen nicht durch Feindseligkeit und Gewalt gekennzeichnet, wie sie in christlichen Ländern üblich waren. Daher gab es hier in den aschkenasischen Gemeinden nicht das Risiko der Assimilation oder Symbiose.“

Während die aschkenasischen Gemeinden keine zusätzlichen Unterscheidungen aufbauen wollten, um nicht weiteren Neid und Haß ihrer christlichen Umwelt auf sich zu ziehen, mußten in sefardischen Gemeinden künstliche Barrieren errichtet werden, um eine Vermischung zu verhindern. Neben dem Rabbinismus, der seit jeher die jüdische Gemeinschaft zusammenkittete, bewirkte die Doktrin der „Blutreinheit“, nach der es die Katholische Kirche im Mutterland untersagte, daß „Altchristen“ sich mit „Neuchristen“ vermischten, eine perfekte soziale Abgrenzung. Im Gastland begründete sie ein selbsterlassenes jüdisches Heiratsverbot, das sich nicht nur auf die andersgläubigen Fremden, sondern sogar auf die dort bereits ansässigen jüdischen Brüder und Schwestern bezog. Die Doktrin der Blutreinheit, die zur Vertreibung der Sefarden beigetragen hatte, wurde damit paradoxerweise zu einer Grundlage der sefardischen Identifikation. Sie erst ermöglichte jene historische Kontinuität, die, trotz Vertreibung, kennzeichnend für das sefardische Weltbild wurde. Nicht nur im übertragenen Sinn bewahrten viele sefardische Geschlechter, in aller Welt verstreut -in den Territorien des neuen Kontinents, in Süd-und Mittelamerika, Nordafrika, Kleinasien und sogar auf dem indischen Subkontinent -, „die alten Schlüssel zu den Häusern ihrer Vorfahren der sefardischen Heimat auf“ Die soziale Absonderung, jenes Treibhaus der sefardischen Loyalität, erweckt zuweilen den Eindruck der Irrationalität, ja der Weltfremdheit, ermöglichte dabei zugleich eine vollkommene Abwehr all jener Konflikte, die durch das Trauma der Vertreibung und durch Anpassungsprobleme in den Gastländern entstanden.

Endogamie geht stets mit spezifischen Sozialisationserfahrungen, mit einer unverwechselbaren, auf Konsens der vielen Stimmen gerichteten Haltung einher. In den sefardischen Großfamilien herrsche noch „die Hitze des Zelts“, jene charakte-ristische orientalische Vitalität, die nicht zuletzt daher rühre, daß sich im orientalischen Kulturkreis die Monogamie nur langsam durchsetzte Daß in den aschkenasischen Familien eine Mischung aus emotionaler Kälte und besitzergreifender Anspruchshaltung dominiere, -und hier die „jiddische Mamme“ übermäßig idealisiert wird -, kann auch als Zeichen einer Reaktionsbildung verstanden werden, da sie von vielen Kindern als uneinfühlsamer, egozentrischer Gefühlstrampel erlebt werde, der sich distanzlos in ihr Leben einmischt und sie daran hindert, andere Loyalitäten als die zu ihr selbst zu entwickeln. Demgegenüber erscheint die sefardische Familie als patriarchalisch und warmherzig. Die Erziehung dient zur Einübung in den „sefardischen Stolz“, jenes Ideal charakterlicher Unbeugsamkeit, das oft zu Starrheit und Unflexibilität führt.

Die Mentalität der Sefarden wird nicht nur als spanisch charakterisiert, sondern ebenfalls als orientalisch ausufemd beschrieben. Für den Zusammenhalt der Gemeinschaft entscheidend war, daß sich die Sefarden nicht in rivalisierende Fraktionen spalteten. Wo keine Zweifel sind, entstehen keine Konflikte. Toledano führt dies kritisch auf ein Gefühl der Einzigartigkeit und Überlegenheit zurück. „Die Juden verließen Spanien, weil sie sich als Juden fühlten. Aber sie waren dazu auch sehr spanisch und betrachteten sich selbst als Adel des jüdischen Volkes.“

Die Gemessenheit des sefardischen Lebensrhythmus, sein konservatives Grundgefühl, wie es im Wunsch nach Konsens zum Ausdruck kommt, bewahrte die sefardischen Gemeinschaften davor, von der einmal festgelegten Ordnung abzuweichen. Dieses Beharren auf einem fortwährend definierten und bestätigten sefardischen Charakter kann als Ergebnis einer Überidentifikation mit der spanischen Wesensart verstanden werden, die durch ein Streben nach Würde, Vornehmheit und Reinheit bestimmt wurde. Voraussetzung für diese jahrhundertelange Idealisierung der spanischen Lebenshaltung war, daß ein dem Holocaust und der Vernichtung vergleichbarer Bruch, den die Überlebenden des aschkenasischen Judentums erlitten, fehlte.

Das Dekret von 1492 erzeugte, trotz Zwang und Terror, die Illusion der letzten vermeintlich „freien“ Wahl. Die physische und kulturelle Vernichtung konnte durch Verlassen des Landes oder Eintauchen in die christliche Religion abgewendet werden. Das Trauma wurde abgemildert durch die Identifikation mit dem Zurückgelassenen. Die gesellschaftliche Absonderung, die durch die fast perfekte sefardische Endogamie und durch das Festhalten an der eigenen Sprache erreicht wurde, führte dazu, daß die kulturelle und geistige Entwicklung der Sefarden wie eingefroren erscheint auf den Zeitpunkt, der ihrer Vertreibung aus Spanien vorherging.

Die eigene, durch die Vergangenheit ausgewiesene Identität blieb der Maßstab, an dem jede individuelle Erfahrung gemessen und schließlich verworfen wurde: eine geistige Selbstgenügsamkeit, die vor dem Hintergrund des eigenen Reichtums an Lebensentwürfen nie steril wirkt. Dennoch führte sie dazu, daß die Gegenwart stets im Namen der fernen, idealisierten Vergangenheit abgewehrt und ferngehalten werden konnte. Der Abschluß war so perfekt, daß sogar fünfhundert Jahre nach der Vertreibung die Herkunft aus Spanien zweifelsfrei und oft bruchlos nachgewiesen werden kann. Sefardische Abstammung, wie sie in den ketubot (Eheverträgen) dokumentiert wird, ist daher heute eine Voraussetzung dafür, die spanische Staatsbürgerschaft zu erlangen.

Unverzichtbar ist ferner das Festhalten an der eigenen „Muttersprache“, dem Ladino oder Spaniolisch des Mittelalters. Das Hebräische, die „Vatersprache“ und damit laschon kodesch, die geheiligte Sprache, durfte im Alltagsleben nicht benutzt werden. Daß die Sefarden an der Sprache ihrer ehemaligen Heimat, dem Ladino -einem Dialekt des Kastilianischen aus dem 15. Jahrhundert -festhielten, gibt einige Rätsel auf: Warum behielten die Exilierten das jüdische Spanisch in ihren neuen Gastländern bei? Warum bekräftigten sie damit tagtäglich, „Fremde“ zu sein, nicht die gleiche Sprache zu sprechen? Wird hier nicht auch der Wunsch erkennbar, die Erinnerung wachzuhalten, anzumahnen, wir kommen von woanders, um sich abzugrenzen vom neuen „Mutterland“?

Eine andere Sprache sprechen bedeutet, etwas Geheimes zu haben, an dem die Umwelt nicht teilhaben kann, bedeutet eine Krypto-Identität, ein verborgenes Sein pflegen, bedeutet: Wir sind nicht von hier -auch wenn wir schon seit Generationen hier leben; wir sind anders, wir sprechen nicht eure Sprache. Die Weigerung, sich zu assimilieren, verweist damit zugleich darauf, alles Fremde fernhalten zu wollen und sogar das Vertraute, Unmittelbare, das tatsächliche Mutterland als „fremd“ erfahren zu wollen. Die Sprache ermöglichte die von Generation zu Generation fortgesetzte Identifizierung mit der spanisch-jüdischen Kultur. Eine andere Sprache übernehmen bedeutet, die eigene Identität wenn nicht aufzugeben, so doch zu modifizieren. Die Sprache wird hier zur Orthodoxie, wird eingesetzt „zur Verteidigung (des sefardischen) Bewußtseinsterritoriums“.

Nach Angaben von Haim Vidal Sephiha wird das Spaniolische heute noch von circa 400 000 Sefarden gesprochen, 80000 von ihnen leben in Frankreich. Sephiha vermutet, daß überall dort, wo die Exilanten eine Minderheit waren, sie sich sprachlich und kulturell assimilierten, d. h. von den bereits ansässigen Juden absorbiert wurden und ihre Sprache zugunsten des Arabisch-Jüdischen ablegten. Nur dort, wo sich die Exilanten in der Mehrheit befanden, behielten sie das Ladino aus dem Jahre 1492 bei, es wurde auf dem Stand von 1492 konserviert und damit zu einem „lebendigen Museum der spanischen Sprache aus dem 15. Jahrhundert“. Auch in der Sprache bildete sich der Bruch zwischen dem Eigenen und dem Fremden ab. Das eigene Jüdisch-Spanisch, „el espanyol meustro“, das in hebräischen Lettern wiedergegeben wurde, unterschied sich vom Spanisch der anderen „el espanyol halis“, das sich in Spanien in eine andere Richtung weiterentwickelte.

IV. Das Exil des Exils

Die Beharrlichkeit, welche die sefardischen Gemeinschaften an den Tag legten, sich sprachlich nicht zu assimilieren, um sich, Sprache und Herkunft vergessend, mit der Mehrheit zu vermischen -eine Parallele hierzu findet sich freilich, bei aller Verschiedenheit der Mentalität, im mittelhochdeutschen Jiddisch der Aschkenasen, das sich nur zögerlich den slawischen Einflüssen seiner Umgebung öffnete -, stellt zugleich, betrachtet man die Geschichte der Vertreibung unter einem psychohistorischen Blickwinkel, ein „Ungeschehen-Machen“, eine lebens-und zukunftsbejahende Bewältigung der Kränkung dar, Opfer geworden zu sein.

Verleugnung kommt gerade darin zum Ausdruck, daß die aus dem Haus Gejagten ihr „inneres Haus“, ihre Sprache, Kultur, ihre Gewohnheiten, wie sie sich im iberischen Alltag formten, mitnahmen und allen Unbilden zum Trotz pflegten und sogar weiterbauten. Verleugnung zeigt damit ihr anderes Gesicht: sie stellt sich in den Dienst der Erhaltung einer ganzen Kultur.Die Paradoxie zwischen der von Gewalt, Entrechtung, Verlust -nicht nur der materiellen Existenz -begleiteten Vertreibung der Sefarden aus Spanien und der Pflege des eigenen spanisch-jüdischen Kulturerbes, wie sie in der Literatur des Ladino oder seiner Musik mit ihren romantischen Liebes-und Heimatliedem zum Ausdruck kommt, ist nur zu offenkundig. Doch wo man nun Konflikte, Widersprüche, Weltverkennung erwartet, löst sich alles scheinbar Unvereinbare auf, wird zum großen, Jahrhunderte umspannenden Wurf, zur Schöpfung von Identität und Kultur, wird zur alles umfassenden Projektion, zur grandiosen Konstruktion der eigenen Geschichte. „Weit von wo?“, heißt es in einem jiddischen Witz, der das Sichfortbewegen von einem Ursprungsland karikiert. „Exil von wo“, könnte man fragen, betrachtet man das Schicksal der Sefarden und ihren nach Rückwärts gewendeten Blick. Ein Rückwärts, von dem aus sie einst auf ein anderes Rückwärts blickten. Diese Klage Jehuda HaLevis entstand zu einer Zeit, als das Exil Sefarad hieß und das Land der Sehnsucht Eretz Israel. Wortgewaltig, ja fast in poetischer Vorahnung beschreibt Jehuda HaLevi das Schicksal der eigenen Gemeinschaft, die ewige Sehnsucht nach Zion. „Mein Herz ist im Osten, ich jedoch bin im äußersten Westen.“ Sie enthält all die Zerrissenheit, aber auch Weltoffenheit beschreibend, wie sie für die sefardisch-jüdische Identität kennzeichnend wurde.

Das sefardische Exil ist ein doppeltes Exil, denn es umfaßt sowohl das Exil des Juden, bezogen auf Eretz Israel, als auch das Exil des Spaniers, bezogen auf Spanien. Den tatsächlichen Standort nicht als den eigentlichen, wahren akzeptieren zu wollen, ist ein Grundpfeiler der jüdischen Identität. Seine historischen und psychologischen Wurzeln liegen schon in der Wüste -der ersten Gegenwart, die nur als Durchgangsstadium betrachtet wurde, nur als Hin-und Vorbereitung zum verheißenen Land. Das Volk fand zu sich, als es im Exil war, und hier, nicht im verheißenen Land, die Gesetzestafeln erhielt. Das Exil war stets ein Exil des Exils. Sefarad wird zum Land, auf das sich die Sehnsucht nach Zion verlagert hatte; Sefarad wird damit zu einem geistigen Ort und nicht zu einer geographischen und historischen Station.

Ein Volk, das sich durch das Exil definiert, hat naturgemäß ein konfliktreiches, ambivalentes, widersprüchliches, ja gespaltenes Verhältnis zum Begriff „Heimat“ Spuren dieser Ambivalenz, dieses sich ironisch vom Gastland Distanzierens, treffen wir bereits in der gebrochenen Haltung eines Jehuda HaLevi an, die um so moderner anmutet, als sie doch getragen wird von der Rastlosigkeit und Wurzellosigkeit, die auch den Großstädter des 20. Jahrhunderts kennzeichnet.

V. Krypto-Identität

Jüdische Identität ist in den Jahrhunderten der Verfolgung und den Dekaden der Assimilation stets bedroht gewesen von der Gefahr der Auslöschung; einer Gefahr, die sich ankündigt durch das Phänomen der Krypto-Identität, der Identität im Verborgenen. Die judaisierenden Marranen stellen nur einen Pol dieses Übergangsmerkmals dar.

Subtiler spiegelt sie sich in der Identitätsproblematik der „Marginaljuden“ in jeder Generation wider, die, aus Mischehen stammend, halachisch nicht als Juden anerkannt werden und unabwendbar aus der Gemeinschaft herausfallen, oft nach Jahrzehnten des Diskriminiertwerdens. Krypto-Identität ist mithin auch ein Versuch, der Gefahr zu widerstehen, das eigene Judentum zu verlieren, es nach Generationen der Vermischung schlichtweg zu vergessen.

Doch bereits in der jüdischen Kemidentität selbst sind Facetten einer Krypto-Identität, einer Identität im Verborgenen, enthalten. Auch die Auserwähltheit des jüdischen Volkes selbst war ja stets eine verborgene. Daß sie sich nicht im Diesseits manifestierte, wurde in vielen Epochen der Geschichte des Abend-und Morgenlandes offenkundig angesichts der Wirklichkeit, in der sich am erhabensten Platz eines jeden Ortes Kirchen oder Moscheen behaupten konnten, die alles andere überragten.

Der Widerstreit zwischen den Identitäten eines authentischen Judentums und einem nicht authentischen, verdeckten, aber auch entstellten und damit unechten Judentum, das unter einer Tarnkappe lebt, wird bis auf den heutigen Tag, auch auf der Ebene der rabbinischen Theoriebildung, geführt. Und obwohl diese zweite, entstellte jüdische Identität durch den Mangel definiert, ja sogar biolo-gisch als das Vermischte, Entfremdete, auch in der Wesenshaltung fremd Gewordene bestimmt und damit abgewertet wird, weil es den halachischen Kriterien nicht entspricht, wird das Verborgene insgeheim doch bewundert dafür, den Verlust wachzuhalten.

Diese ambivalente Haltung wird nicht nur den Marranen entgegengebracht, die betrauert und mit einem Bannfluch belegt, aber auch bewundert und bestaunt wurden Jüdische Enklaven in Asien und Afrika, sollten sie sich auch längst von den Grundlagen des Judentums entfernt haben, wie dies bei den Juden von Kaifeng der Fall war, die nicht nur Polygamie, sondern auch Zugehörigkeit in Vaterlinie vertraten erregten und erregen noch immer die wohlwollende Bewunderung der jüdischen Gemeinschaft. Auch die Phantasien über die verlorenen Stämme nebst ihren ebenso fantastischen Ergebnissen: Auffinden und Zuschreiben jüdischer Abstammung bei entlegenen Bergstämmen oder exotischen Inselvölkem gehören in diese Linie -ein Motiv mit vielen Variationen.

VI. Hin und Zurück

Geheime Erkennungszeichen, Geheimworte, verschlüsselte Bilder, Symbole helfen jahrhundertelang, die doppelte Identität aufrechtzuerhalten. Eine psychologische Haltung, die eigentlich innere Zerrissenheit, ja Gespaltensein vermuten läßt und hier dennoch als „gesunderhaltende Lösung“ erscheint. Das wirkliche Umfeld ist nicht immer das wahre. Das Wirkliche kann falsch und unwahr sein, alle Anpassung an diese Welt ist nur Anpassung und somit simuliert. Das eigentliche, wahre Selbst muß versteckt werden, damit es bewahrt und nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Das Fiktive wird hier zum Wahren. Phantasien und Dichtungen über die Vergangenheit werden zum Maßstab der Wirklichkeit, die von Zweideutigkeiten und Masken geschützt wird

Israel wurde in der Golah, der Diaspora, nicht in Eretz Israel geboren. Das Hin und Her, das Schwanken zwischen Verbundenheit zum Ursprung und das sich Entfernen, ist untrennbar mit der Geschichte des jüdischen Volkes verbunden. Es macht Israel zur ersten modernen Nation, die nicht ortsverbunden ist, keine Mauer um sich baut, um das Fremde femzuhalten, keine geographischen Territorien definiert, die verteidigt werden wollen, sondern wegzieht und wieder zurückkehrt, den Ursprung besingt und das eigene Land mit sich nimmt, es verinnerlicht. „Abraham“, schreibt A. B. Jehoschua, „der erste Jude war demnach der erste oleh, der erste Einwanderer in Eretz Israel. Aber er war auch der erste yored, der erste Emigrant des Landes.... Der erste Jude ist gleichzeitig der erste oleh, der erste, der sich zu dem Land Israel aufmacht, genauso wie er auch der erste yored ist, der erste, der es wieder verläßt. Jeder Jude trägt diese beiden Wesenzüge von . Kommen und Gehen', von aliyah und yeridah, in sich, dies zeigt sich durch die gesamte Geschichte hindurch. Abraham kommt und geht und kommt wieder zurück. Nicht mehr als zwei Generationen dauert es und Jakob, der Enkel, geht wieder nach Ägypten.“

Auch die Thora wurde dem Volk Israel nicht in Eretz Israel übergeben, sondern in der Wüste. „Wir werden sehen, daß sich die Nation im Laufe ihrer Geschichte immer wieder auf die Suche nach diesem Niemandsland begibt, besonders, wenn die Frage nach spiritueller Erneuerung gestellt wird. In der Wüste befinden wir uns in einem Zwischenstadium zwischen Tod und Leben.“

So wie die Golah zum organischen Teil des „jüdischen nationalen Mythos“ wurde, so ist auch die Vertreibung aus Spanien Teil des Mythos. Wären die Sefarden nicht vertrieben worden, gäbe es keine sefardische Kultur. Gerade weil die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk so eindeutig definiert ist, konnte sich jüdische Identität so vielfältigen Traditionen öffnen. Sefarad verkörpert Geschichte als einen Akt der Sinnsetzung, als Verdichtung zersplitterter, „sinn-loser“ Geschichts-und Le­ bensfragmente, denen ein formender Wille entgegengesetzt wird, der in den Bruchstücken des Erlebten und passiv Widerfahrenen ein Muster ausmacht, Zusammenhänge erhellt, Unsicherheiten in eine feste Ordnung stellt.

Der Zersplitterung, die begann, als die einst vereinte Familie sich auf viele Länder verteilte, setzten die Sefarden machtvoll eine Identität entgegen, deren Ausgangspunkt der Augenblick der tiefsten Demütigung ist. Das Trauma, vertrieben zu werden von Haus und Hof, wurde zum Fundament, auf dem das neue Haus errichtet wird. Indem die Sefarden ihre Vergangenheit überhöhten, versuchten sie das Trauma der Vertreibung ungeschehen zu machen. Indem die Opfer an ihrer historischen Herkunft festhielten, waren sie nicht länger Spielball „dunkler Schicksalsmächte“, sondern konnten das hilflos Erlittene in Handlung, in bejahendes Gestalten umsetzen. Die wirkliche Welt wird in eine gewünschte Welt umgewandelt, das Trauma korrigiert, der einzelne wird -in den Worten von Freud -damit zum dichtenden Helden, der seine Verwundungen mystifiziert und seine Verletzbarkeit in einer Romanze besingt, „seine Defizite durch kompensatorische Fantasien repariert“

Jüdische Identität, definiert durch die Zerstörung des Tempels, des eigenen Hauses und des Vertriebenwerdens in das Exil, ist per se vergangenheitsorientiert. Als sefardische Identität hat sich diese Vergangenheitsperspektive jedoch verdoppelt, umfaßt sowohl das biblische als auch das spanische Exil. Doch dem scheinbar unveränderlichen Urteilsspruch der spanischen Krone setzten die Sefarden einen formenden Willen entgegen. Damit wiederholten sie auch eine biblische Verheißung, denn das Exil wird nun zur Hoffnung, zum Fingerzeig eines göttlichen Willens, einer Verheißung, daß nach der Zerstörung des eigenen Hauses dereinst die Rückkehr folgen wird. Die jüdische Identität, die sich seit der Zerstörung des 2. Tempels bestimmt durch den Zustand des Vertriebenseins, wird als sefardische Identität gleichsam verdoppelt. Die Sefarden erscheinen doppelt verstoßen: aus Eretz Israel, dem von Gott verheißenen Land, und aus Sefarad, der selbsterwählten Heimat. Israel und Sefarad werden hier erkennbar als die beiden Bezugspunkte der jüdischen Weltorientierung.

Das historische Schicksal der Sefarden wiederholt ein zentrales Motiv der jüdischen Existenz: Vertreibung und in die Welt geworfen werden, den Zwang, sich in einer zutiefst als feindselig erlebten Umwelt zu behaupten. Begleitet wird es von einer fortgesetzten Klage. Doch eine Heimat verloren zu haben bedeutet hier nicht, ungeborgen zu sein.

Das Leben in zwei und mehr Zugehörigkeiten führt nicht zwangsläufig zu Identitätsdiffusion und Gespaltenheit. Die ihrer Herkunft bewußten Marranen ebenso wie die Sefarden, die an einer zweiten und dritten Geschichte und Kultur festhielten, werden, indem sie ihre komplexe und komplizierte historische und lebensgeschichtliche Situation bejahten, zu Vorläufern der Modernität; sie nehmen das vieldimensionale Menschenbild der postindustriellen Gesellschaft vorweg, in der jeder einzelne an zuweilen widersprüchliche Rollen und Loyalitäten gebunden ist. Die Vertreibung der Juden wurde somit auch zu einer Vorbereitung der Modernität. An jüdischer Doppel-Loyalität werden die Kennzeichen der Identität der Neuzeit erkennbar. Den Sefarden gelang es nach ihrer Vertreibung, einen Ausgleich zu erzielen zwischen Zion, der vorgegebenen geistigen Identität, und Sefarad, der geschichtlich erworbenen „Identität“, der sie geographisch verbunden bleiben. Sie verwirklichten damit einen vielschichtigen Identitätsentwurf, an dem auch die Bruchstellen deutlich werden sowie die Unvereinbarkeiten und Widersprüche, die ein Spiegel sind für die Spaltungen, die sich durch das Selbstverständnis des modernen Menschen ziehen. „Was macht der Mensch aus dem, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben?“ An dieser Frage wollte Jean Paul Sartre die menschliche Existenz messen. Die sefardische Existenz vermag eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Allerdings erlangte das „Estatutos de Limpieza de sangre“ erst Mitte des 16. Jahrhunderts Gesetzeskraft. Die Überprüfung der Blutreinheit wurde bis zum Ende der Inquisition im Jahre 1834 vorgenommen.

  2. E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M.1991, S. 124.

  3. Ebd., S. 16.

  4. A. Strauss, Spiegel und Masken, Frankfurt/M.S. 179. 1968,

  5. E. Canetti, Die gerettete Zunge, Frankfurt/M. 1979, S. 8.

  6. Zit. in: Ch. Raphael, The Road to Babylon, New York 1985, S. 182.

  7. Ebd.

  8. Samuel Toledano, der Vorsitzende der Jüdischen pemeinde in Madrid, anläßlich der Verleihung des Premio Principe de Asturias an die Sefardische Gemeinschaft im Jahr 1990.

  9. Vgl. B. Cohen, Juifs et Juifs. Ashkenazes et Sepharades,Paris 1985, 8. 62.

  10. Anm. 8.

  11. Die ambivalente Beziehung zum Begriff Heimatland in der Diaspora wird nicht zuletzt an einer volkstümlichen Übertragung der Worte: „Mi kamucha Jisrael, goi echad baaretz“ (Wer ist wie dein Volk, eine Nation in ihrem Land), aus dem Mincha-Gebet des Schabbat ins Jiddische erkennbar: „a volk, was ligt in drerd“... (ein Volk, das begraben liegt in seinem Land), aber auch, „ein Volk, das niedergetrampelt, dem Erdboden gleichgemacht wurde in den vielen . Mutterländern*, die es ausrotten wollten und aus denen es vertrieben wurde“.

  12. Die „mesumad“, die aus freiem Willen zur Erlangung gesellschaftlicher Anerkennung und aus religiöser Überzeugung Konvertierten, wurden von den Zwangsgetauften, den „anusim“, unterschieden. Vor allem letztere wurden als falsche Conversos verdächtigt.

  13. Gemäß jüdischem Gesetz ist nur geborener Jude, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde.

  14. Daß das Äußere, die offenkundige Existenz, sich nicht mit dem Inneren, der wahren Identität, deckt, kommt in vielen Parabeln zum Ausdruck, die im sefardischen Kulturraum verbreitet sind. Dies gilt ebenso für die Erkenntnis, daß man das Äußere der Dinge nicht für bare Münze nehmen darf, sendem daß das, was sie für uns werden, von der eigenen mentalen Einstellung und Bewertung abhängt und wir mit der Einstellung, mit der Art, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, verändernd in sie eingreifen. Die Einstellung, die der einzelne den Dingen gegenüber einnimmt, ist entscheidend für seine Wirklichkeitserfahrung, nicht das scheinbar Determinierte, wie es in der Ordnung der Dinge zum Ausdruck kommt, die sich dem Betrachter nur willkürlich präsentieren.

  15. A. B. Jehoschua, Exil der Juden, St. Ingbert 1986, S. 42.

  16. Ebd., S. 43.

  17. J. Cremerius, Vom Handwerk des Psychoanalytikers, Stuttgart 1984, S. 407.

Weitere Inhalte

Hanna Rheinz, Dr. phil., Dipl. -Psych., geb. 1950; Psychotherapeutin und Journalistin; Lehrtätigkeit an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg; freie Mitarbeiterin bei Funk und Fernsehen. Veröffentlichungen u. a.: Oedipus oder der gewundene Pfad der Psychoanalyse, Frankfurt 1988; Flucht vor dem Anderssein, in : Kursbuch, 101 (1990); Wie man einen Bumerang in Bewegung setzt, in: Frankfurter Jüdische Nachrichten, 75 (1991).